Prolog
„Sie, Bursche, sind eine Schande für die Royal Society!“ Ein hagerer Herr mit buschigen schwarzen Augenbrauen und kahlem Schädel sprang von seinem Stuhl auf und versperrte den Gang, als der Hauptredner des Abends seine Notizen zusammensuchte und von der Bühne trat. „Die Mitglieder unserer erhabenen Institution sind die angesehensten Wissenschaftler der Welt. Dass Sie in diesem Hörsaal solche aberwitzigen Ideen von sich geben, ist eine Beleidigung gegenüber dem logischen Denken und den empirischen Beobachtungen, die diese Einrichtung auszeichnen.“
„Hört, hört“, murmelte einer der Anwesenden.
„Hören Sie auf, mit Ihrer Faust vor meiner Nase herumzufuchteln, Milford“, erwiderte der Redner. „Es sei denn, Sie wünschen, dass ich sie Ihnen in den Schlund stopfe.“
„Gentlemen, Gentlemen!“ Der Sekretär der Royal Society unterstrich seine Ermahnung mit einem tadelnden Klatschen seiner Hände und eilte herbei, um die Konfrontation zu beenden. „Ich bitte Sie, lassen Sie uns die Würde und den Anstand wahren, die von unseren gelehrten Mitgliedern erwartet werden.“
„Milford ist es, der unsere Würde beschmutzt, nicht ich“, entgegnete der Sprecher. „Er hat keine Fantasie.“
„In der Wissenschaft geht es um Fakten, nicht um Fantasie, Boyleston!“, spottete Milford.
Boyleston gab einen äußerst unhöflichen Laut von sich, was ihm eine weitere Rüge des Sekretärs einbrachte.
Milford drehte sich um und wandte sich an den Direktor der Gesellschaft. „Wie können Sie allen Ernstes in Erwägung ziehen, Boylestons Gefasel in den Philosophical Transactions zu veröffentlichen? Unsere Zeitschrift ist die weltweit führende für wissenschaftlichen Fortschritt. Es ist absolut lächerlich, wenn er behauptet, dass Elektrizität und Magnetismus dasselbe sind, und nicht verschiedene Kräfte. Wir werden zum Gespött der Wissenschaft, wenn wir seine Worte drucken.“
„In der Tat!“, meldete sich einer der Gelehrten zu Wort, die sich um die Streitenden versammelt hatten. „Denken Sie an unser Motto – Nullius in verba! Was, wie wir alle wissen, bedeutet: Ich vertraue auf niemandes Wort. Ich stimme Milford zu, dass wir nicht den geringsten Beweis gesehen haben, dass Boylestons Theorie etwas taugt.“
„So ein Unsinn! Die französischen Wissenschaftler arbeiten schon seit Jahren an dieser Idee“, konterte Boyleston.
„Ja, und wir alle wissen, wie sehr Sie die Franzosen mögen“, meldete sich ein anderes Mitglied.
Die Wangen des Redners erröteten vor Zorn. „Wie können Sie es wagen, meine Loyalität als Engländer in Frage zu stellen, Fogg!“
„Weil Sie sich verdammt viel Zeit ließen, Paris zu verlassen, als Napoleon sich zum Kaiser krönte und den Krieg in ganz Europa neu entfachte“, feuerte der Mann neben Fogg zurück.
Ein zustimmendes Grummeln erhob sich aus der Menge.
„Wissenschaft sollte nicht von Politik gelenkt werden, Redding“, antwortete Boyleston mürrisch. „Die französischen Wissenschaftler führten weitaus ausgefeiltere Experimente mit Elektrizität durch als wir hier in Großbritannien. Ich blieb, weil ich lernen wollte!“ Er blickte sich stumm appellierend um. „Sicherlich sind wir uns alle einig, dass Wissen keine politischen Grenzen kennt.“
„Es sei denn, ein mörderischer Imperator benutzt es, um Tod und Zerstörung auf einem ganzen Kontinent zu verbreiten“, erwiderte Redding, seine Stimme zitterte vor zurückgehaltener Wut.
„Redding hat recht. Ihre hochtrabenden Worte mögen abstrakt betrachtet vielleicht vernünftig klingen“, antwortete Fogg. „Aber wenn die Wissenschaft dem Feind im Kampf hilft, ist das eine ganz andere Sache.“
Boyleston wurde weiß wie ein Gespenst. „Ich habe dem Feind nicht geholfen! Ich bin nach England zurückgekehrt, als klar wurde, dass Napoleon den Frieden von Amiens aufkündigen würde.“
„Sparen Sie sich Ihre Ausflüchte“, sagte Redding. „In Wahrheit gingen Sie vor einigen Jahren nach Frankreich zurück, um bei Ihren Pariser Freunden zu studieren.“
Noch mehr zustimmendes Gemurmel.
„Sie waren alle Männer von beispielhaftem wissenschaftlichem Ruf“, rief Boyleston. „Und Napoleon war am anderen Ende der Welt damit beschäftigt, Russland zu erobern! Sobald er zurück nach Frankreich geflohen war, kehrte ich nach London zurück. Auf jeden Fall hatten unsere Experimente nichts mit dem Krieg zu tun. Wir arbeiteten an wichtigen theoretischen Konzepten, die helfen werden, die Welt zum Besseren zu verändern.“ Er winkte ungeduldig ab. „Warum faseln wir über Napoleon und die Vergangenheit? Er ist auf Elba im Exil und keine Bedrohung mehr. Europa genießt den Frieden und die Aussicht auf großen Wohlstand, was nicht zuletzt der Wissenschaft zu verdanken ist. Blicken wir also in die Zukunft!“
„Wie können Sie es wagen, von uns zu erwarten, dass wir Ihre vergangenen Taten vergessen?“, entgegnete Redding, die Sanftheit in seiner Stimme stand im Kontrast zu den Emotionen, die sein Gesicht verzerrten. „Mein Sohn ist tot, weil Männer wie Sie einen Tyrannen bewunderten.“
Mit einem mitfühlenden Raunen hielten einige von Reddings Begleitern ihn zurück.
Eine Traube aus Menschen hatte sich um die Streitenden gebildet und das Gemurmel wurde immer feindseliger.
„Ich sage Ihnen, ich hatte nichts für Napoleon übrig.“ Boyleston kniff die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen. „Was Ihre Verunglimpfung meiner Abhandlung über Elektrizität und Magnetismus betrifft, die ich unserer Zeitschrift vorlegen werde, so werden Sie alle schon bald bereuen, was Sie gesagt haben – warten Sie nur ab! Ich beabsichtige, meine Theorie vor großem Publikum zu beweisen …“
„Ich hoffe doch, wir sind alle eingeladen, um zu sehen, wie Sie sich zum Narren machen“, spottete Milford.
„Genug, Gentlemen! Lassen Sie uns diesen Streit beenden, bevor er wirklich hässlich wird“, befahl der Sekretär der Royal Society. „Wie unsere Tradition es vorschreibt, wird das Komitee, welches für die Auswahl der wissenschaftlichen Beiträge zuständig ist, die in unserer Zeitschrift veröffentlicht werden, die endgültige Entscheidung darüber treffen.“ Eine Pause. „Wenn Sie darauf bestehen, diese ungebührliche Streiterei fortzusetzen, dann tun Sie dies andernorts.“ Der Sekretär glättete die Falten seines Halstuchs. „Für diejenigen, die es vorziehen, sich zivilisiert zu verhalten, werden nach der Vorlesung wie üblich Champagner und Hummerpasteten in der Empfangshalle serviert.“
Die etwas beschämt dreinblickende Menge schlurfte schnell davon und ließ Boyleston allein zurück.
Er atmete scharf aus, drehte sich um und verließ den Hörsaal durch eine der Seitentüren, wo ein Korridor zur Rückseite des Gebäudes führte und ein verziertes Eichenportal Zugang zu den hinteren Terrassen mit Blick auf die Themse gewährte.
Mondlicht tanzte über das plätschernde Wasser. Die wirbelnden Strömungen rauschten leise in der Brise, die den Gestank von Kohlenrauch und Verwesung den Fluss hinauftrug, während sich sein Wasser mit der Ebbe in Richtung der Isle of Dogs zurückzog. Boyleston zögerte, dann ging er zur Marmorbalustrade und stützte sich mit den Händen auf den kalten Stein.
„Zum Teufel mit all den Kleingeistern.“ Er blickte hinauf zum Nachthimmel. Die diamanthellen Sterne des Orion schimmerten durch die aufziehenden Wolken. „Genau da, wo er sein sollte“, murmelte er. „Der Himmel läuft mit Uhrwerkpräzision, nicht mit wankelmütigen Gefühlen.“ Der Gedanke half, sein Temperament zu beruhigen. Ebenso wie die Tatsache, dass der Zorn ihn dazu getrieben hatte, die stickige Enge von Somerset House zu verlassen, ohne sich seinen Mantel zu holen.
„Die Welt ist ständig in Bewegung“, fuhr er fort, die Kälte der Nacht ignorierend. „Veränderung ist eine elementare Kraft der Natur. Warum mangelt es meinen Kollegen nur an der Neugier, all die Naturphänomene zu verstehen, die uns immer noch ein Rätsel sind?“
Eine Fähre, nicht mehr als eine verschwommene Silhouette auf dem eisengrauen Wasser, bahnte sich ihren Weg über den Fluss zu den Old Bargehouse Stairs, den Stufen, die zum alten Kahnhaus hinaufführten. Silbrige Nebelschwaden schwebten tief über dem Anleger. Boyleston zog einen Stumpen aus seiner Manteltasche und mit einem schnellen Schlag von Feuerstein auf Stahl entzündete er ihn. Er nahm einen Mundvoll des süßlich duftenden Rauchs, betrachtete das Spiel von Licht und Dunkelheit, das sich vor ihm ereignete, und freute sich über die Einsamkeit, jetzt, da die monatliche Versammlung der Royal Society zum Ende gekommen war. Er zog die Gesellschaft von Ideen der Gesellschaft von Menschen vor. Sie waren weitaus rationaler.
Als der Stumpen auf genau ein Viertel seiner ursprünglichen Größe abgebrannt war, ließ er ihn auf die Steinfliesen fallen und zerstampfte die glühende Spitze mit dem Absatz seines Stiefels.
Ordnung und Präzision. Ein methodischer Ansatz führte in der wissenschaftlichen Forschung – wie auch in den meisten anderen Bereichen des Lebens – zu den besten Ergebnissen.
Seine Wut flammte wieder auf, als er sich an die kürzlichen Angriffe auf seine Forschung sowie auf seine Person erinnerte. Anstatt zur Garderobe des Haupteingangs zurückzukehren, um seinen Mantel zu holen – er war nicht in der Stimmung für eine weitere Konfrontation – wandte sich Boyleston zur Terrassentreppe, die hinunter zur Uferpromenade des Flusses führte, wo sich der Fußweg zur Surrey Street befand.
„Neue Ideen machen die Menschen ängstlich.“ Eine Stimme drang aus den Schatten des stattlichen Portikus auf der Rückseite von Somerset House, gefolgt von einer Gestalt in formeller Abendgarderobe. „Und damit wütend.“
Boyleston erkannte den Gentleman nicht als ein Mitglied der Royal Society, aber er nahm auch nur selten an Versammlungen teil. „Nur engstirnige Schwachköpfe lassen sich von Dingen einschüchtern, die sie nicht verstehen“, antwortete er. „Ein wahrer Mann der Wissenschaft sollte das Unbekannte begrüßen und neue Entdeckungen feiern, die uns helfen, die Funktionsweisen des Universums besser zu verstehen – unabhängig davon, wo sie ihren Ursprung haben.“
„Ich widerspreche Ihnen nicht, Sir“, antwortete der Fremde. „In der Vergangenheit wurden brillante Denker wie Galilei und Kopernikus verfolgt …“
„Weil sie die Wahrheit sagten!“, unterbrach Boyleston.
„Ja, natürlich. Das wissen wir jetzt. Aber oft braucht es Zeit, bis sich eine radikale neue Idee durchsetzt. Nicht jeder ist ein Genie und erkennt die Wahrheit auf den ersten Blick.“
„Verdammt seien diese Narren. Sie sollten zur Seite treten, um dem Fortschritt nicht im Wege zu stehen.“ Zornig schnaubend kehrte Boyleston dem Mann den Rücken zu und ging die Treppe hinunter.
