Leseprobe Die Töchter Cornwalls | Ein mitreißendes Familiengeheimnis an der Küste Cornwalls

Prolog

Tintagel, Cornwall, März 1904

Grace

Wenn Grace Elizabeth Sophia Harrington eines nicht war, dann gewöhnlich. Ihre blauen Augen spiegelten nicht nur die Weite des Ozeans, sondern auch ihre Entschlossenheit wider, sich den gesellschaftlichen Konventionen zu widersetzen. Schon in jungen Jahren zeigte sie eine bemerkenswerte Unabhängigkeit und einen starken Willen, der sie oft in Konflikt mit den hierarchischen Erwartungen brachte. Wegen der strengen Regeln, die in ihrem Zuhause Tremayne Hall und der Gesellschaft, in der ihre Familie agierte, herrschten, fühlte sie sich von Kindesbeinen an wie ein Vogel in einem Käfig, dessen Flügel bereits zuckten, um die Welt jenseits der Mauern des Anwesens zu erkunden. Die Frage war nur: Wann würde dies geschehen?

„Oh, Martha, musst du wirklich wieder dieses altmodische Kleid herauskramen?“


„Aber Miss Grace, es ist Ihr bestes Kleid und passend für die Festlichkeit heute Abend.“


„Mag sein, aber ich sehe darin aus wie eine alte Jungfer. Ich möchte etwas, das mehr … Schwung hat. Und wenn ich nur an das Korsett denke …“ Grace schmollte.


„Verzeihen Sie meine Offenheit, Miss Grace, aber Ihre Mutter würde nicht erfreut sein, wenn ich Sie in etwas Unpassendes kleide. Es ist immerhin der 80. Geburtstag Ihres Onkels Arthur …“

Grace bemerkte, wie Martha unauffällig eine Strähne ihres brünetten Haars zurückstrich, ehe sie sich räusperte und die Hände faltete. Martha war seit Jahrzehnten in Tremayne Hall tätig und kannte Grace von klein auf.

Ihre Eltern hatten eigene Kammerdiener, und ihr stand ebenfalls eine Kammerfrau zu – doch Martha, die eigentlich als Hausdame fungierte, war die Einzige, die Grace an sich heranließ. Vielleicht, weil sie ihr näherstand als ihrer Mutter Lady Sophia, die mehr auf die Gesellschaft achtete, als auf ihre eigene Tochter bedacht war. Es war nicht selbstverständlich, dass Martha sich um solche Dinge kümmerte, doch sie tat es – und sie tat es gerne, wie Grace wusste.

„Mutter denkt immer nur an Konventionen und Etikette. Sie vergisst, dass ich ein eigenes Leben habe.“
Martha lächelte mild.

„Ich verstehe Ihre Ansicht, aber Sie müssen bedenken, dass diese Festlichkeit eine wichtige Angelegenheit für Ihre Familie ist. Man erwartet, dass Sie hierfür angemessen gekleidet sind.“

Grace stand vor dem Spiegel und betrachtete das Kleid, das die Hausdame für sie aus dem Schrank genommen hatte, daneben lag ein Korsett bereit. Es war gewiss ein elegantes Stück aus cremefarbenem Stoff, verziert mit Spitzen und Stickereien entlang des Saums und der Ärmel. Doch trotz der unleugbaren Handwerkskunst war sie wenig begeistert.

„Nun gut, ich nehme an, ich werde es tragen müssen“, murrte sie schließlich. „Aber ich sage dir eins, Martha, ich werde mich den ganzen Abend darin fühlen, als wäre ich eingesperrt.“
Martha lächelte verständnisvoll, half ihr, in das Kleid zu schlüpfen, ehe sie es am Rücken schloss.


„Meine Güte, Miss Grace, Sie sehen hinreißend aus. Bezaubernd. Jetzt fehlen nur noch die Haare“, bemerkte sie, bot ihr den Platz am Frisiertisch an und kämmte sorgfältig das rötlich gewellte Haar.

Grace zuckte zusammen, als die Bürste ihre Kopfhaut berührte. Sie hasste es, still sitzen zu müssen. Dann ließ sie ihren Blick gedankenverloren umherschweifen. Ihre Augen wanderten über die Möbelstücke, deren Eleganz mit dem Licht der Sonne spielte, das zwischen die Vorhänge fiel. An den Wänden schimmerten Spiegel in goldenen Rahmen, die die Sonnenstrahlen reflektierten und wie durch Zauberhand glitzerten. Auf dem Frisiertisch standen Parfümfläschchen aus Frankreich, und daneben lag edler Schmuck aus aller Herren Länder, Erbstücke ebenso wie Geschenke. Es wäre in der Tat ein schönes Leben, das sie hier in Tremayne Hall führte, wenn, ja wenn, die Welt, in der sie lebte, nur ein bisschen gerechter wäre. Denn trotz der Pracht, die sie jeden Tag umfing, fühlte sie sich abgeschirmt – gefangen in einem Leben, das nicht völlig das ihre war …

Kapitel 1

Southampton, Hampshire,

Lola

Lola zog den Reißverschluss ihrer schwarzen Jacke hoch, um sich gegen den Wind zu schützen, der durch die Straßen von Southampton pfiff, und steckte die Hände tief in die Taschen. Sie beobachtete die Passanten, die mit gesenkten Köpfen und hochgeschlagenen Mänteln an ihr vorbeieilten, während sie selbst gemächlich durch die Stadt schlenderte. Der Duft von frisch gemahlenem Kaffee und süßem Gebäck wehte aus den kleinen Cafés und mischte sich mit der salzigen Brise vom nahen Meer.

Sie ging vorbei an den Backsteinhäusern mit ihren verwitterten Fassaden, einem Blumenladen, dessen Auslage in der tristen Straße bunt leuchtete, und passierte ein Bekleidungsgeschäft mit elegant dekorierten Schaufenstern. Ihr Ziel: das Bistro The Gull am Hafen, bekannt für seine herzhaften Gerichte zu erschwinglichen Preisen. Während sie durch die Menge lief, schrieb Lola eine Nachricht an ihre beste Freundin Jane. Die beiden kannten sich seit dem Kindergarten, und teilten viele Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit. Ihre Freundschaft hatte sich im Laufe der Jahre nie abgeschwächt – im Gegenteil.

Hey Doodles, wie geht’s? Hast du die Tage Zeit?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

Hi Snuggles! Klar, ich habe doch die ganze Woche frei! Steht was an?

Lola grinste. Auf Jane – Kosename Doodles – war eben immer Verlass. Während sie weiter durch die Straßen von Southampton schlenderte, riss der Wind an ihren dunklen Haaren. Genervt strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, ihre braunen Augen huschten über das Display, als sie die nächste Nachricht tippte.

