Leseprobe Die Toten von Crookham Hall | Ein spannender Cosy Crime im England der 1920er Jahre

PROLOG

WALDENMERE LAKE, WALDEN, HAMPSHIRE

Sie trug einen Leinenmantel, der für die warme Augustnacht eigentlich zu dick war, ihren Körper aber gut verhüllte.

Sie stand am Ende des Holzstegs und schaute auf das einladend wirkende Wasser. Sie wollte springen, die Kälte des Sees spüren, eintauchen, aufsteigen und sich treiben lassen. Ihr Körper schmerzte vor Müdigkeit.

Das Geräusch eines Zuges, der in den Bahnhof einfuhr, riss sie aus ihren Gedanken. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und berührte dabei ihr ungewohnt kurz geschnittenes Haar. Statt ihrer langen blonden Locken trug sie nun einen kurzen dunklen Bob. Sie warf einen Blick auf das silbergraue Wasser, dann trat sie aus dem Schatten hervor und schlenderte in Richtung Bahnhof.

Sie ging bis zum Ende des Bahnsteigs und stieg ein. Es war der letzte Zug in dieser Nacht, und während der Fahrt gesellten sich keine weiteren Fahrgäste zu ihr in den Waggon.

Nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, wartete sie einige Minuten, bevor sie den Zug verließ. Als sie ausstieg, war die Plattform leer. Panik ergriff sie. Was, wenn sie nicht hier wären? Wohin sollte sie gehen? Sie hatte nichts außer den Kleidern, die sie trug.

Sie ging durch die menschenleere Halle, nahm ein paar tiefe Atemzüge und hatte plötzlich den Geschmack von verbrannter Kohle auf der Zunge.

Eine hochgewachsene Gestalt trat hinter einem Kiosk am anderen Ende des Bahnhofs hervor. Sie zog den Mantel so zurecht, dass er ihre Gesichtszüge verbarg, und ging auf die Gestalt zu.

„Hat dich jemand gesehen?“, erklang eine vertraute Stimme. Ihre Panik legte sich etwas.

„Ich glaube nicht.“ Sie zog ihre Kapuze zurück. „Wenn doch, hätten sie mich nicht erkannt.“

„Gut.“

„Ich habe mich am See versteckt, bis der Zug kam.“ Sie sehnte sich immer noch danach, in die Stille des Wassers einzutauchen. „Es ist eine seltsame Vorstellung, dass ich Waldenmere vielleicht nie wiedersehe.“

„Du wirst es nie wiedersehen. Du darfst nie wieder nach Walden zurückkehren“, mahnte die Stimme. Sie nickte. Was blieb ihr auch anderes übrig als zuzustimmen?

„Draußen steht ein Taxi. Es ist bereits bezahlt. Der Fahrer wird dich dorthin bringen, wo du wohnen wirst.“

„Kommen Sie nicht mit?“, fragte sie ängstlich.

„Ich kann nicht. Man würde mich vermissen.“

„Warum tun Sie das?“ Sie nahm die Geldbörse, die ihr gereicht wurde.

„Weil ich einmal ebenso hilflos war wie du jetzt. Und ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl der Angst.“

Kapitel 1

1920

„Mrs Siddons hat mich eingeladen, eine Debatte im Unterhaus zu verfolgen“, erklärte ich beim Hereinkommen, hängte meinen Mantel an den Garderobenständer, stellte meine Tasche auf den Schreibtisch und betrat das Büro meines Chefs.

Elijah Whittle, Herausgeber des Walden Herald, leitete sein Imperium von einem verrauchten Kabuff aus. Ich nannte es scherzhaft ein Imperium, aber der Hauptsitz der Zeitung bestand eigentlich nur aus zwei Räumen über der Laffaye Druckerei. Mein Arbeitsplatz befand sich im Hauptbüro, während Elijah in einem kleinen Nebenraum saß.

Von seinem Schreibtisch aus konnte er die Eingangstür, die große Eisenbahnuhr an der Wand und mich bei der Arbeit gut im Auge behalten. Ich war die einzige festangestellte Reporterin; er beschäftigte hauptsächlich freie Mitarbeiter, und die übrigen Angestellten der Zeitung waren eine Etage tiefer in der Druckerei untergebracht.

„Hältst du das für eine gute Idee, Iris?“ Er drückte seine Zigarette aus und fuhr sich mit nikotinverschmierten Fingern durch sein graues Haar.

„Ich kann diesen Ort nicht ewig meiden“, entgegnete ich mit einer aufgesetzten Leichtfertigkeit. „Sie haben dort doch sicher auch schon Debatten erlebt?“

„Oh ja“, erinnerte er sich. „Viele Male, als ich noch für den Daily Telegraph gearbeitet habe. Ich kann dir nicht versprechen, dass du diese Erfahrung genießen wirst.“

„Wird der Walden Herald Mrs Siddons unterstützen?“, wollte ich wissen. Ich hatte nicht erwartet, dass er sich festlegen würde, bevor die anderen Kandidaten für die Nachwahl bekannt gegeben worden waren, aber einen Versuch war es wert.

„Ich werde sehen, was sie auf der Wahlveranstaltung zu sagen hat, und mich dann entscheiden.“ Er griff nach seinen Zigaretten und ich öffnete das Fenster weit.

„Und was halten Sie grundsätzlich von Frauen im Parlament?“

Elijah vertrat in vielerlei Hinsicht fortschrittliche Ansichten, aber ihn durchzog auch eine traditionelle Ader. „Ich glaube, dass weibliche Abgeordnete unser parlamentarisches System erheblich verbessern würden. Aber ich werde jeden Kandidaten nach seinen Verdiensten beurteilen, ganz unabhängig von seinem Geschlecht.“

Dieser äußerst diplomatischen Antwort konnte ich nichts entgegensetzen. „Wissen wir schon, wer die anderen Kandidaten sind?“ Bislang hatte nur Mrs Siddons für die Liberale Partei kandidiert.

Er schenkte mir ein schiefes Lächeln. Ich ließ mich auf den nächstgelegenen Stuhl fallen. „Was haben Sie gehört?“

Mr Whittle flüsterte geheimnisvoll: „Lady Delphina Timpson kandidiert für die Konservativen.“

„Was? Noch eine andere Frau?“ Das überraschte mich und machte meine Vorstellung von einem triumphalen Sieg von Mrs Siddons über die männliche Opposition zunichte.

Er betrachtete mich amüsiert. „Tja, und nun? Wirst du jetzt gleich zwei Frauen unterstützen?“

„Ich werde jede nach ihren Verdiensten beurteilen“, wiederholte ich exakt seine Worte, aber das war gelogen. Mrs Siddons war nach dem Tod meiner Mutter eine Art Freundin geworden. Seitdem waren sechs Jahre vergangen, der Große Krieg lag hinter uns, und ich hatte nicht vor, meine Loyalität ihr gegenüber aufzugeben.

„Der erste Wahlkreis überhaupt, in dem zwei Frauen bei Nachwahlen gegeneinander antreten“, bemerkte er und nahm einen zufriedenen Zug von seiner Zigarette.

Für unsere Ecke hier im Nordosten von Hampshire war das eine aufregende Sache. Aber ich wollte unbedingt, dass Mrs Siddons die dritte Frau war, die einen Sitz im Unterhaus erhielt. Nicht irgendeine andere.

„Wer ist der Kandidat der Labour Party?“, fragte ich.

„Donald Anstey. Ich weiß nicht viel über ihn. Er unterstützt es, dass Frauen Abgeordnete werden, aber ich wette, er hätte nie gedacht, dass er gleich gegen zwei von ihnen antreten würde.“

„Werden wir sie alle interviewen können?“, wollte ich nun wissen.

„Das ist der Plan. Ich habe schon eine Anfrage an das Büro von Lady Timpson gestellt.“

Ich strahlte. „Ich kenne ihre Tochter, Constance. Sie war zur gleichen Zeit in Miss Cottons Akademie wie ich. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Was ist mit Donald Anstey?“

„Verglichen mit der mächtigen Mrs Siddons und der wohlhabenden Lady Timpson kommt er ziemlich langweilig daher. Ich nehme an, er wird tun, was er kann, um ein paar Zeilen zu bekommen.“ Er drückte seine Zigarette aus. „Das wird unserer Auflage jedenfalls nicht schaden.“

Meine Gefühle waren widersprüchlich. Auf der einen Seite war ich irritiert, dass eine andere Frau gegen Mrs Siddons antrat. Andererseits war dies aber eine Geschichte, die wahrscheinlich landesweites Interesse hervorrufen würde, insbesondere bei einer so berühmten Kandidatin wie Lady Timpson.

„Recherchiere und mach dir Notizen zu jedem Kandidaten. Ich erwarte objektive Informationen. Ich weiß, wen du bevorzugst, aber ich möchte nicht, dass deine Voreingenommenheit in den Vordergrund tritt. Vielleicht entschließen wir uns sogar, gar keinen der Kandidaten zu unterstützen.“

„Wir?“ Ich hatte mich bereits entschieden, alles in meiner Macht Stehende zu tun, damit Mrs Siddons die nächste Abgeordnete für Aldershot wurde.

„Ich meine Mr Laffaye und mich“, erklärte Mr Whittle.

„Gibt Ihnen Mr Laffaye manchmal vor, was Sie schreiben sollen? Oder was Sie nicht schreiben sollen?“

Als Herausgeber des Walden Herald war Elijah zwar für den Inhalt der Zeitung verantwortlich. Aber Horace Laffaye war der Eigentümer der Zeitung und hielt die finanziellen Fäden in der Hand. Ich fragte mich oft, wie viel Einfluss er wohl ausübte.

„Er gibt mir Ratschläge, die ich beherzigen oder ignorieren kann. Glücklicherweise sind wir uns in den meisten Dingen einig. Und ich bin sicher, das werden wir auch in dieser Sache sein.“

Ich fragte mich, was passieren würde, wenn sie es nicht wären.

***

Um fünf Uhr verließ ich das Büro und ging die Treppe hinunter in die Queens Road. Es war ein ruhiger, nasskalter Abend und der aus den Gitterrosten der Druckerei aufsteigende Geruch von Tinte hing in der Luft.