„Kein Grund zur Aufregung, Sir“, beschwichtigte der Fremde, der eilte, um ihn einzuholen. „Ich rate Ihnen nur, Diskretion zu üben – sie ist, wie Ihnen jeder Militär sagen wird, oft wichtiger als Kühnheit. Wenn Sie vielleicht bloß etwas Ihre Zunge zügeln würden …“
Ein weiteres erzürntes Schnauben. „Warum sollte ich?“
„Mit Milde macht man sich Freunde, mit Bitterkeit Feinde.“
„Freunde sind wankelmütig“, schnauzte Boyleston. „Ideen stolpern nicht über ihre eigenen Zehen, weil sie versuchen, den neuesten modischen Theorien zu folgen.“
„Ich versuche, Ihnen zu helfen, Sir“, sagte der Fremde. „Es scheint mir, dass eine Demonstration Ihrer Theorie verfrüht ist. Wenn Sie die Anerkennung gewinnen wollen, die Ihre Entdeckung verdient, warum lassen Sie den Leuten dann nicht etwas Zeit, um über Ihre Arbeit und Ihre …“
„Ich bin der Entdeckung und der Verbreitung neuer Erkenntnisse verpflichtet!“, erwiderte Boyleston. „Wahrheit ist Wahrheit. Also hören Sie auf, mich zu bedrängen, Sir, und gehen Sie. Ich werde unter keinen Umständen meine Vorführung verzögern.“
Der Fremde stieß einen traurigen Seufzer aus. „Das ist bedauerlich.“
„Es ist mir egal, was Sie denken.“
„Auch das ist äußerst bedauerlich.“ Der Fremde schien zu stolpern und taumelte gegen ihn.
„Zum Teufel mit Ihnen …“, begann Boyleston, der plötzlich eine Kälte in seiner Brust verspürte, als der Fremde eine Hand ausstreckte, um sich festzuhalten. Doch dann wichen seine Worte einem dumpfen Knall und dem Geruch von versengter Wolle und Leinen – und kurz darauf hatte eine Kugel sein Herz durchbohrt.
„Ich befürchte, Sie werden ihm zuerst begegnen. Richten Sie ihm meine Grüße aus“, sagte der Fremde, während er schnell die Taschenpistole in seiner rechten Hand in die Tasche steckte, zurückwich und den leblosen Körper wie eine Stoffpuppe zusammensacken und die Treppen bis zum unteren Absatz hinunterrollen ließ, wo er mit einem dumpfen Aufprall zum Liegen kam.
Die Notizen für die Vorlesung, die aus der Manteltasche des Gelehrten quollen, flatterten in gespenstischer Stille davon, hoben und senkten sich mit den Launen der Brise, bis ein letzter Wirbel sie über den Fußweg am Flussufer verstreute.
Der Fremde ließ seinen Bick über die stattliche Fassade von Somerset House und das sanfte Licht wandern, das von seinen unzähligen Fenstern ausging, spitzte ein Ohr und erlaubte sich schließlich ein Lächeln. Die Empfangshalle lag auf der anderen Seite des Ostflügels des Gebäudes, und ein Übermaß an Champagner und gelehrter Geselligkeit hatte dafür gesorgt, dass die finstere Realität der Außenwelt die gemütliche Bastion des intellektuellen Austauschs nicht gestört hatte.
Der Fremde wandte sich wieder dem Fluss zu, dessen dunkle Strömungen und Strudel sich im Einklang mit der Flut bewegten. Die kleinen, lästigen Zwischenfälle des Lebens haben keinen Einfluss auf die Gezeiten der elementaren Mächte, die das Universum beherrschen, sinnierte er. Man muss stets den Blick auf das große Ganze gerichtet halten.
Nachdem er die Falten seines Abendmantels glattgestrichen hatte, schritt er die Treppe hinab, vorbei an der Leiche, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und legte die Pistole sorgfältig in eine Spalte zwischen den Balustraden. Zufrieden kehrte er ins Gebäude zurück und begab sich in den überfüllten Empfangssaal.
Die Stimmung war dank des guten Weins und des vorzüglichen Essens gelöst. Alle Gedanken an die kurze, unangenehme Konfrontation im Hörsaal schienen vom sanften Summen männlicher Konversation hinweggetragen. Mit einem Glas in der Hand entfernte er sich von den Erfrischungstischen, nickte und lächelte denjenigen zu, an denen er vorbeikam, ehe er sich einer Gruppe anschloss, die über die Ankunft neuer Pflanzenexemplare aus Amerika für den Chelsea Physic Garden diskutierte. Sollte später jemand nach einem Fremden unter ihnen gefragt werden, so würde man sich an ihn als einen vortrefflichen Gesellen erinnern.
Kapitel 1
Charlotte, Gräfin von Wrexford, rollte ihren Stift zwischen den Handflächen, bevor sie einen Seufzer ausstieß und auf das leere Blatt Aquarellpapier vor ihr auf dem Schreibtisch blickte. Es kam nur selten vor, dass sie so lange über das Thema für eine ihrer Zeichnungen grübelte.
Als Londons beliebteste – manche würden sagen: berüchtigtste – satirische Künstlerin empfand sie es als ihre feierliche Pflicht, die Öffentlichkeit über die wichtigen sozialen und politischen Themen ihrer Zeit zu informieren, die ihr Leben beeinflussten. Korruption, Machtmissbrauch, die persönlichen Verfehlungen der Mächtigen, Gesetze, die ungerechte Lasten auf die Schultern der Armen abwälzten – mit scharfzüngigen Kommentaren sprach sie für jene Massen, die keine eigene Stimme hatten.
Doch in letzter Zeit herrschte eine ungewöhnliche Stille in der Stadt.
„Keine Kriege, keine politischen Krisen, keine Skandale.“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Was natürlich eine gute Sache ist.“ Das einzige Ereignis von Belang war die waghalsige Flucht eines exotischen Affen – ein Geschenk des indischen Sultans an den König – aus der Tower Menagerie.
Nachdem sie Hawk, angehender Künstler und einer der drei Waisenjungen, für die sie und ihr Mann als offizielle Vormunde fungierten, kürzlich auf einen Ausflug dorthin begleitet hatte, um die berühmten Löwen zu skizzieren, hatte Charlotte die Kreatur tatsächlich mit eigenen Augen gesehen.
Langes, federleichtes silbergraues Fell umrahmte ein ebenholzschwarzes Gesicht, dessen Dunkelheit durch ein Paar leuchtend gelber Augen nur noch mehr betont wurde … Charlotte tunkte rasch ihre Feder ins Tintenfass und begann zu kritzeln: lange Arme und Beine, flinke Finger, die unablässig ihre Umgebung zu erforschen schienen … Offenbar hatte ein Wärter leichtsinnigerweise den Schlüssel im Schloss des Käfigs stecken lassen, woraufhin der gewitzte Affe sich selbst befreit hatte.
„Werden Sie sich etwa zu dem Plündernden Affen äußern?“, fragte McClellan, als sie die Tür zum Arbeitszimmer aufstieß und ein Tablett mit Tee und Gebäck auf dem Beistelltisch abstellte.
Offiziell war sie das Hausmädchen der Gräfin von Wrexford – doch das wurde ihrer tatsächlichen Rolle kaum gerecht. Aufseherin der drei Wiesel, gelegentliche Ermittlerin, Bäckerin himmlischer Ingwerplätzchen – mit einem Wort: das Rädchen, das die Maschinerie ihres zugegebenermaßen exzentrischen Haushalts am Laufen hielt.
„Anscheinend ist das Tier vergangene Nacht in die Küche von Carlton House eingedrungen und hat sämtliches edles Obst und das feine Puddinggebäck verzehrt, das für das Abendessen des Prinzregenten vorgesehen war“, fügte McClellan hinzu. „Natürlich sorgt das für allerlei Aufregung. Die Öffentlichkeit feiert den Affen geradezu – alle hoffen, dass er weiterhin auf freiem Fuß bleibt, und können kaum erwarten, welchen Unfug der kleine Tunichtgut als Nächstes anrichtet.“
Charlotte schürzte nachdenklich die Lippen – und gluckste dann leise. „Ah, ich hab’s – der Piratenprimat!“, verkündete sie triumphierend, während sich vor ihrem inneren Auge bereits eine Komposition formte: ein fröhlicher Affe, der dem vor Wut tobenden königlichen Regenten und seinem Regiment der Coldstream Guards entkam. „Prinny muss außer sich sein. Nicht nur wegen des drohenden Spotts, der bald die Straßen fluten wird, sondern vor allem, weil er bekanntlich eine Schwäche für Süßes hat.“
„Neben anderen Vergnügungen“, bemerkte das Hausmädchen trocken. Sie schenkte zwei Tassen Tee ein und trug eine davon an Charlottes Arbeitstisch. „Um die Sache noch dramatischer zu machen, hat der Palast soeben bekannt gegeben, dass eine stattliche Belohnung von fünf Guineen demjenigen zusteht, der den Flüchtigen wohlbehalten in den Turm zurückbringt.“
„Das wird ja mit jedem Augenblick reizvoller“, sagte Charlotte mit einem schiefen Lächeln, während sie sich den Affen in einer fein gestickten Weste vorstellte, der den Soldaten, die ihm nachsetzten, Goldmünzen zuwarf. „Das ist perfekt. Ich sollte mich ans Werk machen, damit Raven die Zeichnung noch vor Mitternacht ausliefern kann.“
„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sich wünschen“, meinte McClellan und trank einen Schluck Tee. „Die Wiesel hatten einen eigentümlichen Glanz in den Augen, als ich ihnen von der ausgesetzten Belohnung erzählt habe.“
Charlotte verging das Lächeln. „Verflucht.“
„Ich habe sie auf dem Dachboden poltern hören, als ich ein Tellerchen Ingwerplätzchen im Schulzimmer abgestellt habe“, sagte McClellan. Ein Räuspern. „Die Worte Fischernetz und Seilrolle sind mehr als einmal gefallen.“
Charlotte seufzte und schloss für einen Moment die Augen, um die Gedanken an die möglichen Pläne zu verjagen, die die drei ausgeheckt haben könnten, um des geflohenen Affen habhaft zu werden.
„Mylady! Mylady!“
Hawk, der jüngere der beiden Brüder, die Charlotte einst unter ihre Fittiche genommen hatte, als sie noch eine verwitwete Frau war, stürmte in das Arbeitszimmer.
Sind es nur drei Jahre gewesen? Es fühlte sich an wie ein anderes Leben.
Ihr Lächeln bebte sanft, als sie sich an die Sorgen und Freuden jener schwierigen Zeit erinnerte, in der sie eine Ausgestoßene von der Gesellschaft gewesen war und versuchte, sich mit ihrer satirischen Kunst durchzuschlagen, nachdem sie die Identität von A.J. Quill, dem Pseudonym ihres verstorbenen Mannes, angenommen hatte … bis das Schicksal in Form eines grausamen Mordes sie und den notorisch jähzornigen Graf von Wrexford zusammenbrachte.
Sie waren zu Beginn nicht gerade die besten Freunde gewesen. Aber seltsamerweise hatte sich ihre gegenseitige Antipathie in widerwilligen Respekt verwandelt … und dann in Freundschaft. Und dann …
Ihr Grübeln wurde durch ein lautes Glucksen von Hawks’ älterem Bruder Raven und Peregrine, dem jüngsten Neuzugang des Schwarms der Jungvögel, unterbrochen, als sie in der Tür auftauchten.
Er war ein Waisenkind – obgleich er nach dem Tod seines adligen Vaters nun Lord Lampson war –, und während der Ermittlungen zum Mord an seinem Onkel, ein brillanter Erfinder, der an einem geheimen Projekt für die Regierung gearbeitet hatte, in Charlottes und Wrexfords Familie aufgenommen worden.
Aufgrund einer Reihe von Verwicklungen innerhalb seiner eigenen Familie – seine Tante nahm es ihm bitterlich übel, dass der Titel der Familie an einen Jungen ging, dessen Mutter afrikanischer Abstammung war – hatten Charlotte und Wrexford ihm ein liebevolles Zuhause angeboten, und seine freundliche Cousine hatte zugestimmt, die Vormundschaft auf ihren Mann zu übertragen.
„Ha! Ich bin bereit zu wetten, dass wir den Affen im Morgengrauen im Sack haben!“, krähte Raven, während er mehrere Rollen Seil und eine Tüte mit überreifem Obst aus der Küche balancierte.
Peregrine hob die beiden Fischernetze, die er in den Armen hielt, und nickte begeistert.
Charlotte bemerkte, dass Raven – wie auch die anderen Wiesel – außerdem eine prall gefüllte Tasche auf den Schultern trug. Sie beschloss, nicht nachzufragen, was sich darin befand.
„Ihr drei wisst doch sicher, dass das Geld …“, begann sie.