Ich bräuchte dein Feedback für meinen Artikel in der Tageszeitung.

Lola arbeitete seit einigen Jahren als freiberufliche Texterin. Momentan schrieb sie für die Lokalpresse eine Serie über Restaurants in Southampton. Schon seit Wochen erkundete sie die kulinarische Szene der Stadt – von kleinen Bistros mit lokaler Küche bis hin zu Fine-Dining-Erlebnissen mit internationalen Spezialitäten.

Klar, lass uns das gemeinsam durchsehen!

Perfekt, ich danke dir jetzt schon, tippte sie flink, ohne darauf zu achten, wohin sie lief. Doch als Lola plötzlich mit jemandem zusammenstieß und ihr Handy beinahe aus der Hand fiel, machte ihr Herz einen Sprung. Verwirrt, aber erleichtert, schnell reagiert zu haben, hob sie den Kopf.

„Entschuldigung!“, murmelte sie, ehe sie prüfte, wen sie überhaupt angerempelt hatte. Lola blieb die Luft weg. Vor ihr stand ein Mann in einem Mantel, unter den Arm eine Aktentasche geklemmt, gepflegter Bart, vielleicht ein paar Jahre älter als sie. Seine grauen Augen hatten eine Tiefe, die fesselte. Das braune, füllige Haar war nach hinten frisiert, die Augenbrauen akkurat in Form gebracht und er duftete nach Jean Paul Gaultier – dem Duft aus dem schwarzen Flakon. Das wusste Lola, weil sie erst letzten Samstag mit ihrer Freundin Hazel in einer Parfümerie war. Hazel suchte ein Geschenk für ihren Freund und die beiden hatten sich den Nachmittag durch die Herrenabteilung geschnuppert. Verrückt, dachte Lola, dass ich mich ausgerechnet noch an diesen Geruch erinnere.

„Miss?“, der Fremde hob überrascht die Brauen.

„Oh, ähm … ich meine, es tut mir leid, ich … ich habe wohl nicht aufgepasst“, entschuldigte sich Lola hastig, während sie das Handy in ihrer Jackentasche verstaute. Sie fand seine Augen wahnsinnig faszinierend, so ausdrucksstark, dass sie geradezu darin versinken konnte. Graue Augen … sind die nicht superselten? Ja, der Kerl hatte etwas an sich. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

„Ist ja nichts passiert“, antwortete er mit seiner angenehmen Stimme, die in Lolas Ohren nachhallte. Er lächelte sie mit einem Anflug von Belustigung an. „Das passiert, wenn man nicht schaut, wo man hintritt. Sind Sie in Ordnung?“

Lola errötete. Sie nestelte an ihrer Jackentasche herum, und wusste nicht genau, was sie ihm antworten sollte, als sie realisierte, dass sie noch immer in seine Augen starrte. Schnell wandte sie den Blick ab und richtete ihren Fokus wieder auf die Umgebung.

Er hält dich für einen totalen Freak, Mädchen!

„Na schön“, unterbrach er die Stille und kratzte sich hinterm Ohr. „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Danke. Das … wünsche ich Ihnen auch.“ Er nickte zum Abschied höflich, ehe er zügig weiterging und schließlich im Getümmel verschwand. Lola atmete tief durch, senkte den Blick und entdeckte plötzlich etwas Mattes auf dem Boden, das sie nicht erwartet hatte. Eine Ahnung durchströmte sie, als sie erkannte, dass es sich um ein Portemonnaie handelte. War das etwa seines? Ihre Hände zitterten leicht, als sie sich bückte, um es aufzuheben. Ob es ihm beim Zusammenstoß aus der Tasche gefallen war? Das Gewicht der Geldbörse ließ sie einen Moment innehalten. Sie blickte instinktiv über ihre Schulter, doch er war bereits in der Menge verschwunden. Was sollte sie tun? Es zur Polizei bringen? Dem Fremden hinterherlaufen und hoffen, ihn in der Menge nochmals anzutreffen? Erst mal öffnen und nachsehen, ob er der Besitzer war? Vielleicht war sein Ausweis oder ein Führerschein darin. Sie zögerte, während sie das Portemonnaie fest umklammert hielt, unschlüssig, wie sie handeln sollte. Letztendlich entschied sie sich, es in ihre Tasche zu stecken und nach ihrem Besuch im The Gull zur Polizeiwache zu bringen.

Im Bistro am Hafen fand Lola einen Platz am Fenster, von dem aus sie einen Blick auf die Boote hatte, die friedlich im Meer dümpelten. Es roch nach Fish&Chips, Muscheln und einem Hauch Remoulade. Sie war das erste Mal im neu eröffneten The Gull und sofort von der Atmosphäre angetan. Schummriges Licht, große Fensterfronten, modern möbliert, mit dunklem Holz und schlichten Metallstühlen. Lola holte ihr Notizbuch aus der Handtasche und skizzierte die Umgebung. Dann notierte sie einige Details der Speisekarte und die Geschmackskombinationen der Gerichte. Für ein Bistro ist es ganz schön auf Zack, stellte sie fest. Es gab gegrillten Oktopus mit Knoblauchbutter, Meeresfrüchtepasta in Weißweinsauce, Fisch-Taco mit hausgemachter Soße, … die Fish&Chips schienen zwischen all den Highlights beinahe unterzugehen. Doch so sehr sie sich auch ablenken wollte – ihre Gedanken glitten immer wieder zum Portemonnaie zurück, das sich unfreiwillig in ihrem Besitz befand.

„Guten Tag, Miss. Was darf ich Ihnen bringen?“ Der Kellner, Justin, dessen Name in Großbuchstaben auf einem Schild aus Plastik stand, riss Lola aus ihren Gedanken.

„Ich, ähm …“, sie hielt inne. Das Portemonnaie in ihrer Tasche schrie nach einer raschen Aufklärung. Sie blinzelte, und schaute den Kellner an, als müsse sie sich erst wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren. „Ich nehme einen Kaffee, bitte. Schwarz, ohne Zucker“, antwortete sie schließlich und zwang sich zu einem Lächeln. Das Gewicht des Portemonnaies schien sich derweil zu verdoppeln, als ihr in den Sinn kam, dass es vielleicht jemandem gehörte, der gerade verzweifelt danach suchte. Ihm?

„Sie wollen also nur Kaffee?“, vergewisserte sich der Kellner.