Weiter unten an der Straße nahm ich den Fußweg, der nach Waldenmere führte. Eine meiner Lieblingsrouten führte mich am gewundenen Verlauf des Grebe Stream entlang bis hinunter zur Heron Bay, wo er in den See mündete.

An den Ufern blühten Sauerklee und Scharbockskraut, und an den Rändern des Weges lugten Hundsveilchen hervor. Die Bäume waren noch kahl, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sich ihre Blätter entfalteten.

Zu meiner Freude sah ich in der Ferne eine Staffelei auf einer Lichtung in der Nähe der Heron Bay. Alice Thackerays markantes rotes Haar hob sich von dem wässrig-grauen Hintergrund ab. Ich drängte mich durch die Farne und betrat kurz danach die Lichtung.

Obwohl es für März verhältnismäßig mild war, lag noch immer eine gewisse Kühle in der Luft, weshalb sie in einen dicken, grünen Wollmantel gehüllt war, während ihre nicht behandschuhte Hand zärtlich mit einem Pinsel auf die Leinwand tupfte.

Ich betrachtete das Aquarell. Sie hatte mit einer groben Skizze des Ufers begonnen und war gerade dabei, das Schilf auszumalen. Je weiter sie fortschritt, desto mehr schien sich das Gras im Wind zu wiegen. „Ich wünschte, ich könnte so malen“, seufzte ich.

Sie lächelte. Dann runzelte sie die Stirn. „Iris, du trägst wieder eine Hose.“

Ich ignorierte ihre Bemerkung geflissentlich. „Rate mal, wer bei den Nachwahlen gegen Mrs Siddons antritt?“

„Irgend so ein Kerl namens Anstey“, antwortete sie prompt. „Vater sagt, er sei Kommunist.“

„Nein, den meine ich nicht. Lady Delphina Timpson.“ Ich hockte mich auf einen nahe gelegenen Baumstamm, aber er war zu feucht, also stand ich wieder auf.

„Constances Mutter?“ Nun schenkte sie mir ihre volle Aufmerksamkeit.

„Sie kandidiert für die Konservativen. Sie hat es heute Morgen vom Hauptquartier der Armee in Aldershot aus bekannt gegeben. Lord Tobias Timpson war an ihrer Seite.“

„Zwei Frauen haben sich aufstellen lassen? Da wird Vater aber nicht erfreut sein.“ Das Licht wurde schwächer und sie begann, ihre Pinsel auszuwaschen.

„Lady Timpson hofft auf die Stimmen des Militärs.“

„Vaters Stimme wird sie bestimmt nicht bekommen. Er lehnt Frauen in der Politik grundsätzlich ab.“

„Dann muss er eben den Kommunisten wählen.“ Irgendwie gefiel mir nun Colonel Thackerays missliche Lage. „Hast du Constance seit der Schule noch einmal gesehen?“

„Ja, während des Krieges brachte sie uns, also der Walden Women’s Group, Lebensmittel- und Kleiderspenden. Wir verteilten sie an bedürftige Familien in der Umgebung.“ Sie deckte die Leinwand sorgfältig ab und ich half ihr, die Farben wegzupacken.

„Warst du zwischenzeitlich noch mal in Crookham Hall?“, fragte ich.

„Ein paar Mal, auf Tanzveranstaltungen. Die Timpsons haben so etwas früher schon zur Unterhaltung der Truppen organisiert. Es ist wirklich großartig. Wirst du mal wieder hingehen?“

„Vielleicht. Elijah möchte, dass ich Lady Timpson interviewe.“

Es war unwahrscheinlich, dass ich aus einem anderen Anlass zu dieser Veranstaltung eingeladen worden wäre. Alice hatte den Vorteil, die Tochter eines Colonels zu sein, während ich auf der gesellschaftlichen Leiter ein gutes Stück weiter unten stand. Wir wateten durch das Gestrüpp, um den Seepfad zu erreichen, und ich erzählte ihr von meiner Einladung ins Unterhaus.

„Ist das nicht der Ort, an dem deine Mutter …“, begann sie.

„Ja.“

„Es überrascht mich, dass Mrs Siddons dich dorthin einlädt.“

„Mich auch“, gab ich zu.

„Versucht sie vielleicht auf diese Weise Einfluss auf deine Berichterstattung über sie zu nehmen?“, spekulierte Alice.

„Dazu müsste sie mich aber nicht unbedingt nach Westminster einladen“, entgegnete ich gepresst.

„Vermutlich nicht. Wirst du ihre Einladung denn annehmen?“ Sie hakte sich bei mir unter.

„Ja“, sagte ich, obwohl ich mir gar nicht so sicher war. „Ich werde bei Großmutter und Tante Maud wohnen.“

„Aber nur für einen Besuch, oder?“, fragte sie mit einem Anflug von Panik. „Ich fände es furchtbar, wenn du mich schon wieder verlässt. Ich habe dich während des Krieges so vermisst.“

„Ich bleibe nur über Nacht bei ihnen, weil die Debatte vielleicht nicht rechtzeitig zu Ende ist, um den letzten Zug noch zu erwischen“, beruhigte ich sie. „Ich habe dich auch vermisst. Und Waldenmere.“ Dabei vermied ich es, ihr in die Augen zu sehen. Ich hatte mich schon nach Alice gesehnt, aber ich hatte auch unser Haus in der Hither Green Lane nicht verlassen wollen. Tatsächlich war es Vaters Idee gewesen, zurück nach Walden zu ziehen. Er hatte mich zur Rückkehr überredet, indem er mir den Job bei Elijah besorgt hatte. Sie waren alte Freunde aus ihrer Zeit beim Daily Telegraph. So hatte ich mir den Start meiner Schriftstellerkarriere zwar nicht vorgestellt, aber an dem Versuch, bei einer der Londoner Zeitungen einen Fuß in die Tür zu bekommen, war ich kläglich gescheitert. Ich hatte lediglich ein paar meiner Artikel an Frauenzeitschriften verkaufen können.

Der Walden Herald schien mir ein ebenso guter Ausgangspunkt wie jeder andere. Und nun hatte das verschlafene alte Walden eine Geschichte, die von nationalem Interesse sein würde. Ausnahmsweise einmal schien ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Kapitel 2

Ich verließ das Haus früh. Viel zu früh für meinen Zug nach London. Aber nur in der Morgendämmerung konnte ich sicher sein, den See für mich allein zu haben. Selbst an diesem trüben Märzmorgen war Waldenmere unheimlich schön. Bei Tagesanbruch lag eine Stille über dem See, die erst im Laufe des Tages langsam nachließ. Zu dieser Tageszeit vermittelte die Atmosphäre am See die Gewissheit, dass der Sturm vorüber war und wir wieder in Frieden lebten. Während der Kriegsjahre in der Stadt träumte ich oft davon, wieder in Waldenmere zu sein. Dieser Ort hatte etwas Konstantes in einer sich ständig verändernden Welt.

Ich beobachtete, wie das Licht auf dem flachen, silbrigen Wasser schimmerte, als mich das Geräusch des einfahrenden Zeitungszuges aufblicken ließ. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Ein Mann stand auf dem Holzsteg am Bahnhof. Er schenkte mir ein trauriges Lächeln, als wüsste er, wer ich war.

Es lag nur eine kurze Distanz zwischen uns, aber ein leichter Nebel hing in der Luft, und ich musste die Augen zusammenkneifen, um sein Gesicht besser sehen zu können. Trotzdem erkannte ich ihn nicht. Er schien einige Blumen in der Hand zu halten, die er ins Wasser fallen ließ.

Ich zog meinen Mantel enger um mich und ging weiter. Ein kurzer Blick zurück zeigte: Er war immer noch auf dem Steg.

Nach dem Frühstück machte ich mich mit einem kleinen Koffer auf den Weg zum Bahnhof. Fast hatte ich erwartet, den Mann noch immer auf dem Steg zu sehen, aber es war niemand mehr da. Ich ging dorthin, wo er gestanden hatte, und spähte ins Wasser. Ein halbes Dutzend zerzauster violetter Blüten klammerten sich ans Ufer. Sie wirkten seltsam fehl am Platz. Das waren nicht die gewöhnlichen Hundsveilchen, die in Waldenmere in Hülle und Fülle wuchsen.

Es waren Duftveilchen – die Blumen der Suffragetten.

***

An diesem Nachmittag ging ich durch die zentrale Lobby der Houses of Parliament, und eine nervöse Spannung zog meinen Magen zusammen.

Ich schlenderte herum und tat so, als würde ich jedes Bild betrachten und jede Inschrift lesen. In Wahrheit nahm ich sie aber nur verschwommen wahr. Ich versuchte den Anschein zu erwecken, als würde ich einfach nur umherlaufen, dabei wusste ich genau, wohin ich wollte. Sobald ich die Eingangshalle betreten hatte, waren meine Augen auf die verzierten Metallgitter in den Fenstern gerichtet.

Die Gitter befanden sich früher in den Steinbögen der Ladies’ Gallery, aber nach der Protestaktion meiner Mutter wurden sie gereinigt und in die zentrale Lobby gebracht.

Mein Herz schlug ein wenig schneller, als ich näher trat. Ich vergewisserte mich, dass niemand zusah, und streckte die Hand aus, um das kalte Metall zu berühren. Die Gitter waren immer noch beeindruckend, obwohl ich vermutete, dass sie nicht ganz so angelaufen wären, wenn meine Mutter sie nicht angestrichen hätte. Ich fuhr mit den Fingern über das Gitterwerk und stellte mir vor, wie sie daran gearbeitet hatte. War sie verängstigt gewesen? Oder aufgeregt?

„Sind das die besagten …?“ Mrs Siddons erschien an meiner Seite, was mich kurz zusammenzucken ließ.

Ich nickte. Die Gitter waren in den 1830er Jahren entworfen worden, um die Damen auf der Galerie vor den Männern unten abzuschirmen. Die Abgeordneten sollten nicht von Frauen abgelenkt werden, die ihnen bei der Arbeit zusahen. Das Problem war, dass sie die Sicht auf den Debattiersaal einschränkten und die Ladies’ Gallery zu einem extrem warmen Ort machten.

Meine Mutter war nicht die erste Suffragette, die sich der Gitter angenommen hatte. Im Jahr 1908 hatten sich Helen Fox und Muriel Matters von der Women’s Freedom League mit Vorhängeschlössern an die Gitter gekettet, während die Namensvetterin meiner Mutter, Violet Tillard, ein großes Transparent am Ende eines Seils durch die Gitterstäbe schob.

