1
Schon seit einigen Tagen pfiff ein eisiger Wind durch das Hafenviertel. Bei jeder stärkeren Windböe knarrten die dünnen Holzbretter der Polizeihütte, als würde die Wache in Kürze mitsamt ihren Passagieren abheben. Wenige Schritte entfernt schlugen immer wieder lautstark die Wellen an den angeschlossenen Anlegesteg.
Der selbst ernannte Inselkommissar Georg Pampelhuber trat durchgefroren aus dem kleinen Dixiklo, das vor der L-förmigen Wache stand. Bei diesen Witterungen war schon eine gewisse Präzision erforderlich, um in der wackligen Konstruktion der Sanitäranlage zu überstehen. Auch wenn das instabile Klohäuschen einladend unter dem Vordach der Polizeistation stand, war dies Georgs Meinung nach natürlich mal wieder in der Planung nicht vollständig durchdacht worden. Die fiesen Windböen, die von der Nordsee her aufzogen, hatten freies Spiel. So wie es hin und wieder mit dem Wind tanzte, schepperte und krachte, war sich der Kommissar sicher, dass es maximal bis Frühling andauern würde, bis der blaue Plastikkübel samt appetitlichem Innenleben auf dem Rasen verteilt liegen würde. Was ihm natürlich recht wäre, denn er kaute seinem Vorgesetzten schon lange mit seiner Forderung nach einem vierten Raum regelrecht ein Ohr ab. Seiner Meinung nach brauchte die Inselwache definitiv eine andere Lösung. So ein Dixiklo war für den Übergang ja nicht schlecht gewesen, aber mittlerweile und vor allem auch dem Klimawandel geschuldet, war solch eine Lösung doch nicht mehr tragbar. Der blaue Plastiksarg war im Hochsommer zu heiß und jetzt im Winter viel zu kalt.
Aufgrund des aktuell lauten Meeresrauschens und der niedrigen Temperaturen hatte der Kommissar wieder mit einer regelrechten Konfirmandenblase zu kämpfen.
Noch bevor er zurück war und die zugezogene Seitentür der Wache erreichte, erfasste ihn eine steife Brise. Sie spielte mit ihm und brachte den stabilen Polizisten aus dem Tritt. Selbst an der viel zu eng sitzenden Polizeiuniform fand sie noch so manches winzige Zipfelchen, an dem sie zerren konnte. Zum Glück trug der kräftige bayerische Landsmann seine Dienstuniform, sonst hätte man ihn womöglich noch für einen verrückten Professor gehalten. Denn seine langen, voluminösen, braunen, gelockten Haare wurden komplett verstrubbelt. Der dichte, braune Vollbart war hingegen das Einzige an ihm, was diesem Angriff standhielt, denn er war vom längeren Aufenthalt im Toilettenhäuschen hart gefroren.
»Mei, was für a verdammte Kält!«, schimpfte er mit klappernden Zähnen, während er die Tür schwungvoll hinter sich zuzog.
»Gut, dass du ein waschechter Bayer bist. Prutting ist ja als südlicher Hotspot in den Alpen bekannt. Da wachsen sicherlich schon Palmen am Straßenrand, oder?« Mehr Sarkasmus konnte der Revierleiter ihm nicht an den Kopf werfen. Ihm ging das ständige Gejammere seines Kollegen einfach auf die Nerven.
Georg blieb vor ihm stehen. »Was soll das jetzt schon wieder heißen? Darf i net frieren, weil i aus Bayern bin? I vertrag a kein Bier …«
»Weshalb sie dich rausgeworfen haben und so weit wie möglich von Bayern fortgeschickt haben. Du weißt, zwei Inseln weiter westwärts und du wärst sogar außer Landes.«
»Ja, ja, du mi a«, grummelte der Kommissar und drehte seinem Vorgesetzten den Rücken zu.
Matthis saß weit vorne am Empfangsbereich an seinem Schreibtisch und tippte fleißig irgendwelche Befehle in das Polizeisystem.