Lola nickte stumm, auch wenn sie wusste, dass es für ein Bistro am Meer, das sich auf Meeresfrüchte-Speisen spezialisiert hatte, mehr als ungewöhnlich war. Doch an Essen war gerade nicht zu denken – vielmehr wollte sie herausfinden, wessen Portemonnaie sie bei sich trug. Nachdem der Kellner zurück zum Tresen ging, fischte sie es mutig aus ihrer Tasche, bereit, sein Geheimnis zu lüften. Sie öffnete den Reißverschluss und entdeckte darin einige Geldscheine sowie eine Visitenkarte. Vorsichtig nahm sie diese heraus und las darauf einen Namen samt Telefonnummer. Archibald Peter Finlayson. Sie rang nach Luft. Ab damit zur Polizei? Oder einfach anrufen? Die moralische Verantwortung drückte schwer auf ihren Schultern, aber ihre Neugierde überwog. Sie würde selbst herausfinden, wer der Besitzer war! Entschlossen griff sie nach ihrem Smartphone und tippte die Nummer ein. Lola spürte einen Kloß in ihrem Hals, als das Freizeichen erklang. Ob es tatsächlich er war? Würde sie seine Stimme erkennen? Jede Sekunde zog sich quälend in die Länge, während sie darauf wartete, dass endlich jemand abhob. Und dann, nach dem siebten Freizeichen, vernahm sie eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Es knisterte.

„Hallo?!“

„Hallo, ähm … spreche ich mit … Archibald Finlayson? Ich habe da etwas gefunden, das Ihnen gehört – es ist ein schwarzes Portemonnaie.“ Es folgte eine Pause, in der sie das Rauschen der Umgebung und das Atmen des Mannes hörte. Dann sagte er: „Ah, das ist ja wunderbar. Sie sind meine Rettung! Können wir uns treffen? Jetzt gleich? Ich suche nämlich schon überall nach dem Teil.“

Lolas Herz machte einen Sprung vor Erleichterung. Er war nicht nur dankbar und nett, sondern auch bereit, sich sofort zu treffen. Und wenn sie richtig lag, war das auch tatsächlich die Stimme des Schönlings mit den grauen Augen.

„Okay. Ich bin gerade in einem Bistro in der Nähe des Hafens von Southampton. Kennen Sie das neueröffnete The Gull? Sie finden mich an einem Fensterplatz sitzend. Dunkles, zu einem Zopf geflochtenes Haar und beiger Feinstrickpullover.“

„Vielen Dank! Sie retten mir den Tag. Ich komme schnellstmöglich vorbei.“

Mit einem erleichterten Seufzer lehnte sie sich zurück und lächelte. Es war zuerst befremdlich gewesen, einen Fremden anzurufen und ihm mitzuteilen, dass sie sein Portemonnaie gefunden hatte, aber im Nachhinein fühlte es sich gut an, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Lola hörte dem Murmeln der Gäste und dem Klappern von Geschirr aus der Küche zu. Einige Tische weiter sah sie einen älteren Herrn, der in ein Buch vertieft war, während eine Gruppe Freunde nahe der Theke fröhlich plauderte. Der Kellner brachte ihren Kaffee und ein Glas Wasser. Sie bedankte sich, nippte an dem Heißgetränk und dachte darüber nach, was wohl als Nächstes geschehen würde. Wer war dieser Mann? Und wie war er so drauf? Archibald. Was für ein altmodischer Name. Auf einmal vibrierte ihr Handy und die Gedanken rissen mit einem Mal ab. Es war eine Nachricht ihrer Mutter, und Lolas Magen zog sich zusammen. Doreen war unheilbar krank, und keiner wusste, wie lange sie noch leben würde.

Hallo Darling, geht es dir gut? Sehen wir uns am Wochenende?

Sie biss sich auf die Unterlippe. Das Leben konnte hart und ungerecht sein. Gnadenlos. Es nahm, wann immer es wollte, manchmal ohne Vorwarnung.

Natürlich. Ich komme morgen Abend vorbei.

Sie lehnte sich zurück, schloss kurz die Augen. Wie viel Zeit würde ihrer Mutter noch bleiben? Lola wusste es nicht. Doch sie gab ihr vor Kurzem ein Versprechen: Sie würde weiterleben. Immer weiterleben. Und daran hielt sie fest.

Während sie auf Archibald wartete, fiel ihr Blick auf ein Segelschiff-Modell an der Wand. Es erinnerte sie an eine Geschichte, die ihre Großmutter Edith über ferne Länder und Abenteuer auf hoher See erzählt hatte. Die Segelschiffe waren die unangefochtenen Königinnen der Meere. Es gab eine uralte Legende über ein mysteriöses Schiff, das vor der kornischen Küste aus dem Nebel auftauchte, wenn die Sterne am dunkelsten waren. Niemand wusste, wer das Schiff steuerte oder wohin es segelte, aber es brachte jenen Glück, die es mit eigenen Augen sahen. Die Bewohner der kleinen Hafenstadt warteten sehnsüchtig auf die Nächte, wenn sich der Nebel verdichtete und die Sterne am dunkelsten am Himmel standen. Einige sahen es als Zeichen von Schutz und Segen, andere jedoch als Vorbote von Katastrophen. Es wurde sogar gemunkelt, dass das Schiff von einem legendären Kapitän geführt wurde, der die Weltmeere bereiste und unermesslichen Reichtum erlangte, allerdings über Leichen ging …

Plötzlich wurde Lolas Aufmerksamkeit durch ein sanftes Klopfen auf den Tisch abgelenkt. Der gutaussehende Mann, den sie in der Fußgängerzone fast umgerempelt hatte, stand tatsächlich wieder vor ihr. Seine Augen funkelten wie ein heller Sternenschweif.

„Entschuldigen Sie die Verspätung“, sagte er höflich und setzte sich ihr gegenüber, als sie auf den freien Platz wies. „Ich musste noch ein paar Dokumente unterzeichnen, das hat länger gedauert, als ich zuerst annahm. Es tut mir leid, dass ich Sie warten ließ. Bitte sehen Sie es mir nicht als Unhöflichkeit an.“

Lola blickte verstohlen auf die Uhr. Sie hatte tatsächlich fast eine dreiviertel Stunde auf ihn gewartet.

„Schon okay. Tja, – ich schätze, das hier gehört Ihnen.“ Sie schob das Portemonnaie zu ihm.

Archibald nickte dankbar, prüfte kurz den Inhalt und steckte es dann in die Innentasche seines Mantels. Ob er Lola direkt wiedererkannt hatte?

„Vielen Dank. Ich bin erleichtert, dass Sie sich gemeldet haben. Ich heiße übrigens Archie.“ Er reichte ihr die Hand, und Lola drückte lächelnd zu.

„Lola.“

Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schaute ihr direkt in die Augen. Sie spürte ein Flattern im Magen.

