1 Sylvie
Ein Tag im Leben eines französischen Filmstars
Paris
1943
Ich steige aus dem glänzenden, schwarzen Mercedes-Benz mit den zwei kleinen Hakenkreuzfahnen, die in der Brise flattern. Der Anblick meiner alten Nachbarschaft versetzt mir einen Stich ins Herz – wie jedes Mal, wenn ich hierher ins 11. Arrondissement zurückkehre, dessen jahrhundertealte Ateliers sich der Kunst der Herstellung schöner Dinge verschrieben haben. Hier spürt man noch immer den kreativen Geist aus jener Zeit, in der Arbeiter exquisites Dekor für die Aristokratie fertigten. Goldene Türknäufe, chinesische Seidentapeten, vergoldete Holzvertäfelungen.
Ich atme den Geruch der Freiheit ein, die hier im Faubourg Saint-Antoine während der Revolution erblühte. Nun, da die Deutschen Paris besetzt halten, bleibt sie unter Verschluss.
Wartet darauf, endlich wieder befreit zu werden.
Die Anspannung in der Luft lässt mich den Atem anhalten, während ich den vertrauten Anblick der schmalen Gasse in mich aufnehme. Die mit Efeu überzogenen Wände, das von unzähligen Schritten der Vergangenheit polierte Kopfsteinpflaster, die neugierigen Gesichter, die mich durch die Sprossenfenster finster anstarren und mir zu verstehen geben, dass ich hier nicht willkommen bin.
Ich fühle mich wie eine zertretene Rose in einem Blumenbouquet.
Dennoch kann ich nicht umhin, an die Tage zurückzudenken, als ich noch jung und unschuldig war und nichts mit Politik zu tun hatte.
Auf meine aktuelle Situation bin ich nicht stolz, aber ich kann mich der Tatsache nicht entziehen, dass ich eine von Goebbels’ wenigen Auserwählten im französischen Kino bin.
Nicht, wenn ich überleben will.
Bevor ich richtig durchatmen kann, ist der Nazi-Stabswagen von einer aufgebrachten Menschenmenge umzingelt. Ich habe kein Begrüßungskomitee erwartet.
Auch wenn es nicht sonderlich begrüßend ist.
Die Menschen schlagen auf verbeulte Töpfe, schwenken einen toten Fisch, halten sich demonstrativ die Nase zu. Angesichts ihrer Empörung steigt zunehmender Frust in mir auf, ganz zu schweigen von meinen verletzten Gefühlen. Aber ich darf mich nicht von meiner Mission abbringen lassen. Oder irgendetwas Verdächtiges tun. Ich habe eine Botschaft zu überbringen, direkt unter der Nase des SS-Offiziers, der mir im Nacken sitzt. Außerdem weiß man nie, wer einen beobachtet.
Ich setze ein breites Lächeln auf – mein Pokerface. Spiele der Menge etwas vor. Immerhin bin ich Schauspielerin. „Bonsoir, mes amis, je suis Sylvie Martone …“
„Wir wissen, wer Sie sind“, ertönt es aus der Menge.
„Wir wollen Sie hier nicht.“
Die Lage spitzt sich zu, als jemand auf meine eleganten schwarzen Pumps spuckt.
Ich beiße die Zähne zusammen und ignoriere es, denn ich weiß, dass meine Schuhe mit ihren Ledersohlen nur eine weitere Erinnerung an die verhassten deutschen Besatzer sind sowie an das Leid und die Opfer, die den Parisern aufgezwungen werden. Mir ist sehr wohl bewusst, dass sie nicht genug zu essen haben, dass sie sich an die Ausgangssperre halten müssen und dass sie ihre Schuhsohlen mit lackiertem Holz flicken.
Im Gegensatz zu mir.
Ich speise im Hôtel Ritz, bewege mich frei durch die Stadt und trage Haute-Couture-Stilettos aus der Garderobenabteilung des Filmateliers. Neue Lederschuhe sind unmöglich zu bekommen, seit die Deutschen Millionen von Paaren aus den Geschäften und Boutiquen für das Vaterland requiriert haben – ein Ausdruck, den ich sehr oft von meinem attraktiven Begleiter zu hören bekomme.