Gut, so wirkte es jedenfalls. Doch was der junge, nette, schlaksige Herr mit seinem perfekten Zahnpastalächeln da wirklich machte, war Georg schleierhaft. Er hatte immerhin nichts zu tun und auch keinen Antrieb, diesen Sachverhalt zu verändern. Denn seit ein paar Wochen war hier auf Norderney nichts mehr los. Die zahlreichen Urlauber hatten die Insel verlassen und außer ein paar Kurgästen wirkte sie stellenweise nahezu verwaist. Der Himmel wurde durchgehend grau und belegte den Alltag mit einer düsteren Tristesse, weswegen auch die zahlreichen Insulaner lieber zu Hause im Trockenen verweilten. Georg vermutete schon lange, dass sein Kollege entweder für den Ernstfall eines Einsatzes schon einmal alles vorab durchsimulierte und somit die entsprechenden Berichte vorformulierte oder dass der feine Herr Revierleiter so geschickt irgendein Computerspiel zockte und immer, wenn Georg sich ihm näherte, heimlich das Programm wechselte. Das waren die einzigen plausiblen Erklärungen, die seiner Logik nach Sinn ergaben.
Der Kommissar kraulte sein gefrorenes Bärtchen und stiefelte dabei zielsicher auf seinen Schreibtisch in der hintersten Ecke der Hütte zu. Kurz bevor er sein Ziel erreichte, schrie er triumphierend auf, machte kehrt, hastete auf Matthis zu und schaute auf dessen Monitor.
Matthis hatte eine Tabelle geöffnet und tippte irgendwelche Zahlen hinein. Aber hatte sich nicht eben schlagartig der Rhythmus seiner Tastenanschläge verändert?
»Was war das jetzt, Georg?«, fragte der Revierleiter mit einem müden Lächeln zwischen den Wangen.
»Du zockst doch was! I woiß es und i werd di dabei erwischen.«
»Du hast doch Paranoia. Ewig diese Unterstellung, ich würde während der Arbeit meine Stellung als Revierleiter ausnutzen und hier ein Computerspiel zocken. Mal ehrlich, pass du lieber auf, dass du bei solch einem explosiven Antritt nicht gleich noch deinen Schreibtisch umwirfst. Das Thema fliegende Tische hatten wir ja schon, nur weiß ich nicht, wie stabil diese Hütte ist, wenn du hier wie verrückt herumpolterst.«
»Naa, i hab di im Blick«, sagte Georg und fuchtelte drohend mit seinem Zeigefinger umher. »Mei, was machst du denn sonst den ganzen Tag?«
»Was mach ich wohl hier im Büro …«
»Herrschaftszeiten, das versuche i ja, herauszufinden. Du verarschst mi und i werd es beweisen«, sagte der Kommissar. »Du woißt, der Blitzer ist hi, seit er mir auskemma ist. Der Neue war nicht lieferbar. Stichwort China. Weshalb er erst nächstes Jahr geliefert wird, laut Disponent. Strafzettel machen wir seit zwei Wochen a keine mehr, erstens weil es arschkalt is und zweitens weil der feine Herr Revierleiter eine depperte Wette gegen Hermann aus dem Hafenpub verloren hat.«
»Ach ja, die Wette«, erwiderte Matthis. »Hast du nicht ebenfalls noch deinen Einsatz zu bringen, da du dann alles oder nichts gespielt hattest?«
»Ja i woiß. I werd auch helfen bei der Lichterkette vom diesjährigen Weihnachtsmarkt. Das ist alles kein Problem. Aber du weichst mia scho wieder aus. Was machst du den ganzen Tag?«
»Mensch, wie oft denn noch, ich arbeite hier«, sagte Matthis und grinste dabei breit.
»Ja, aber an was? Hier hat seit zwei Wochen das Telefon nicht mehr geklingelt. Wenn du mi net erst heut Morgen wieder zu Fuß zum Hafen geschickt hättest, damit i dich mit dem Handy anrufe und überprüfe, ob das Telefon funktioniert. Hät i schon lange gesagt, die Anlage is a hi.«
»Ja, und du siehst, es funktionierte auch. Ist noch was? Ich habe zu tun, Herr Kollege.«
»Ja, aber was und warum kann i net einfach von meinem Schreibtisch aus anrufen? Warum schickst du mi immer dafür zu Fuß fort? Und was des immer gleich für Strecken san. Letztens war i drei Stunden fort.«
Matthis wirkte kurz wie ertappt. Er ruderte gedanklich hin und her, ehe er schlussendlich seinen Kollegen weiter anflunkerte. »Georg, ein Telefon ist ja ein Gerät, das Gespräche über eine enorme Distanz übermitteln kann. Das muss man hier auf Norderney schon hin und wieder mal überprüfen.«
»Naa, i bleib dabei. Du verarschst mi und i werd dir das beweisen!«, sagte Georg drohend und wild entschlossen. Danach ging er behäbig zu seinem Schreibtisch zurück. Er setzte sich an seinen Platz, lehnte sich entspannt im Stuhl zurück, legte mit einer fließenden Bewegung die Beine auf seinen Schreibtisch, faltete dabei die Hände auf dem Bauch zusammen und schloss tief entspannt die Augen.
