Leseprobe Die ungezähmte Lady und der Duke | Eine leidenschaftliche Regency Romance

Kapitel eins

„Ich fordere Euch heraus, mich zum glücklichsten Mann der Welt zu machen und mich zu heiraten, meine liebste Evie.“

Diese Worte des Viscounts Masterson kamen so unerwartet, dass es Lady Evelyn Watson – für ihre Freunde und Familie Evie – den Atem verschlug. Sie umklammerte das Buch, das sie gerade las. Es war von dem berühmten Schriftsteller S. Lovellette. Hinter dem Pseudonym verbarg sich eine gute Freundin von Evie, die Duchess of Collingswood.

Evie legte ihre Ausgabe von Beloved auf den kleinen Tisch aus Walnussholz und versuchte, völlig ungerührt zu wirken. Der Viscount sollte nicht merken, dass seine Worte sie in Aufruhr versetzten.

Weiß er vielleicht, dass ich Mitglied in einem geheimen Klub für Ladys bin?

Die Einzigen, von denen sie eine Herausforderung erwartete, waren ihre Freundinnen vom Berkeley Square 48. Dort war die Annahme einer Herausforderung heilig. Sich dem Wagnis zu stellen, war ein Zeichen von Mut und Selbsterkenntnis. Es bedeutete, seine tiefsten Sehnsüchte zu erkunden und tollkühne Schritte zu unternehmen, um nach den Sternen zu greifen. Der Viscount betonte „fordere Euch heraus“ auf eine Art, die vermuten ließ, dass er dieses einzigartige Ethos der Gruppe gut kannte.

„Warum schweigt Ihr?“, fragte der Viscount, beugte sich vor und nahm ihre Hände in seine. Er runzelte besorgt die Stirn. „Wisst Ihr nicht von meinen Gefühlen?“

„Ich …“ Evie fasste sich an die Kehle. Sie hatte nicht damit gerechnet, einen Heiratsantrag von dem Viscount – einem engen Freund ihres Bruders – zu bekommen. Sie verstand sich gut mit ihm, hatte aber nicht erwartet, dass er mehr als Freundschaft für sie empfand. Sie entzog ihm sanft die Hände und faltete sie im Schoß. Evie begegnete dem Blick der klaren grünen Augen des Viscounts. Wie ernst er aussah! „Ich dachte, Ihr wärt in Miss Sarah Bellamy verliebt?“

Alle hatten mitbekommen, dass er sich zu Miss Sarah hingezogen fühlte, die etwas Pech mit ihrer Herkunft hatte. Evie fand sie hübsch und liebenswürdig, und ihr Vater war Baron – doch die Gesellschaft wollte partout nicht vergessen, dass ihre Mutter aus einer Kaufmannsfamilie stammte. Angeblich hatte sie auch keine Mitgift.

Der Viscount schnitt eine Grimasse, grinste und fuhr sich mit zitternden Fingern durchs Haar. „Bitte schenkt solchen Gerüchten keine Beachtung.“ Er richtete den Blick wieder auf sie, und seine Miene wurde milder. „Sagt bitte, dass Ihr mich heiraten werdet, Evie!“

Sie stand auf und rang um Fassung. „Ich werde darüber nachdenken, Mylord.“

Seine Augen weiteten sich erstaunt, doch er hatte genug Selbstbeherrschung, um nur zu nicken und ebenfalls aufzustehen. „Sehr schön. Darf ich morgen mit Eurer Antwort rechnen?“

Das ist zu früh!

Evie protestierte jedoch nicht, denn wenn sie mehr Zeit brauchte, um zu entscheiden, ob der Viscount der Richtige war, war er es vielleicht nicht. Sie nickte, und nach ein paar weiteren höflichen Floskeln ging er.

Sie eilte in ihr Schlafzimmer und holte ihren Hut, ihren Umhang und ihren Sonnenschirm – eine Spezialanfertigung, in deren Griff sich ein Degen verbarg.