„Oh, wir sind uns sehr wohl bewusst, dass das Belohnungsgeld zu erhalten, unsere Familiengeheimnisse gefährden würde“, versicherte Raven. „Wenn wir den Affen fangen, werden wir ihn Scratch geben – dem Straßenfeger, der Skinny’s Ecke übernommen hat –, damit er und seine Freunde die Belohnung erhalten.“
„Wir sehen die Jagd als eine lehrreiche Erfahrung an, Mylady“, meldete sich Peregrine zu Wort. „Wir müssen Geometrie anwenden, um den Annäherungswinkel zu bestimmen, wenn sich die Kreatur zwischen den Gebäuden versteckt, und ich bin sicher, unser Tutor wird die Lektüre schätzen, die wir über Affen betrieben haben.“
Die Jungen grinsten.
„Schaut nicht so selbstgefällig, Wiesel“, warnte McClellan. „Ich habe das Gefühl, dass Mylady ein paar Regeln aufstellen wird, bevor ihr euch aus dem Staub macht.“
„Richtig“, antwortete Charlotte. Sie ließ sich bewusst Zeit und betrachtete ihre schmierigen Gewänder und den rußigen Dreck auf ihren Gesichtern. Raven und Hawk hatten ihre frühe Kindheit damit verbracht, sich in den Londoner Elendsvierteln durchzuschlagen, ihre Lumpen waren also wie eine zweite Haut. Und Peregrine hatte sich schnell angepasst.
„Wenn ihr auf eurer Jagd Nachtwächter oder ähnliches seht, müsst ihr die Suche umgehend abbrechen und in die Schatten verschwinden.“
„Aye“, stimmte Raven zu.
„Und wenn Ihr das Tier in die Enge treibt, müsst ihr große Vorsicht walten lassen, damit ihr nicht gebissen oder gekratzt werdet. Versucht nicht, euch ihm zu nähern, es sei denn, ihr tragt ein Paar dicke Lederhandschuhe.“
„Aye!“, entgegnete Hawk. „Ich hab drei Paar in meine Tasche gepackt.“
„Noch etwas“, fügte sie hinzu. „Ihr müsst euren Aufbruch um eine Stunde vertagen. Ich muss meine Zeichnung zu Ende bringen und euch damit zu Mr. Fores schicken, ehe ihr zu eurer großen Jagd aufbrecht.“
„Aye!“, antworteten die drei ohne zu zögern im Gleichklang, obgleich sie ein wenig enttäuscht über die Verzögerung wirkten.
„Im Schulzimmer stehen Ingwerplätzchen bereit – das verkürzt das Warten“, sagte McClellan, woraufhin sie sich ein Wettrennen zur Treppe lieferten.
„Nun, dann werde ich mich wohl ans Werk machen“, verkündete Charlotte, wenngleich ihre Stimme einen Anflug von Unsicherheit verriet. „Auch wenn ich gestehen muss, dass ich mich frage, ob es klug ist, sich in dieser Nacht in der Stadt aufzuhalten. Angesichts der ausgesetzten Belohnung wage ich zu behaupten, dass sich viele Personen in die Gassen wagen werden, die sonst nicht zu den nächtlichen Spaziergängern zählen – alle auf der Suche nach dem flüchtigen Affen.“
„Sorgen Sie sich nicht.“ Das Hausmädchen sammelte das Teegeschirr ein, um es in die Küche zurückzutragen. „Die Jungen wissen, wie man sich in allen Winkeln der Stadt zurechtfindet, und verstehen es, Schwierigkeiten zu meiden. Ich glaube nicht, dass sie Gefahr laufen, in ernste Probleme verwickelt zu werden.“
Charlotte holte tief Luft, während sie ihre Feder ins Tintenfass tauchte. „Ihr Wort in Gottes Ohr.“
***
Dampf stieg von der Flüssigkeit auf, die in dem eisernen Kessel leise gurgelnd kochte.
Wrexford warf einen Blick auf seine Taschenuhr und machte dann einen Vermerk in sein Logbuch. Noch zwei Minuten. Er beobachtete den Sekundenzeiger bei seinem Lauf über das Ziffernblatt und empfand eine wissenschaftliche Befriedigung in der unerschütterlichen Präzision.
Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal in Ruhe seinen chemischen Experimenten hatte widmen können. Die geordnete Abfolge des Denkens, die das Prüfen seiner Theorien erforderte, war gleichermaßen beruhigend wie anspruchsvoll.
„In der Wissenschaft regiert die Vernunft“, murmelte er und löschte die Flamme genau in der richtigen Sekunde. „Während im Leben das Chaos herrscht.“
Er fasste den Kessel mit beiden Enden eines Handtuchs, stellte ihn auf einen Untersetzer auf dem Arbeitstisch und deckte ihn mit einer Glasscheibe ab. Sobald er über Nacht abgekühlt war, würde er bereit sein für den nächsten Schritt seines Experiments.
Aber fürs Erste …
Wrexford richtete sich auf und nahm sich einen Moment Zeit, um die schmerzende Stelle in seinem Nacken zu massieren. Ein Glas schottischen Malts und ein wenig Lektüre am Kaminfeuer wären eine angenehme Art, den Rest des Abends zu verbringen.
Die Freuden eines ruhigen Abends daheim fühlen sich in diesem Jahr noch süßer an, dachte der Graf, während er das Laboratorium verließ und sich ein Glas Schnaps einschenkte.
„Sláinte“, sagte er zum Kosmos im Allgemeinen, bevor er sich in das weiche Leder des Sessels neben dem Kamin in seinem Arbeitszimmer sinken ließ. Der vergangene Sommer und Herbst hatten eine Reihe unerwarteter Umwälzungen gebracht …
„Du siehst nachdenklich aus“, sagte Charlotte, als sie aus dem Schatten des Korridors trat und sich zu ihm in den sanften Schein der gläsernen Öllampen und der rotgoldenen Kohlen gesellte.
„Dankbar“, antwortete er mit einem schiefen Lächeln. „Wenn man bedenkt, wie lange wir jetzt schon gesegnete Ruhe und Frieden haben …“
„Ha! Verabschiede dich am besten gleich wieder von diesem Gedanken.“ Sie setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel. „Da du in der zerebralen Einsamkeit wissenschaftlicher Forschung gefangen warst, hast du wohl noch nichts von der Großen Flucht gehört!“
Wrexford umschloss sein Glas fester. „Verdammt noch mal, sag nicht, dass Napoleon …“
„Was für eine makabre Fantasie du doch hast! Aber grâce à Dieu, nein, ganz so schlimm ist es nicht.“ Charlotte erlaubte sich ein amüsiertes Lächeln. „Der Affe – ein grauer Langur, den der König kürzlich vom Sultan von Golcanda bekam – ist gestern aus der Tower-Menagerie entkommen …“
Sie erklärte, dass das Tier die besonderen Süßigkeiten des Prinzregenten aus Carlton House gestohlen hatte – und eine Belohnung auf seine Wiedererlangung ausgesetzt worden sei.
Wrexford gluckste.
„Du solltest dir das Lachen verkneifen, bis ich fertig bin“, warnte sie.
„Ah.“ Er nahm einen kräftigen Schluck Whisky und starrte auf den Rest in seinem Glas, nachdem er gehört hatte, was die Wiesel vorhatten. „Ich hätte es besser wissen müssen, als dem Schicksal mit einem Toast darauf ins Antlitz zu spucken, dass wir Mord und Chaos entkommen sind.“
Charlotte erhob sich eilig und nahm eine Flasche von der Anrichte. Sie zog den Korken mit einem satten Plopp heraus und spritzte einen Schwall der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die glühenden Kohlen.
Rauch und Dampf stiegen unter einem schlangenartigen Zischen auf.
„Möge Eris, die Göttin des Chaos, dieses Getränk als Entschuldigung für die Hybris eines Sterblichen annehmen“, sagte sie.
„Amen dazu“, erwiderte Wrexford. Er stieß den Atem aus. „Ein einzelner Affe, auf freiem Fuß in einer sehr großen Stadt voller Gebäude und Verstecke …“ Er schürzte die Lippen. „Die Chancen, dass die Jungen ihn finden, stehen nicht gut.“
„In der Tat“, verkündete ihr enger Freund Kit Sheffield, als dieser den Raum betrat. Sowohl er als auch seine Frau waren inoffizielle Mitglieder der Familie und gingen im Stadthaus am Berkeley Square ein und aus, wie es ihnen beliebte.
„Wenn Sie möchten, kann ich die mathematischen Berechnungen anstellen.“ Sheffield rieb sich den Nasenrücken. „Aber lieber nicht. Ich habe die letzten fünf Stunden damit verbracht, mich mit Zahlen und Gleichungen herumzuschlagen.“
„Eine Haushaltssitzung der Bristol Road Commission?“, fragte Wrexford.
Sheffield und Cordelia betrieben ein sehr erfolgreiches Schifffahrtsunternehmen – doch da sie zur Beau Monde gehörten, mussten sie ihre Beteiligung am Handel geheim halten. Kit war ein lautstarker Kritiker von Großbritanniens veralteter Straßen- und Verkehrsinfrastruktur, insbesondere für den Transport von Waren und Menschen. Als sich ihm die Gelegenheit bot, bei der Neugestaltung mitzureden, ergriff er sie mit Begeisterung.
Allerdings, so bemerkte der Graf, wirkte ihr Freund derzeit ein wenig entmutigt.
„Ja“, erwiderte Sheffield, wobei Frustration seine Stimme schärfte. „Und ich habe beschlossen, hier vorbeizusehen und ein wenig zu jammern, bevor ich heimkehre. Cordelia hat sich meine jüngsten Tiraden über unseren mangelnden Fortschritt mit Anmut und Humor angehört.“ Er verzog das Gesicht. „Doch ihre Geduld hat Grenzen.“
„Aber die Liebe nicht“, warf Charlotte ein. „Cordelia bewundert und lobt Ihr Engagement, das Land zu einem besseren Ort für alle zu machen, die hier leben. Wie dem auch sei, Sie sind hier stets willkommen, wenn Ihnen etwas auf dem Herzen liegt. Der Himmel weiß, wir haben Sie oft genug in unsere eigenen Schwierigkeiten hineingezogen.“
„Also – was ist das jüngste Problem?“, fragte Wrexford.
„Wir haben eine Reihe wichtiger Projekte geplant und Monate damit verbracht, die endgültigen Kosten zu ermitteln. Aber die vom Parlament zugesagten Mittel haben sich verzögert“, antwortete Sheffield. „Man sagte mir, es habe unerwartete Schwankungen in der Staatsverschuldung gegeben, und deshalb seien die Ausgaben gekürzt worden.“
Der Graf runzelte die Stirn. „Soweit ich weiß, schwanken die Finanzmärkte doch ständig.“
„Verlangen Sie nicht von mir, dass ich Ihnen erkläre, wie sie funktionieren“, seufzte Sheffield schwermütig. „Mir gefiel es besser, als ich noch ein Unbedarfter war und alle annahmen, ich sei zu intelligentem Denken nicht fähig.“
Die Gesellschaft sah ihren Freund lange als charmanten, aber nichtsnutzigen Herumtreiber an. In den letzten Jahren jedoch hatte er sich als kluger Unternehmer erwiesen – mit wachsendem Interesse an der Welt der Finanzen.
Charlotte lächelte. „Nein, das tat es nicht.“
Das entlockte ihm ein schiefes Lächeln. „Wohl kaum. Cordelia hätte mich nicht mal angesehen, wenn ich noch immer so ein vollkommener Trottel gewesen wäre.“ Er hob die Augenbrauen. „Trotz meiner beaux yeux.“
„Sie sind ein Idiot“, kommentierte Wrexford, als er sich erhob, um sein Glas nachzufüllen. „Möchten Sie einen Drink?“
„Durchaus. Aber offenbar täusche ich gewisse Leute ganz gut“, meinte ihr Freund nach einem dankbaren Nicken. „Ein Kollege aus der Bristol Road Commission hat mich gerade gebeten, dem Finanzausschuss beizutreten und die Regierung davon zu überzeugen, dass die Mittel für das Projekt eine wichtige Investition in die Zukunft unseres Landes darstellen.“
Sheffield hielt inne und nahm das Glas mit Whisky von Wrexford entgegen. „Aber um auf Cordelia zurückzukommen – ich habe durch sie eine noch wichtigere Einladung erhalten. Vor einigen Wochen traf sie auf einem Symposium der Londoner Gesellschaft für Mathematik einen sehr interessanten Mann und sie verbrachten viel Zeit damit, sich über Wirtschaft und die Anwendung mathematischer Modelle zur Analyse von Risiko und Ertrag zu unterhalten.“
„Ein Thema, das Cordelia zweifellos faszinierte – sowohl wegen der abstrakten intellektuellen Herausforderungen als auch wegen seiner praktischen Relevanz für Ihr Schifffahrtsunternehmen“, sinnierte Charlotte.