Matthis wechselte unbemerkt von Georg das Programm und wieder ließ er seine flinken Finger wie so oft in letzter Zeit über die Tastatur sausen.
Nach einer guten Dreiviertelstunde schreckte Georg aus seinem Nickerchen an seinem Schreibtisch auf. Sein Telefon klingelte. Hastig griff der zerknautschte Kommissar zu dem Hörer.
»Kommissariat … Naa halt … Moment, äh … Pampelhuber … äh, naa Polizei Wolfsrats… Ah geh, Schmarrn, Norderney. Mei, jetzt hab i es … Pampelhuber Norderney, wo bin i?«
Die mächtige Verwirrung raubte dem Anrufer ein wenig die Zeit. Dann bildete sich auf der Gegenseite ein zartes Schniefen. »Hallo, ist da die Polizei?«, erklang eine hohe, piepsige Kinderstimme, vermutlich ein kleiner Junge.
Instinktiv erschauderte der Kommissar. Es lief ihm eiskalt den Rücken herunter, und sein Puls schnellte in die Höhe. Denn genauso nahm das Elend seinen Lauf. Als er damals in der Polizeiwache Prutting gewisse Anrufe von Kindern falsch auswertete. Noch einmal fiele er nicht mehr auf so etwas herein, hatte er sich selbst geschworen. Er war immerhin mit seinen Aufgaben gewachsen, gereift und schlussendlich ein ganz anderer Mensch geworden.
Da der Polizist außer seiner lauten Atmung keine weitere Reaktion zeigte, wiederholte der Anrufer seine Frage. Er schniefte immer wieder und sagte dann, ohne zuvor eine Antwort von dem Polizisten erhalten zu haben: »Wir brauchen hier Hilfe, der Nikolaus ist nicht gekommen!«
»Ja, lass mi raten, und der Osterhase war dieses Jahr a noch net da«, antwortete Georg und legte schwungvoll den Hörer auf.
Matthis sah fragend zu seinem Kollegen. Georg erwiderte den Augenkontakt. »Ein Kind behauptet, der Nikolaus wird vermisst!«
»Oh, ist was mit Harald?«
»Harald? Hab i was verpasst? Hieß der früher nicht mal Santa? Und außerdem, warum hat es überhaupt bei mia geklingelt?«
»Du hast ja mal voll den Durchblick. Also zuerst mal: Santa, das war wer anderes, der kommt auch wirklich erst ein paar Tage später. Und zu der Rufumleitung: Meinst du, ich gehe hier ans Telefon, während jemand in der Wache von hinten fleißig Bäume zersägt? Wie sieht das denn aus?«
»Na danke«, erwiderte Georg. »Und zu deinem Nikolaus. Es ist a noch net der 6. Dezember. Vorher wird man deinen Harald-Nikolaus a nur selten sehen.«
»Harald ist derjenige, der hier ab dem 28. November jeden Tag den Nikolaus beziehungsweise den Weihnachtsmann spielt. Er geht ehrenamtlich in die Kindergärten, Kurhäuser, Hotels, sitzt auch an den Wochenenden hier auf dem Weihnachtsmarkt. Also ruf da sofort zurück, entschuldige dich und frage, wo wir hinsollen.«
»Mei, und warum muas i des jetzt schon wieder machen?«, zeterte der Kommissar.
»Ja, weil dieser Fauxpas mal wieder voll auf deine Kappe geht«, entgegnete ihm der Revierleiter.
»Aber wenn die mia so an Schmarrn melden. Wegen an Nikolaus, des ist doch nix. Da haben mia doch schon wesentlich schönere Notrufe gehabt.«
»Auch dem kann etwas zugestoßen sein. Und jetzt rufst du da sofort zurück, bevor wir noch mehr Zeit verlieren. Hast du mich verstanden?« Georg konnte es nicht fassen. Er atmete einmal schwerfällig durch und schluckte dabei sichtlich eine weitere Antwort herunter.
Matthis registrierte aus dem Augenwinkel, dass Georg seiner Aufforderung endlich nachging. Er drückte immer hektischer auf seinem Telefon herum. Nach zwei Fehlversuchen und einem Anruf auf Matthis’ Bürotelefon fand er das, wonach er suchte, und drückte erfolgreich die Rückruftaste.
Matthis wusste, dass dieser Auftrag bei dem Kollegen mit den flinken Wurstfingern etwas dauern konnte, weshalb er seine ganze Aufmerksamkeit wieder seinem Monitor widmete. Er ließ seine Finger dabei wieder geschickt über die Tastatur tanzen, und auf einmal erklangen leise Geräusche wie von zahlreichen Fanfaren aus seinem Computer.