Evie ging nach unten und schlüpfte aus dem Haus, ohne dass eine Zofe sie begleitete. Es war kurz vor Mittag, und der Weg zum Berkeley Square 48 dauerte keine zwanzig Minuten. Während sie zügig ging, wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Der Viscount hatte sie letzte Woche gebeten, ihn Lloyde zu nennen. Er hatte sie in seinem Phaeton in den Hyde Park mitgenommen, und auf Lady Cringlefords Ball hatte er sie zweimal zum Tanz aufgefordert.

Oh, wie konnte ich nur so begriffsstutzig sein?

Irgendwie hatte Evie nicht geglaubt, dass seine Aufmerksamkeit mehr als die eines fürsorglichen Freundes war. Im Klub angekommen, atmete sie erleichtert auf, eilte die Stufen hinauf und betätigte den Türklopfer. Der Butler des Klubs, Gibbs, öffnete die Tür, und Evie trat hastig ein.

Mehrere Damen befanden sich im Wettraum im Untergeschoss und schrieben Wetten und Mutproben auf eine große Tafel, die an der Wand hing. Evie begab sich in den ersten Stock, um ihre Freundinnen zu suchen. Überraschenderweise war Harriet, die neue Countess Warwick, anwesend. Sie und Lady Marianne steckten die Köpfe zusammen und flüsterten.

„Ladys“, sagte Evie warm.

Marianne zuckte schuldbewusst zusammen und errötete.

Evie hob eine Augenbraue. „Oh, was für Streiche werden da ausgeheckt?“

Harriet grinste; auch ihre Wangen röteten sich. „Jemand war neugierig auf die Freuden des Ehebetts und fand, dass die Auskünfte unserer anderen Freundinnen zu mager seien.“

Evie schmunzelte. „Wozu brauchst du dieses Wissen? Hast du endlich beschlossen, deinen Bruder zu verführen?“

„Stiefbruder!“, sagte Marianne hitzig. Ihr Gesicht glühte jetzt förmlich. „In den fünf Jahren, seit sein Vater Mama geheiratet hat, hat er in mir immer nur eine Schwester gesehen.“

Harriets Augen weiteten sich, und Evie fand, dass sie ihre Freundin nicht mit einer Sache aufziehen sollten, die ihr eindeutig Kummer machte. „Ist Jocelyn da?“

„Sie musste gehen“, sagte Harriet. „Komm, erzähl uns, warum du so aus dem Häuschen bist. Wir werden Jocelyn morgen alles erzählen.“

Evie berichtete von dem Heiratsantrag und wie es ihr damit ging.

„Evie“, hauchte Marianne, und ihre braunen Augen wurden riesig, „wirst du ihn annehmen?“

Evie verschränkte die Finger. „Ich … ich weiß nicht.“ Sie atmete tief durch und erzählte ihren Freundinnen, was ihre Mutter gesagt hatte. „Lord Emerson hat meinen Eltern seine Absichten mitgeteilt … und sie sind einverstanden.“

„Lord Emerson?“, riefen ihre Freundinnen wie aus einem Mund.

„Ja.“

„Der Earl ist über sechzig!“, knurrte Harriet. „Warum versuchen Eltern so leichtfertig, über unsere Zukunft zu entscheiden, ohne Rücksicht auf unsere Gefühle zu nehmen? Sind Reichtum und gesellschaftliche Beziehungen alles, was zählt?“

Evie wurde das Herz noch schwerer. „Mama sagt, es wäre dumm von mir, ihm einen Korb zu geben.“

„Unsinn“, sagte Marianne ärgerlich. „Du bist sehr hübsch und hast eine ansehnliche Mitgift.“

„Trotzdem bin ich in drei Saisons leer ausgegangen.“

Weil die Gentlemen des ton einfach viel bessere Möglichkeiten zur Auswahl hatten. Auf jedem Ball waren Dutzende Ladys anwesend, aber nur eine Handvoll unverheiratete Gentlemen. Ihr Vater hatte ihre Mitgift aufgestockt, und trotzdem gab es nur einen Mann, der sie feurig umwarb – und der war ein notorischer Spieler, der sein Erbe verjubelt hatte. Was Lord Emersons Gründe waren, konnte Evie sich nicht vorstellen. Der Earl hatte sie noch nie zum Tanzen aufgefordert, ja nicht einmal länger mit ihr gesprochen.