Hauptsturmführer Karl Lunzer. Ein SS-Offizier aus Berlin und ein dekorierter Held, wie er selbst nicht müde wird, zu erzählen. Ein passionierter Sportler und vertrauter Adjutant eines hochrangigen Befehlshabers der Nazi-Wehrmacht, der hier in Paris stationiert ist. Seinem Status als Offizier macht er alle Ehre in seiner fein gebügelten, graugrünen Uniform mit schwarzen Lederhandschuhen und einer Luger-Pistole im Gürtel. Er ist ein großer, schlanker Mann mit hellblondem Haar, das an den Seiten zu kurzen Borsten geschoren ist. Zudem sieht man ihn nie ohne seine Reitpeitsche mit braunem Ledergriff, die er bei der geringsten Provokation einsetzt.
Er klebt an meiner Seite wie eine Briefmarke, die ich nicht loswerden kann. Ich tue so, als hätte ich die spontane Geste der Auflehnung auf meinen armen Schuh nicht bemerkt. Karl ist nicht so nachsichtig.
„Steig wieder ins Auto, Sylvie. Hier bist du nicht sicher.“
„Sei doch nicht albern, Karl“, erwidere ich und nehme den gebundenen Strauß gelber Narzissen vom Ledersitz des Luxusautos, das in der Nähe des Kutschentors geparkt ist. Mit einem breiten Lächeln in die Menge sage ich so leise, dass nur er mich hören kann: „Das sind meine Fans.“
„Ich muss darauf bestehen, Liebling …“
Ich tätschle seinen Arm und lecke mir über die Lippen. „Ich gehe nirgendwohin.“
Es kostet mich meine gesamte Selbstbeherrschung, weiterzulächeln und meine alten Nachbarn nicht anzuschreien, weil sie meine Mission gefährden. Je breiter ich lächle, desto größer wird die Anspannung. Mein Körper kribbelt vor vertrauter Nervosität, ähnlich der, die mich überkommt, wenn jemand seinen Text vergisst und ich improvisieren muss. Und zwar schnell.
Aber das hier ist kein Filmset.
Diese Narren. Wissen sie denn nicht, dass sie alle erschossen werden könnten?
Ich atme tief durch und wiege die Schultern, um einen schnellen Blick auf Karl zu werfen. Denn auch wenn er sich mir gegenüber äußerst höflich verhält, ist er noch immer ein SS-Offizier, der bekannt dafür ist, jeden zu bestrafen, der seine Autorität infrage stellt. Ich erschauere bei der Erinnerung an ein paar Stunden zuvor, als wir aus dem Café Aux Deux Magots eilten, nachdem wir auf die bevorstehende Premiere meines neuen Films Le Masque de Velours de Versailles (Die Samtmaske von Versailles) angestoßen hatten. Er und seine Nazi-Kameraden tranken ein Bier nach dem anderen. Ich konnte jedoch nicht die Notiz ignorieren, die unter meinen Teller im Café gesteckt worden war und meine sofortige Aufmerksamkeit erforderte.
Die Blumen des Tages sind gelbe Narzissen.
Ich erstarrte. Die Farbe der Gefahr.
Planänderung. Ich durfte mir die Angst nicht anmerken lassen und Karl dadurch alarmieren. Das Licht der späten Nachmittagssonne ließ meine Haut erstrahlen und mein schwarzer Fedora saß im perfekten Winkel. Also bat ich den Leutnant, der mir gegenübersaß, uns mit meiner Schmalfilmkamera zu filmen – eine spontane Eingebung, um den Verdacht von mir abzulenken und vor meinen deutschen Verehrern den Schein zu wahren.
Das zog nur noch mehr Aufmerksamkeit auf uns.
Ich konnte der Presse nicht entkommen, die allzeit erpicht darauf war, Frankreichs „geliebte Schauspielerin Sylvie Martone mit ihren neuen Nazi-Freunden“ abzulichten. Während ein Reporter ein Foto von uns vor dem schwarzen Mercedes schoss, dachte ich nur: Emil wird diese ganze öffentliche Aufmerksamkeit lieben.
Dann düsten wir los zur privaten Filmvorstellung, jedoch nicht, bevor der SS-Hauptsturmführer eine arme Seele schikanierte, die beim Überqueren der Straße nicht rechtzeitig ausgewichen ist, wodurch der Stabswagen gegen den Bordstein fuhr. Ohne einen Blick über die Schulter sprang Karl aus dem Auto und schlug dem Mann mit seiner Peitsche ins Gesicht, sodass Blut spritzte. Mein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe und mein Anstandsgefühl drängte mich dazu, ihm zu helfen. Doch Karls abfälliger Blick hielt mich davon ab. Ich tat nichts. Und dafür schäme ich mich.