Georg schreckte auf, warf den Hörer zurück auf das Telefon und schoss zu seinem Kollegen vor. Das triumphierende Aha hatte er schon auf den Lippen. Doch dann sah er wieder nur irritiert auf eine langweilige Buchhaltungstabelle.
Matthis drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu dem schwer keuchenden Bayer um. »Deine Paranoia macht mich fertig. Hast du schon angerufen?«
»Ja, die waren grad in der Leitung gewesen, aber i hab sofort ohne was zu sagen aufgelegt. Was war das für ein Geräusch bei dir? Da waren Fanfaren, i wette, du spielst hier dieses Mittelalteronlinespiel, das aktuell alle spielen. Wie heißt das noch gleich?«
»Das waren keine Fanfaren, das war die Autokorrektur. Ich gestehe, ich habe mich vertippt. Und jetzt ruf da bitte sofort zurück und entschuldige dich auch für den Fehlversuch gerade eben. Kannst dir ja eine Entschuldigung überlegen, weshalb du den Hörer so schwungvoll weggepfeffert hast.«
»Ja, ja, i sag einfach, i bekam eine gescheuert mit dem billigen Gelumpes hier. Es gibt doch nix über einen saubren Stromschlag, oder?«, murmelte Georg und ging zurück an seinen Platz. Nach einem erneuten Fehlversuch hatte der Kommissar die einzige Nummer in seiner Anrufliste lokalisiert, erfasst, doppelt überprüft, bestätigt und angeklingelt.
Eine kurze Zeit später hatte sich der große, selbst ernannte Inselkommissar tatsächlich bei dem Jungen entschuldigt. Der kleine Tom war acht Jahre alt und rief direkt aus dem Hort an, da der Nikolaus nicht wie ausgemacht zum Abholen der Wunschzettel vorbeigekommen war.
Georg kündigte ihr Erscheinen an und legte auf.
»So, Matthis, dann fahren mia halt raus zum Hort und reden mal mit den Verantwortlichen. Und warum die einfach so a Kind an das Telefon lassen.«
»Ja, wir haben eh nichts zu tun, lass mich nur noch schnell speichern.«
»Aha!«, rief der Kommissar auf.
»Was aha? Ich will die Bilanz eben nicht noch einmal machen.«
5
Immer wieder fielen Schneeflocken sanft wie Puderzucker auf die ostfriesische Insel herab. Die dichte, graue Wolkendecke hing wie festgeklebt am Firmament, selbst der frostige Wind hatte keine Chance, sie zu vertreiben.
Matthis steuerte den Caddy in einem gemütlichen Tempo durch die verwaiste Fußgängerzone. Die Lichterketten, die die Gassen zierten, waren bereits angegangen. Sie erhellten die Innenstadt und tauchten sie in ein buntes Lichtermeer.
In den dunklen Jahreszeiten wurde es auf der norddeutschen Insel im Vergleich zum deutschen Festland noch einmal einen Ticken früher dunkel.
Die beiden durchgefrorenen und vom Fahrtwind zerzausten Polizisten hatten ihr Ziel erreicht. Matthis parkte den Caddy direkt auf dem Vorplatz der Kirche.
Die katholische Sankt-Ludgerus-Kirche lag direkt beim Kaiser-Wilhelm-Denkmal und war von einigen verkehrsberuhigten Fußgängergassen umgeben. Um die rötliche Backsteinkirche herum erstreckten sich zahlreiche Geschäfte. Ihre Spannweite reichte von kleinen Lebensmittelläden über Sportbekleidungsgeschäfte bis hin zu kleinen noblen Boutiquen. Sogar das ein oder andere exquisite Hotel befand sich in unmittelbarer Nähe.
Um sie herum waren bereits alle Straßenlaternen angegangen. Die Strahler um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal setzten den dreizehn Meter hohen Obelisken, der im Volksmund als Klamottendenkmal bezeichnet wird, perfekt in Szene.
Der Kommissar warf einen ehrfürchtigen Blick auf die Kirche. Das Gotteshaus wirkte in diesem Viertel, das überwiegend aus niedrigeren Gebäuden bestand, riesig.
Matthis wartete auf seinen Kollegen und schlappte mit ihm zu der elegant verzierten Eingangstür. Georgs Schritte schlurften dabei über den gepflasterten Boden. Um ein Haar hätte ihn eine Unebenheit aus dem Gleichgewicht gebracht.