„Ich werde über den Antrag des Viscounts nachdenken, er ist besser als Lord Emerson“, murmelte sie und lachte. „Wusstet ihr schon, dass der Viscount mich herausgefordert hat, ihn zu heiraten? Ich kann nicht sagen, ob er von unseren Wetten und Mutproben weiß oder ob es nur Zufall war.“

„So, wie ich den Viscount kenne, hätte er ein solches Wissen geschickter ausgenutzt“, sagte Harriet. „Mir ist klar, dass du ihn nicht liebst. Deine Augen leuchten nicht, Evie. Du wirkst … traurig.“

„Sag das nicht“, rief Evie und zwang sich zu einem entschlossenen Lächeln. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, welchen Kummer es ihr machte, dass sie kaum Verehrer hatte. Mit jeder Saison, die verging, kam ihr der Wunsch nach einer eigenen Familie und einem Mann, den sie wirklich liebte, alberner und sinnloser vor. Aber sie sah ja mit eigenen Augen, wie glücklich man in einer Liebesehe werden konnte. Viele ihrer Freundinnen hatten es gut getroffen, und Evie wollte ein solches Glück selbst erleben. Sie wünschte es sich so brennend, dass sie nachts weinend wach lag.

Vielleicht muss ich einfach nur eine Herausforderung annehmen, um mein Ziel zu erreichen.

Kapitel zwei

Ein paar Tage später saß Evie in einer Kutsche, die über das holprige Pflaster schaukelte. Am Straßenrand tanzten Schatten im Licht der Wagenlaternen. Evie schaute hinaus, während das wohlbekannte London verschwand und die weite englische Landschaft sich auftat. Die Nacht war ungewohnt ruhig, bis auf das Geräusch der Hufe und Räder war alles still. Ihr Herz schlug immer schneller.

Evie war auf Lady Bronsons Ball gewesen, hatte dann jedoch Kopfschmerzen vorgeschützt, und ihre Mutter hatte sie in der Kutsche nach Hause bringen lassen. Dort hatte sie sich nicht umgezogen, sondern ihr Ballkleid anbehalten und einen Hut mit Schleier aufgesetzt. Evie hatte eine kleine Tasche gepackt, sich hinausgeschlichen und den Viscount getroffen. Das war fast zwei Stunden her, und ihre Familie würde erst merken, dass sie weg war, wenn es zu spät war. Sie fuhr mit dem Viscount die Great North Road entlang, die nach Gretna Green in Schottland führte. Evie gestand sich ein, dass ihr Zweifel gekommen waren, als sie den Smithfield-Markt am Stadtrand von London hinter sich gelassen hatten.

Das Poltern von Donner hallte durch die Luft. Blitze zuckten am Himmel und beleuchteten eine Sekunde lang die dunklen Wolken. Der Wind brauste und wirbelte Laub und Gras auf. Die ganze Atmosphäre war unheilschwanger und gab Evie das Gefühl, dass Gefahr drohte.

Oh, meine dumme Fantasie geht mit mir durch!

„Warum siehst du so besorgt aus?“, fragte der Viscount leise. Seine Stimme klang warm und einladend, als er Evie ansah. Seine hellgrünen Augen funkelten im Dämmerlicht der Kutsche, und er lächelte das charmante Lächeln, das sie anfangs in seinen Bann gezogen hatte.

„Ich werde das Gefühl nicht los, dass es keine gute Idee war, einfach durchzubrennen“, sagte Evie mit zitternder Stimme. „Ich habe drei Saisons hinter mir und keinen Heiratsantrag bekommen. Ich glaube, meine Mutter wäre begeistert, dass wir zueinandergefunden haben.“

„Das sollte sie auch sein“, antwortete er und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar, eine nervöse Angewohnheit, die ihr inzwischen aufgefallen war. „Ich habe deinem Bruder meine Absichten mitgeteilt, und er war nicht begeistert.“

„Ach, James.“ Sie seufzte und rieb sich die Schläfen, denn die bloße Erwähnung ihres Bruders bereitete ihr Kopfschmerzen.