Als Karl wieder ins Auto stieg, erzählte er von seinem letzten Posten in Warschau, als wäre nichts geschehen. Wie hässlich die Stadt jetzt sei, so in Trümmern von den Kämpfen, und wie dankbar er sei, dass Hitler Paris verschont hatte und ihre Schönheit unangetastet war. „So wie deine, mein Fräulein“, fügte er hinzu, küsste meine Hand und starrte auf meine Brüste, die sich durch die Seide abzeichneten. Als Antwort schenkte ich ihm ein breites Lächeln, spielte meine Rolle als seine Begleiterin.
Ich wagte es nicht, mir das unangenehme Gefühl anmerken zu lassen, das mich bei seiner Berührung überkam. Kein Stirnrunzeln, keine Tränen in den Augen, nur ein gezwungenes Lächeln. Ein heikler Moment. Er würde jegliche Spur von Unbehagen als Zeichen meiner Abneigung gegen den Führer deuten – die ich in der Vergangenheit aufgrund mangelnder Voraussicht nicht immer geleugnet hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich den Hauptsturmführer davon überzeugt hatte, dass ich seine Gegenwart äußerst reizvoll fand. Ich kann es mir nicht leisten, dass mir irgendetwas in die Quere kommt … nicht einmal die natürlichen Veränderungen meines Körpers, während ein neues Leben in ihm heranwächst. Ein Geheimnis, das ich vor Karl bewahren muss und vor meinen Fans. Mit dreiunddreißig hätte ich damit nie gerechnet … Ein recht ungünstiger Zeitpunkt für mich, dennoch empfinde ich es als Segen.
Ich überredete Karl zu einem Zwischenstopp an einem Blumenmarkt und dann bei meinem alten Appartement im Faubourg Saint-Antoine. Als Vorwand gab ich an, ich wolle meine Fans grüßen und die Werbetrommel für meinen ersten Film seit der Besatzung rühren, bevor wir zum Le Grand Rex fuhren. Er schien es aufrichtig zu genießen, sich unter die Schaulustigen zu mischen, die uns zulächelten und zuwinkten. Er zupfte eine Narzisse aus dem Bouquet, das ich gekauft hatte, reichte sie der betagten Blumenverkäuferin und sagte ihr in passablem Französisch, dass sie ihn an seine grand-mère erinnere. Ich beobachtete ihn mit einem wehmütigen Seufzen. In diesem Moment wirkte er beinahe menschlich. Diese Eigenschaft habe ich jedoch gleich wieder aus seiner Akte gestrichen.
Er ist und bleibt ein Boche – eine nicht gerade schmeichelhafte Bezeichnung für die deutschen Besatzer.
Nun, aus Angst, meine Mission zu gefährden, und vor Ungewissheit, wie ich auf diesen Spuckvorfall reagieren soll, zittere ich am ganzen Körper. Meine Nerven liegen blank. Mein Magen dreht sich um, und ich schlucke die aufsteigende Magensäure hinunter. Daran bin allein ich schuld. Ich wusste, dass mich der Vorschlag, hierherzukommen, vor ein herzzerreißendes Dilemma stellen würde.
Ich schlucke schwer und hoffe, dass Karl die Anspannung hinter meinem gezwungenen Lächeln nicht bemerkt. Selbst wenn ich mich nicht danach fühle, spiele ich dennoch meine Rolle und vergesse dabei keinen Moment, wie hart ich gearbeitet habe, um an diesen Punkt zu kommen.
Ich möchte den Menschen in Paris unbedingt zeigen, dass ich noch immer ihre Ninette bin. Das ändert nichts daran, dass ich mich wie eine Hochstaplerin fühle. Tränen steigen mir in die Augen, als ich mich frage, was nur aus der unvergesslichen Figur geworden ist, die ich in den späten Zwanzigerjahren in einer Stummfilmserie gespielt habe. Ich stelle mir immer wieder die Frage, wie es dazu gekommen ist, dass ich, Ninette, nun am Arm eines SS-Offiziers hänge. Wenn ich mich wie eine läufige Hündin an das Nazi-Schwein schmiege, färbt der faulige Gestank seiner Taten dann auf mich ab und befleckt auch meine Seele?
Diese Pariser, die mich nun anstarren, waren einst zu Beginn meiner Filmkarriere meine Nachbarn. Damals wohnte ich hier, im Haus Nummer 23, einem weißen, dreistöckigen Steingebäude mit efeubedeckten Wänden und einer handgeschnitzten blauen Eingangstür. Sie haben mir geholfen, ein Star zu werden, tranken an kühlen Morgen starken Espresso mit mir, während sie ihre Lieblingsszenen aus meinen frühen Filmen nachspielten. Bevor ich zum Kassenmagneten wurde, wie Emil es ausdrückt, der mich als Teenager entdeckt hat.