„Wie kam es zu der Protestaktion deiner Mutter? Es war der Tag, an dem Emmeline Pankhurst versuchte, eine Petition an den König zu richten, nicht wahr?“

„Ja, am 21. Mai 1914. Wir wussten nicht, was sie vorhatte. Wir dachten, sie würde mit den anderen zum Buckingham Palace marschieren.“

„Aber sie kam stattdessen hierher?“

„Sie ging davon aus, dass keine Polizei in der Nähe sein würde, weil ja alle bei der Demonstration waren. Irgendwie schaffte sie es, in die Ladies’ Gallery zu gelangen. Sie strich die Gitter in Suffragetten-Grün an und ließ ein Banner der Women’s Social and Political Union in den Saal hinunter.“

Mrs Siddons lächelte und berührte das angelaufene Metall. Ich warf einen letzten Blick zurück, bevor sie mich zur Besuchergalerie führte, wo das Publikum saß. Mehrere Abgeordnete, die ich erkannte, begrüßten sie herzlich – ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, wie viel Unterstützung sie ihr noch gewähren würden, wenn sie erst mit ihnen auf dem politischen Parkett tanzen würde, anstatt nur zuzuschauen.

Im Sitzungssaal fiel mein Blick auf die Ladies’ Gallery. Sie war seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Zu wissen, dass meine Mutter kurz vor ihrem Tod hier gewesen war, hinterließ ein leichtes Prickeln auf meiner Haut.

Ich wandte mich den Rednern zu, als der Equal Franchise Act zur Debatte stand. Lady Astor stand vor einem ausschließlich männlichen Publikum und hielt eine energische, aber wenig inspirierende Rede darüber, warum Frauen das Wahlrecht zu den gleichen Bedingungen wie Männer erhalten sollten.

Winston Churchill konterte mit einer kraftvollen und lautstarken Argumentation gegen den Gesetzentwurf. Es folgte ein hitziger Schlagabtausch mit zahlreichen Zwischenrufen des Parlamentspräsidenten.

„Ich wünschte, Mutter wäre hier, um das zu sehen“, flüsterte ich Mrs Siddons zu. „Vermutlich wäre sie aber längst wieder rausgeworfen worden, weil sie irgendetwas Peinliches angestellt hätte“, grinste ich verschwörerisch.

„Das würde ich auch gerne tun.“ Mrs Siddons lachte kurz auf, schüttelte dann aber den Kopf. „Aber das bringt uns nicht weiter.“

Das Volksvertretungsgesetz von 1918 hatte allen Männern über einundzwanzig das Wahlrecht verliehen – Frauen jedoch nur, wenn sie über dreißig waren und eine bestimmte Besitz- oder Vermögensvoraussetzung erfüllten. Mit einundzwanzig durfte ich also noch nicht wählen. Das hätte meine Mutter niemals akzeptiert – und ich tat es ebenso wenig. Wie zu erwarten war, wurde der Gesetzentwurf abgelehnt und die Diskussion ging weiter. Mit einer gewissen Erleichterung trat ich aus der verqualmten Besuchergalerie hinaus in die kühle Abendluft. „Ich wundere mich, dass Frauen überhaupt kandidieren“, sinnierte ich. „Sie werden von ihren männlichen Kollegen bevormundet und von den Zeitungen lächerlich gemacht.“

Mrs Siddons lachte auf. „Der Großteil der Presseberichterstattung über mich konzentriert sich eher darauf, wie ich aussehe, als auf das, was ich zu sagen habe.“

Ich lächelte und warf einen Blick auf ihre Kleidung. Sie trug ein bodenlanges, dunkelgrünes Seidenkleid, das ihre mütterliche Figur umschmeichelte. Ein darauf abgestimmter Hut aus Seide saß auf ihrem perfekt gelockten dunklen Haar. Und trotz der abfälligen Kommentare in der Presse über ihre Vorliebe für teuren Schmuck, trug sie eine smaragdgrüne Halskette und passende Ohrringe. In einem Land, das nach einem blutigen und kostspieligen Krieg wirtschaftlich immer noch am Boden lag, war die Zurschaustellung von Reichtum bei einigen verpönt.

„Die haben sich nach Lady Astors Hüten nun Ihren Ohrringen zugewandt“, bemerkte ich, als wir zur Westminster Bridge schlenderten.

„Zweifellos werden Delphina und ich sowohl in modischer als auch politischer Hinsicht gegeneinander antreten. Und was Mr Anstey betrifft: Abgesehen von einer Bemerkung über die Art des Hutes, den er trägt, glaube ich nicht, dass sie sich allzu viele Gedanken über seine Kleidung machen werden.“

Delphina? Mrs Siddons nannte ihre Gegnerin also beim Vornamen.

„Wie finden Sie es eigentlich, dass Lady Timpson gegen Sie antritt?“

„Ich begrüße es natürlich, dass mehr Frauen in der Politik mitwirken. Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, aus welchen Motiven heraus sie handelt.“

„Woher kennen Sie sie?“, bohrte ich weiter.

„Wir waren als junge Frauen befreundet. Aber in den letzten Jahren habe ich sie kaum gesehen.“

Ich wollte mehr darüber erfahren, aber ich wusste, dass wir uns dem Ort näherten, an dem es geschehen war. Mrs Siddons musste meine Angst gespürt haben, denn sie nahm meine Hand. „Möchtest du einen anderen Weg einschlagen?“ Wir standen an der Ecke des Parlaments, dort, wo es in die Westminster Bridge überging.

„Nein“, entgegnete ich bestimmt. Sie warf mir einen Blick zu, sagte aber nichts.

Ich wollte mir unbedingt diesen Ort ansehen. Es war wie ein Zwang.

„Hier war es“, sagte ich abrupt. „Hier ist Mutter ins Wasser gegangen.“

Wir standen im Schatten des Big Ben.

„Sie kam da drüben aus dem Speaker’s Court und über die Grünfläche“, sagte ich und zeigte in die Richtung. „Sie muss auf dem Weg zu diesen Stufen gewesen sein, die zur Brücke hinaufführen, als sie in den Fluss fiel.“

Die Themse war schwarz und stank. Ich schauderte und versuchte, das Bild meiner Mutter zu verdrängen, wie sie – fauliges Wasser schluckend – sie in der Dunkelheit versank.

„Komm weg von hier.“ Ich spürte, wie Mrs Siddons leicht an meiner Hand zog.

„Ich wundere mich, dass die WSPU hier keine Gedenktafel angebracht hat“, lächelte ich spöttisch. „Suffragette Violet Woodmore stürzte an dieser Stelle in den Tod – eine weitere Märtyrerin für die Sache.“

„Sie ist nicht gestürzt“, sagte eine raue Stimme ein Stück weiter vor uns – und ließ mich zusammenzucken.

Ein alter Mann mit einem wettergegerbten Gesicht beobachtete uns. Er trug die scharlachrote Uniform eines Themse-Fährmannes.

Ich starrte ihn an, spürte eine kalte Vorahnung und wusste, dass ich nicht hören wollte, was er zu sagen hatte. Dem ersten Impuls, einfach wegzulaufen, nicht nachgebend, blieb ich wie angewurzelt auf der Stelle stehen.

„Ich habe sie gesehen, diese Suffragette.“ Er rieb sich die grauen Borsten an seinem Kinn. „Sie ist nicht gefallen, sie ist gesprungen.“

Kapitel 3

„Sie kam aus dem Nichts und stürzte sich in den Fluss.“ Der Fährmann zeigte auf die Stelle, an der meine Mutter ins Wasser gefallen war.

„Nein“, widersprach ich. „Sie ist gefallen.“

„Wenn sie in Eile war, könnte sie gestolpert sein.“ Mrs Siddons zog mich am Arm.

„Sie ist gesprungen“, insistierte der Mann. „Da bin ich mir sicher.“ Er nahm seine Mütze ab und drehte sie in den Händen.

„Sie muss gestürzt sein, und es sah aus, als wäre sie gesprungen.“ Verschiedene Szenarien schossen gleichzeitig durch meinen Kopf. „Ist sie gerannt? Ist jemand hinter ihr hergelaufen?“, fragte ich weiter.

„Nein, ich habe niemanden gesehen. In einem Moment stand sie noch da, und im nächsten war sie im Fluss verschwunden. Ich arbeite seit vierzig Jahren an diesem Abschnitt der Themse, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Und was haben Sie daraufhin getan?“, fragte Mrs Siddons.

„Ich habe sie ans Ufer gebracht, und der Parlamentsdiener hat sie weggezerrt.“

Ich zählte eins und eins zusammen: „Der Parlamentsdiener muss sie verfolgt haben.“ Bei dem Gedanken, dass meine zierliche Mutter wie ein Sack Wäsche herumgeschleift worden war, stieg Wut in mir auf.

Der Fährmann schüttelte den Kopf. „Ich musste ihn herbeirufen. Er war nicht da, als sie ins Wasser ging.“

„Sie wäre nicht gesprungen.“ Ich versuchte, ruhig zu klingen. „Sie konnte nämlich gar nicht schwimmen.“

„Das habe ich auch beobachten können. Wirklich verrückt! Sie wäre fast von einem Boot angefahren worden. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.“

„Vielleicht konnten Sie nicht erkennen, warum sie gestürzt ist?“, versuchte sich Mrs Siddons an einer weiteren Erklärung.

„Doch, ich habe von meinem Boot aus alles deutlich gesehen.“ Er ließ sich nicht beirren.

Ich fröstelte und spürte jetzt die kühle Abendluft. Hinter meinen Schläfen pochte es, und als Mrs Siddons nun erneut an meinem Arm zog, ließ ich mich von ihr wegführen.

Sie geleitete mich über die Straße zur St. Stephen‘s Tavern, wo sie zwei Brandys bestellte. Ich hatte erwartet, dass der Barmann uns auffordern würde, zu gehen, da wir nicht in Begleitung eines Mannes waren. Stattdessen begrüßte er Mrs Siddons wie eine alte Freundin.