Während ihrer ersten Saison hatte ihr Bruder viele Interessenten abgeschreckt, weil er sie ungeniert nach ihren Beweggründen ausgefragt hatte. Er hatte die schmerzliche Erfahrung gemacht, sich in eine Frau zu verlieben, die nicht ihn liebte, sondern sein Geld, und so hatte James Evie den Rat gegeben, nur Männer in Betracht zu ziehen, die finanziell auf eigenen Füßen standen. Dann konnte sie sicher sein, dass ihre Gefühle echt waren und nicht materielle Not sie antrieb.

Anfangs war sie ihm für seine Fürsorge dankbar gewesen, doch mittlerweile brachte es sie zur Verzweiflung, denn sie wurde immer seltener zu Bällen eingeladen. Es hatte dazu geführt, dass sich jede Saison anfühlte wie eine endlose Serie verpasster Gelegenheiten und Einsamkeit.

„Er will mich immer beschützen. Das ist wirklich Fluch und Segen zugleich.“

„Genau. Deine Familie ist vielleicht nicht einverstanden, aber wir sind beide erwachsen und können unsere Entscheidungen selbst treffen.“

„Aber vielleicht gibt es einen Skandal“, gab sie zu bedenken und umklammerte die Lehnen ihres Sitzes. „Es sind nicht einfach nur Entscheidungen. Wir brennen durch.“

Seine Hand fand ihre, und für einen Moment genoss sie die Wärme seiner Berührung.

„Niemand wird es erfahren, Evie, Liebste. Deine Familie wird den Mantel des Schweigens über diese Geschichte breiten. Nur du und ich werden die Wahrheit kennen. Wenn sie erfahren, dass wir allein gereist sind und vor dem Amboss getraut wurden, werden sie nichts gegen unsere Verbindung einwenden und uns helfen, eine angemessene Feier zu organisieren, um die Gesellschaft zufriedenzustellen.“

Warum fühlte sie sich dadurch noch unsicherer?

„Wir werden glücklich sein“, beteuerte er.

„Ja, das werden wir“, sagte sie und schaute auf ihre Finger, die mit seinen verschränkt waren. Aber etwas stimmte nicht. Ihr Herz hätte bis zum Bersten von romantischer Seligkeit erfüllt sein sollen. Stattdessen fühlte sie sich wie ein gefangener Vogel, unsicher und unentschlossen.

„Evie, wenn du Zweifel hast, sag es mir jetzt“, sagte er, denn er spürte wohl, was in ihr vorging. „Ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist, auch wenn es mir das Herz bricht.“

Konnte sie sich wirklich vorstellen, den Rest ihres Lebens neben dem Viscount aufzuwachen? Er war doch bestimmt eine bessere Wahl als Lord Emerson? Sie schaute in seine ernsten Augen und konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob sie gemeinsam ein Leben voller Liebe führen würden – oder voll gähnender Leere?

In diesem Moment erkannte Evie, dass ihr Durchbrennen eine Verzweiflungstat war, die sie aus Torschlusspanik beging. Ihr Herz hüpfte bei der Vorstellung, begehrt zu werden, doch jetzt fragte sie sich, ob ihre Sehnsucht wirklich dem Mann gegolten hatte, der vor ihr saß.

„Ich …“, fing sie an, brach jedoch ab. Die Schwere, die in der Luft hing, ließ sie verstummen.

Er wartete ab und sah sie unverwandt an. „Ich werde dich glücklich machen, Evie.“

Vielleicht sollte ich ihm eine Chance geben. Liebe braucht Zeit, um zu wachsen.

Sie nickte, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.

„Gut“, sagte er leise und mit einem Hauch Erleichterung in der Stimme. Dann entfuhr ihm ein langer, zittriger Seufzer, und er schien in sich zusammenzusinken.

Evie entzog ihm die Hand und lehnte den Kopf an das Polster. Vielleicht würde es doch noch aufregend werden, wenn sie verheiratet waren. Eine Stunde verging unter Schweigen, dann hörte sie den Viscount leise schnarchen und musste lächeln.

Sie schaute ihn an und wunderte sich. Warum empfand sie nicht das Kribbeln im Bauch, das ihre Freundinnen spürten, wenn sie ihre Männer ansahen? Der Viscount sah doch gut aus und war charmant.

Vielleicht sollte ich ihm einen Kuss erlauben und sehen, ob es dann klappt.