Jetzt hassen sie mich.
Zehn oder fünfzehn wackere Seelen scharen sich um mich, starren mich an, warten darauf, dass etwas Schreckliches geschieht. Ich lasse meinen Blick über die bunte Gruppe schweifen, deren Eigenheiten ich nur zu gut kenne. Wie die der Bäckersfrau mit dem lauten Lachen oder des schrumpeligen Tischlers oder der betagten Soubrette. Und der Jugendlichen mit Sommersprossen und Brille, deren Mutter sie mit ihrem Besen immer ins Haus fegt, sobald ein Junge sie anlächelt. Alle warten auf die tödliche Vergeltung der SS, auf das höhnische Grinsen, die Arroganz, gefolgt von einem gezielten Schuss mit der Luger oder einer öffentlichen Prügelstrafe. Ich spüre die Intensität ihrer dunklen Vorahnung, dass jemand aus der Menge herausgegriffen wird, um für die unbedachte Tat zu bezahlen, mir auf den Schuh gespuckt zu haben. Niemand rennt weg. Das würde denjenigen als den Schuldigen entlarven.
Stattdessen warten sie.
Ihre Furcht wiegt schwer in der Luft, als ich mit den Narzissen im Arm vortrete, die mit grobem Bindfaden fest verschnürt sind. Ich ignoriere die glänzende Spucke auf meinem teuren Schuh und schaue mich in der abgeschiedenen Gasse um. Die Bewohner des Faubourg Saint-Antoine tun ihr Bestes, um die widerwärtigen Flaggen des Dritten Reichs draußenzuhalten, denn was auch immer außerhalb des Viertels vor sich geht, deutsche Soldaten haben keinen Grund, sich hierher zu verirren. Keine Bordelle, keine Tabakläden. Die Straße wirkt unberührt von der Besatzung, ihre Geheimgänge sind hinter schwarzen Eisentüren verborgen, die man nur öffnen muss … wenn man das Geheimnis kennt, was bei den Soldaten mit ihren graugrünen Uniformen und schwarzen beschlagenen Kampfstiefeln Gott sei Dank nicht der Fall ist.
„Soll ich sie alle festnehmen, Sylvie?“
Karl zückt seine Peitsche und lässt sie gegen die Steinmauer knallen, die vom Blut der Revolutionäre gesäubert wurde. Es klingt genauso schrecklich, als würde er auf nacktes Fleisch schlagen. Ich verabscheue diese Machtdemonstration, als wäre er ein Rüpel auf dem Schulhof. Die Jüngeren in der Menge halten sich die Ohren zu, die Frauen bekreuzigen sich. Die Männer stellen sich schützend vor sie.
Ich beende die Sache hier.
„Nein, Karl“, sage ich laut und deutlich und lege meine Hand auf seinen Arm. „Das sind meine Fans … Was auch immer geschehen ist, war nur ein Fehler, n’est-ce pas?“ Ich schaue jedem Einzelnen in die Augen und flehe sie mit meinem Blick an, die Situation nicht noch schlimmer zu machen.
„Wir sind nicht mehr Ihre Fans“, sagt eine mutige Frau in einer blauen, schmutzigen Schürze und mit einem Baby auf der Hüfte.
„Ich mag Ihre Filme immer noch“, ruft ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen. Einen Moment lang glänzen ihre Augen vor Bewunderung, dann hält sie sich die Nase zu und runzelt die Stirn. „Ihn mag ich nicht.“ Sie zeigt auf Karl, der einen Schritt nach vorne macht, woraufhin das Mädchen zurück in die Menge springt, die augenblicklich einen Schutzwall um sie herum bildet.
„Diesem Mädchen muss eine Lektion erteilt werden.“
„Sie versteht nur nicht, Karl, wie sehr du und Herr Goebbels euch dafür einsetzt, die französische Kultur zu bewahren.“ Es gibt niemanden, der in Paris mehr gehasst wird als Goebbels, der Reichspropagandaminister. Das Bouquet fest im Griff meiner schwarzen Wildlederhandschuhe, fahre ich fort: „Genau deshalb sind wir hier … um sie einzuladen, sich meinen neuen Film anzusehen.“
„Wie heißt Ihr Film denn?“ Die Fünfzehnjährige riskiert es, ihren Kopf wieder herauszustrecken. Ich lächle. Ach ja, die Dreistigkeit der Jugend. Daran erinnere ich mich gut.