Die Kirche hatte ihre Tore nicht verschlossen und so fanden sich die beiden Polizisten wenige Augenblicke später inmitten des überraschend modern eingerichteten Gebetshauses wieder. Die hellen Wände ließen den würfelförmigen Steinaltar als Blickfang mitten im Raum erstrahlen. Mittig in dem länglichen Raum war eine kleine Krippe aufgebaut, wenige Meter davon entfernt standen Figuren der Heiligen Drei Könige, die sich mit den Gaben in der Hand auf den Weg machten, um das Christkind auf Erden zu empfangen.
Der Kommissar wunderte sich sichtlich über die Inneneinrichtung. In dem kühlen Gotteshaus standen nämlich keine Holzbänke wie in anderen Kirchen üblich, sondern ein paar schicke, moderne Stühle. Diese befanden sich zudem in einer ovalen Aufstellung und somit seitlich zum Altar.
»Mei, was machen wir nun?«, flüsterte Georg seinem Kollegen zu, der noch vor einer Infotafel verweilte.
»Schau mal, gestern Abend hat die Kirche zur Beichte eingeladen.«
»Und wir haben Sie vermisst, Herr Kommissar Pampelhuber.« Eine fremde, kräftige Stimme erreichte ihre Ohren. Sie hallte in dem hohen Gebäude wider, als wollte sie sie mit ihren Worten umzingeln.
Beide Polizisten schreckten auf und drehten sich um.
»Aber es ist niemals zu spät, um den Herrn um Vergebung zu bitten«, sagte der neue katholische Priester Ronald Zirner, als er aus seiner Sakristei heraustrat.
Matthis und Georg kannten den neuen Pfarrer der katholischen Gemeinde noch nicht persönlich. Pfarrer Zirner war von einer kleinen Gemeinde im Odenwald nach Norderney versetzt worden. Ob dies auf seinen eigenen Wunsch oder wie beim Kollegen Pampelhuber aufgrund einer Verfehlung geschah, war leider nicht bekannt.
Georg war erstaunt über die persönliche Ansprache. Was hatte das zu bedeuten und woher kannte das neue kirchliche Oberhaupt der Gemeinde seinen Namen? Waren sie sich etwa schon begegnet? Während Georg in seinen Gedanken verweilte, machte Matthis ein paar Schritte auf den Prediger zu. Er streckte dem stämmigen Herrn seine Hand zur Begrüßung entgegen.
Der ältere Priester erwiderte die Begrüßung mit einem festen Händedruck. Seine Gesichtszüge wirkten jedoch nach wie vor bierernst. Seine Stirn, die er runzelte, war durch die Halbglatze auf seinem Haupt sehr hoch. Lediglich die letzten dichten braunen Haare an den Seiten ließen auf eine einstige Lockenpracht schließen.
»Sind Sie gekommen, um nachträglich Buße zu tun, Herr Pampelhuber?«, fragte der Pfarrer erneut und wandte sich wieder dem stämmigen Inselkommissar zu.
»Hab i was verpasst?«, fragte Georg. »Kennen mia uns schon?«
»Leider noch nicht persönlich, Herr Pampelhuber. Aber als katholischer Priester ist es meine Pflicht, die kleine katholische Gemeinde hier auf Norderney zu kennen. Ich bin aber auch Abonnent der Tageszeitung und gerade das mit dem kleinen Mädchen im Supermarkt, über das sie stolperten, ging nicht spurlos durch die Medien oder die Schlagzeile, in der Sie baden gingen …«
»Mei, wie oft denn noch, das war alles a Versehen und unter Kniehöhe, da hab i halt keine Augen im Fuß und mein Wampen, der hat halt a gewisse Abschirmung. Aber warum schauen a die Eltern net mehr nach ihren Kindern!«
»Ich denke, Sie wissen um Ihre Verfehlung und wir sollten diese Geschichten dem Herrn beichten und um Vergebung bitten«, sagte Herr Zirner und zeigte auf eine kleine aufgestellte Beichtkabine.