Er bewegte sich im Schlaf, rutschte ein wenig auf der gepolsterten Sitzbank herum. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier fiel ihm aus der Tasche und öffnete sich, als es auf dem Boden landete. Evie hob es auf und hielt inne, als sie ihren Namen sah. Stirnrunzelnd faltete sie das Blatt vollständig auseinander.

Liebste Sarah,

ich schreibe diesen Brief mit einer Hand, die zittert, aber nicht vor freudiger Erwartung, sondern vor Angst. Mein Herz schlägt wild für dich, die einzige Frau, um die meine Gedanken kreisen. Ich bitte dich, Sarah, gib mich nicht auf, suche dir keinen anderen Beschützer. Unsere Trennung wird nicht lange dauern, das verspreche ich dir.

Ich weiß, dass meine nächsten Worte nicht die sind, die du hören möchtest, aber ich flehe dich an, zu verstehen, dass die Umstände mich zwingen. Ich werde Lady Evelyn heiraten, eine junge Frau aus angesehener Familie und mit beträchtlichem Vermögen. Meine eigene Familie ist hoffnungslos verschuldet, und diese Verbindung wird uns retten. Doch du sollst wissen, dass diese Ehe nichts an der Zuneigung ändert, die ich für dich empfinde. Mein Herz gehört dir seit dem Moment, in dem wir uns begegnet sind, und es wird für immer das deine bleiben.

Du fragst dich vielleicht, warum ich dir ein solches Versprechen gebe, wenn es den Anschein hat, als würde ich dich verraten. Diese Verbindung mit Lady Evelyn ist reine Pflichterfüllung. Ich habe keine Wahl und heirate sie sicherlich nicht aus Liebe. Es ist eine bittere Notwendigkeit, der ein Mann in meiner Position sich stellen muss, wenn die Zeiten schwierig sind und die Verantwortung schwer auf seinen Schultern lastet.

Ich vertraue dir ein Geheimnis an, Sarah: Lady Evelyn wird meine Frau, aber sie wird nie besitzen, was du erobert hast: mein Herz.

Diese Ehe wird mir so viel Geld bringen, dass ich auf eine Art für dich sorgen kann, die deinem Wert angemessen ist. Ich verspreche dir, dass die Schwierigkeiten, mit denen du jetzt zu kämpfen hast, bald vorbei sein werden und du im Luxus leben wirst. Gib mich jetzt nicht auf. Warte auf mich, so wie ich auf den Tag warte, an dem ich dir alles geben kann, was du verdienst.

Ich werde dich besuchen, sobald ich kann, und bete, dass du mich so empfängst wie früher, mit Wärme, Liebe und dem Verständnis, das es nur zwischen uns gibt. Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, und es ist eine selbstsüchtige Forderung, aber meine Liebe zu dir ist auch egoistisch.

Ich kann nur meiner verzweifelten Hoffnung Ausdruck verleihen, dass du die schwierige Situation verstehst, in der ich mich befinde, und mir verzeihst, was ich tun muss, um den Besitz meiner Familie zu retten.

Mit aller Liebe meines Herzens

Lloyde

Evies Finger zitterten. Das war … Sie warf einen Blick auf den schlafenden Viscount. Dieser Dummkopf! Es war seine Handschrift – sie wusste es, denn er hatte ihr ein paar schöne Gedichte geschickt, die noch schmeichelhafter gewesen waren als dieser Brief an seine Geliebte.

Evie horchte in sich hinein und wollte sich betrogen fühlen, doch sie empfand nur Erleichterung. Ich dachte, ich wollte das hier – ich dachte, ich wollte dich. Aber anscheinend war ich nur in die Idee des Durchbrennens verliebt, in die Vorstellung, begehrt zu werden, und nicht in die Wirklichkeit des Ganzen. Ich kann diesen Weg nicht guten Gewissens weitergehen, wenn ich nicht mit ganzem Herzen dabei bin und du eine andere liebst.

Aber … sie war jetzt ruiniert.