„Le Masque de Velours de Versailles“, antworte ich mit einem Enthusiasmus, der die Atmosphäre auflockert. Ich erhebe meine Stimme, sodass alle mich hören können, und verleihe ihr einen fröhlichen Tonfall, leicht süßlich, jedoch nicht piepsig. Als würde ich einen Begleitkommentar für die Bewerbung meiner Filme aufnehmen. „Er erzählt die Geschichte einer Milchmagd am Hof des Sonnenkönigs, die zur Spionin wird, als sie Ludwigs Interesse weckt, und dann ihre kleine Schwester aus dem Harem eines gemeinen Sultans rettet.“ Die wilden Eskapaden einer Heldin, die sich gegen die Obrigkeit auflehnt – genau das, was sich das Kinopublikum heutzutage wünscht. „Ich hoffe, ihr schaut ihn euch alle an, wenn er nächste Woche im Gaumont anläuft.“ Ungeachtet der Anspannung in der Luft ziehe ich ein paar Eintrittskarten aus meiner Manteltasche und schwenke sie über meinem Kopf.
„Au ja, bitte!“ Das kecke Mädchen mit Sommersprossen und Brille streckt die Hand aus, doch ihre Mutter packt sie am Arm und zieht sie zurück.
„Von dieser Frau nimmst du sicher nichts an“, faucht sie mit rauchiger Stimme. Ihr kantiges Gesicht ist gerötet, und einige graue Strähnen schauen unter dem karierten Schal hervor, den sie fest um den Kopf gewickelt hat. „Sie ist nicht mehr die Sylvie Martone, die wir mal kannten.“ Ihre Worte sind harsch, aber in ihren Augen liegt Enttäuschung, und das trifft mich am härtesten. Ich war immer stolz darauf, eine Schauspielerin zu sein, die das Publikum zum Weinen oder zum Lachen bringen kann, die heftige Wut entfachen kann, wenn sie zu mir auf der Leinwand aufblicken. Aber nie Enttäuschung aufgrund meiner Darbietung … Nie, dass sie kopfschüttelnd aus dem Kinosaal gehen. Jetzt wenden sie sich wegen meiner schauspielerischen Leistung gegen mich, und das schmerzt am meisten.
Ich kann ihr nicht die Wahrheit sagen …
Ich lege die Kinokarten auf einen schmiedeeisernen Tisch in der Nähe, wohl wissend, dass die Kinder sie sich schnappen werden, sobald ich weg bin. Hinter mir höre ich …
Geflüster. Ich weiß, was sie denken, als ich auf das Haus Nummer 23 zugehe und an das verwitterte Holz klopfe. Und noch einmal. Niemand antwortet. Ich drehe mich um. „Wo ist Fantine?“
Eine rhetorische Frage. Nur ich weiß, warum Fantine nicht die Tür öffnet.
„Sie schämt sich zu sehr, um sich blicken zu lassen, Mademoiselle“, erwidert die Frau, die sich auf ihren Besen stützt, „wenn so wer wie der da die Straße verpestet.“ Sie verzieht ihr stolzes, gezeichnetes Gesicht und rümpft angewidert ihre kurze, plumpe Nase.
Karl knurrt wie ein hungriger Kater.
In meinen Armen halte ich noch immer die gelben Narzissen. Als ich sehe, wie er nach seiner Luger greift, trete ich vor.
Nicht so schnell.
Wenn ich diese Rolle schon spielen muss, kann ich sie genauso gut zu meinem Vorteil nutzen. Das hier sind meine Leute, auch wenn sie mich hassen. Ich werde nicht zulassen, dass er ihnen noch mehr Leid zufügt, als sie ohnehin schon ertragen müssen.
„Bitte sagt Fantine, dass ich ihr diese gelben Narzissen vorbeigebracht habe, um sie aufzuheitern.“ Trotz meiner Erschöpfung kribbelt mein ganzer Körper. Es fällt mir immer schwerer, mein gewohntes Tempo aufrechtzuerhalten. Ich bete, dass sich meine Hormone einpendeln und ich mich nicht zum Narren mache. Obwohl ich über die Veränderungen in meinem Körper überglücklich bin, müssen sie mein Geheimnis bleiben … Ich muss den Filmstar spielen und mit den Anmaßungen der Menge fertigwerden. Sie wollen nicht, dass ich mich in ihrer Nachbarschaft herumtreibe, auch wenn mir das Appartement gehört und ich eine Frau eingestellt habe, die sich darum kümmert.