„Sie haben mir den Tag gerettet, Lola.“

„Ich habe Sie über den Haufen gerannt“, erwiderte sie grinsend. „Vielleicht wäre das gar nicht erst passiert, wenn wir nicht zusammengestoßen wären.“

„Ausschließen können wir das nicht. Wie dem auch sei – Sie sind meine Heldin. Ich schulde Ihnen wenigstens ein Essen. Wie schaut es aus? Jetzt gleich?“

„Oh nein, das ist echt nicht nötig“, protestierte Lola. Warum sich für ihre Ungeschicktheit belohnen lassen?

„Bitte, lassen Sie mich Ihnen etwas Gutes tun“, bat er und sein Blick wurde weicher. „Es ist das Mindeste, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Was sagen Sie?“

Lola wägte kurz ab, gab dann jedoch nach. „Na schön, wenn Sie darauf bestehen.“

„Das tue ich. Bitte – suchen Sie sich etwas aus.“

Sie nickte und studierte nochmals die Speisekarte. Dann entschied sie sich für Fish & Chips. Nichts Aufregendes. Sie wollte weder überheblich noch unhöflich auf den Fremden wirken.

„Die Lady zuerst“, sagte Archie, als der Kellner Justin hinzugekommen war, und die Bestellung aufnahm.

„Für mich Fish & Chips. Eine Kinderportion, bitte.“

„Eine Kinderportion? So bescheiden? Nun, ich hätte gerne eine große Portion“, erwiderte er.

„Sie wollten wahrscheinlich etwas Außergewöhnlicheres bestellen, oder?“

„Nicht unbedingt. Ich bin eher so ein Gewohnheitstier“, gab er schmunzelnd zurück. „Außerdem sollen Sie mich nicht fälschlicherweise für einen Snob halten.“

Verrückt, dachte Lola, das war auch mein Gedanke.

„Bestimmt nicht“, antwortete sie. „Das Bistro hat eine ungewöhnliche Auswahl hochwertiger Speisen. Da darf man ruhig zulangen.“ Das klang komisch, da sie ja selbst nur Fish&Chips bestellt hatte. Während sie auf ihre Bestellung warteten, unterhielten sie sich locker. Lola erfuhr, dass Archie als Historiker arbeitete und sich besonders für die Weltkriege interessierte. Das war nicht nur äußerst interessant, sondern zeugte vermutlich auch von einem belesenen Gesprächspartner. Sie erzählte ihm von ihrer Arbeit als freiberufliche Autorin und ihrer momentanen Recherche über die Restaurants der Stadt.

„Das klingt nach einem tollen Job“, bemerkte er. „Es gibt sicher Schlimmeres, als über Essen zu forschen, Essen zu fotografieren, Essen zu essen …“

Lola lachte. „Man könnte schlechtere Themen haben, da bin ich ganz bei Ihnen.“

„Ich finde es faszinierend, wie viel Geschichte man alleine durch Essen erkunden kann. Haben Sie das schon einmal analysiert?“

„Essen ist eben eine universelle Sprache.“

„Aye“, stimmte er zu. „Es verbindet Menschen auf so viele Arten.“

Lola hielt kurz inne. „Okay. Jetzt mal ehrlich – Sie sind Schotte“, rief sie aus und grinste breit. Sein Akzent, das rollende R, und sein „Aye“ hatten ihn natürlich längst verraten.

„Ah, Sie haben mich erwischt. Ich komme aus Schottland, arbeite aber momentan in England.“

„Sind Sie … ein Highlander?“

„Nun, ich bin vielleicht kein romantisierter Highlander im Sinne von Kilt und Schwertkampf, aber ja, das liegt mir schon im Blut. Geboren wurde ich in Oban.“

„Also ein moderner Highlander, der seine Schlachten mit Akten schlägt.“

„Genau. Manchmal fühlt es sich in der Tat so an, als kämpfe ich gegen eine Armee von Papierkram.“ Er hob spielerisch ein unsichtbares Schwert.

„Ich hoffe für Sie, Ihre Feinde sind wenigstens gut organisiert.“

„In der Regel, aber hin und wieder versuchen sie, mich in den Wahnsinn zu treiben.“

„Ich kann mir vorstellen, dass ihr Beruf eine Herausforderung ist, aber es muss sehr befriedigend sein, etwas Neues zu entdecken. Jedoch als Schotte in England nach historischen Fakten zu suchen … das ist in der Tat bemerkenswert.“

„Oh, absolut“, stimmte Archie zu. „Es gibt nichts Vergleichbares zu dem Gefühl, wenn man ein lang gesuchtes Puzzlestück findet. Und ich kann Sie beruhigen. Der Kampf zwischen den Engländern und den Schotten ist längst Geschichte.“

„Sind Sie da ganz sicher?“ Beide lachten. „Und woran arbeiten Sie gerade?“

„Nun, ja – mein Fokus liegt momentan auf politischen Auseinandersetzungen um 1914 …“

Der Kellner brachte die Bestellung, und Archie brach seinen Satz ab. Der Geruch von knusprigem Fisch und Kartoffelstäbchen stieg auf.

„Das sieht echt lecker aus …“

„Lassen Sie es sich schmecken, Lola.“

Ihre Blicke trafen sich wieder, begleitet von einem beidseitigen Lächeln. Sie bewunderte seine Leidenschaft für Historie. Das machte ihn interessant. Was als einfacher Akt der Ehrlichkeit begann, entwickelte sich rasch zu einem lebhaften Gespräch. Sie plauderten noch eine Weile über verschiedene Themen, während sie ihre Teller leerten.

Archie legte schließlich sein Besteck beiseite und griff nach der Serviette. „Es war wirklich schön mit Ihnen, aber ich muss jetzt leider los“, sagte er, und ein Hauch von Bedauern schwang in seiner Stimme mit. „Meine Tochter hat bald Schulschluss, wissen Sie?“

„Oh, Sie haben ein Kind?“, fragte Lola überrascht. Reagier nicht so blöd, tadelte sie sich in Gedanken.

„Ja, Elsie … sie begleitet mich, wenn ich beruflich unterwegs bin“, bestätigte Archie mit einem warmen Lächeln, während er das Geld abzählte und auf den Tisch legte.

„Das ist ja wunderbar“, erwiderte Lola aufrichtig. „Kinder sind ein Segen.“

„Aye, das stimmt.“

Obwohl Lola kurz überlegt hatte, ihm ihre Nummer zu geben, ließ sie es sein. Er war Familienvater, und es lag ihr fern, sich aufzudrängen.