„Du hast immer geglaubt, dass deine Mutter gefallen ist?“ Mrs Siddons suchte uns einen kleinen Tisch in der Ecke. In der Kneipe roch es nach Bier und Zigarren.

„Wir dachten, sie sei auf dem Weg nach draußen entdeckt worden, in Panik geraten und ins Wasser gerutscht“, antwortete ich.

„Ist es möglich, dass sie gesprungen sein könnte? Als eine Form des Protests, meine ich?“ Sie schob mir den Brandy zu.

Ich nahm einen Schluck, die Flüssigkeit brannte in meiner Kehle. „Nein. Das hätte sie nicht getan, sie konnte nicht schwimmen. Sie hat nie mit mir im Waldenmere-See gebadet, immer nur im seichten Wasser geplantscht.“

Ein liberaler Abgeordneter, den ich erkannte, nickte Mrs Siddons zu, als er an unserem Tisch vorbeikam. Sie schenkte ihm ein fast kokettes Lächeln und wandte sich dann wieder mir zu. „Sie wurde doch nicht verhaftet, oder?“

„Nein, sie wurde ins St.-Thomas-Krankenhaus gebracht“, erinnerte ich mich. „Die Polizei kam wohl zur Vernehmung, aber man sagte ihnen, sie sei zu krank, um befragt zu werden. Glauben Sie, einer der Polizisten hat sie gejagt? Sie gezwungen, in den Fluss zu springen?“

Mrs Siddons schüttelte ihren Kopf. „Gelegentlich waren einige Ordnungshüter sehr gewalttätig, aber …“

„Mit den Frauen, die zum Buckingham Palace marschiert sind, waren sie jedenfalls nicht zimperlich.“ Ich erinnerte mich an die Zeitungsberichte von damals. „Sie haben ihnen an die Brüste gefasst, sie zu Boden gedrückt und ihre Röcke hochgehoben.“

Mrs Siddons bestätigte: „Ein paar Wachtmeister haben sich gegenüber den Suffragetten abscheulich verhalten. Es geht das Gerücht um, dass sie dazu angehalten wurden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Frau gezwungen hätten, in einen Fluss zu springen.“ Sie berührte meinen Arm. „Nimm das, was der Fährmann gesagt hat, nicht zu ernst. Er hat wahrscheinlich übertrieben.“

Davon war ich nicht überzeugt – er hatte so sicher gewirkt. Ich nippte an meinem Brandy und nahm zum ersten Mal meine Umgebung in Augenschein. Mir fiel auf, wie viele Abgeordnete in der schwach beleuchteten Taverne an den Tischen saßen.

Mrs Siddons folgte meinem Blick. „Hier werden mehr Entscheidungen getroffen als im Parlament.“ Sie wusste offensichtlich, wie die Dinge in dieser Welt funktionierten. Und wie man das Spiel spielte.

Meine Familie kannte Sybil Siddons flüchtig aus Walden, hatte aber nach unserem Umzug nach London den Kontakt verloren. Ein paar Tage nach dem Tod meiner Mutter tauchte sie vor unserer Haustür auf und bot ihre Hilfe an.

Damals war Mrs Siddons Suffragistin und Mitglied der National Union of Women’s Suffrage Societies. Ihr Ziel war es, durch die Einbringung von Gesetzesvorlagen im Parlament das Frauenwahlrecht mit friedlichen und legalen Mitteln zu erreichen. Meine Mutter war eine Suffragette gewesen, Mitglied der militanteren Women’s Social and Political Union von Emmeline Pankhurst. Ihr Motto lautete: „Taten statt Worte“, was sich in ihren von Vandalismus und zivilem Ungehorsam geprägten Kampagnen widerspiegelte.

Wie sehr wünschte ich mir, meine Mutter hätte den Weg von Mrs Siddons eingeschlagen und ihren Verstand genutzt, um eine Machtposition zu erlangen, anstatt die körperliche Auseinandersetzung zu suchen.

„Was haben sie gesagt, als Sie sie aufgesucht haben?“, fragte ich.

„Wer?“ Mrs Siddons sah mich verwirrt an.

„Die WSPU.“ Meine Gedanken schweiften zurück zu den Ereignissen nach dem Tod meiner Mutter. „Sie sind doch danach zu ihrem Hauptquartier im Lincoln’s Inn House gegangen, nicht wahr? Was glaubten sie, was mit Mutter passiert ist?“

„Sie wussten es nicht. Sie nahmen an, sie sei in ihrer Eile gestürzt“, erinnerte sich Mrs Siddons.

„Hielten sie es für möglich, dass jemand sie verfolgt hätte?“ Spätestens jetzt bedauerte ich, dass ich damals nicht selbst zu ihnen gegangen war.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, sie hätten es mir sicherlich gesagt, wenn sie gedacht hätten, dass sie ins Wasser gezwungen worden wäre. Du weißt, wie sie sind. Sie hätten es von den Dächern geschrien, wenn jemand von der Obrigkeit ihren Tod verursacht hätte.“

Nickend erinnerte ich mich. „Im Jahr bevor meine Mutter starb, begleitete ich sie auf Emily Wilding Davisons Trauerzug. Ich war gerade vierzehn geworden und musste ein weißes Kleid mit einer violetten Schärpe tragen und eine Handvoll weißer Lilien halten.“ Ich schreckte noch immer bei dem Gedanken an diesen Tag zurück. „Ich wollte Emily ja die letzte Ehre erweisen, aber ich hasste diese überwältigenden Menschenmassen.“

Die Suffragetten hatten eine ähnliche Veranstaltung für die Beerdigung meiner Mutter in Erwägung gezogen. Aber Mrs Siddons hatte es geschafft, sie in Schach zu halten. Sie hatte auch Reverend Childs davon überzeugt, dass Mutter in der St. Martha’s Church in Walden beerdigt werden durfte.

„Ich weiß nicht, wie wir ohne Sie mit ihnen fertig geworden wären“, dachte ich laut nach.

„Sie waren zu militant geworden. Sogar einige ihrer eigenen Mitglieder waren der Meinung.“ Sie trank den letzten Schluck ihres Brandys. „Gelegentlich habe ich mit Emmeline darüber gesprochen, meistens dann, wenn die WSPU zu weit gegangen war.“

„Was oft der Fall war.“ Ich ließ meiner Wut nun freien Lauf. „Ich bin so froh, dass wir Mutter zurück nach Walden bringen konnten. Weg von ihnen.“

„Ich weiß, dass du sie für das Geschehene verantwortlich machst. Aber sie hatten das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Es ist Frauen wie deiner Mutter zu verdanken, dass wir heute zumindest auf eine gewisse Weise politisch vertreten sind.“

„Glauben Sie, dass sie bereit war, für diese Sache zu sterben?“ Meine Feindseligkeit richtete sich nicht nur gegen die WSPU. In dem Moment, da die schroffe Stimme gesagt hatte, meine Mutter sei nicht gefallen, wusste ich, was das in mir aufwühlen würde.

„Ich denke, du schenkst dem, was der Fährmann gesagt hat, zu viel Glauben.“ Sie seufzte. „Ich hatte gehofft, dass du mittlerweile weniger wütend auf deine Mutter wärest. Du solltest stolz auf sie sein.“

Darauf entgegnete ich nichts.

***

„Hat die Polizei jemals mit Mutter darüber gesprochen, was im Unterhaus passiert ist?“, fragte ich Tante Maud später am Abend.

Es war das erste Mal, dass ich an diesem Wochenende mit ihr allein sprechen konnte. Nachdem sie mich über meine Reise nach Westminster ausgefragt hatte, war Großmutter schließlich um zehn Uhr ins Bett gegangen und hatte erklärt, dass grüne Seide an einer Frau in Mrs Siddons Alter vulgär wirke.

„Sie hatten mit der Demonstration vor dem Buckingham Palace genug zu tun. In der Bow Street haben sie fast siebzig Frauen festgesetzt. Sogar Mrs Pankhurst wurde verhaftet. Violet war nur eine Suffragette weniger, mit der man sich befassen musste.“ Sie stellte zwei Tassen mit Kakao auf den kleinen Stubentisch. „Ich glaube, sie wussten, dass sie zu schwer gezeichnet war, als dass sie ihnen weitere Probleme bereiten würde.“

Mutter war schon immer eine schlanke Frau gewesen, und ihre beiden Gefängnisaufenthalte hatten sie noch mehr abmagern lassen. Hungerstreiks und Zwangsernährung hatten ihren Tribut gefordert, aber wir hatten es geschafft, sie wieder gesund zu pflegen. Dieses Mal war es anders. Das schmutzige Wasser der Themse war in ihren bereits geschwächten Magen eingedrungen. Ihr Körper begann zu kollabieren, und ihre blasse Haut nahm eine seltsame Blaufärbung an. Ich saß stundenlang an ihrem Bett und hielt ihre schlaffe Hand. Der Schmerz, der mich nach ihrem Tod durchfuhr, verwandelte sich in Groll und Wut.

Tante Maud wollte, dass ich Mutters Medaillen erhielt – die Fallgatterbrosche, die sie nach ihrem ersten Gefängnisaufenthalt bekam, und ihre Hungerstreik-Medaillen – aber ich hatte ihr gesagt, sie solle sie wegwerfen. Nun fragte ich mich, was wohl aus ihnen geworden war.

„Als wir die Commons verließen, hielten wir an der Stelle, wo Mutter in den Fluss gefallen war“, erzählte ich nun von meinen Erlebnissen an diesem Tag. „Ein Fährmann sagte, er habe sie springen sehen. Er zog sie damals aus dem Wasser.“

„Wie bitte?“, reagierte meine Tante aufgebracht.

Ich wiederholte: „Er sagte, sie sei nicht gefallen. Sie sei gesprungen.“

„Nein, das ist nicht wahr. Du weißt genau, dass sie das nicht getan hätte.“

„Was hat sie dazu gebracht, ins Unterhaus zu gehen? Wer kam denn mit dieser Idee um die Ecke?“

„Das hatten sie im Lincoln’s Inn House ausgeheckt“, meinte Tante Maud. „Nachdem die Polizei aus dem Weg geräumt war, dachten sie, es sei ihre Chance, die Ladies’ Gallery noch einmal zu stürmen.“

„Sie kann nicht allein gegangen sein. Wer hat sie begleitet? Warum haben sie ihr nicht geholfen?“, wollte ich wissen.