Eine Frau, die sie vergöttern. Fantine ist eine wohltätige ehemalige Baronin, zweimal verwitwet, eine gutherzige Seele mit rauer Stimme und Hinkebein. Die Käse an sie verteilt, den sie auf dem Schwarzmarkt besorgt, die auf ihre Kinder aufpasst, wenn die Eltern sich für Brot anstellen müssen, und die stets ein heiteres Lied parat hat, um ihre Stimmung zu heben.
Kein Wunder, dass sie sich nicht blicken lassen will, wenn ihre Arbeitgeberin so verhasst ist, denken sie.
Es fällt mir schwer, das Lächeln auf meinen Lippen zu halten, mit dem Wissen, weshalb Fantine nicht herauskommen kann, aber sie werden mein Geheimnis nie erfahren.
„Ich lege die Narzissen hier draußen für sie hin.“ Ich lege sie auf die sauber gefegte Treppe. „Es ist wichtig, dass sie die Blumen bekommt.“
„Sie dürfen sie hierlassen, Mademoiselle“, sagt die Frau mit dem Besen. „Aber nur, weil sie für Fantine sind.“
„Merci.“ Ich nicke, zuversichtlich, dass die Blumen unberührt bleiben werden, bis ein Paar großer, starker Hände sie aufhebt und die Nachricht damit überbracht ist. Ein Leben hängt davon ab. Die Bewohner des Viertels würden nie verraten, was hier während der Ausgangssperre vor sich geht. Das würde ihr Stolz nicht zulassen, weil so viele, die gegen die Nazis kämpfen, hier zu Hause sind.
Ich lächle. Mission erfüllt. Ich hake mich bei Karl unter. „Komm, Karl, wir kommen noch zu spät zur Premiere.“
Unser Aufbruch wird mit Jubel quittiert, dann folgen weitere Sticheleien gegen mich. Indem sie mich verhöhnen, spielen meine alten Nachbarn aus dem Arbeiterviertel ihre Rollen gut.
Dafür bin ich dankbar. Ansonsten würde es Leben kosten. Unter anderem das des Mannes, den ich liebe.
Während der große, schwarze Mercedes durch die gewundenen Straßen des rechten Ufers rast, bricht mir der Schweiß aus. Ich lehne mich vor und halte mich am Türgriff fest, als der Tourenwagen in den Kreisverkehr einfährt und dann scharf nach rechts auf den Boulevard Voltaire abbiegt. Mein Magen dreht sich um … aber ich kann dem gut aussehenden SS-Offizier neben mir nicht verraten, was der Grund für diesen Schwächeanfall ist …
Alles, was zählt, ist, dass ich in seinen Augen Sylvie Martone bin, Filmstar – und Nazi-Kollaborateurin.
Daran darf ich ihn nie zweifeln lassen.
2 Juliana
Der Weg, den keiner beging … bis jetzt
Los Angeles
Gegenwart
Das Prasseln des Regens gegen das Erkerfenster ist die perfekte Untermalung meiner schweren Bleistiftstriche.
Ich umklammere den 5B-Bleistift so fest, dass die Spitze abbricht.
Ich stoße einen tiefen Seufzer aus, um die innere Anspannung ein wenig zu lösen. Doch diese unerträgliche Einsamkeit, die von mir Besitz ergriffen hat, lässt sich nicht abschütteln. Als wäre ich ganz allein auf der Welt ohne sie. Maman. In den vergangenen zwei Jahren hat sich meine ganze Welt nur um sie gedreht. Mein Leben wurde auf eine andere Bahn gelenkt, damit ich mich um sie kümmern konnte. Das Ende kam viel zu schnell, und ich würde alles dafür geben, noch mehr wertvolle Zeit mit ihr zu haben, aber das ist unmöglich. Ich muss mein Leben wieder in den Griff bekommen und so tun, als wäre alles in Ordnung, obwohl es das nicht ist.
Sie hat mich nie verurteilt; sie war immer für mich da.
Jetzt nicht mehr.