»Naa, das brauch i heut net«, grantelte der Kommissar in seinen Vollbart, ehe Matthis ihn aus diesem Gespräch befreite. »Wir sind eigentlich dienstlich hier, Herr Zirner. Es geht um den Nikolaus beziehungsweise um Herrn Harald Weber. Kennen Sie ihn? Er ist spurlos verschwunden und wir versuchen, seine letzten Stunden zu rekonstruieren. Ein Zeuge sagte uns gegenüber aus, Harald sei gestern Abend bei Ihnen in der Kirche gewesen, nachdem er sich wegen seines Zustands etwas länger mit der Kirchtür beschäftigt habe. Können Sie diese Zeugenaussage bestätigen?«
Der Pfarrer zog seine buschigen Augenbrauen an und runzelte dabei die Stirn. »Ja, ich kenne Harald. Er war gestern Abend hier, bei dem Beichtgottesdienst und auch anschließend im Beichtstuhl. Aber was meinen Sie mit seinem Zustand?«
»Wir müssen davon ausgehen, dass sich Herr Weber in einem psychologischen Ausnahmezustand befand.«
Der Pfarrer wirkte irritiert. »Ich kann Ihnen nicht folgen, Herr Jüllich.«
Der Kommissar schnaubte. »Mei, der Nikolaus muss an sauberen Rausch gehabt haben.«
»Jetzt verstehe ich Sie«, antwortete Herr Zirner. »Da muss ich Sie aber leider enttäuschen. Herr Weber konnte vor einiger Zeit der Versuchung des Alkohols auch mit der Hilfe des Heiligen Vaters abschwören und sich seiner Sucht endgültig entledigen. An sauberen Rausch, wie es Herr Pampelhuber eben salopp formulierte, kann ich Ihnen somit nicht bestätigen.«
Matthis schaute verlegen auf. »Wir haben eine Zeugenaussage, die besagt, dass Herr Weber zur Kirche torkelte und eine Weile brauchte, ehe er die schwere Eingangstür aufbekam. Ist Ihnen also wirklich nichts von einem derartigen Zustand aufgefallen?«
»Einen unsicheren Gang, ja, den kann ich Ihnen bestätigen. Dieser beruht jedoch auf einer kleinen Fußverletzung. Er hatte sich wegen eines Rasers beim Überqueren der Straße sputen müssen und sich dabei den Fuß vertreten. Sie sehen also, die Wahrheit ist eine andere und nicht einfach an sauberen Rausch, wie es Ihr Kollege eben meinte.« Der Pfarrer warf dem bayerischen Starermittler einen strengen Blick zu. Georg verdrehte die Augen und schluckte hastig seine Worte runter. Auch wenn es wirkte, als hätte ihn der Pastor auf dem Kieker, so wollte er hier im Gotteshaus auf keinen Fall einen Streit anzetteln oder einem Geistlichen an die Gurgel gehen.
»Worum ging es eigentlich bei der Beichte?«, fragte Matthis.
»Herr Jüllich«, entgegnete Herr Zirner empört. »Sie müssten doch wissen, dass ich als Diener Gottes dem Beichtgeheimnis unterliege.«
»Ja, das weiß ich natürlich, aber wir gehen davon aus, dass sich Harald Weber in einer psychischen Ausnahmesituation befand. Weswegen er sich aktuell auch in einer hilflosen Lage befinden könnte.«
»Auf welche Annahmen stützen Sie Ihre Behauptungen?«, fragte der Priester.
»Herr Weber ist spurlos verschwunden. Wir haben eine Aussage, die besagt, dass er hier zuletzt gesehen wurde.«
»Sehen Sie, Herr Jüllich, auch ich kann Ihnen eine vernünftige Zeugenaussage liefern. Dann hätten Sie zwei widersprüchliche Aussagen für Ihre Aktenlage. Ich kann Ihnen bestätigen, dass Harald Weber ein Mitglied meiner Gemeinde ist. Er war gestern Abend zur Messe hier und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Einen psychischen Ausnahmezustand kann ich ihm somit absprechen. Wäre sonst noch etwas, was ich für Sie tun kann?«
»Auch wenn das schön gesagt ist. Die Faktenlage ist eine andere«, erwiderte Matthis. »Herr Weber ist spurlos verschwunden und wir sollten ihn wirklich finden, da er sich alleine in einer wirklich brenzligen Situation befinden könnte.«
»Papperlapapp. Herr Weber ist im Geiste rein und nie allein. Der Herr ist unser Hirte. Er lenkt alles und wacht über jeden Einzelnen von uns. Auch wenn einige die kleinen Zeichen, die er uns unermüdlich schenkt, nicht erkennen. So sind sie doch um uns. Viele kleine Wunder, Zeichen und Symbole, die uns unterbewusst in die richtige Richtung lenken. Das gilt natürlich auch für Sie, Herr Pampelhuber.« Und schon wieder lenkte der Priester seinen Blick auf den unbeteiligten Kommissar.