„Ich glaube, es waren zwei oder drei von ihnen.“ Sie rührte in ihrem Kakao.

„Wie hießen sie?“, bohrte ich weiter.

„Ich glaube, eine davon war Rebecca Dent. Erinnerst du dich an sie?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hast du noch Kontakt zu ihr?“

Ich musste mit dieser Frau sprechen. Auch wenn es vielleicht nicht stimmte, konnte ich die Worte des Fährmanns nicht einfach ignorieren. Ich musste wissen, warum meine Mutter in der Themse gelandet war.

„Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen. Als ich während des Krieges in den Suppenküchen aushalf, traf ich einige alte Freundinnen deiner Mutter. Eine von ihnen erzählte mir, dass Rebecca verschwunden sei.“

„Verschwunden? Wie meinst du das?“

„Sie ist seit Beginn des Krieges verschollen.“

Kapitel 4

„Wurde sie bei den Bombenanschlägen getötet? Dann wurde ihre Leiche vielleicht nicht gefunden?“ Ich dachte an die Propellerangriffe auf Hither Green im Jahr 1917.

„Nein, nichts dergleichen. Rebecca hat nicht in London gelebt, sondern in Walden.“ Tante Maud zog ihren Schal enger um die Schultern. Das Feuer war nur noch Glut, aber wir hätten uns Großmutters Zorn zugezogen, wenn wir zu dieser späten Stunde noch mehr Kohle nachgelegt hätten.

„Walden?“ Ich dachte immer, meine Mutter hätte sich erst für die Sache engagiert, nachdem wir nach London gezogen waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es in Walden so etwas wie eine WSPU-Zweigstelle gab.

„Sie war die Dienerin der Dame, die du neulich erwähnt hast.“

„Welcher Dame?“ Ich zitterte mittlerweile vor Kälte und nippte an meinem Kakao. Ich sehnte mich nach der Wärme meines Bettes, aber ich brannte auch darauf, mehr zu erfahren.

„Lady Timpson. Diejenige, die bei der Wahl kandidiert“, antwortete meine Tante.

Ich verschluckte mich fast an meinem Getränk. „Eine Suffragette arbeitete für die Timpsons?“

„Ich nehme an, sie hat es ihnen nicht gesagt. Sie hätte sonst ihre Stellung verloren aber es muss wohl später herausgekommen sein.“

„Aber was ist mit ihr passiert?“ Ich wurde langsam ungeduldig.

Tante Maud zuckte mit den Schultern. „Sie ist einfach verschwunden. Darüber hinaus weiß ich nichts.“

„Wer war an diesem Tag noch bei Mutter? Du sagtest, sie waren zu dritt.“

Tante Maud überlegte kurz: „Ich glaube, eine von ihnen könnte Rebecca gewesen sein, aber ich bin mir nicht sicher.“

„Könnten wir zum Lincoln’s Inn House gehen?“ Ich musste unbedingt mehr in Erfahrung bringen, und das schien mir der beste Ausgangspunkt für meine Recherche zu sein.

„Die WSPU hat sich während des Krieges aufgelöst. Ich habe keine Ahnung, wie wir jetzt noch mit ihnen in Kontakt treten könnten.“

„Wann hast du erfahren, dass Rebecca vermisst wird?“

Maud berichtete: „Sie war schon seit etwa drei Jahren tot, als mir jemand davon erzählte. Ich glaube, es war 1917. Die Pankhursts waren in die Kriegsanstrengungen eingebunden, und ich habe an ein paar ihrer Benefizveranstaltungen teilgenommen.“ Sie nahm einen Schürhaken und bückte sich, um die Kohlen wieder zum Glühen zu bringen. „Ich muss zugeben, dass ich es vermieden habe, die Suffragetten-Freundinnen deiner Mutter zu treffen, nachdem sie gestorben war.“

„Das hätte ich auch getan“, pflichtete ich ihr bei.

„Ich habe wirklich versucht, darüber nicht allzu verbittert zu sein, dass die ihr Leben weiterführten, als wäre nichts geschehen. Aber schließlich hatten wir Violet verloren, und ich war einfach wütend.“ Meine Tante stocherte weiter im Ofen. „Als dann der Krieg weiterging …“

„… haben sie auch Verluste erlitten?“, beendete ich ihren Satz. Mit meinem Kummer und meiner Wut hatte ich eine ähnliche Entwicklung durchlaufen.

„Väter, Ehemänner, Söhne. All das Bangen und die Ungewissheit. Das Warten auf die Ankunft eines Telegramms. Da hatte die Wut keinen Platz mehr, weil das Mitgefühl überwog.“ Sie ließ sich in ihren Sessel zurücksinken. „Es ist schon merkwürdig: Jetzt, wo alles vorbei ist, sehe ich denselben Groll bei denen, die im Krieg geliebte Menschen verloren haben, wenn sie mit Leuten sprechen, die ihn unbeschadet überstanden haben.“

Das konnte ich absolut nachvollziehen. Und nicht zum ersten Mal verspürte ich das überwältigende Gefühl der Erleichterung, dass der Krieg endlich zu Ende war.

***

Am nächsten Morgen schlich ich die Treppe hinunter und achtete darauf, Großmutter nicht zu wecken. Ich trat auf die Brightside Road hinaus und warf noch einen Blick hinauf zu den Fenstern des rußverschmierten Hauses, bevor ich zur Hither Green Lane ging. Ich kam an der Glenview Road vorbei, wo sich noch immer ein klaffendes Loch in der Landschaft auftat. Drei Häuser waren im Oktober 1917 bei einem Luftangriff zerstört worden, wobei fünfzehn Menschen, darunter zehn Kinder, ums Leben kamen.

In der Hither Green Lane blieb ich vor dem Reihenhaus stehen, das mein Vater im Jahr zuvor verkauft hatte. Es war einmal das Heim einer glücklichen Familie gewesen. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. Ich überquerte die Straße und ging an der hohen Mauer entlang, die das Park Fever Hospital umgab. Als ich das Eisentor erreichte, blickte ich auf das Krankenhausgelände und den Wasserturm. Ein paar Monate nach dem Tod meiner Mutter wurde der Krieg ausgerufen, und man schickte mich zu den Eltern meines Vaters geschickt nach Exeter. Als ich siebzehn war, schloss ich mich dem Voluntary Aid Detachment an und kehrte in die Hither Green Lane zurück. Ich bekam eine Stelle im Park Fever Hospital, das zur Unterbringung jener Flüchtlinge diente, die zu Tausenden aus dem besetzten Belgien nach England kamen.

Im Jahr darauf wurde ich in das Lewisham Military Hospital versetzt. Ich galt als zu jung für den Pflegedienst, konnte aber niedere Arbeiten verrichten wie das Aufwischen von Blut und Erbrochenem und das Auswaschen von Bettpfannen. Auf den unerbittlichen Strom von Verwundeten war ich allerdings nicht vorbereitet gewesen.

Die langen Tage auf den Stationen hatten mich gezwungen, meine Trauer zunächst zu begraben und mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Aber vielleicht hatte ich in dieser Zeit doch zu viele Emotionen verdrängt. Es machte mir Angst, dass die Erinnerungen an meine Mutter langsam zu verblassen begannen. Manchmal fiel es mir sogar schwer, mir ihr Gesicht vorzustellen.

Nach dem Krieg hatte ich – wie so viele andere – den Sinn des Lebens scheinbar aus den Augen verloren. Erst durch die Arbeit für Elijah beim Walden Herald kehrte dieses Bewusstsein langsam zurück.

***

Ich kehrte in die Brightside Road zurück, schloss die Tür zu den vom Krieg zerstörten Straßen und folgte dem Duft von Großmutters Gardenien ins Esszimmer.

„Du hättest Mrs Siddons durchaus bitten können, hierher zu kommen.“ Großmutter ließ sich langsam in ihren Stuhl sinken, während meine Tante ein Kissen hinter ihren Rücken legte.

„Sie hatte etwas in Westminster zu erledigen“, log ich.

„Ach, wahrscheinlich ist es auch besser so.“ Großmutter schniefte. „Es gab Gerüchte. Über sie und Lloyd George, wisst ihr?“

Genau aus diesem Grund hatte ich mich mit Mrs Siddons im Unterhaus verabredet: man konnte nie wissen, was meine Großmutter so alles von sich geben würde.

Tante Maud stellte einen Ständer mit Toast auf den Frühstückstisch. Sie war kleiner, runder und freundlicher als Großmutter, hatte das gleiche weiche braune Haar und die gleichen lächelnden Augen wie meine Mutter. Das fand ich sehr schön. Ich betrachtete ihre Figur und fragte mich, ob Mutter mit zunehmendem Alter wohl auch etwas fülliger geworden wäre.

„War dein Vater glücklich darüber, dass du dorthin gegangen bist?“ Großmutter sah mich über ihre Brille hinweg an.

„Nein. Aber er hat es verstanden. Er meinte, wir müssen nach vorne schauen.“

Die Nasenflügel meiner Großmutter blähten sich. Sie hatte nicht die Absicht, nach vorne zu schauen.

„Es war richtig, dass du ihre Einladung angenommen hast.“ Meine Tante stellte ein gekochtes Ei vor Großmutter hin. „Wie läuft die Wahl? Glaubst du, dass Mrs Siddons gewinnen wird?“

Ich merkte, dass sie das Gespräch von dem schmerzlichen Thema Mutter ablenken wollte.

„Ich bin mir nicht sicher. In Walden ist sie zwar beliebt, nicht aber so sehr in Aldershot. Lady Timpson hat großzügige Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen der Armee getätigt, und das Militär hat in dieser Gegend den größten Einfluss.“

„Wer ist der Labour-Kandidat?“ Sie begann, eine Scheibe Toast mit Marmelade zu bestreichen.

„Mr Donald Anstey. Wir wissen nicht viel über ihn. Elijah arrangiert ein Interview“, erwiderte ich.

„Hat sich der alte Gauner nicht schon zu Tode geraucht und gesoffen?“, mischte sich Großmutter in das Gespräch ein.

„Zwei Frauen in einem Wahlkreis sind ein großer Fortschritt“, kommentierte meine Tante, ohne auf Großmutters Bemerkung zu reagieren.