„Es war wirklich nett, Sie kennenzulernen“, sagte er und blickte auf die Uhr. „Nochmals vielen Dank. Tut mir leid, ich muss jetzt wirklich los. Viel Glück bei Ihrer weiteren Recherche.“

„Danke, Archie. Ihnen auch alles Gute.“ Sie nickte zum Abschied und beobachtete, wie er eilig das Bistro verließ. Hoffentlich verliert er nicht wieder sein Hab und Gut, dachte sie amüsiert.

Kapitel 2

Tintagel, Cornwall, August 1910

Grace

Die Sonne kroch über den Horizont und warf einen zarten Schimmer auf die steinernen Mauern von Tremayne Hall. Grace saß am Fenster ihres Zimmers und ließ den Blick über den Garten gleiten. Unten, zwischen den teils akkurat geschnittenen Hecken, bewegten sich die Gärtner in einem gleichmäßigen Rhythmus, die Köpfe geneigt, ihre Hände beschäftigt. Grace seufzte. Dieses permanente Aufwerten des Offensichtlichen dort draußen stand in scharfem Kontrast zu alldem, was sie fühlte – blankes Chaos. Sie erinnerte sich an das hitzige Gespräch mit ihrer Mutter vom Vorabend zurück. Lady Viola Fitzwilliam und ihr Sohn Sir George würden heute zu Besuch kommen. Wieder einmal eine Gelegenheit, Grace ordentlich zu präsentieren, bestenfalls gleich zu verheiraten, wie sie spöttisch dachte. Ein weiterer Versuch, ihre Zukunft mit jemandem zu verknüpfen, der das Familienerbe sicherte, eine gute gesellschaftliche Stellung besaß, und ihre Mitgift klug verwalten würde. Immerhin war Sir George nicht nur gebildet und redefreudig, sondern auch eine echte Augenweide – zumindest behauptete das ihre Mutter, Lady Sophia. Es war ihr großer Wunsch, Grace – in der Tat bildschön und selbst eine Augenweide – endlich zu verheiraten. Mit Anfang 20 noch nicht versprochen, geschweige denn unter der Haube zu sein … das schickte sich nicht für die feine Gesellschaft. Grace war in ihren Augen zu wählerisch, zu pessimistisch, zu rebellisch und somit schwierig zu vermitteln. Kritiken, die ihre Tochter weder bewegten noch zum Nachdenken anregten. Sie war frei, jung und unabhängig – wenn nicht auf dem Papier, dann wenigstens im Herzen – und würde sich gewiss niemandem unüberlegt für den Rest ihres Lebens hingeben.

Grace griff nach einem Strohhut, den sie sich von ihrem Vater geliehen hatte, und verließ rasch ihr Zimmer, ohne Martha Bescheid zu geben. Die Flure hallten unter ihren Schritten. Doch statt die große Treppe zu nehmen, schlüpfte sie in den Geheimgang am Ende des Korridors. Eine schmale Tür führte zu einer steilen Treppe, die tief ins Gewölbe hinabführte – ein sicherer Pfad hinaus, den kaum jemand kannte.

Sobald sie draußen war, sog sie die kühle Luft ein. Das Meer war zwar eine halbe Meile entfernt, doch ein Spaziergang durch die unberührte Natur war genau das, was sie brauchte, um sich zu erden. Sie folgte dem schmalen Pfad, der sich hinter dem Garten in Richtung der Klippen wandte. Der raue Wind zog an ihren Haaren, und der Hut ihres Vaters – viel zu groß für ihren Kopf, aber bequemer als die kunstvollen Kreationen, die ihre Mutter bevorzugte –, wurde ihr fast aus der Hand geweht. Grace lachte.

Etwa zwanzig Minuten später kam sie an einem der grasbewachsenen Hügel zum Stehen und blickte hinunter auf die hohen Wellen, die schäumend gegen die Felsen prallten. Die Gischt stieg auf und traf ihr Gesicht wie ein Schlag, der sie wachrütteln wollte. Sie wünschte, der Wind könnte sie einfach forttragen, um den Mauern und Erwartungen zu entkommen, die sie festhielten. Sie liebte Tremayne Hall – ein Anwesen voller Geschichte. Und doch sehnte sie sich nach Einfachheit in ihrem Leben, wenngleich sie dankbar war, gewisse Privilegien zu genießen, die anderen nicht zugänglich waren.

Grace ließ sich auf einem flachen Stein nieder, der von der Sonne angenehm gewärmt war. Der Saum ihres hellblauen Kleides flatterte im Wind. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, frei zu sein. Ungebunden, ohne Erwartungen oder Zwänge. Ein Leben zu führen, das alleine von ihren eigenen Wünschen und Ansichten bestimmt wurde. Ein unerfüllter Traum. Hier am Meer war der einzige Ort, an dem sie für sich sein und in Ruhe nachdenken konnte. Die scheinbar grenzenlose Weite des Horizonts gab ihr ein Gefühl von Freiheit, das sie sonst nirgendwo finden konnte. Niemand suchte sie hier. Der schmale Pfad war zu steil und abgelegen, und die meisten hielten sich lieber im angrenzenden Garten auf. Grace zog die Knie an die Brust, schlang die Arme darum und ließ den Kopf sinken. Sie wusste, dass es jenseits von Tremayne Hall eine Welt gab, die auf sie wartete. Ohne Etikette, ohne Heiratspläne. An den Klippen Tintagels, umgeben von der malerischen Natur, sann sie oft darüber nach. Über ihr Leben, ihre Wünsche, darüber, wie und ob sie den Anforderungen ihrer Familie jemals entkommen konnte. Über die Gäste, die ihre Mutter zu Nachmittagstees und Dinnergesellschaften einlud. Die Nachmittage mit Frauen wie jüngst Lady Carol Allen, die sich nicht im Geringsten für Grace als Mensch interessierten, sondern nur für das Bild, das sie als mögliche Schwiegertochter abgeben würde.

„Eines Tages“, murmelte sie leise und warf einen Stein ins tosende Gewässer, „werde ich mich losreißen.“ Ihre Stimme verlor sich im Wind, und das Meer schien die Worte zu verschlucken. „Eines Tages werde ich nicht mehr hier sitzen und nur träumen. Eines Tages werde ich frei sein!“ Das laute Kreischen einer Möwe riss sie aus ihren Gedanken. Sie blickte nach oben und sah, wie der Vogel über die Klippen flog, mit ausgebreiteten Flügeln, fortgetragen vom Wind. Ihr Mundwinkel zuckte, ehe ein schwaches Lächeln ihr Gesicht erhellte. Im Herzen hielt sie diesen Moment fest – einen kurzen Atemzug von Freiheit.