„Ja. Sie sind sich seither noch einige Male bei Vorträgen der Gesellschaft begegnet. Und als sie erwähnte, dass ich Mitglied der Bristol Road Commission bin und über die Kürzungen der Regierungsgelder für das Projekt unzufrieden war, lud mich der Kollege ein – sein Name ist übrigens David Ricardo – der Gesellschaft für internationales Bankwesen und Handel beizutreten, deren Mitglieder prominente Persönlichkeiten aus der Finanzwelt sind.“
„David Ricardo“, sagte der Graf nachdenklich. „Ich habe gehört, dass er ein hervorragender Finanzexperte ist … außerdem ist er an der Finanzierung der Staatsschulden beteiligt.“
„Ja, er ist offenbar ziemlich brillant. Es heißt, er habe 1793 mit einem Kapital von nur 800 Pfund begonnen und sei heute einer der reichsten Männer Englands“, antwortete Sheffield. „Er hat auch Artikel über Wirtschaftstheorie veröffentlicht, die von führenden Denkern auf diesem Gebiet hoch geschätzt werden.“
„Außerdem soll er einen guten Ruf wegen seiner Integrität haben“, fügte Wrexford hinzu.
„Jetzt, wo Sie es erwähnen, habe ich David Ricardo in einer Reihe von Zeichnungen festgehalten, die ich vor einigen Jahren darüber angefertigt habe, wie unsere Regierung die astronomischen Summen finanzierte, die für den Krieg gegen Napoleon aufgewendet wurden“, sagte Charlotte.
„Wenn ich mich recht erinnere, hat er auch einen ungewöhnlichen persönlichen Hintergrund“, warf der Graf ein.
Sheffield nickte. „Seine Familie sind sephardische Juden portugiesischer Abstammung, die im letzten Jahrhundert aus der Niederländischen Republik nach Großbritannien übersiedelten. Sein Vater war ein erfolgreicher Finanzier, der an der Börse handelte. Ricardo verliebte sich jedoch in eine englische Quäkerin und nachdem er mit ihr durchgebrannt war, schwor er seinem Glauben ab, was zu einem irreparablen Bruch mit seiner Familie führte.“
Charlottes Gesichtsausdruck wurde nachdenklich – eine Mischung aus Traurigkeit und Bedauern. „Wie schrecklich. Familie ist kostbar.“
Wrexford wusste, dass sie an ihre eigene Entfremdung von ihrem strengen Vater und ihrer Mutter dachte – und daran, dass sie nie die Chance gehabt hatte, sich mit ihnen zu versöhnen, bevor sie starben.
„Familien sind kompliziert“, entgegnete er.
Das brachte sie zum Lächeln.
„Amen“, sagte Sheffield. „Aber manchmal können sie einen auf eine Weise überraschen, die man sich nie hätte vorstellen können.“ Er drehte das Whiskyglas in seiner Hand und nahm einen nachdenklichen Schluck, bevor er das Gespräch abrupt auf ein weniger sensibles Thema lenkte. „Ricardo ist durch seinen Beruf als Zwischenhändler an der Börse sehr reich geworden …“
„Ich gestehe, dieser Begriff verwirrt mich“, unterbrach Charlotte. „Ist das einfach eine andere Bezeichnung für Aktienhändler?“
„Nein. Ricardo hat mir erklärt, dass es da einen wichtigen Unterschied gibt. Ein Aktienhändler wählt die Wertpapiere, die er kaufen oder verkaufen will, selbst aus und handelt nur damit, wenn es ihm beliebt. Ein Zwischenhändler hingegen spielt eine weit komplexere Rolle für das reibungslose Funktionieren der Börse. Er fungiert als eine Art Mittelsmann oder Marktmacher …“
„Was bedeutet Marktmacher?“, unterbrach Charlotte.
Sheffield zögerte. „Ich lerne noch, also kann ich noch nicht alle Nuancen erklären. Aber ein Zwischenhändler ist gewissermaßen das Öl, welches das Zahnrad der Londoner Börse am Laufen hält. Er ist jederzeit bereit, Wertpapiere zu kaufen oder zu verkaufen. Dabei legt er für jedes einzelne Papier einen bestimmten Preis fest – einen, zu dem er kauft, und einen etwas höheren, zu dem er verkauft.“
Eine kurze Pause.
„So wie ich Ricardo verstanden habe, kauft ein Aktienhändler in der Regel von einem Zwischenhändler oder verkauft an ihn“, fuhr er fort. „Ebenso wie Makler, eine Bank oder eine Privatperson. Es ist viel einfacher, mit einem Zwischenhändler zu handeln, der immer präsent ist und einen Preis nennt, als eine einzelne Gegenpartei zu finden und die Bedingungen erst aushandeln zu müssen. Indem sie als Vermittler fungieren, ermöglichen Zwischenhändler das effiziente Funktionieren des Marktes.“
Charlotte dachte einen Moment lang nach. „Aber wie Wrex schon sagte – schwanken die Märkte nicht ständig? Wie kann ein Zwischenhändler überhaupt wissen, wie er den Preis eines Wertpapiers festlegen soll?“
„Er passt seine An- und Verkaufspreise ständig an“, antwortete Sheffield. „Ja, er geht dabei ein erhebliches Risiko ein – nämlich, dass er die Marktrichtung falsch einschätzt und Verluste macht. Andererseits kann er auch erhebliche Gewinne erzielen, wenn er die zukünftige Preisentwicklung richtig vorhersieht. Ein bedeutender Händler wie Ricardo wird auch seine zentrale Position an der Londoner Börse nutzen, um Wertpapiere für eigene Investitionen zu kaufen oder zu verkaufen – wenn er glaubt, dass deren Preise es rechtfertigen.“ Sheffield verzog das Gesicht. „Und bevor Sie fragen – ich kann Ihnen nicht alle Kräfte erklären, die das Auf und Ab der Aktienkurse beeinflussen. Aber ich hoffe, von Ricardo noch mehr darüber zu lernen. Man sagt ihm nach, er habe eine fast unheimliche Fähigkeit, die Neigungen des Markts mithilfe der Mathematik zu erkennen – so sehr, dass viele andere Anleger dazu neigen, sich an seinen Entscheidungen zu orientieren, sobald sie von seinen Transaktionen hören. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass seine Einschätzungen zu günstigen Marktentwicklungen führen.“
„Das klingt gewiss nach einem anspruchsvollen Geschäft – wenn auch einem sehr profitablen, sofern man das nötige Talent und die Kühnheit besitzt“, überlegte Charlotte. „Aber wie ich schon sagte, soweit ich mich an die Zeichnungen erinnere, die ich angefertigt habe, scheint Ricardo auch eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung jener großen Anleihen gespielt zu haben, die die Regierung jedes Jahr aufnehmen musste, um die Kriege gegen Napoleon und seine Verbündeten zu finanzieren.“
„Ja“, sagte Sheffield, „das ist ein anderer, aber sehr wichtiger Teil von Ricardos Tätigkeit. Diese jährlichen Kredite, die die Regierung aufnimmt, sind gewaltig. Vor zwei Jahren hat die Regierung zum Beispiel 49 Millionen Pfund geliehen.“
Bei der Erwähnung dieser Summe zog der Graf die Augenbrauen hoch.
„Um der Regierung die Aufnahme solcher immensen Beträge zu erleichtern“, fuhr Sheffield fort, „haben sich rivalisierende Konsortien von etwa einem Dutzend Bankiers, Zwischenhändlern, Maklern und anderen Fachleuten gebildet, die sich jedes Jahr um die Kreditvergabe an die Regierung bewerben. Aber der Prozess selbst – und die Art, wie die Öffentlichkeit daran teilnimmt – ist eine komplizierte Angelegenheit, die ich zu einem anderen Zeitpunkt erklären werde.“ Er machte eine Pause. „Und da Napoleon nun auf die Insel Elba verbannt wurde, gehören solche Großkredite glücklicherweise der Vergangenheit an.“
„Das ist alles sehr faszinierend.“ Charlotte rieb sich die Schläfen. „Aber der Gedanke, all diese Zahlen zu analysieren, bereitet mir Kopfschmerzen.“
„Mir auch“, gab Sheffield mit einem selbstironischen Grinsen zu. „Aber genug von meinen Sorgen. Kehren wir zurück zu den Jungen und ihrer aktuellen Eskapade.“ Ein kehliges Lachen drang aus seiner Brust. „Wiesel gegen Affe? Hmmm, das könnte sich als äußerst interessant erweisen.“
Kapitel 2
Raven warf einen Blick über die Steinbrüstung des äußeren Weges, der das Dach des Lagerhauses umgab, und duckte sich dann in die Schatten. „Wir brauchen Peregrines neue Seilwinde und ein Stück Seil“, flüsterte er. „Aber wir müssen leise sein, damit wir den Racker nicht wecken.“
Ihre Strategie hatte sich ausgezahlt. Auch wenn die Suche nach einem entlaufenen Affen in einer Stadt von der Größe Londons vielleicht noch entmutigender war, als eine Nadel im Heuhaufen zu suchen, hatte Raven einen Plan ausgeklügelt. Ausgehend von der Lage der Tower-Menagerie und der Residenz des Prinzregenten sowie der Tatsache, dass der Affe an den Docks der Ostindiengesellschaft angekommen war, hatte er vermutet, dass sich das Tier in der Nähe des Flusses aufhalten würde. Dann nutzte er geschickt ihr befreundetes Netzwerk aus Gassenkindern.
Während Peregrine darauf gewartet hatte, dass Charlotte ihre Zeichnung vollendete, hatten er und Hawk ein Überwachungssystem eingerichtet, um alle Informationen über Sichtungen des Affen an mehrere wichtige Kontrollpunkte weiterzuleiten.
Ein Hinweis hatte sie nach Osten geführt, ein anderer nach Süden … und siehe da, ein dritter führte sie auf das Dach einer Handelsgesellschaft am Fluss, wo sie den schlafenden Affen auf dem Eingangsportikus einer Laderampe in einem abgelegenen Innenhof vorfanden.
„Wer hat die Früchte?“, fügte Raven hinzu, während er begann, das große quadratische Fischernetz, das er auf dem Dachboden gefunden hatte, zu entfalten.
„Aye.“ Hawk hielt einen Jutesack mit mehreren überreifen Äpfeln hoch, die McClellan in der Speisekammer ausgegraben hatte.
Peregrine schnupperte daran und grinste. „Ausgezeichnet!“
„Ich wage zu behaupten, dass der Affe hungrig sein wird, wenn er erwacht.“ Raven fädelte ein Seil durch die Mitte des Netzes und band einen faustgroßen Knoten an das Ende.
„Erklär mir noch einmal, was du vorhast“, sagte Peregrine.
Raven winkte seinem Bruder, ihm den Beutel zu reichen. Er zog eine der matschigen Früchte heraus und schnitt sie mit dem Messer, das er in seinem Stiefel trug, in Viertel, bevor er die Stücke in seine Manteltasche steckte und die Schnüre des Beutels sorgfältig knapp oberhalb des Knotens am Seil befestigte. „Sobald ihr zwei mich nah genug zu dem Affen hinuntergelassen habt, werfe ich ein paar Apfelstücke, um ihn aufzuwecken. Dann lasse ich das Seil, das den Beutel hält, hinunter …“
„Was ist mit dem Netz?“, fragte Hawk.
Sein Bruder antwortete mit einem frechen Grinsen. „Ich halte das Netz, durch das – wie du siehst – das Seil gefädelt ist. Und sobald der Affe anfängt, sich an dem Beutel zu schaffen zu machen, lasse ich es fallen.“ Er rüttelte daran. „Mac hat Angelgewichte aus Blei eingenäht, sodass es wie ein Stein runterfällt und den Affen verheddert, bevor er entkommen kann.“
„Genial“, sagte Peregrine mit einem bewundernden Nicken.
„Vorausgesetzt, es läuft alles wie geplant“, erwiderte Raven trocken. Er schnallte sich einen schweren Gürtel um die Taille und zentrierte den großen Eisenring, der vom dicken Leder an Ort und Stelle gehalten wurde.
„Ist die Winde bereit?“
„Aye.“ Peregrine, der von seinem verstorbenen Onkel viel über Technik gelernt hatte, überprüfte den Apparat, den er gebaut hatte, um Raven vom Dach herabzulassen, und befestigte dann die Messingklammer, die an einem Ende des Zugseils angebracht war, am Ring. „Fertig.“
Mit katzenhafter Verstohlenheit kletterte Raven über die Brüstung und ließ sich geräuschlos mehrere Meter hinab, bis die Zahnräder der Seilwinde leise einrasteten. Nach einem prüfenden Blick nach unten gab er ein Zeichen, damit Peregrine und Hawk ihn langsam zu dem schlafenden Affen hinabgleiten ließen.