Ich wollte gerade darauf eingehen, da empörte sich Großmutter: „Reicht es nicht, Ehefrau und Mutter zu sein? Violet wäre noch am Leben, wenn es diesen ganzen Unsinn nicht gäbe.“

„Jetzt mach doch nicht klein, wofür sie gekämpft hat“, herrschte Tante Maud sie an.

„Nein, das reicht nicht“, bestätigte auch ich, aber meine Worte klangen nicht so eindringlich, wie ich es beabsichtigt hatte. Denn in einem geheimen Winkel meines Herzens wünschte ich mir, dass es für meine Mutter doch genug gewesen wäre.

Nach dem Frühstück flüchtete ich nach oben in das ehemalige Kinderzimmer meiner Mutter. Obwohl es ein Trost war, dort zu schlafen, fühlte ich mich seltsam deplatziert. Gerade als Walden begann, sich zu einem neuen Zuhause zu entwickeln, hatte mich meine Reise nach Westminster in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Ich war mir nicht mehr sicher, wo ich wirklich hingehörte.

***

„Wusstest du, wohin Mutter an diesem Tag ging?“ Bereits auf dem Heimweg nach Walden hatte ich so eine unruhige Stimmung in mir verspürt und beim Abendessen konnte ich mich nicht länger zurückhalten und sprach meinen Vater darauf an.

„Ich dachte, sie würde mit den anderen zum Buckingham Palace marschieren.“ Seine Stimme nahm den geduldigen Ton an, in dem er immer über meine Mutter sprach. Oder, um es genauer zu sagen, über den Tod meiner Mutter.

„Hast du versucht, sie aufzuhalten?“

„Natürlich habe ich das. Ich wusste, dass die Polizei mit einem großen Aufgebot vor Ort sein würde. Und ich war besorgt, dass die Demonstration gewalttätig werden könnte.“

„Was hat sie gesagt?“, bedrängte ich ihn.

„Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Sie wäre schließlich meilenweit von jeder Gefahr entfernt. Damit konnte sie auf keinen Fall Westminster gemeint haben.“ Vater versuchte, sich auf sein Essen zu konzentrieren.

„Waren noch andere mit ihr da? Im Unterhaus, meine ich?“, fragte ich wieder.

„Wahrscheinlich.“ Er aß weiter.

„Wie viele? Und wer waren sie?“

Er hielt inne, als er seinen Bissen zu Ende gegessen hatte. „Ich weiß es nicht.“

„Ein Fährmann sagte uns, er habe sie in den Fluss springen sehen“, platzte ich jetzt heraus.

Vater wollte weiter essen, hielt aber inne. Er legte die Stirn in Falten. „Du weißt, dass sie das nicht getan hätte.“

„Warum hat er es dann gesagt?“

„Zweifellos ist der Geschichte im Laufe der Jahre einiges angedichtet worden. Dieser Mann war wahrscheinlich gar nicht da. Violet wäre nicht gesprungen.“ Der Vater schob seinen Teller beiseite. „Sie starb durch einen tragischen Unfall. Da gibt es nichts mehr zu sagen.“

„Woher willst du wissen, dass es ein Unfall war? Du warst nicht dabei. Du weißt nicht, was geschehen ist, und es sieht für mich so aus, als hättest du dir nie die Mühe gemacht, es herauszufinden“, reagierte ich aufgebracht und bedauerte meine vorwurfsvollen Worte in dem Moment, als ich sie ausgesprochen hatte.

„Iris.“ Leicht genervt knüllte er seine Serviette zusammen, bevor er ruhig fortfuhr. „Deine Mutter war einfach etwas leichtsinnig. Ich habe versucht, sie in Sicherheit zu bringen, aber sie hat es mir nicht gerade leicht gemacht.“ Er schloss die Augen und rieb sich den Nasenrücken.

Mutter war stur gewesen, das stimmte. Sie diskutierte nicht, sie ignorierte einfach, was man sagte. Sie gab Vater und mir einen Kuss auf die Wange und verschwand dann auf ihren neuesten Kreuzzug. Es war sinnlos, sie anzuflehen, bei uns zu bleiben.

Aber was hatte sie an diesem Tag vor? Warum war sie im Fluss gelandet? War es Teil ihres Plans gewesen, den Protest zu radikalisieren?

„Es tut mir leid.“ Ich wusste, dass ich mich unfair verhielt und die Frustration an meinem Vater ausließ. „Ich will nur herausfinden, was tatsächlich passiert ist.“

„Das verstehe ich ja, aber ich kann dir nicht mehr dazu sagen.“

Ich beschloss, einen anderen Weg einzuschlagen: „Kennst du Rebecca Dent?“

„Ja. Sie war eine Freundin deiner Mutter. Warum?“

„Sie gilt seit 1914 als vermisst, also etwa zu der Zeit, als der Krieg ausbrach.“

„Als ich in Walden im 16ten gedient habe, war davon jedenfalls nie die Rede.“

Vater und Elijah waren aufgrund ihrer Kontakte zu ausländischen Presseagenturen für den Geheimdienst rekrutiert worden. Eine Zeit lang war Vater in Mill Ponds, einem großen Herrenhaus am Rande von Waldenmere, einquartiert gewesen. Sein Besitzer, General Cheverton, hatte sein Haus zur Kriegsunterstützung zur Verfügung gestellt, und es wurde als Ausbildungsakademie genutzt.

„Ihr Verschwinden scheint kein großes Aufsehen erregt zu haben. Wenn Constance Timpson verschwunden wäre, hätte das ganze Land davon gewusst. Aber eine Dienerin aus demselben Haus ist keine Erwähnung wert“, empörte ich mich.

„Der Krieg beherrschte die Schlagzeilen. Aber ich bin doch überrascht, dass ich rein gar nichts davon gehört habe“, überlegte Vater. „Schade, dass wir keine Lokalzeitung hatten. Elijah hätte es auf die Titelseite des Walden Herald gebracht.“

Er hatte Recht. Elijah hätte den Fall recherchiert. Und dafür gesorgt, dass er in den Köpfen der Menschen präsent geblieben wäre. Könnte ich ihn noch sechs Jahre später dazu überreden, etwas zu unternehmen?

„Wie haben sich Mutter und Rebecca angefreundet?“, sprach ich weiter.

„Sie lernten sich bei einem WSPU-Treffen in London kennen.“

„Ich hatte angenommen, dass sie sich hier in Walden kennengelernt haben mussten.“

„Nur vom Sehen. Als Rebecca merkte, dass deine Mutter sie erkannt hatte, bat sie sie, niemandem zu verraten, dass sie eine Suffragette sei. Sie sagte, sie würde aus dem Dienst entlassen, wenn ihr Arbeitgeber es herausfände. Sie wollte nicht, dass jemand in Walden davon erfährt.“

„Ich kann mich nicht erinnern, Rebecca jemals getroffen zu haben“, überlegte ich.

„Wir haben uns nicht mit ihr getroffen, als wir hier waren. Das hätte vielleicht Aufsehen erregt. Aber als wir nach London zogen, kam Rebecca einige Male zu uns nach Hause. Sie fertigte wunderschöne Stickereien an. Einmal hat sie dir sogar gezeigt, wie man näht.“

„Ja, jetzt erinnere ich mich doch an sie“, rief ich aus. Ich hatte mit Mutter, Tante Maud und Rebecca am Esstisch gesessen und violette Blumen auf lila und grüne Schärpen gestickt. „Sie war groß und hatte langes, blondes Haar.“

„Das ist richtig. Eine attraktive Frau. Und intelligent. Sie hatte keine formale Ausbildung, aber sie war sehr belesen.“

„Sie war noch recht jung, nicht wahr?“

„Sie war ungefähr fünfundzwanzig, als ich sie das letzte Mal sah, Anfang 1914.“

„Ich kann einfach nicht glauben, dass man sie vergessen hat.“ Jetzt, da ich dem Namen ein Gesicht zuordnen konnte, war ich noch entschlossener, herauszufinden, was mit ihr geschehen war.

„Mir geht es genauso. Es scheint, als hätte sich keine der Zeitungen damals um sie gekümmert.“ Er drohte spaßend mit dem Finger. „Waren wohl zu sehr damit beschäftigt, die Deutschen zu verteufeln.“

Dies war eines der Lieblingsthemen meines Vaters. Er hatte sich über die Propaganda der Regierung und des Militärs geärgert. Und war vor allem von den Zeitungsverlegern enttäuscht. Nach dem Krieg verließ er den Daily Telegraph und wurde freiberuflicher Schriftsteller. Er arbeitete nun für verschiedene Nachrichtensyndikate.

Ob ich Elijah wohl dazu überreden könnte, einen Artikel über Rebecca zu veröffentlichen? Das schien mir die einzige Möglichkeit, den Fall wieder aufzurollen. Ihr Verschwinden könnte mit dem Protest im Unterhaus zusammenhängen – und wenn ich herausfände, was mit ihr passiert war, erführe ich vielleicht auch mehr über den Tod meiner Mutter.

***

„Rebecca Dent – nie gehört.“ Elijah lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Aber damals hatte der Krieg gerade begonnen. Ich nehme an, die Geschichte hat es nicht auf die Titelseite geschafft.“

„Ich glaube nicht, dass sie auf irgendeiner Seite erschienen ist. Aber Lord und Lady Timpson müssen Rebeccas Verschwinden doch bei der Polizei gemeldet haben.“

„Sprich mit Ben Gilbert!“ Elijah gestikulierte mit seiner Zigarette zu mir rüber. „Das war zwar, bevor er Polizeibeamter wurde, aber er kann sich umhören. Es würde mich interessieren, was die Polizei herausgefunden hat. Klingt nicht so, als hätte es eine große Untersuchung gegeben, aber wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen.“

„Können wir etwas in der Zeitung darüber schreiben?“ Angeekelt fächelte ich den Rauch zur Seite, der mir ins Gesicht wehte.

„Nicht jetzt. Nicht so kurz vor der Wahl. Es könnte uns als Diskreditierung von Lady Timpson ausgelegt werden. Schau erst mal, was Ben herausfindet“, riet Elijah.

Enttäuscht kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück, wenngleich ich seinen Standpunkt verstehen konnte.