Nach einer Weile erhob sie sich, strich ihr Kleid glatt und machte sich auf den Rückweg. Sie wusste, dass ihre Abwesenheit nicht viel länger unbemerkt bleiben würde. Ihre Mutter hatte ein untrügliches Gespür dafür, wenn Grace etwas tat, das außerhalb des geplanten Ablaufs lag. Und wahrscheinlich würde sie ihren Spaziergang wieder als reine Zeitverschwendung betrachten.

Als sie Tremayne Hall erreichte, hielt sie inne. Die mit Kletterpflanzen bewachsene Fassade des Anwesens war nahezu perfekt. Es erhob sich stolz auf einer Anhöhe, umgeben von einer grünen Hügellandschaft. Seine massiven Mauern aus grauem Schiefer schienen dem typisch englischen Wetter seit Jahrhunderten zu trotzen, während hohe Schornsteine wie Wachtürme in den Himmel ragten. Die Fenster, mit filigranen Sprossen und bleigefasstem Glas, reflektierten das wechselnde Licht und ließen das Gebäude je nach Tageszeit in kühlen oder warmen Tönen erscheinen. Rund um Tremayne Hall dehnte sich ein weitläufiger Garten aus, der fließend in die Wildnis und Weiten überging. Innen versprach das Anwesen mit seinen hohen Decken, knarrenden Dielen und einem Hauch vergangener Pracht jahrhundertealte Geschichten, die sich in den Schatten seiner Flure verloren.

Im Eingangsbereich wartete bereits Martha, die ihr aufgeregt entgegenkam. Sie trug das Haar zu einem Dutt, hatte ein bodenlanges Kleid an und eine weiße Schürze war makellos um die Hüfte geknotet.

„Miss Grace, Ihre Mutter, Lady Sophia, hat Ihr Fehlen bereits bemerkt. Ich sagte ihr, Sie wären draußen spazieren, aber sie ließ sich nicht beruhigen“, haspelte Martha.

Grace nickte knapp. „Vielen Dank, Martha. Ich übernehme das.“

„Sie sollten sich jedoch vorher frisch ankleiden. Ihr Haar und das Kleid … scheint so, als hätte der Wind am Meer ganze Arbeit geleistet.“

Grace bemerkte den leicht tadelnden Ton in Marthas Stimme, und blickte an sich herab. In der Tat war das Kleid mit Dreck und Grashalmen bedeckt. Die Haare hatten sich fast vollständig aus der Frisur gelöst, wie sie erspürte, und der Strohhut in ihrer Hand sah aus, als wäre er von einem Pferd getreten worden. Martha, die ihr nun ein mildes Lächeln schenkte, nahm Grace den Hut ab, und strich dessen Krempe zurecht.

„Vielen Dank, Martha“, entgegnete sie sanftmütig, lächelte, als sie an ihr vorbeihuschte und das Anwesen visierte.

„Bitte, Miss Grace, nur einen Moment …“, hörte sie Martha noch rufen. Doch ehe sie reagieren konnte, erklang eine Stimme neben ihr, die Grace kurzzeitig die Luft abschnürte.

„Ah, Miss Grace! Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?“

Sie schloss für einen winzigen Moment die Augen und atmete tief durch. Diese Stimme kam ihr bekannt vor. Sehr bekannt. Und Martha wollte sie vermutlich noch warnen …

Als sie sich schließlich zur Seite drehte, sah sie Sir George Fitzwilliam, der lässig in der Tür lehnte. Seine makellose Erscheinung – vom perfekt sitzenden Gehrock, über sein streng nach hinten frisiertes Haar, bis hin zu den polierten Stiefeln – erinnerte sie an eine dieser Ankleide-Puppen, wie sie neuerdings in den Schaufenstern der Stadt ausgestellt waren. Sir Georges blaue Augen musterten Grace mit einer Mischung aus Überlegenheit und gespieltem Amüsement. Ihre Mütter pflegten eine oberflächliche Freundschaft, geprägt von Höflichkeiten während des Tees am Nachmittag und endlosem Geläster, sobald Lady Viola Tremayne Hall wieder verlassen hatte. Dass ihre Mutter, Lady Sophia, hoffte, dass sie und Sir George eines Tages den Bund der Ehe eingehen … sie durfte gar nicht darüber nachdenken!

„Sir George“, entgegnete Grace und zwang sich zu einem kühlen Lächeln. Sir … ein geerbter Titel, wie sie wusste. „Was für eine nette Überraschung.“ Eine Lüge. Sir George strahlte über beide Ohren, und verbeugte sich.

„Ihre Mutter bestand darauf, dass ich mich wie zu Hause fühle. Und da sie sagte, ich solle keine Scheu haben, mich Ihnen anzuschließen … tja, da bin ich.“

„Da sind Sie … hm, mehr als großzügig von ihr.“ Eine weitere Lüge. „Leider bin ich gerade auf dem Weg, mich zu kultivieren … ich meine, wie Sie sehen – ich befürchte, ich habe die hohe Kunst, auch bei stürmischem Wetter ansehnlich zu bleiben, noch nicht gemeistert.“

Sir George lächelte dünn. „In der Tat scheint der Wind Sie ordentlich durchgerüttelt zu haben. Nicht nur Ihr Haar, wenn ich das bemerken darf … auch das Kleid sieht mitgenommen aus. Ich nehme an, Sie schätzen die raue Natur? Ich war eben ein paar Schritte in Ihrem hübschen Garten zugange, aber das Wetter heute ist mir nicht gewogen. Zu windig, zu trist …“

Grace hob die Augenbrauen: „Ach, was für ein Jammer. Ich hingegen schätze die Natur. Sehr sogar. Sie bietet einen herrlichen Kontrast zu all den glatt polierten Dingen, die Menschen wie uns im Leben begegnen. Struktur oder Käfig? Was meinen Sie, Sir George?“ Sie hielt kurz inne, ohne jegliche Erwartung einer Antwort seinerseits, ehe sie Luft holte, und fortfuhr: „Oh, und wie ich hörte, lässt es sich auch in London ganz wunderbar residieren. Fast beeindruckend.“

„Ich bitte Sie, Miss Grace – London ist mit keiner Stadt der Welt zu vergleichen, selbstverständlich ist es überaus herausragend dort. Außer vielleicht … New York?“ Er blinzelte, überlegte vielleicht, was er als Nächstes sagen sollte. „Sie besitzen eine spitze Zunge, Miss Grace, das muss ich Ihnen lassen. Hat sich nicht geändert. Es ist faszinierend, wie Sie es schaffen, dabei trotzdem so hübsch auszusehen.“

Grace wollte gerade etwas erwidern – etwas, das Sir George wohl ein gutes Stück seiner Selbstsicherheit, wenn nicht gar seiner Männlichkeit, gekostet hätte –, als Lady Sophia aus dem Salon stolzierte.