Evie kniff die Augen zu und überlegte fieberhaft, was jetzt zu tun sei. Sie war geübt darin, sich zum Berkeley Square 48 zu schleichen und ihren Freundinnen bei deren Streichen zu helfen. Diese unselige Reise konnte als solches Abenteuer durchgehen, und sie musste nur entkommen und nach Hause zurückkehren. Doch es war unvermeidlich, dass ihre Eltern davon erfuhren, und sie musste die Folgen tragen.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie genau das tun sollte – dem Viscount entwischen. Er wollte sie unbedingt heiraten, um an ihre Mitgift zu kommen, und würde sie sicher nicht ohne Weiteres gehen lassen. Sie hatte im Klub gelernt, sich zu verteidigen, doch sie war allein mit ihm und hatte keine Unterstützung.

Wenn Sie einer gefährlichen Situation kampflos entfliehen können … tun Sie es, denn Sie sind einem Mann körperlich unterlegen.

Diese Worte ihres Selbstverteidigungslehrers fielen Evie jetzt wieder ein. Ihr Herz raste, und der Brief entglitt ihren Fingern und fiel zu Boden. Sie griff in ihre kleine Tasche, die zum Glück neben ihr lag und nicht beim Kutscher, und holte Papier, ein Tintenfass und eine Feder heraus. Dann kritzelte sie in Windeseile eine Nachricht.

Ich werde dich nicht heiraten. Viel Glück bei deinen Plänen. Ich bitte dich dringend, Sarah zu heiraten und sie zu einer ehrenwerten Frau zu machen.

So, das sollte ihm klarmachen, warum sie gegangen war. Sie zog die Gardine beiseite und schaute aus dem Kutschenfenster. Nirgendwo sah sie eine menschliche Behausung, aber an einer Straße, die so viele Reisende befuhren, musste es Gasthäuser geben. Sie musste den richtigen Moment abwarten. Es war beinahe beängstigend, den Viscount zu beobachten, und sie hoffte, dass er nicht aufwachen würde, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Evie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie ein Licht in der Ferne sah. Erleichterung stieg in ihr auf. Sie wartete ein paar Minuten, bis die Kutsche näher dran war, dann legte sie ihre Nachricht neben den anderen Brief auf den Boden. Sie klopfte vorsichtig an die Decke der Kutsche und gab dem Kutscher so zu verstehen, dass er anhalten sollte. Dann wartete sie gespannt, ob der Viscount oder der Kutscher es gehört hatten. Glücklicherweise rührte der Viscount sich nicht, doch die Kutsche wurde langsamer. Als sie stehen blieb, öffnete Evie die Tür und stieg ohne Hilfe eiligst aus.

„Fahren Sie weiter“, befahl sie dem Kutscher und tastete nach ihrem Schleier, um sich zu vergewissern, dass er noch richtig saß. Sie nahm ihre Tasche und den Sonnenschirm mit dem verborgenen Degen und starrte den Kutscher an. „Ich bitte Sie, Ihrem Herrn nicht zu sagen, wo ich ausgestiegen bin. Ich … ich werde nicht mit ihm durchbrennen, und sollte er mich zwingen wollen, schrecke ich nicht vor einem Skandal zurück!“

Er warf einen Blick auf den Gasthof in der Ferne und sah dann wieder sie an. „Kommen Sie allein zurecht, Miss?“ fragte er.

Die Besorgnis in seinem Ton und seiner Miene beruhigten sie etwas. Vielleicht würde er seinem Arbeitgeber nichts verraten.

„Ja“, sagte sie und klang zuversichtlicher, als sie sich fühlte.

Die Kutsche fuhr davon, und Evie stand allein im Dunkeln am Straßenrand. Sie fuhr herum und eilte auf den Gasthof zu. Sie hatte schon einen einfachen Plan geschmiedet. Sie würde in der Gaststätte übernachten und am nächsten Morgen die Postkutsche nach London nehmen. So konnte sie zurückkehren, ohne dass es einen Skandal gab.

Doch leider fühlte sie sich nicht sehr zuversichtlich, als sie auf den Hof eilte, auf dem reges Treiben herrschte. Vielmehr fürchtete sie, dass sie diesmal ihren Ruf vollends ruiniert hatte, dass sie das Vertrauen ihrer Familie verloren hatte und Lord Emerson vielleicht doch noch heiraten musste, um alles wieder ins Lot zu bringen.