„Vergiss diese Rebecca“, rief er mir hinterher. „Und mach deine Hausaufgaben. Morgen um zehn Uhr haben wir ein Interview mit Donald Anstey. Er wohnt in der Church Road, also komm direkt zu meinem Haus. Von dort aus können wir zu Fuß gehen.“

***

Am nächsten Morgen klopfte ich an die Tür des Hauses, in dem ich aufgewachsen war.

Elijah hatte das Haus 1895 gekauft, um es als Wochenendresidenz zu nutzen. Zu dieser Zeit lebte er in London, floh aber aus der lauten Stadt, wann immer er konnte. Im Jahr 1898 wurde er nach Übersee geschickt und vermietete das Haus an meine frisch verheirateten Eltern. Ein Jahr später kam ich dort zur Welt. Als wir 1913 nach London zogen, kehrte Elijah zurück, um wieder in Walden zu leben.

Das Haus von Donald Anstey lag weiter unten in der Church Road, hinter der St. Martha’s Church. Es war nur ein kurzer Spaziergang, aber Elijah war schnell außer Atem. Ich verlangsamte mein Tempo und bemühte mich, nicht zu zügig voranzugehen.

Er hielt vor einem roten Backsteinhaus und klopfte an die Eingangstür. Als sie sich öffnete, erkannte ich den Mann auf den ersten Blick.

Donald Anstey war derjenige, den ich auf dem Steg am Bahnhof gesehen hatte, als er Veilchen im Waldenmere Lake verstreute.

Kapitel 5

„Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Auf dem Steg beim Bahnhof?“ Jetzt konnte ich Donald Anstey genauer unter die Lupe nehmen. Er war ein freundlich aussehender Mann mit hellbraunem Haar, das an den Schläfen leicht ergraut war. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig.

„Ich gehe oft in Waldenmere spazieren. Es hilft mir, meine Gedanken zu ordnen.“ Sein trauriges Lächeln schien mir sagen zu wollen, dass ich das nachvollziehen können müsste.

Wir standen in einem schmalen Flur, der mit verblichenen grünen Tapeten bedeckt und mit einer Reihe von Aquarellen schottischer Seen geschmückt war. Das Häuschen war für einen so großen Mann recht klein, und er musste sich bücken, um durch die Tür ins Wohnzimmer zu gelangen.

Ich erwartete, dass er auf unsere Begegnung zu sprechen kommen würde, aber er schwieg. Gern hätte ich das Thema auf die Blumen gebracht. Aber ich konnte ihn wohl kaum fragen, warum er ein paar Duftveilchen in den See geworfen hatte.

„Was hat Sie dazu bewogen, in die Politik zu gehen, Mr Anstey?“ Elijah setzte sich schwerfällig in einen der schäbigen Sessel. Der Salon war mit denselben grünen Tapeten dekoriert, auf denen weitere Bilder hingen, diesmal Aquarelle von Landschaften des schottischen Hochlandes.

Ich setzte mich auf die Kante eines Sessels und nahm mein Notizbuch heraus. Ich hatte keine Erfahrung mit dem Aufzeichnen von Sitzungen und hoffte, dass das Gespräch nicht zu schnell verlaufen würde.

„Vor dem Krieg war ich Sachbearbeiter bei der Behörde für Landwirtschaft und Fischerei. Ich habe persönlich miterlebt, wie die Regierung arbeitet. Alles alte Knaben. Lord dies und Sir das.“ Er sprach mit einem weichen schottischen Akzent. „Reiche Aristokraten, die keine Ahnung vom Leben der normalen, arbeitenden Bevölkerung haben. Dann hörte ich eine Rede von Keir Hardie. Er war ein großartiger Mann. Und plötzlich wurde mir meine Berufung klar, und ich trat in die Labour Party ein.“

Anstatt über Vorhaben auf lokaler Ebene zu sprechen, erläuterte Donald die Politik seiner Partei und erklärte, dass die arbeitende Bevölkerung, die Gewerkschaften und die Sozialisten sich zusammenschließen sollten, um Veränderungen zu erzwingen.

„Treten Sie für die Rechte der Frauen ein?“, fragte Elijah. „Oh ja.“ Er nickte.

„Würden Sie es begrüßen, wenn mehr Frauen im Parlament vertreten wären?“

„Ja.“

„Wie fühlten Sie sich, als Sie erfuhren, dass Sie gegen zwei Frauen antreten werden?“

Er hielt inne. „Gedemütigt.“

„Wie lange leben Sie schon in Walden?“ Längere Pause. „Ungefähr ein Jahr.“

Ich merkte schnell, dass ich keine Mühe haben würde, bei diesem Gespräch mitzuhalten. Donald nahm sich Zeit, über jede Frage nachzudenken, bevor er eine langsame, bedächtige und meist kurze Antwort gab.

„Was hat Sie hierher geführt?“

„Ich habe früher in London gelebt, aber als ich von meinen Kämpfen in Übersee zurückkam, wollte ich an einem ruhigeren Ort leben.“

„Welche konkreten Pläne haben Sie, um das Leben Ihrer Wählerinnen und Wähler zu verbessern?“

Wieder eine lange Pause. „Ich möchte, dass mehr Vorkehrungen für die Betreuung von schutzbedürftigen und älteren Menschen sowie für unsere Kriegsveteranen getroffen werden. Und wir müssen dringend Wohnraum für ärmere Familien bereitstellen.“ Er hielt inne und schien darüber nachzudenken, was er gerade gesagt hatte.

Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf der Armlehne des Stuhls herum, während mir im Kopf herumspukte, was für eine Katastrophe Donald Ansteys Art bei öffentlichen Auftritten wäre.

„Wenn Sie sagen, dass vor Ort mehr Wohnungen benötigt werden, haben Sie dann einen bestimmten Ort im Sinn?“ Elijah kam ihm zuvor, fest entschlossen, ihn auf eine Aussage festzulegen. Als erneut das unvermeidliche Schweigen folgte, schmunzelte ich über seine verzweifelte Miene.

Schließlich ergriff Donald das Wort. „Ich entwerfe Pläne für ein ziemlich ehrgeiziges Projekt. Wenn ich gewählt werde, wird es meine oberste Priorität sein.“ Er hielt inne, scheinbar besorgt, dass er zu viel gesagt haben könnte. Mein Bleistift schwebte in der Luft.

„Wo genau?“ Elijah blieb hartnäckig. Wir mussten etwas schreiben, das für die Menschen vor Ort relevant war, und nicht über die allgemeine Politik der Labour Party.

Schließlich wagte Donald sich aus seiner Deckung. „Am Basingstoke-Kanal, gegenüber von Crookham Hall, gibt es eine Reihe von Slumbehausungen – Wohnwagen und Hütten rund um das Bauernhaus der Moffats. Die Einrichtungen sind eine Schande, und dort leben kleine Kinder. Diese Menschen brauchen richtige Häuser, und genau hier könnten wir sie bauen.“

Die Vehemenz seiner Antwort überraschte mich, und ich beeilte mich, sie niederzuschreiben. Samuel Moffat hatte das Bauernhaus geerbt, als seine Eltern ein Jahr zuvor gestorben waren. Aber er war kein Landwirt. Ich hatte gehört, dass einige seiner Kriegskameraden obdachlos geworden waren, und Samuel ließ sie auf seiner Farm campieren. Der Ort war in einem schrecklichen Zustand, und dieser inoffizielle Campingplatz hatte sich auf das angrenzende Land ausgeweitet, das im Besitz der Gemeinde war.

„Interessante Idee.“ Elijah wurde hellhörig. Als Journalist witterte er die Kontroverse. „Aber eine, die wahrscheinlich auf Widerstand stoßen wird.“

„Ich weiß, dass die Timpsons das Gelände räumen lassen wollen. Aber wo sollen die Leute denn hin? Der größte Teil des Landes, auf dem sie sich befinden, gehört der Gemeinde. Wir glauben, dass wir genügend Mittel aufbringen können, um menschenwürdige Wohnungen zu bauen, die diese Familien mieten können. Sie leben in Armut und Elend, und das ist in der heutigen Zeit nicht mehr hinnehmbar.“

„Die Moffats besitzen noch das Bauernhaus und ein Stückchen Land“, erinnerte Elijah.

„Sie werden froh sein, wenn sie es los sind. Der Ort um sie herum stürzt ein.“ Er ließ sich offensichtlich nicht von seinem Plan abbringen.

„Es ist unwahrscheinlich, dass Lord und Lady Timpson die derzeitigen Mieter als ständige Nachbarn willkommen heißen werden.“ Elijah lächelte, wohl in der Vorstellung, welche Spannungen dies zwischen den beiden Kandidaten hervorrufen würde.

„In meinem Wahlprogramm geht es um den Aufbau einer Gesellschaft mit mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Rechten für Arbeitnehmer. Die Gefühle der Aristokratie interessieren mich nicht.“

Obwohl er bei der Erläuterung seines Plans immer lebhafter geworden war, war ich mir immer noch nicht sicher, ob Mr Anstey energisch genug wäre, um es im Wahlkampf mit Mrs Siddons oder Lady Timpson aufzunehmen. Aber ich zweifelte nicht an seiner Integrität. Ich begann sogar, ihn ein bisschen zu mögen – und dann, als wir uns verabschiedeten, sagte er: „Es tut mir leid, was mit Ihrer Mutter passiert ist. Ein tragischer Verlust.“

Seine Worte überraschten mich derart, dass ich nur noch nicken, aber nicht antworten konnte.

***

„Woher weiß er von meiner Mutter?“, fragte ich Elijah, als wir die Gasse hinaufgingen. Aus irgendeinem Grund hatte ihre Erwähnung meine Sympathie für Donald Anstey verfliegen lassen.

Elijah holte seine Zigaretten heraus. „Er hat wahrscheinlich aufgrund der Namensgleichheit eins und eins zusammengezählt. Er ist ein interessanter Kerl. Seine Pläne, neue Häuser in der Nähe von Crookham zu bauen, haben etwas für sich.“

„Ich finde ihn langweilig. Wir können ihn nicht unterstützen“, gab ich ungefragt meine Einschätzung ab.

„Danke für deine unvoreingenommene Meinung“, gab Elijah spöttisch zurück.