Ein Windhauch wehte durch die Spalten zwischen den Gebäuden, doch Raven verlagerte sein Gewicht, um geräuschlos absteigen zu können. Er passierte ein verdunkeltes Fenster im obersten Stockwerk – und dann ein weiteres darunter.
Als er bemerkte, dass sich ein Lichtschein in seinen Stiefeln spiegelte, wurde ihm klar, dass der Raum, an dem er gerade vorbeiglitt, von innen beleuchtet war.
Er murmelte ein Wort, das er in Wrexfords und Charlottes Anwesenheit nie laut aussprechen würde, sah nach oben und signalisierte den beiden, ihn rasch durch den Lichtschein hindurchsinken zu lassen.
Sein Abstieg beschleunigte sich … und stoppte dann abrupt.
Dankbar für seine dunkle Kleidung und das rußgeschwärzte Gesicht, hielt Raven sich ganz still. Er hing beunruhigend nah am Glas, doch Wolken hatten sich über das Mondlicht geschoben und die mitternächtliche Dunkelheit verdichtet. Mit etwas Glück würde er unbemerkt bleiben.
Er zählte leise bis zehn … und dann noch einmal.
Der Docht der Öllampe auf dem Tisch gegenüber dem Fenster glomm auf, dann flackerte die Flamme kurz und warf einen Lichtschein auf eine Reihe von Papieren, die auf dem dunkel gemaserten Mahagonitisch ausgebreitet waren.
Stapel von Banknoten, Kreditbriefe, die von mehreren der führenden Banken Londons ausgestellt worden waren, Bündel von Aktienzertifikaten – zusammen mit Seiten, die mathematische Berechnungen zu enthalten schienen …
Raven erkannte die Bankdokumente wieder, denn Sheffield hatte ihm einmal erklärt, dass solche Papiere von internationalen Händlern genutzt wurden, da sie in vielen Teilen der Welt fast als bares Geld galten.
Man präsentierte sie einfach dem örtlichen Vertreter der Londoner Bank, um sie in die jeweilige Landeswährung umtauschen zu lassen. Sheffield hatte auch die Bedeutung von Aktienzertifikaten erklärt …
Eine Bewegung tief in den Schatten erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Gentleman – nein, es waren zwei Gentlemen – waren in den Raum getreten. Sie waren beide gut gekleidet, doch merkwürdigerweise schien ein Stück zerknitterter Seide, durchzogen von einer Art silbrigem Fell, über die Tischkante zu hängen.
Die beiden Männer führten offenbar ein ernstes Gespräch. Der eine konsultierte ein kleines Notizbuch, während der andere begann, die Papiere durchzusehen und sie auf mehrere Stapel zu sortieren.
Einen Moment später gesellte sich ein dritter Mann zu ihnen – ein stämmiger Kerl mit rötlichem Gesicht und wachen Augen, dessen spitzenbesetzte Krawatte und Mantel mit übergroßen Messingknöpfen in London seltsam fehl am Platz wirkten.
Die Brise hatte sich gelegt, und in der Stille zwischen den Gebäuden, die den Innenhof umgaben, konnte Raven ein paar Worte verstehen.
Börse … Aktienemissionen … Koordinierte Marktpositionen … Verkaufen …
Geschäftsangelegenheiten, entschied er und lenkte seine Gedanken rasch zurück auf sein eigenes Dilemma.
„Gauner.“
Raven erstarrte. War er entdeckt worden?
Nein – der rotgesichtige Gentleman sprach zu den anderen. Einen Moment später drang ein weiteres, genervtes „Gauner“ in die Nacht hinaus.
Was hielt Peregrine und Hawk auf? Er wagte nicht, nach oben zu blicken – aus Angst, die kleinste Bewegung könnte die drei Männer auf seine Anwesenheit aufmerksam machen.
Das Seil ruckte plötzlich, ließ ihn ein paar Zentimeter tiefer sinken, nur um ihn dann mit einem jähen Zug wieder in die Höhe zu reißen.
„Teufel noch eins“, zischte Raven, als der Mann mit dem Notizbuch die Stirn runzelte und aufsah.
Ihre Blicke trafen sich …
Und Raven sah in den obsidianfarbenen Augen des Mannes etwas aufblitzen, das weitaus mehr war als bloße Verwunderung.
„Hey, zieht mich hoch!“, rief er und verwarf jeglichen Gedanken an Verstohlenheit. „Und zwar schnell!“
Doch Obsidianauge hatte sich bereits abgewandt und glitt mit pantherhafter Geschmeidigkeit zurück in die Schatten.
„Tut mir leid! Das Räderwerk hat sich verklemmt!“, rief Peregrine.
„Zieh mich mit der Hand hoch!“, antwortete Raven und verlagerte das zusammengerollte Seil und das Netz, das er in den Armen hielt, zur Seite.
Obsidianauge war zurück – und prüfte in aller Ruhe die Zündung einer todbringend aussehenden Pistole.
„Na los!“, fügte Raven hinzu. „Ich werde euch womöglich kein zweites Mal bitten können!“
Obsidianauge spannte den Hahn der Waffe mit dem Daumen bis zum Anschlag und begann, den Tisch zu umrunden …
Ein heftiger Ruck ging durch das Seil und Raven begann aufzusteigen.
„Schneller, schneller!“, drängte er, als das eisenbeschlagene Fenster sich mit rostigem Ächzen öffnete.
Ein Blick nach oben zeigte ihm, dass die Kante der Brüstung beinahe in Reichweite war.
Er hob das Bündel aus Netz und Seil hoch, wirbelte herum und schleuderte es gegen die Mündung der Pistole, die auf seine Brust zielte. Dann wirbelte er erneut herum und streckte die Hand nach dem Sims aus.
PENG!
Der Schuss aus der Pistole war laut wie ein Donnerschlag. Im selben Moment spürte Raven einen heftigen Stoß zwischen den Schulterblättern, der ihn wie ein Katapult in die Höhe schoss. Sein Kinn prallte hart gegen den Steinsims …
… und dann wurde alles schwarz.
***
Mehrere Schläge des Messingklopfers an der Haustür durchbrachen die mitternächtliche Stille, die schwer über dem Stadthaus hing.
Charlotte wurde abrupt in die Gegenwart zurückgerissen – sie war lange aufgeblieben, um all ihre Pinsel zu reinigen, und ihre Gedanken waren zurück zu einer Kunstausstellung mit Aquarellen von J.M.W. Turner gewandert, die sie kürzlich besucht hatte – und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog.
Die Wiesel.
Sie warf ihren Lappen beiseite, krallte ihre Hände in ihren Rock und eilte zur Treppe. Die leise Vorahnung, dass etwas passiert sein könnte, hatte von Anfang an in den Tiefen ihres Unterbewusstseins gelauert und verstärkte jetzt die Dringlichkeit, mit der sie zur Tür hastete.
Wrexford, der sich ebenfalls noch nicht schlafen gelegt hatte, stand bereits im Foyer und entriegelte die Tür. Sie schwang auf und gab den Blick auf einen tadellos gekleideten Gentleman mit einem schicken Mantel und Kastorhut frei.
Ein Anflug von Erleichterung durchströmte sie, als sie sah, dass es sich nicht um einen Wachmann oder Bow Street Läufer handelte. Aber wer …
„Verzeihen Sie, dass ich Sie zu dieser unchristlichen Stunde störe, Mylord.“
Die Stimme kam ihr vage bekannt vor, doch Charlotte konnte den Gentleman nicht zuordnen.
„Aber ich … ich …“ Der Rest seiner Worte schien ihm in seiner Kehle stecken zu bleiben.
„Kommen Sie herein, Bethany, und erlauben Sie mir, Ihnen einen Brandy einzuschenken“, sagte Wrexford, als er zur Seite wich und den Gentleman eintreten ließ.
„Gütiger Himmel, es tut mir so leid, dass ich Sie gestört habe, Lady Wrexford“, fügte ihr Besucher hinzu, als er Charlotte im Schatten entdeckte.
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Lord Bethany“, erwiderte sie. Bei Wrexfords Erwähnung seines Namens hatte sie sich daran erinnert, dass er Sekretär der Royal Society war. „Zufälligerweise hatte ich einen Anflug der Kreativität und habe bis spät in die Nacht an einem Aquarell gearbeitet.“
„Ah, ja, wenn ich mich recht erinnere, ist einer Ihrer Schützlinge ein angehender botanischer Künstler“, antwortete der Sekretär, um Etikette bemüht, wenngleich seine Sorgen ganz offensichtlich woanders lagen.
„Richtig, Sir. Aber bitte, mir ist klar, dass dies kein Höflichkeitsbesuch ist. Erlauben Sie mir, Sie in den Salon zu begleiten.“
Schwer schluckend nickte Bethany dankbar. „Ich danke Ihnen, Mylady.“
Das Klicken ihrer Schuhe auf den Marmorfliesen klang unnatürlich laut in der Stille. Die Geräusche weckten einen Schauer der Erinnerung: Charlotte erinnerte sich an die Einzelheiten von Wrexfords letztem Gespräch mit dem Sekretär. Der Graf war in die Ermittlungen zum verdächtigen Tod eines Mitglieds der Royal Society während einer Gala in den Royal Botanic Gardens verwickelt gewesen.
Zugegeben, ein altes Sprichwort besagte, dass ein Blitz nicht zweimal an der gleichen Stelle einschlug …
Aber diese Hoffnung löste sich schnell in Rauch auf. Bethany betrat den Salon und drehte sich um, sein aschfahles Gesicht leuchtete im Lampenlicht, als der Graf ihm in den Raum folgte.
„Das Undenkbare ist geschehen, Wrexford“, verkündete er ohne Vorrede. „Ein gewaltsamer Tod – ein grässlicher Mord – hat heute Abend ein weiteres Mitglied unserer erhabenen Gesellschaft niedergestreckt.“
„Setzen Sie sich, Mylord“, riet Charlotte, die seinen Arm nahm und ihn zu einem Sessel gegenüber dem Sofa führte.
„Es tut mir leid, so eine schreckliche Nachricht zu hören“, antwortete Wrexford, während er ein Glas Brandy aus den Karaffen auf dem Beistelltisch einschenkte. „Wie und wo ist es passiert?“
Bethany nahm den Branntwein entgegen, hielt das Glas jedoch nur zwischen seinen zitternden Handflächen und starrte in den bernsteinfarbenen Schnaps. „Er wurde nach unserem monatlichen Treffen auf der hinteren Terrassentreppe von Somerset House erschossen.“
„Ein Raubüberfall?“, fragte Charlotte.
„Das scheint nicht der Fall zu sein. Sein Portemonnaie war unberührt.“ Er schloss für einen Moment die Augen, als könnte das den schrecklichen Vorfall ungeschehen machen. „Das Opfer war Atticus Boyleston, der Hauptredner des Abends. Er war ein seltsamer, schroffer Kerl und bei seinen Kollegen wegen seiner Verbrüderung mit französischen Wissenschaftlern während des Friedens von Amiens sowie eines kürzeren Aufenthaltes in Paris im Herbst 1812 nicht besonders beliebt.“
„Aber diese vergangenen Intermezzi waren doch sicher kein Grund für Mord“, sagte Wrexford.
„Es gab eine Konfrontation zwischen Boyleston und mehreren anderen Mitgliedern, gleich nachdem er seine Abhandlung präsentiert hatte. Der anfängliche Streit drehte sich um Boylestons Forschungsergebnisse, die viel Spott hervorriefen“, antwortete der Sekretär. „Doch die Dinge wurden sehr persönlich – und sehr hässlich – als jemand in der Menge, der einen Sohn in der Schlacht verloren hatte, ihn beschuldigte, den Feind zu unterstützen.“
„Das bedeutet nicht unbedingt, dass seine scharfen Worte zu tödlichen Taten geführt haben“, sinnierte der Graf.
Ein Hoffnungsschimmer erwachte in Bethanys Augen zum Leben.
„Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, warum Sie zu mir kommen.“
„Ich … ich denke, ich hatte gehofft …“ Der Sekretär holte zittrig Luft. „Ich hatte wohl gehofft, dass Sie einwilligen würden, bei diesem Fall zu helfen. Ihre Ermittlungen in dem Mordfall in den Royal Botanic Gardens haben Sie nicht nur mit großem Geschick, sondern auch mit großer Diskretion geführt. Sie haben den guten Namen unserer Gesellschaft davor bewahrt, von reißerischem Klatsch und wilden Spekulationen in den Dreck gezogen zu werden.“
Charlotte verstand die Bedenken des Sekretärs. Aber Mord hatte in letzter Zeit einen hohen Tribut in ihrer Familie gefordert. Die Aufklärung eines gewaltsamen Todesfalls, egal wie scheinbar einfach, war stets mit Komplexität verbunden. Man kam emotional nie ungeschoren davon.