Auch das noch, dachte sie und versuchte mit einem aufgesetzten Lächeln, Schadensbegrenzung zu machen.

„Ach, da bist du ja, Grace!“, rief ihre Mutter, die Hände leicht erhoben, als wolle sie eine drohende Katastrophe verhindern. In ihrem roten Kleid wirkte sie noch wütender, als sie vorgab zu sein. „Sir George, ich hoffe, meine Tochter hat Sie gut unterhalten.“

„Oh, durchaus“, antwortete Sir George mit einem höflichen Nicken. „Ihre … Direktheit ist äußerst erfrischend.“

Grace wollte antworten, doch Lady Sophia unterband mit einer Geste sämtliche Worte, die ihren Mund hätten verlassen können.

„Natürlich ist sie das“, sagte sie schnell und wandte sich an Sir George. „Grace hat ihren ganz eigenen Charme, nicht wahr? Ich entschuldige mich, wenn sie ein wenig unvorbereitet wirkt. Sie hat sich wohl gerade erst von einem … Spaziergang erholt.“

„Offensichtlich genießt Ihre Tochter das markante Wetter Cornwalls“, bemerkte Sir George, wobei sein Blick erneut ihr zerzaustes Haar streifte.

Grace schnaubte hörbar.

„Kommen Sie, Sir George, lassen Sie uns schon mal den Tee beginnen, während Grace sich frisch macht. Ich bin mir sicher, dass Ihre Mutter, Lady Viola, einiges zu erzählen hat. Wie ich hörte, war sie erst vor Kurzem in Paris. Wissen Sie, ich liebe Frankreich … mein Vetter, Howard, besitzt dort Ländereien … “ Ihre Worte verstummten, als sie die Tür des Salons passiert hatten. Mit einem letzten Blick auf ihr schmutziges Kleid und einem tiefen Seufzer, verschwand Grace schließlich die Treppe hinauf.

Als sie ihr Gemach erreichte, schloss sie leise die Tür hinter sich. Alles an diesem Raum schrie nach Perfektion: die schweren Vorhänge aus tiefgrünem Samt, die akribisch arrangierten Kissen auf dem Himmelbett neben der Fensterfront, der polierte Silberspiegel auf dem Frisiertisch. Eine makellose Inszenierung, die ihre Augen immer wieder einfing. Doch so eindrucksvoll diese Pracht auch war, sie wirkte leer – wie eine Bühne ohne Schauspiel. Es war ein Reich, überfüllt mit kostbaren Dingen, nützlich oder nicht, die ihr allein gehörten. Wenigstens das. Ein schwacher Trost, in einer Welt, in der alles andere außerhalb ihrer Kontrolle lag. Sie hatte den Geist einer freien Frau – nur ihre Flügel waren gestutzt. Grace trat ans Fenster und sah hinunter in den Garten. Die Gärtner arbeiteten noch immer, in einem Rhythmus, der so gleichförmig war wie das Leben, das ihre Familie für sie vorgesehen hatte. In wenigen Wochen würde sie erneut vorgeführt werden, wie ein Schauobjekt. Diesmal, so hoffte ihre Mutter, mit Sir George als besonderem Begleiter. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Seit Jahren versuchte sie, Grace von ihm zu überzeugen, aber er würde niemals ihr Herz gewinnen. So viel war gewiss. Es war jedes Mal das Gleiche – ein Tanz der Intrigen, bei dem ihre eigene Meinung keinen Platz hatte. Sie war nichts weiter als eine Figur auf dem Schachbrett.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

„Miss Grace? Darf ich eintreten?“ Es war Martha, die treue Hausdame, die seit jeher eine zuverlässige und liebevolle Stütze war. Grace bejahte, und wandte sich ihr zu. „Ihre Mutter wünscht, dass Sie sich zügig umziehen und nach unten kommen. Lady Viola möchte Sie sehen.“

Grace stieß ein bitteres Lachen aus. „Natürlich möchte sie das. Ich bin das Thema des Tages, nicht wahr?“

Martha zögerte. „Ich weiß, wie das schwer für Sie ist, Miss Grace. Aber manchmal … manchmal hilft es, sich anzupassen, bis der richtige Moment gekommen ist.“

„Anpassen?“ Ihre Stimme stockte. „Ich habe mich angepasst, Martha. Mein ganzes Leben lang. Ich bin es leid, die gehorsame Tochter zu spielen. Das ist nicht mein Weg! Ich will mehr vom Leben. Ich will frei sein. Was auch immer das bedeutet. Ich habe mich in diesem goldenen Käfig noch nie wohlgefühlt, und Sie wissen das.“ Sie ahnte, wie vorwurfsvoll, vielleicht undankbar ihr Ton klang.

Martha sah sie mit wissenden Augen an. „Und ich weiß, dass Sie das eines Tages sein können. Aber heute … heute müssen Sie auf Ihre Mutter hören. Seien Sie besser vernünftig, Miss Grace. Das ist mein gut gemeinter Rat.“

Grace wollte protestieren, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Martha recht hatte. Sie spürte die Wut in sich aufsteigen, das Herz bis zum Hals pochen und dennoch nickte sie tapfer und warf einen letzten Blick aus dem Fenster, ehe sie hinter dem Paravent verschwand.

***

Grace holte tief Luft, straffte die Schultern und betrat den Salon mit erhobenem Kopf. Wohlige Wärme und der Duft von Schwarztee schlug ihr entgegen. Sie trug jetzt ein Kleid aus schimmerndem Taft in Smaragdgrün, das ihre blassen Wangen und die Farbe ihrer leuchtenden Augen betonte. Der Stoff schmiegte sich an ihre Figur, mit einem taillierten Oberteil und einem ausgestellten Rock, der bei jeder Bewegung über den Boden streifte. Spitzenärmel umrahmten ihre Schulterpartie mit einer zarten Anmut, und eine Brosche in Form einer Rose zierte die Brust. Das rötliche Haar war hochgesteckt, wobei einzelne, sorgfältig gelöste Locken ihren Nacken und die Schläfen umspielten. Der Knoten saß tief und war mit einer Perlennadel fixiert, ohne zu prunkvoll zu wirken. Martha hatte in kürzester Zeit wieder ganze Arbeit geleistet und Grace wusste, dass sie – zumindest äußerlich – genau das Bild einer perfekten Lady verkörperte, das ihre Mutter so verzweifelt durchsetzen wollte.