Und das tut weh. Ich habe mich rund um die Uhr um sie gekümmert, aber als sie mir am Ende in die Augen sah, wusste sie nicht mehr, dass ich ihre Tochter bin. Bevor sie starb, sagte sie zur Krankenschwester: „Das ist die hübsche Dame, die sich um mich kümmert.“
Monatelang habe ich die subtilen Veränderungen in ihrer Persönlichkeit geleugnet. Die ersten Anzeichen zeigte Maman (so habe ich sie immer genannt, weil sie in Frankreich geboren wurde) vor zwei Jahren, aber ich hätte nie gedacht, dass es so schnell bergab gehen würde. Ich musste mitansehen, wie meine liebevolle, kluge Mutter sich selbst verlor, ihren leeren Blick, ihren unsicheren Gang. Gleichzeitig gab es Momente völliger Klarheit, fast schon Genialität, in denen sich für einen kurzen Augenblick ein Fenster in ihrem Geist öffnete, gerade lang genug, um mir Hoffnung zu geben … die gleich wieder zunichtegemacht wurde, wenn mir dieses Fenster vor der Nase zugeschlagen wurde. Am Ende fiel meine Mutter in einen ruhigen Schlaf … angehängt an den Schlauch eines hässlichen grünen Sauerstofftanks, den ich zunehmend hasste, weil er sie mir wegnahm … Ihr Atem wurde langsamer … und langsamer … als wüsste sie, dass das Ende nahte.
Maman, du fehlst mir so sehr …
Ich möchte ihr von meinem neuen Job erzählen, und ich bin wütend, dass sie nicht hier ist. Kein Wunder, dass meine Gedanken heute Morgen so durcheinander sind wie ein abgewickelter Garnknäuel. Ich fühle mich wie eine verlorene Saite ohne Lied.
Das Skizzieren ist meine Zuflucht. Eine Oase, in der ich mich zu Hause fühle, ein Anker, an dem ich mich festhalten kann, während ich den Weg vorwärts wiederzufinden versuche.
Deshalb habe ich die letzte Stunde damit verbracht, an diesem Retro-Kostüm für eine bevorstehende, in den Sechzigern angesiedelte Fernsehserie, Wings over Manhattan, herumzutüfteln, dem Design für eine blau-weiße Stewardessenuniform. Ich denke immer lange über einen Entwurf nach, bevor ich den Bleistift in die Hand nehme und ihn dann schnell skizziere, wobei das Erscheinen der Kurven und Linien fast wie Magie wirkt, wie ein Zeichentrickfilm.
Mein Treffen mit dem Produzenten ist erst in zwei Wochen. Aber ich habe mir in den Kopf gesetzt, dass ich den Entwurf unbedingt sofort fertigstellen muss. Als eine Art Buße, nehme ich an, wo ich doch eigentlich versuchen sollte, über die kürzlichen Veränderungen in meinem Leben hinwegzukommen.
Ich ramme den Bleistift in den elektrischen Anspitzer, dessen unheimliches Surren an meinen Nerven zerrt. Wenn ich mich in den Regen hinauswage, könnte ich im Bastelladen einen neuen besorgen, aber die Vorstellung, durch die nassen Straßen von L. A. zu stapfen, wo es nur zweimal im Jahr regnet, ist nicht gerade verlockend.
Doch je länger ich auf den Entwurf starre, desto mehr habe ich das Bedürfnis, über meine Gefühle zu sprechen. Ich bin kein Fan von Trauergruppen, und Mamans Freunden und Bekannten aus ihrem Leben vor dem Ruhestand und Umzug zu mir stehe ich nicht besonders nahe. Durch ihre Beerdigung letzte Woche bin ich wie eine Marionette gewandelt, die zwar einen Fuß vor den anderen setzt, aber innerlich wie betäubt ist. Ich habe keine Familie und nur wenige Freunde, auf die ich in meiner verrückten Welt des Kostümdesigns für das Fernsehen zählen kann.
Abgesehen von Ridge McCall, der immer an meiner Seite gewesen ist.
Bei der Erinnerung an unsere Begegnung in der ersten Uniwoche muss ich lächeln. Beim Fotokurs sind wir im Dunkelraum mit den Köpfen zusammengestoßen. Ich konnte es kaum glauben, dass dieser unglaubliche Typ mit dem umwerfenden Lächeln mich beachtete, wenn das Licht an war. Ihm eilte ein heißer Ruf voraus, da er bereits in mehreren Filmen als Stuntman mitgewirkt hatte, und alle Mädchen im Kurs schwärmten von seinem Muskelbody. Der Schock war groß, als er sich im Kurs ausgerechnet neben mich setzte, und dann noch größer, als er mich bat, seine Exkursionspartnerin zu sein, weil ich „ein gutes Auge“ für Farben und Stil hätte, und als er sagte, ich sollte meinem Traum folgen, Kostümbildnerin zu werden. (Er hatte mich dabei erwischt, wie ich während des Unterrichts Kostümskizzen kritzelte.)
Und dem folgte ein noch größerer Schock, als er fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, auf dem Rücksitz seines Motorrads mitzufahren.