Sie sah Wrexford an und hoffte, dass er sich nicht gezwungen fühlen würde, sich einzumischen. Die jüngsten Umstände hatten von ihm verlangt, ein persönliches Problem zu verdrängen, und sie wünschte sich, dass er endlich die nötige Ruhe und den Frieden fand, sich damit auseinanderzusetzen.
Zu ihrer Erleichterung schien er derselben Meinung zu sein.
„Nochmals, es tut mir leid, von dem Mord zu hören. Aber da ich keine Kenntnisse oder Verbindungen habe, die mir einen einzigartigen Vorteil bei der Aufklärung dieses Verbrechens verschaffen würden, sehe ich nicht, warum ich den ordnungsgemäß ernannten Behörden, die für die Verbrechen in der Stadt zuständig sind, vorgreifen sollte“, antwortete Wrexford. „Dies ist eindeutig ein Fall, den der Magistrat der Bow Street zu behandeln hat. Bitten Sie ihn, Griffin mit den Ermittlungen zu beauftragen. Ich versichere Ihnen, er ist der Inbegriff der Diskretion und extrem gut in dem, was er tut.“
Bethanys Gesicht verfinsterte sich. „Wir haben bereits eine Nachricht an die Bow Street geschickt und da ich Mr. Griffin als jemanden in Erinnerung hatte, den Sie sehr respektieren … habe ich ihn angefordert. Aber …“
„Dann sind Sie in guten Händen, Sir“, warf Charlotte ein, bevor er fortfahren konnte. „Angesichts der von Ihnen vorgetragenen Fakten bin ich recht zuversichtlich, dass Griffin den Fall schnell lösen wird.“
Der Sekretär schien widersprechen zu wollen, doch als er Charlottes Blick bemerkte, stellte er lediglich sein Glas auf den Teetisch und erhob sich. „Ich danke Ihnen beiden für Ihren Rat. Ich entschuldige mich nochmals dafür, dass ich Sie zu dieser späten Stunde gestört habe.“
Wrexford begleitete Bethany hinaus und kehrte nach wenigen Minuten zurück.
„Du hast das Richtige getan“, sagte sie, bevor er etwas erwidern konnte.
„Das bezweifle ich nicht“, antwortete der Graf. Und doch ließ sein Gesichtsausdruck etwas anderes erahnen.
Darauf bedacht, seine Gedanken zurück zur Familie zu lenken, wechselte Charlotte eilig das Thema.
„Nun, da die wichtigsten Fragen von den führenden Mächten Europas auf dem Wiener Kongress ausgehandelt wurden, hoffe ich, dass unser Freund Herr von Münch endlich der kryptischen Nachricht nachkommt, die er für dich nach unserem unerwarteten Treffen in Eton hinterlassen hat.“
„Wunschdenken“, murmelte der Graf.
„Trotz seiner gelegentlichen Unwahrheiten glaube ich nicht, dass er lügt“, entgegnete sie. „Er behauptet, er habe Informationen über deinen Vater und die geheimnisvolle Person, die wir nur als ‚A‘ kennen.“
Sie hatten von Münch bei den Ermittlungen zu einem Mord in der Bibliothek des Merton College in Oxford kennengelernt und waren ihm seitdem bei Nachforschungen zu verschiedenen Verbrechen begegnet. Er war, gelinde gesagt, ein Rätsel.
Zumal von Münch versprochen hatte, die Informationen weiterzugeben, sobald er ein paar weitere Details bestätigt hatte – und das war nun schon vor Monaten gewesen.
„Und wenn von Münch uns verrät, was er weiß“, fuhr Charlotte fort, „können wir uns ganz darauf konzentrieren, herauszufinden, welche Geheimnisse dein Vater womöglich vor dir verborgen hielt, und …“
„Ich beginne zu glauben, dass die Auflösung dieses Rätsels keine Rolle mehr spielt.“ Wrexfords blick wurde finster. „Es ist schließlich zu spät, mit ihm Frieden zu schließen.“
„Ganz im Gegenteil“, erwiderte Charlotte. „Du wirst deine alten Gespenster erst zur Ruhe bringen, wenn du alle Facetten im Leben deines Vaters verstehst.“ Sie hielt kurz inne. „Und wenn du dir selbst verzeihst, dass dein eigener Schmerz und die Trauer um deinen Bruder euch voneinander entfremdet haben.“
Der Graf wandte sich ab.
„Unser Freund hat deinen inneren Zwiespalt erkannt“, begann Charlotte.
„Ebenso wie Cordelia und Kit bin auch ich dagegen, dass du von Münch einen Freund nennst“, brummte der Graf. „Der Kerl hat eine beachtliche Summe Geld aus meinem Arbeitszimmer gestohlen.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Es war ohnehin nicht unseres.“
„Das macht es dennoch nicht rechtens.“
„Nein. Aber da es ursprünglich einem schändlichen Zweck dienen sollte, vertraue ich darauf, dass er es zu einem besseren verwendet.“
„Du hast mehr Vertrauen in ihn als ich.“
„Ich wage zu behaupten, dass wir nicht allzu lange warten müssen, bis wir erfahren, wer von uns beiden recht hat.“
Das leise Schlagen der Kaminsimsuhr lenkte Charlottes Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema.
„Ich hoffe, die Wiesel haben allmählich genug von ihrer nächtlichen Jagd und kehren bald nach Hause zurück.“
***
Hawk stieß einen Schrei aus und griff nach den Riemen von Ravens Tasche, ehe er von der Dachkante abrutschen konnte.
„Halt dich fest!“, rief Peregrine, trat die verklemmte Winde zur Seite und eilte herbei, um zu helfen, Raven über das Mauerwerk zu ziehen. Mit Mühe wälzten sie ihn bäuchlings auf die Schindeln des Daches.
Die Kugel hatte ein klaffendes Loch in Ravens Tasche gerissen, die Ränder geschwärzt und vom Schießpulver versengt.
„Raven?“ Hawk kniete sich neben ihn und rüttelte sanft an seinem Arm. „Raven?“
Als keine Antwort kam, hob er den Blick. Tränen liefen ihm über die Wangen. „Ich … ich glaube, er ist tot.“
„Ha – auf gar keinen Fall! Lucifer würde ihn im Handumdrehen wieder ausspucken“, knurrte Peregrine und weigerte sich standhaft, das Schlimmste zu glauben. Vorsichtig schnallte er die Tasche von Ravens Schultern, griff dann in seinen Seilsack und zog ein kleines Fläschchen hervor. „Hilf mir, ihn umzudrehen.“
Hawk, noch starr vor Schock, folgte stumm der Anweisung. Doch als er die reglosen Züge seines Bruders im bleichen Mondlicht erkannte, unterdrückte er ein Schluchzen.
Peregrine stieß ihn beiseite, entkorkte das Fläschchen und schüttete den Inhalt ohne zu zögern über Ravens Gesicht.
„A-a-arrgh!“ Raven krächzte und zuckte heftig zusammen – dann flatterten seine Lider auf. „Das brennt wie die Hölle!“
„Gut.“ Peregrine tastete nach einem weiteren Gegenstand in seiner Tasche. „Kannst du aufstehen?“
Raven stützte sich auf einen Ellbogen, dann richtete er sich langsam und unsicher auf. „A-aye.“
„Dann hör auf zu trödeln und tu es!“ Mit einem Ruck packte Peregrine Hawk am Kragen und zog ihn auf die Beine. „Wir müssen verschwinden.“ Er deutete auf die hölzerne Konstruktion in der Mitte des Dachs. „Denn ich wette meinen besten Schraubenschlüssel darauf, dass der Schütze gleich durch die Tür zum Treppenhaus kracht.“
Während Raven sich aufrappelte, ertönte ein leises Geräusch, als ein kleines rundes Metallstück aus seiner Tasche auf die Dachschindeln fiel.
Hawk schnappte es sich, bevor es wegrollte. „Bei Fortuna …“
„Vergiss die! Lauf!“ Peregrine unterstrich den Befehl, indem er die beiden anderen Wiesel kräftig vorwärtsstieß, als das Echo eiliger Schritte im Treppenhaus lauter wurde.
Die drei rannten zur hinteren rechten Ecke des Gebäudes, wo dekorative Eckpfeiler und ein Abflussrohr genug Halt boten, um wieder auf die Straße zu gelangen.
Mit affengleicher Geschicklichkeit kletterten sie hinunter und erreichten einen schmalen Vorsprung, der sich über eine Reihe Doppeltüren mit Vorhängeschlössern davor spannte.
„Springt!“, rief Peregrine, als ein Blick nach oben eine dunkle Silhouette am Rand des Daches offenbarte.
Gerade als ein Schuss fiel, landeten sie auf dem matschigen Gehweg und waren im nächsten Augenblick verschwunden, bevor ihr Angreifer erneut feuern konnte.
***
Wrexford strich sich eine widerspenstige Locke von der Stirn, als er sich auf den Weg in die Küche machte.
Er war zur Morgendämmerung erwacht und da seine Gedanken zu unruhig waren, um zu weiterem Schlaf zu finden, hatte er beschlossen, sich eine Kanne Kaffee zu kochen und sich seinem inneren Unbehagen zu stellen, bis der Rest des Hauses aufwachen würde.
Einsamkeit bot wenig bequeme Ablenkung. Sie zwang den Geist, sich zu konzentrieren – auch wenn das Bild, das sich daraus ergab, wenig erfreulich war.
Ein geschäftiges Treiben in den Vorratskammern verriet ihm jedoch, dass er nicht allein war.
„Es ist Kaffee auf dem Herd, Mylord“, rief McClellan.
Einen Moment später erschien sie mit einem Korb voller Eier und einer Flasche Milch.
„Soll ich Ihnen etwas Schinken braten?“
„Danke, aber zunächst nur Kaffee.“ Er schenkte sich eine Tasse ein und genoss den würzigen Geschmack der dunkel gerösteten Bohnen. „Sie sind sogar noch früher auf als sonst.“
„Ebenso wie Sie.“ Sie öffnete die Ofentür, um nach dem Blech mit den Küchlein zu sehen. „Übrigens, falls Sie es nicht mitbekommen haben, die Wiesel sind mehrere Stunden vor Sonnenaufgang gesund und munter zurückgekehrt – ohne den Affen, wie ich hinzufügen möchte. Die Jagd war wohl schwieriger als gedacht und der Pragmatismus hat über den Nervenkitzel des Abenteuers gesiegt.“
„Ich habe sie gehört“, antwortete Wrexford. „Und die Tatsache, dass sie sich so leise in ihre Zimmer schlichen, ließ mich vermuten, dass der Affe nicht dabei war.“ Ein schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Dem Himmel sei Dank. Unser Haushalt ist ohnehin schon exzentrisch genug. Jede weitere Ergänzung könnte …“ Er stockte. „Eigentlich möchte ich den Gedanken lieber nicht weiterverfolgen.“
Das Hausmädchen gluckste. „Wir haben uns mit all den Veränderungen in den letzten Jahren hier am Berkeley Square recht gut arrangiert. Ich wage zu behaupten, dass wir auch mit weiteren Überraschungen fertigwürden, die das Leben noch für uns bereithält.“
Veränderungen.
Wrexford nahm einen nachdenklichen Schluck von seinem Kaffee.
Er hätte sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, welche Wendungen sein Leben nehmen würde.
Noch vor wenigen Jahren war er ein einsamer Junggeselle gewesen – jähzornig, ruhelos, anfällig für dunkle Grübeleien.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, noch immer ein wenig verwundert darüber, wie sehr sich alles verändert hatte.
Nun war er verheiratet mit einer Frau, die er gleichermaßen bewunderte wie anbetete, und gemeinsam sorgten sie als Ersatzeltern für drei lebhafte Jungen.
Wrexford war sich nicht sicher, was er getan hatte, um ein solches Glück zu verdienen – aber er war unbeschreiblich dankbar dafür.
„In der Tat“, sagte er leise. „Es scheint, als könne uns nichts mehr so leicht schockieren.“
„Diese Worte solltest du dir vielleicht noch einmal überlegen“, sagte Charlotte, als sie die Küche betrat. In ihrem Gesicht lag ein finsterer Ausdruck.