Georg zuckte leicht zusammen. Sein Puls schnellte in die Höhe. Die Miene, die ihm der strenge Priester unter ständiger Benutzung seines Namens zuwarf, störte den bayerischen Ermittler immer mehr. Er musste sich wirklich konzentrieren, um nicht die Contenance zu verlieren.
»Auch das haben Sie schon wieder sehr schön gesagt. Aber wir haben da etwas in Herrn Webers Wohnung gefunden.« Matthis kramte den handschriftlich verfassten Abschiedsbrief aus seiner Jackentasche und reichte ihn Herrn Zirner. Der Pfarrer hielt das Dokument gegen eine Lichtquelle. Die Zeit, die er sich nahm, ließ Matthis darauf schließen, dass er den Brief mehrfach las.
»Ich frage Sie das wirklich nur einmal, Herr Zirner«, sagte Matthis und lenkte die Aufmerksamkeit des Priesters wieder allein auf sich. »Wissen Sie, wo sich Herr Weber aufhält?«
»Nein, aber seien Sie gewiss, der Herr wacht über alle seine Schäfchen und somit auch über Harald Weber.« Herr Zirner warf einen abschließenden Blick auf den Brief und gab ihn Matthis wieder zurück.
»So kommen wir heute hier nicht mehr weiter«, sagte Matthis. »Danke für Ihre Zeit, Herr Zirner, aber sollte ich mehr Hinweise über den möglichen psychischen Ausnahmezustand erhalten, muss ich Sie erneut aufsuchen.«
»Meine Türen sind immer geöffnet, auch wenn sich die linke Tür bei diesem kalten Wetter etwas verzogen hat und die Tischlerei den Termin wegen eines Notfalls im Regenbogenhort heute verschieben musste. Herr Pampelhuber …« Der Geistliche wendete seinen Blick von Matthis ab und nickte dem Kommissar zu. So schief wie er dabei schaute, wusste der Pfarrer sicherlich genau, was passiert war. Gut, wahrscheinlich wusste sogar schon die komplette Insel, was passiert war. Bei Klatsch und Tratsch waren die Insulaner eben schnell.
Georg konnte dem stechenden Blick nicht mehr standhalten und schaute auffällig zur Seite. Seine Aufmerksamkeit fiel auf die liebevoll aufgebaute Weihnachtskrippe, die mitten im Raum platziert war. Doch irgendetwas stimmte nicht.
Pfarrer Zirner verabschiedete sich und lief zu seiner Sakristei zurück.
Georg konnte nicht mehr widerstehen. Endlich hatte er etwas gesehen, das er gegen den überkorrekten Pfarrer verwenden konnte. Wenn er schon alle seine Verfehlungen aufgezeigt bekam, war es nun an der Zeit, zurückzuschießen. »Warten Sie, Herr Zirner, warum ist eigentlich in der Krippe koa Kind mehr drin? Ist das mittlerweile a rassistisch oder steckt da a anderer neumodischer Schmarrn dahinter?«
»Was?«, rief der Pfarrer. Er drehte sich um und ging auf die Krippe zu. Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, sein Blick wurde starr und regungslos. Seine Stimme verlor schlagartig ihre Dominanz. »Das kann doch nicht sein. Ich habe das Christuskind selbst in die Krippe gelegt. Die heilige Puppe … Sie wurde gestohlen!«
Matthis und Georg traten an die Krippe heran. Wortlos analysierten sie den leeren Futtertrog. Alle weiteren Figuren und Dekorationsgegenstände waren daneben ordentlich aufgebaut und vor Ort.
»Naa, warum sollte irgendjemand an goldenen Kelch außer Acht lassen und stattdessen nur a damische Pup stehlen. Das ergibt doch koan Sinn.«
Herr Zirners Augen verengten sich. »Sagen Sie, wie sprechen Sie über das Abbild des Propheten? Sind Sie noch ganz bei Trost, Herr Pampelhuber?«
»Eine berechtigte Frage«, entgegnete Matthis. Er wollte die aufkommenden Anspannungen sofort wieder im Keim ersticken. »Höre ich tatsächlich auch nicht zum ersten Mal. Aber entschuldigen Sie die Wortwahl meines Kollegen. Ich denke auch, dass wir das nicht überstrapazieren sollten und die Kirche im Dorf lassen sollten.«
»Und was gedenken Sie zu tun?«, fragte der Prediger.
»Mei, für die Mittagspause san mia scho a bissl zu spät«, beantwortete Georg die Frage.
»Bitte was?«, erwiderte der Priester.