Ich ignorierte seinen Sarkasmus und fuhr fort: „Als ich ihn neulich am See sah, warf er gerade Duftveilchen ins Wasser.“

„Duftveilchen?“

„Das ist doch seltsam, oder nicht?“ Ich runzelte die Stirn.

„Vielleicht waren sie zum Gedenken an jemanden, den er verloren hat“, spekulierte Elijah.

„Ich finde ihn trotzdem merkwürdig“, beharrte ich und blieb vor der St. Martha’s Church stehen. „Ich werde Mutters Grab besuchen.“

„Iris.“ Man sah ihm regelrecht an, dass er nach den richtigen Worten suchte. „Halte dich nicht mit der Vergangenheit auf. Du bist ein kluges Mädchen. Du solltest in die Zukunft blicken.“

Als Kind war Elijah für mich wie ein Onkel gewesen. Aber als meine Mutter starb, wusste er nicht recht, wie er mit einer wütenden Vierzehnjährigen umgehen sollte. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es für ihn nicht leicht gewesen sein konnte. Er war nie verheiratet gewesen und hatte keine eigenen Kinder. Während des Krieges hatte ich ihn nicht oft gesehen, aber jetzt, wo er mein Chef war, begann sich eine neue Beziehung zwischen uns zu entwickeln.

Er ging weiter und rief über seine Schulter: „Bleib nicht zu lange. Ich brauche dich wieder im Büro.“

***

Nach der Arbeit machte ich mich auf die Suche nach Ben Gilbert und fand ihn im Gemeindehaus, wo er seiner Mutter und Alice beim Aufräumen nach einer Sitzung der Walden Women’s Group half.

Als ich nach Walden zurückgezogen war, musste ich überrascht feststellen, dass aus dem kleinen blonden Jungen, mit dem ich als Kind gespielt hatte, ein stattlicher Wachtmeister geworden war. Vor mir stand nun ein stämmiger junger Mann mit sandfarbenem Haar, der überdies auch noch attraktiv war. Das war auch Alice nicht entgangen.

„Wolltest du zu mir?“ Er war gerade dabei, einen Tapeziertisch auseinanderzubauen. „Ich wollte gerade Alice nach Hause bringen.“ Ich sah den scharfen Blick, den seine Mutter ihm zuwarf, und konnte mir den Grund dafür denken. Wenn er allzu oft mit Alice zusammen gesehen wurde, könnte ihr Vater Wind davon bekommen.

„Dann begleite ich euch und wir können unterwegs reden“, schlug ich vor.

Es war ein kühler Abend, aber noch war es draußen hell. Ich wollte unbedingt aus der Gemeindehaus raus, da ich mich von Mrs Gilbert beobachtet fühlte. Sie und Alice hätten gern gesehen, dass ich mich ihrer Gruppe anschloss, aber ich war noch nicht bereit für Komitees. Wir ließen Mrs Gilbert abschließen und nahmen den Treidelweg am Kanal entlang, der nach Waldenmere führte.

„Hast du jemals von einer Frau namens Rebecca Dent gehört?“

„Nein, ich glaube nicht“, antwortete Ben nach kurzer Überlegung. „Warum?“

„Sie arbeitete als Dienstmädchen für Lord und Lady Timpson. Sie soll im August 1914 verschwunden sein.“

„Ich erinnere mich“, mischte sich Alice jetzt ein. „Damals haben alle darüber gesprochen. Aber mit dem Krieg ist es in Vergessenheit geraten.“

„Hat denn niemand nach ihr gesucht?“

„Ich glaube, Lord Timpson hat eine Durchsuchung des Geländes veranlasst“, meinte Alice.

„Gab es denn kein Gerede? Irgendein Klatschtanten-Gewäsch?“

Alice lächelte: „Es hieß, sie sei gegangen, weil sie Lady Timpson nicht mehr ertragen konnte. Gerüchten zufolge ist sie mit einem Mann durchgebrannt.“

Nun war ich richtig neugierig auf Crookham Hall, denn die Durchsuchung des Anwesens deutete darauf hin, dass man befürchtete, Rebecca könnte etwas zugestoßen sein.

„Wie ist Constance Timpson denn mittlerweile so? Du hast doch gesagt, du warst auf ihren Tanzveranstaltungen?“

„Ich mag sie“, antwortete Alice. „Sie ist unglaublich klug, aber nicht herablassend oder so. Sie muss uns Dorfbewohner ziemlich langweilig gefunden haben, aber sie hat sich nichts anmerken lassen.“

„Als ich sie das letzte Mal sah, war ich ungefähr dreizehn Jahre alt. Das war kurz bevor wir nach London zogen.“ Ob ich meine Freundschaft zu Constance nun einfach so erneuern könnte? „Und was ist mit Lady Timpson?“

Delphina, Lady Timpson, geborene Hinchcliffe, stammte aus einer wohlhabenden Industriellenfamilie. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1889 hatte sie im Alter von einundzwanzig Jahren Hinchcliffe Holdings geerbt. Wider Erwarten führte sie das Unternehmen im Alleingang und machte es noch erfolgreicher, als es zu Zeiten ihres Vaters gewesen war. Im Alter von dreißig Jahren heiratete sie unerwartet Lord Timpson und zog aus ihrer Heimatstadt Barnsley auf seinen Stammsitz, Crookham Hall. Sie benannte das Unternehmen in Timpson Foods um, und es wurde immer umsatzstärker.

„Sie ist herablassend“, sagte Alice und lachte. „Ganz die Gutsherrin. Sehr herrschsüchtig. Sie kommandiert die arme Constance und Daniel furchtbar herum.“

„Daniel?“, fragte ich nach.

„Constances älterer Bruder. Ich habe ihn zu Beginn des Krieges ein paar Mal gesehen, aber dann ist er zur Armee gegangen. Er ist ziemlich nett, aber eher ein Naturmensch. Er redet nicht viel. Constance hat sich immer für ihn entschuldigt. Sie sagte, er sei am glücklichsten, wenn er das Anwesen bewirtschaften könne, und dass ihm geselliges Beisammensein nicht liege“, wusste Alice zu berichten.

„Was ist mit Lord Timpson?“, wollte ich weiter wissen.

„Er ist reizend. Völlig anders als seine Frau. Sehr charmant. Ich weiß wirklich nicht, warum er sie geheiratet hat.“ Alice schüttelte den Kopf.

„Geld?“, spekulierte ich.

„So jedenfalls lautet das Gerücht“, bestätigte sie. „Crookham Hall zu unterhalten, ist ein teures Unterfangen. Und sie wollte unbedingt einen Adelstitel.“

„Also wurde eine Ehevereinbarung getroffen? Warum konnte er nicht einfach die Familienjuwelen verkaufen? Besitzt er nicht so einen berühmten Saphir?“

„Er konnte doch den Stern-Saphir nicht veräußern!“ Alice sah mich schockiert an. „Er befindet sich seit mindestens hundert Jahren im Besitz der Familie Timpson. Einer seiner Vorfahren hat ihn während eines Krieges in den 1820er Jahren in Burma erworben, glaube ich.“

Mit ‚erworben‘ meinte sie wohl, dass die Soldaten ihn während des Konflikts einfach gestohlen hatten.

„Hast du ihn jemals zu Gesicht bekommen?“, wollte ich wissen.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich hatte gehofft, Lady Timpson oder Constance würden ihn auf einem der Bälle tragen. Aber ich nehme an, dass es in Kriegszeiten als zu protzig angesehen worden wäre. Obwohl Lady Timpson nicht der Typ zu sein scheint, der sich davon stören lässt.“

Lady Timpson schien eine faszinierende Persönlichkeit zu sein und ich hoffte sehr, sie bald einmal kennenlernen zu können.

„Schau, Ben. Der Eisvogel ist wieder da.“ Alice zeigte auf einen türkisfarbenen Blitz auf der anderen Seite des Ufers.

Wir folgten der Route des Eisvogels entlang des Grebe Stream, bis wir die Heron Bay erreichten, und beobachteten den Vogel, wie er sich im Tiefflug auf die Suche nach Beute machte. Ich fragte mich, wie viel Zeit Alice und Ben wohl allein am See verbrachten.

„Woher kannte deine Mutter Rebecca Dent?“, fragte Ben, während er die Ranken einer Weide wegschob, die sich in Alices langem Haar zu verfangen drohten.

„Sie war ebenfalls eine Suffragette,“ antwortete ich.

„Rebecca Dent war eine Suffragette?“, rief Alice aus. „Davon hat damals niemand gesprochen.“

„Ich wette, das wäre bei den Timpsons auch nicht gut angekommen.“ Ben hielt noch mehr überwuchernde Weiden zurück, um uns den Pfad zum Fußweg freizugeben. „Wie hast du das herausgefunden?“

„Rebecca war bei meiner Mutter, als sie in das Unterhaus einbrach.“

Seine Augen verengten sich. „Und niemand wusste das zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?“

Ich schüttelte den Kopf.

Wir hielten am Fuße des Hügels an, der zur Sand Hills Hall hinaufführte. Ben wusste, dass es besser war, Alice nicht weiter zu begleiten. Von der Spitze eines Hügels auf der Ostseite thronte Crookham Hall hoch oben über Waldenmere. Den Hang hinunter verliefen die Überreste eines hölzernen Stegs, von dem aus früher Wasserflugzeuge gestartet waren. Oben waren nur noch ein paar Holzpfähle übrig, aber die untere Hälfte ragte noch immer wie ein verlassener Pier in den See hinein. Hier standen wir nun und blickten auf das graue Wasser.

„Ich werde mit Superintendent Cobbe in Aldershot sprechen. Er wird sich an den Fall erinnern. Vielleicht lässt er mich die Akten einsehen“, versprach Ben.

„Warum interessierst du dich plötzlich so für diese Rebecca?“, wunderte sich Alice.

Ich zögerte kurz, dann erzählte ich ihnen, was der Fährmann über meine Mutter berichtet hatte.

„Vielleicht ist es ja gar nicht wahr.“ Ben runzelte die Stirn. „Warum hätte sie springen sollen?“

„Sie konnte nicht schwimmen. Ich kann mir nur vorstellen …“ Zu meiner Schande brach mir die Stimme. „Also, ich frage mich immer wieder, ob sie sich aus Protest entschlossen hat, zu springen. Selbst wenn das bedeuten würde …“

Ich ließ den Satz unvollendet stehen.