Kurzerhand hielt sie eine Tasche hoch, griff hinein – und stach mit dem Finger durch ein großes Loch in dem Segeltuchstoff.
Kapitel 3
Der Graf stellte seine Tasse ab und nahm sich einen langen Moment Zeit, um den Schaden zu begutachten. „Ist das …“
„Ja, das ist ein Einschussloch“, bestätigte Charlotte. „Ich war gerade im Schulzimmer, um die Ausrüstung aufzuräumen, die die Jungen gestern Abend auf den Boden geworfen hatten.“ Sie stieß einen besorgten Seufzer aus. „Ich nehme an, sie wollten die Beweise heute Morgen verstecken, bevor einer von uns die Möglichkeit haben würde, sie zu entdecken.“ Nachdem sie die Tasche behutsam beiseite gestellt hatte, fügte Charlotte hinzu: „Die Wiesel haben eine Menge zu erklären.“
„Für viele arme Seelen hier in der Stadt sind die fünf Guineen, die als Belohnung für die Rückgabe des Affen ausgesetzt sind, ein Vermögen“, bemerkte McClellan. „Die Jungen müssen kurz davor gewesen sein, das Tier zu fangen.“
„Aye, wir waren so nah dran“, stöhnte Raven aus den Tiefen des verdunkelten Korridors.
„Wir waren kurz davor, unser raffiniertes Netz auszuwerfen …“, begann Hawk.
„Spar dir die Details“, riet Peregrine in einem eiligen Flüsterton. „Ich glaube nicht, dass sie daran interessiert sind, etwas über diesen Teil des Abends zu erfahren.“
„Richtig“, sagte Wrexford mit ernster Stimme.
„Ihr könnt genauso gut reinkommen, Wiesel“, fügte McClellan hinzu. „Die Frühstücksküchlein kommen gerade aus dem Ofen und ihr habt bestimmt einen Bärenhunger.“
Noch immer in ihren Nachthemden schlenderten die Jungen in die Küche.
„Wie Mylady sagen würde, Festina lente“, murmelte Hawk. Charlotte hatte die Angewohnheit, lateinische Aphorismen zu murmeln, wenn Schwierigkeiten auftraten. „Ich habe euch gesagt, wir hätten alles wegräumen sollen, bevor wir ins Bett gehen“, fügte er hinzu.
„Eile mit Weile ist ein weiser Gedanke“, stimmte sie zu. „Aber lasst uns nicht abschweifen, um über Philosophie zu diskutieren.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Erklärt uns genau, was passiert ist.“
Mit einem Seufzer erzählte Raven pflichtbewusst von ihrem Verdacht bezüglich des Aufenthaltsortes des Affen und die Entdeckung des Tieres, nachdem ihre befreundeten Gassenkinder es mehrfach gesichtet und sie zu einem Backsteingebäude am Fluss geführt hatten.
„Alles verlief genau nach Plan“, fuhr er fort. „Und dann, als Hawk und Falcon mich auf das Dach des Portikus hinabließen, klemmten die Räder von Falcons genialer Winde und das Seil blieb stecken …“
Charlotte hörte mit wachsendem Entsetzen zu, als er von den beiden Männern erzählte, zu denen sich dann noch ein rotgesichtiger Kerl gesellte, den er Rotbäckchen nannte, und von der Reaktion des Trios, als sie ihn entdeckten.
„Der Mann mit der Pistole hatte teuflisch dunkle Augen und ein spitzes Kinn. Auf dem Tisch lag ein großer Stapel Banknoten, zusammen mit etwas, das aussah wie eine Perücke und vielleicht ein falscher Backenbart auf einem Stück zerknitterten Stoff“, sagte er. „Aber was mir besonders auffiel, waren die anderen Finanzdokumente. Soweit ich es erkennen konnte, schienen die Papiere Aktienzertifikate zu sein. Mr. Sheffield hat mir einige Beispiele dafür gezeigt und mir erklärt, wie ein einziges Dokument eine Menge Geld wert sein kann.“ Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich habe auch Bruchstücke ihres Gesprächs aufgeschnappt, aber es waren nur ein paar Wörter hier und da – Aktien, Börse, koordinierte Positionen und hin und wieder ein ‚Gauner‘. Und dann, kurz bevor der Schuss fiel, hörte ich Rotbäckchen ein weiteres ‚Gauner‘ rufen.“ Ein Schulterzucken. „Tut mir leid. Das ist alles, was ich gehört habe.“
„Händler akzeptieren oft Akkreditive von ihren Käufern, die bei einer örtlichen Bank eingelöst werden können“, überlegte Wrexford.
„Man könnte es ihnen nicht verübeln, sollten sie gedacht haben, dass ihr zu einer Diebesbande gehört, die ihr Geschäft ausrauben will“, warf McClellan ein. „Ich vermute, sie hatten gerade einen lukrativen Verkauf von Waren getätigt und vermutet, dass eines der kriminellen Konsortien, die die Diebstähle entlang der Themse koordinieren, Wind davon bekommen hat.“
„Aber auf Kinder schießen?“ Charlotte strich sich eine einsame Haarsträhne hinter ihr Ohr. „Geld gibt niemandem das Recht, sich als Richter und Henker aufzuspielen. Das Gesetz des Landes sieht vor, dass nur die ordnungsgemäß ernannten Vertreter der Regierung die Befugnis haben, solche schwerwiegenden Entscheidungen zu treffen.“
„Du hast natürlich recht“, sagte Wrexford. „Im Prinzip zumindest. Unglücklicherweise kommt es jedoch häufiger vor, als wir glauben mögen, dass Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen, um ihr Vermögen zu schützen. Wir alle wissen, dass an den Kaianlagen und Lagerhäusern das Gesetz des Dschungels herrscht. Selbst die mächtige East India Company war gezwungen, eine eigene Privatarmee von Wächtern anzuheuern, um nicht blindlings ausgeraubt zu werden.“
„Vielleicht sollte ich eine Serie von Zeichnungen zu diesem Thema anfertigen“, antwortete Charlotte. „Das könnte helfen, Druck auf die Regierung auszuüben, endlich eine professionelle Polizei einzurichten.“ Eine Pause. „Wir sollten Griffin gegenüber zumindest erwähnen, dass die Gesetzlosigkeit entlang des Flusses aus dem Ruder läuft.“
„Ich stimme zu, dass der Einsatz für eine anständige Polizeibehörde ein wichtiges Anliegen ist. Aber in diesem speziellen Fall halte ich es für klug, dass wir keinen Staub aufwirbeln.“ Wrexford begegnete ihrem Blick. „Aus offensichtlichen Gründen.“
Unfähig, ein Argument vorzubringen, wandte Charlotte ihren Blick ab. Doch plötzlich kam ihr ein anderer Einfall. „Aber was ist mit der Perücke und dem falschen Bart? Das kommt mir sehr seltsam vor … Es sei denn, sie sind selbst Verbrecher und haben nichts Gutes im Schilde geführt.“
Wrexford wollte etwas erwidern, zuckte jedoch nur mit den Schultern. „Spekulationen sind zwecklos, meine Liebe. Was auch immer der Grund für den Schuss auf Raven war, ich denke, wir können davon ausgehen, dass sie das Geld beschützen wollten, ob es ihnen nun rechtmäßig gehört oder nicht.“
„Oder sie wollten sichergehen, dass Raven niemandem von dem Geld erzählen kann, das er gesehen hat“, konterte sie.
***
Wrexford verstand nur zu gut, warum sie ihre Bedenken nicht abschütteln konnte. Und doch … „Lass uns diesen unglücklichen Vorfall nicht zu einem verworrenen Drama machen, das eines Romans von Ann Radcliffe würdig wäre“, mahnte er. „Oftmals ist die einfachste Erklärung tatsächlich die richtige.“
„Wenn auch selten bei den Schwierigkeiten, die uns stets in die Quere kommen“, fügte McClellan hinzu.
Charlotte schien die Bemerkung des Hausmädchens zu ignorieren und nickte wortlos. Doch er sah in ihren Augen, dass sie noch immer Bedenken hatte.
Genau das machte sie zu einer so scharfsinnigen Beobachterin gesellschaftlicher Missstände, dachte Wrexford. Sie bohrte, tastete sich immer wieder an das Rätsel heran, betrachtete es aus allen Blickwinkeln, bis sie schließlich überzeugt war, die Wahrheit unter all den flüchtigen Formen und Schatten gefunden zu haben.
Er konnte nicht anders, als ihren unbeugsamen Mut zu bewundern.
Auch wenn er mir eine Heidenangst einjagt.
Das Klirren von Tellern und Besteck durchbrach die peinliche Stille, als McClellan ein Tablett mit frisch gebackenen Küchlein und Marmelade zusammenstellte und zum Küchentisch trug. „Wer möchte Eier und Schinken?“
Die Jungen nahmen das Angebot eifrig an. Charlotte hingegen zögerte, bat dann jedoch um einen Teller Toast. Nachdem er seine Kaffeetasse aufgefüllt hatte, entschuldigte sich der Graf und verließ die Küche, um in sein Arbeitszimmer zu gehen.
Das Hausmädchen hatte ein Feuer im Kamin entfacht und das fröhliche Knistern der Flammen vertrieb bereits die Kälte aus der Luft. Wrexford hielt inne, rieb sich die Handflächen und setzte sich dann an seinen Schreibtisch. Die beruhigenden Geräusche und der vertraute Anblick seiner abgenutzten Bücher und Forschungsunterlagen waren für gewöhnlich Balsam für seine Seele, doch ein vages Gefühl des Unbehagens ließ sich nicht ganz abschütteln. Es war, als verfolge ein unsichtbares Gespenst seine Schritte.
Lauernd und beobachtend.
Mit einem schroffen Fluch verscheuchte er den Gedanken, nahm Platz und begann, einen Stapel ungeöffneter Briefe der Morgenpost zu sortieren.
„Was zum Teufel hat von Münch vor?“, murmelte er. Das Rascheln der Papierknäuel erinnerte ihn an Charlottes Bemerkung vom Vorabend. „Warum hat er sich nicht gemeldet, wie er es versprochen hat?“
Eine sinnlose Frage, wenn man bedachte, dass man dem Kerl nicht trauen konnte, je die Wahrheit über irgendetwas zu sagen. „Der Kerl ist ein unausstehlicher Arsch“, fügte er hinzu, während das Knacken einer Wachsoblate das Öffnen eines offiziell aussehenden Schreibens begleitete. Da es sich nur um eine Einladung zu einem Vortrag der Geologischen Gesellschaft Londons handelte, warf Wrexford das Schreiben achtlos beiseite.
„Mylord?“ Ein zaghaftes Rufen riss ihn aus seinen Grübeleien. „Riche sagte, Sie seien schon auf und hätten nichts gegen Besuch.“
„Stehen Sie nicht einfach so da, Griffin“, sagte der Graf und bedeutete dem Bow Street Läufer einzutreten. „Was auch immer Sie im Sinn haben – je eher wir fertig sind, desto eher können Sie sich in den Frühstücksraum begeben und meine Vorratskammern plündern.“
„Plündern kann man es nicht nennen. Nach meiner Einschätzung schulden Sie mir noch einige Mahlzeiten als Wiedergutmachung für Ihre schäbige Behandlung unserer Freundschaft während der letzten Ermittlung, Mylord.“
Der Graf erlaubte sich ein widerwilliges Lächeln. „Ich habe mich dafür entschuldigt.“ Eine Pause. „Sogar mehrfach.“
„Ja, aber Ihre Worte werden viel aufrichtiger klingen, wenn sie von Macs exzellenten Kochkünsten begleitet werden.“
Ein schallendes Lachen. „Dann beeilen wir uns besser. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Der Mord bei Somerset House …“, begann Griffin.
„Die Antwort ist nein“, schnauzte der Graf. „Verdammt noch mal, ich weiß nicht, warum Bethany mich da hineinziehen wollte. Ich habe ihn bereits darüber informiert, dass ich keine besonderen Fähigkeiten oder Kenntnisse habe, die zur Lösung dieses Verbrechens beitragen könnten.“
„Trotzdem will er Sie, Sir“, antwortete der Läufer.
„Nun, wir müssen alle lernen, mit Enttäuschungen zu leben.“
Griffin hustete, um ein Lachen zu verbergen. „Ich bin nicht sicher, ob Lord Bethany zustimmen würde.“
„Machen Sie sich keine Sorgen um Bethany. Ich werde ihm noch heute Morgen einen Brief schreiben und meine Position in dieser Angelegenheit klarstellen. Und im Gegensatz zu Ihnen werde ich mich nicht bemühen, taktvoll zu sein.“
„Sehr gut, Mylord.“
„Gibt es schon Hinweise darauf, wer Boyleston ermordet haben könnte?“, fragte der Graf, als Griffin sich zum Gehen wandte.