Sir George saß in einem der Ledersessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen, und starrte sie mit offenem Mund an. Seine Mutter, Lady Viola, hatte aufrecht neben ihm Platz genommen, eine Teetasse in der Hand haltend und ein biederes Lächeln auf den schmalen Lippen.

„Miss Harrington“, säuselte er, „wie schön, dass Sie sich uns doch noch anschließen. Sie sehen hinreißend aus.“ Er hüstelte. Mit roten Wangen rieb er sich über die Mundwinkel und Grace war sich sicher, dass Sir George sich verschluckt hatte.

„Lady Viola, Sir George“, entgegnete sie und zwang ihre Lippen zu einem Lächeln, das kaum über die Oberfläche ihrer Miene reichte, ehe sie sich leicht verbeugte. „Es scheint, als hätte ich heute keine andere Wahl.“ Rums! Lady Sophia zog empört die Luft ein.

„Grace, das ist kein angemessener Ton“, zischte sie. „Was ist bloß in dich gefahren?“

„Verzeihung, Mutter“, entgegnete sie kühn. „Natürlich bin ich mehr als entzückt, Lady Viola und Sir George die Ehre meiner Anwesenheit zu erweisen.“

Er lachte leise. Ein Ton, der Hohn und Spott in sich trug. Der Kerl war so oberflächlich, so arrogant. Und seine Mutter? Kräuselte angespannt die Lippen. Natürlich würde sie ihr Verhalten nicht gutheißen. Grace wusste das.

„Ihre Direktheit ist … sehr erfrischend. So unkonventionell, möchte man meinen“, warf Sir George ein und ließ seine Worte wie eine halbherzige Komplementierung klingen.

„In einer Welt voller Konventionen bleibt einem manchmal gar nichts anderes übrig“, entgegnete Grace. Sie setzte sich auf die Ledergarnitur, griff nach einer Teetasse und nahm einen Schluck. Währenddessen wich sie den prüfenden Blicken von Lady Viola aus, die wie Nadeln auf ihr ruhten.

„Konventionen geben uns Struktur“, antwortete Sir George mit dieser überlegenen Ruhe, die Grace innerlich kochen ließ. „Ohne sie würden wir doch alle im Chaos versinken. Und wer will das schon?“ Seine Stimme war seidig, doch in ihren Ohren klang es nur wie eine weitere Belehrung.

Grace hob den Kopf, ihre Augen funkelten wie geschärfter Stahl. „Vielleicht hat das Chaos mehr Leben in sich als jede noch so schön arrangierte Käseglocke.“

Lady Viola verzog die Lippen zu einer hässlichen Grimasse, die ihr ohnehin faltiges Gesicht erstarren ließ.

„Manche Damen wissen scheinbar nicht zu schätzen, was ihnen gegeben wurde. Ich hoffe, Sie zählen sich nicht dazu, Miss Grace?“

Grace lächelte sie müde an. Die Blicke ihrer Mutter, empört und starr, ignorierte sie.

„Und manche Damen wissen, dass ihnen etwas gegeben wurde, das sie nicht wollen, Lady Viola. Ich bin mir sicher, dass Sie diese Ansicht mit mir teilen.“

„Ein recht gewagtes Statement.“

„Ich wage lieber ein Statement als ein Leben, das nicht mir gehört, Sir George“, entwich es ihrem Mund. Grace wusste, dass sie längst zu weit gegangen war. Doch was spielte es für eine Rolle? Wenn sie sich schon beugen musste, wollte sie wenigstens einen kleinen Triumph erringen.

„Ich fürchte, meine Tochter fühlt sich heute nicht besonders gut. Anders kann ich mir ihr Verhalten nicht erklären. Bitte entschuldigen Sie vielmals. Grace ist nicht sie selbst.“

Sir George winkte ab, zwinkerte Lady Sophia zu, und machte auf Grace den Eindruck, als hätte ihr forsches Auftreten erst recht seinen Jagdinstinkt geweckt. Er wirkte nicht abgeschreckt – im Gegenteil. Als hätte er eine Beute gesichtet, die er nur noch mit mehr Geduld umkreisen müsste.

„Ich für meinen Teil, bewundere Ihre Tochter. Frauen mit eigener Meinung sind seltene Ware.“ Ware? Er nannte sie eine Ware? Die Frechheit, sie als ein Ding zu bezeichnen, das erkauft werden konnte, schnürte ihr beinahe die Kehle zu.

Frauen sollten am besten schweigen, sich fügen und dankbar sein. Kein Raum für Ausreißer, keine Toleranz für Abweichungen, schon gar nicht für diejenigen aus gutem Hause, wie Grace Harrington. Das war die Realität, und Grace wusste das.

Ihre Gedanken drifteten ab, als Sir Georges Stimme den Raum wieder dominierte – arrogant wie eh und je, von Selbstherrlichkeit durchdrungen. Seine abfälligen Bemerkungen über die Arbeiterklasse und jeden, den er als weniger wert als sich selbst betrachtete, ließen sie innerlich den Kopf schütteln. Die Welt, die er beschrieb, war kalt und hart, und Grace biss sich mehrmals auf die Zunge, um die Worte, die sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen hätte, zurückzuhalten. Sie hatte ihrer Mutter für heute schon genug Anstandslosigkeit und Aufsässigkeit geboten. Das Leben war kein bunter, umtriebiger Marktstand. Sie war in ihren Tiefen dankbar für ihren Status, dankbar, ein Anwesen wie Tremayne Hall ihr Zuhause nennen zu dürfen. Aber das, was in der Welt dort draußen vor sich ging … die ewige Unterdrückung derer, die weniger hatten … das stimmte keinesfalls mit ihren Ansichten überein. Grace atmete tief durch und ließ ihren Blick zu den hohen Fenstern gleiten, wo sich die Sonne auf den Scheiben brach.

Sir George redete derweil pausenlos weiter, über Einfluss und Machtverhältnisse, doch seine Worte prallten an ihr ab wie Regentropfen an Glas.

„Es gibt Dinge, die sich wohl nie ändern werden. Zu viel Eigenwillen zum Beispiel“, sagte Lady Viola plötzlich mit einem fraglichen Lächeln, als Grace sich Tee nachschenkte. Ihre Worte konnte sie nicht ignorieren. War das soeben eine unerhörte Beleidigung? Gegen sie gerichtet? Die Lady irrte sich, wie Grace fand. Die meisten Dinge konnten sich sehr wohl ändern, sogar einige Menschen. Aber oberflächliche Herrschaften wie Lady Sophia und ihr Schnösel von Sohn, würden wohl für alle Zeit so bleiben, wie sie eben waren. Hoffnungslose Fälle.