»Ja, wir können in diesem Fall wirklich nicht viel machen«, sagte Matthis. »Ich werde den Fall natürlich aufnehmen und wir werden auch alle Augen und Ohren offen halten, aber eine gestohlene Puppe sollte eben nicht die oberste Priorität einnehmen. Außerdem wird es ohne Anhaltspunkte auch wirklich schwer.«
Georg setzte einen belehrenden Blick auf. »Ajo und unsere Kapitäne … äh Kapada… Kapadi… Kabadizitäten san a aufgrund der Suche des Kaspers äh, wie heißt der Nikolaus … Ah ja, Harald a gebunden.«
Der Priester warf einen fragenden Blick zu dem Revierleiter. »Wie so einfach? Ist das die Strahlkraft unserer Behörde? Heiliger Vater, steh mir bei.« Der Priester schaute bei seinen letzten Worten nach oben und bekreuzigte sich.
»Was sollten wir denn Ihrer Meinung nach tun?«, fragte Matthis höflich.
»Ich weiß nicht. Wie wäre es zum Beispiel mit Fingerabdrücken?«
»Wegen a damischen Pup?«, erwiderte der bayerische Kommissar.
»Auch wenn mein Kollege das wieder sehr salopp formuliert hat, so muss ich ihm leider recht geben. Das Thema Fingerabdrücke ist nicht so ausgereift, wie es im Fernsehen immer dargestellt wird. Das ist schon sehr aufwendig und mit hohen Kosten verbunden. Also bei einem Kapitalverbrechen oder einem höherwertigen Diebstahl wäre das alles natürlich machbar. Aber bei einem so geringen Sachwert sind mir buchstäblich die Hände gebunden.«
»Ja, und meistens freut ma sich dann a, dass man an Treffer im System hat und dann ploppt doch wieder nur die eigene Personalakte auf«, sagte der Kommissar.
Ratlos sah der Pfarrer zwischen Matthis und Georg hin und her.
»Aber ich werde den Diebstahl selbstverständlich in unserem System eintragen«, sagte Matthis. »Herr Zirner, Sie werden also beizeiten auf jeden Fall von uns hören. Dann wünsche ich Ihnen, trotz alledem, noch einen angenehmen Abend.«
Die beiden Polizisten schlugen den Weg zum Ausgang ein.
»Ja, und was mache ich jetzt mit der leeren Krippe?«, rief ihnen Herr Zirner hinterher.
»Mei, leg halt a Baby Born nei, den Unterschied wird scho koaner merken.«
»Georg!«, rief Matthis und unterstrich seinen Ausruf mit einem ernsten Blick.
»Wenn’s aber so is, woas soll i sagen«, grummelte der bayerische Ermittler, bevor die schwere Eingangstür hinter ihm Polizisten zufiel.
Herr Zirner brauchte einen Augenblick und biss sich dabei leicht auf die Unterlippe. Er ärgerte sich, dass er mit seinem Anliegen einfach so stehen gelassen wurde. Nach einem Moment der Stille drehte sich der Pfarrer um und ging zurück in seine Sakristei. Immerhin hatte auch er noch eine Menge zu erledigen.
Als Matthis und Georg die Kirche verlassen hatten, schlugen die Kirchturmglocken 18:00 Uhr. Mit müden Schritten gingen sie die wenigen Meter zum Caddy zurück. Durch den leichten Schneefall waren die beigen Lederbezüge der Sitze eingeschneit und nass.
»Machen mia Feierabend?«, fragte der Kommissar.
»Nein, noch nicht. Lass uns noch einmal zum Weihnachtsmarkt zurückfahren.«
»Warum das denn schon wieder?«
»Toms Mutter sagte, dass Harald betrunken war.«
»Woas aber ihr Mann gesehen hatte«, erwiderte Georg.
»Das weiß ich, aber ich möchte noch einmal kurz mit ihr reden.«
»Aber dann ist Feierabend, versprochen?«
»Gut, ich denke nach wie vor, dass sich Harald in einer psychischen Ausnahmesituation befinden könnte. Ich möchte den Vater von Tom also heute auch noch unbedingt befragen. Vielleicht können wir dadurch irgendwie Haralds Spur weiter zurückverfolgen.«
»Mei, dann fass i einmal fürs Protokoll zusammen: Es gibt koan Feierabend fürn Pampi, dafür darf i wegen dem bescheuerten Nikolaus ermitteln und irgendwie war doch der ganze Tag für ’n Arsch.«
»Ja und vergiss mir die Puppe nicht! Dieser Fall muss noch aufgenommen werden. Es ist immerhin Diebstahl.«
»Herrlich, das haben mia ja heut unbedingt a noch gebraucht.«