„Ich dachte, Sie wären nicht daran interessiert.“
„Ich bin nicht interessiert“, antwortete er. „Ich bin nur neugierig.“
„Wir haben am Tatort etwas gefunden, was die Mordwaffe zu sein scheint. Ich werde sowohl sie als auch die Leiche zur Untersuchung zu Henning schicken, um die Vermutung zu bestätigen.“
Der gute Freund des Grafen, Basil Henning, war nicht nur ein geschickter Chirurg, sondern besaß auch die unheimliche Fähigkeit, den Opfern Geheimnisse zu entlocken und die Mörder vor Gericht zu bringen.
„Ah. Wie überaus bequem für Sie“, antwortete Wrexford.
Griffins Augenbrauen zuckten, was für den wortkargen Läufer ein ungewöhnlicher Ausdruck von Emotion war. „Ja, das ist es.“ Er schlurfte mit den Füßen. „Wenn auch vielleicht zu bequem. Es ist eine ziemlich markante Waffe.“
„Soweit ich weiß, hatte Boyleston eine hässliche Auseinandersetzung mit einigen Mitgliedern der Royal Society. Es könnte sehr wohl ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen sein, ausgelöst durch die Hitze des Gefechts. Und der Mörder – normalerweise ein gesetzestreuer Mensch – geriet in Panik, als er merkte, was er getan hatte.“
„Ja, alle Anzeichen deuten darauf hin“, gab Griffin zu. „Tatsächlich werde ich gleich die Gentlemen befragen, mit denen Boyleston in Konflikt geraten ist.“
„Kopf hoch. Manchmal gibt es für Verbrechen einfache Lösungen“, spottete der Graf. „Ich wage zu behaupten, dass Sie besser gelaunt sein werden, wenn Ihr Magen voll ist.“
„Da haben Sie zweifellos recht, Sir.“ Doch der angespannte Gesichtsausdruck des Läufers verriet seine Verunsicherung.
***
Charlotte nahm ihre Feder zur Hand. Anstatt nach dem Aquarellpapier zu greifen, holte sie jedoch ein Stück Briefpapier aus der Schublade ihres Arbeitstisches und legte es sorgsam mittig auf ihre Schreibunterlage.
Wie sollte sie nur beginnen?
„Hmmm … Mein lieber Ernst ist deutlich zu intim“, murmelte sie vor sich hin, „während sich Ich grüße Sie, Herr von Münch zu oberflächlich anfühlt.“
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie keine Feinde waren, doch ob sie wirklich Freunde waren, konnte sie nicht ehrlich beantworten.
„Für mich bedeutet echte Freundschaft, dass ein Vertrauensverhältnis besteht“, überlegte sie. „Sie verlangt Ehrlichkeit, auch wenn eine Lüge vielleicht zweckmäßiger wäre.“ Und wenngleich sie den Kerl gegenüber Wrexford verteidigte, traute sie von Münch nicht weiter, als sie spucken konnte.
Charlotte grübelte über das Dilemma, während das gedämpfte Ticken der Kaminsimsuhr eine unwillkommene Erinnerung an ihr Zaudern war. Dann jedoch traf sie mit einem gequälten Seufzer eine Entscheidung.
„Wo zum Teufel sind Sie?“, schrieb sie in fetter schwarzer Schrift und gab damit Wrexfords Frustration wieder. „Und wann werden Sie Ihr Versprechen einhalten?“
Sie machte sich nicht die Mühe zu unterschreiben.
Und was die Adresse betraf … Vorausgesetzt, er hatte sie nicht hintergangen, würde ihn jeder Brief, der an das Schloss Ludwigsburg im Königreich Württemberg gesendet wurde, erreichen. Von Münch hatte ihr dies zumindest versichert.
Rasch faltete Charlotte den Brief und versiegelte ihn mit einer Oblate aus rosafarbenem Wachs, die sie mit dem Wappen des Grafen versah.
Alea iacta est. Es gibt kein Zurück mehr.
Der rätselhafte von Münch hatte mehrfach angedeutet, dass er den Schlüssel zu einem Geheimnis über Wrexfords Vater besaß. Und sie hatte die feste Absicht, ihm diesen Schlüssel zu entreißen.
***
Wrexford verdrängte sämtliche Gedanken an Mord und Affen und richtete seine Aufmerksamkeit auf das chemische Experiment, das er am Vortag begonnen hatte.
Ehe er fortfuhr, wollte er einen Tropfen der Mischung, die er über Nacht stehen lassen hatte, unter der Vergrößerungslinse seines Mikroskops betrachten.
Der Rhythmus des Experimentierens – das Klirren von Glas und Metall, während er die wissenschaftlichen Gerätschaften ordnete, das kaum merkliche Prickeln der Hitze, als er mittels einer Flamme die Reaktion einleitete, das leise Kratzen des Bleistifts, mit dem er seine Beobachtungen sorgfältig zu Papier brachte – hatte einen Reiz, der ihm stets Trost bot.
Empirische Forschung war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil emotionaler Reaktion.
Hier gab es kein Gut, kein Böse – nur Phänomene, die es mit größtmöglicher Genauigkeit zu erfassen galt.
Wrexford genoss die Herausforderung präziser Beobachtung – eine Tätigkeit, die frei von persönlichen Vorlieben war und stattdessen Disziplin und Distanz verlangte, Fähigkeiten, die den meisten Menschen nicht leichtfielen.
Er hatte stets geglaubt, dass diese nüchterne Art der Betrachtung die beste sei. Doch durch Charlotte hatte er erkannt, dass Gefühle dem Leben Farbe und Struktur verliehen – auf eine Weise, die keine wissenschaftliche Erklärung je fassen konnte. Kopf und Herz. Gemeinsam waren sie mehr als die Summe ihrer Teile. Eine weitere Wahrheit, die sich der rationalen Analyse entzog. Und das brachte ihn zum Lächeln.
Nachdem er Mikroskop und Glasgeräte sorgfältig verstaut hatte, trug er seine Notizen und groben Skizzen zurück zu seinem Schreibtisch im Hauptarbeitszimmer und begann, alle Informationen akribisch in sein Logbuch zu übertragen.
Er war so in seine Aufgabe vertieft, dass es einen Moment dauerte, bis ihm klar wurde, dass das pochende Geräusch, das an den Rändern seines Bewusstseins kratzte, ein Klopfen an der Tür war.
„Herein“, rief er zögerlich.
Der Butler öffnete den Riegel und zog sich dann diskret in den Schatten des Korridors zurück.
Ein kleiner, schmal gebauter Mann mit zurückgekämmtem grauem Haar trat zögernd ein. Ein schwacher Geruch nach Holzspänen und Waffenöl haftete an ihm.
„Lord Wrexford, verzeihen Sie bitte meine Anmaßung, Sie hier in Ihrem Haus aufzusuchen.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mr. Egg“, erwiderte der Graf und erhob sich. „Es ist mir stets eine Freude, Sie zu sehen.“ Er deutete auf die Sessel am Kamin. „Kommen Sie, machen wir es uns bequem.“
Eggs Gesichtszüge verkrampften sich vor Verlegenheit, als er auf seine ausgebeulte Hose hinabblickte, deren schlammbrauner Wollstoff von einigen fettigen Flecken durchsetzt war. „Ich möchte Ihnen Ihre Gastfreundschaft nicht aufdrängen, Sir.“
Er spürte das tiefe Unbehagen des Mannes – Egg war es nicht gewohnt, mit Mitgliedern der Aristokratie zu verkehren, sein Reich war seine kleine Werkstatt, in der er unangefochten herrschte.
Wrexford nickte und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Ich nehme an, es handelt sich nicht um einen Höflichkeitsbesuch.“
Das entlockte dem Büchsenmacher ein flüchtiges Lächeln. „Richtig, Mylord.“
Durs Egg, ein schweizerischer Emigrant, galt als einer der angesehensten Büchsenmacher Londons – ein Mann, dessen Name unter Kennern für höchste Kunstfertigkeit und technische Brillanz stand. Viele der angesehensten Männer des Landes besaßen Waffen aus seiner Hand, darunter der Prinzregent und der Herzog von Wellington.
Ebenso wie ich, dachte Wrexford.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er mit ehrlichem Interesse. Egg war nicht nur ein bescheidener, zurückhaltender Mensch, sondern auch jemand, der trotz seiner Unauffälligkeit bereits mehreren streng geheimen militärischen Projekten der Krone seine technische Expertise zur Verfügung gestellt hatte.
Tatsächlich war es Eggs scharfem Gedächtnis zu verdanken, dass es dem Grafen im vergangenen Jahr gelungen war, einen gerissenen Verräter zu entlarven. Nun war er bereit, sich erkenntlich zu zeigen – sofern er konnte.
„Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll, Sir.“
„Nur zu, sprechen Sie einfach geradeheraus“, ermutigte ihn Wrexford. „Worum geht es?“
Egg stieß laut den Atem aus. „Es gab einen Mord bei Somerset House …“
Wrexford seufzte, als ihm Griffins Worte wieder einfielen.
„Und Sie sind gekommen, um mir mitzuteilen, dass eine Ihrer Pistolen die Tatwaffe war?“
„Ich befürchte ja. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste.“ Eggs Schultern sanken herab und sein ohnehin blasses Gesicht wirkte nun regelrecht ausgezehrt. „Mein Schwager wurde soeben wegen des Verbrechens verhaftet.“
„Die Pistole gehörte ihm?“
„Nein, das tat sie nicht. Die einzige Schusswaffe aus meiner Werkstatt, die mein Schwager besitzt, ist eine Pistole in Militärgröße – mit einem genoppten Nussholzschaft und gezogenem Lauf. Ich habe sie ihm zur Hochzeit gefertigt und geschenkt. Die Mordwaffe ist eine kurzläufige Taschenpistole – ein Prototyp, den mein Neffe Joseph Egg und ich gemeinsam entwickelt haben.“ Eggs Stimme klang rau und erschöpft. „Als der Läufer der Bow Street kam, um mich mit dem Mord zu konfrontieren, stellte ich fest, dass das Stück aus dem Gebäude hinter meinem Laden gestohlen worden war. Dort befindet sich unsere Schießhalle.“ Die Schatten unter seinen Augen wirkten beinahe wie blaue Flecken. „Trotz meiner eidesstattlichen Erklärung glauben die Behörden, die Beweislage sei zu erdrückend, als dass es sich nur um einen Zufall handeln könnte. Sie halten es für höchst unwahrscheinlich, dass mein Schwager unschuldig ist.“
„Was genau soll nur ein Zufall sein?“, murmelte der Graf.
„Wie gesagt – die Waffe stammt aus meiner Werkstatt.“ Egg zögerte, bevor er fortfuhr: „Was die Sache in den Augen der Bow Street jedoch noch eindeutiger macht, ist die Tatsache, dass mein Schwager seit langem einen tiefen Groll gegen das Opfer hegt.“
Wrexford zog eine Augenbraue hoch. „Was für einen Groll?“
Der Büchsenmacher schluckte. „Sein Sohn fiel im Krieg auf der Iberischen Halbinsel. Und er war überzeugt, dass Boylestons wiederholte Zusammenarbeit mit französischen Wissenschaftlern – sei es während des Friedens von Amiens oder in jüngerer Zeit – einem Verrat gleichkam. Zumindest im Geiste.“ Egg machte eine kurze Pause, um seine Stimme zu beruhigen. „Wie es heißt, hatten die beiden kurz vor der Tat eine heftige Auseinandersetzung. Sie wurde von mehreren Mitgliedern der Gesellschaft beobachtet.“
Wrexford verspürte augenblicklich einen Anflug von Mitgefühl. Sein geliebter jüngerer Bruder war im selben Konflikt gefallen – einem brutalen, blutdurchtränkten Hin und Her zwischen Armeen und Partisanen, bis Arthur Wellesley, der nun als Herzog von Wellington gefeiert wurde, die Franzosen schließlich aus der Region vertrieb.
„Verzeihen Sie, aber ich muss die Frage stellen …“
„Ob ich glaube, dass mein Verwandter schuldig ist?“, fiel Egg ihm leise ins Wort.
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen.
„Seien Sie versichert, Mylord, dass ich Ihr Wohlwollen oder Ihr Ehrgefühl niemals überstrapazieren würde, wenn ich nicht aus voller Überzeugung an seine Unschuld glaubte“, fügte der Büchsenmacher mit ernster Miene hinzu.
„Also gut.“ Wrexford legte die Fingerspitzen aneinander. „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich an die Arbeit zu machen – und zu beweisen, dass Sie recht haben.“