Er war mir auf Anhieb sympathisch, und wir machten bei der Exkursion nicht nur tolle Filmaufnahmen vom Strand bis zur Wüste, sondern hatten dabei auch noch einen Riesenspaß. Wir wurden dicke Freunde und spielten einander Streiche; zum Beispiel versteckten wir gegenseitig unsere Filmkanister oder fotografierten uns in albernen Posen, um unsere Kreativität anzuregen. Ich war so mit Arbeiten und Zeichnen und Studieren beschäftigt, dass mir nie in den Sinn kam, mit ihm auf ein Date zu gehen. Wir hatten zu viel Spaß miteinander, um das kaputt zu machen. Er hörte mir zu, wenn ich von meinen Schwärmereien erzählte, und ich sagte ihm meine Meinung zu der langen Liste von Mädchen, die von dem Stuntman mit James-Dean-Augen in den verwaschenen Jeans und dem engen T-Shirt ganz hingerissen waren. Im Laufe der Zeit wurden wir zu einem unzertrennlichen Duo.
Jetzt reden wir nicht mehr über unser Liebesleben.
Ich habe keins, nicht seit ich mich um Maman kümmere. Das bereue ich nicht.
Ridge … Keine Ahnung. Vielleicht hat er eine Freundin. Wenn ja, redet er nicht darüber. So oder so bin ich froh und dankbar, ihn zum besten Freund zu haben.
Maman lächelte jedes Mal, wenn der attraktive Stuntman ihr frische Blumen brachte, und das Singen von Lobliedern über seine filmischen Heldentaten als schneidiger Schwertkämpfer oder als Fahrer, der mit einem Panzer durch eine Wand kracht, war so etwas wie ihr Gehirntraining. Sie hat sich gefragt, was zwischen uns beiden läuft, aber ich habe ihr gesagt, dass wir schon vor langer Zeit beschlossen haben, eine wunderbare Freundschaft nicht durch eine Beziehung zu ruinieren.
Ich nehme mein Handy, um ihm zu schreiben, um ihm mein Herz auszuschütten, wie ich es seit Jahren tue, wenn ich eine starke Schulter zum Anlehnen brauche. Dann lege ich es wieder weg. Er hat schon so viel für mich getan. Er hat mich Schritt für Schritt beim Regeln der Angelegenheiten nach Mamans Tod begleitet und hat nach der Beerdigung lange bei mir im Bungalow gesessen, damit ich nicht allein sein musste.
Ich kann ihn jetzt nicht schon wieder belästigen. Er steckt gerade mitten in einem großen Archivierungsauftrag für eine Firma, die Filmaufnahmen von über hundert Jahren in ihrem Tresor hat, einem Auftrag, auf den er lange und hart hingearbeitet hat. Das respektiere ich.
Das hilft aber auch nicht gegen diesen Anflug von Einsamkeit, den ich einfach nicht abschütteln kann.
Wenn ich doch nur Familie hier hätte … jemanden, der Maman kannte. Jemanden, der mit mir darüber lachen könnte, wie ihr immer die Brille über die Nase hinunterrutschte, wenn sie positiv überrascht war, oder wie sie jedes Jahr auf einer Schachtel Schoko-Liebesperlen zu ihrem Geburtstag bestand, weil diese Süßigkeit sie an ihre idyllischen Kindheitstage in einem französischen Kloster außerhalb von Paris erinnerte.
Ich war noch nie in Frankreich, hatte seit der High School immer einen Job, unter anderem als Tourguide in einem großen Filmstudio. Ich wurde in Kalifornien geboren, bin aber mit Englisch und Französisch aufgewachsen. Jetzt bin ich sechsunddreißig und weiß nicht das Geringste über meine gallischen Wurzeln.
Bis jetzt habe ich mir darüber auch noch nie Gedanken gemacht.
Was mich zu Mamans persönlichen Gegenständen bringt.
Mein Arbeitszimmer wurde wie die meisten Wohnräume in diesen spanischen Bungalows auf der Westside aus den 1930ern zu einer Zeit gebaut, in der man es mit bunten Perlenvorhängen von den restlichen Räumen trennte. Heute dient es mir als praktischer Abstellraum, da ich an sonnigen Tagen an meinem Laptop auf der Veranda arbeite oder mit dem alten Künstler-Holzbrett auf den Knien, das mir seit dem College gute Dienste leistet, auf dem Sofa unter dem Erkerfenster sitze.
Meine Arbeitsgewohnheiten machen es mir daher leicht, diesen Raum zu meiden. Und das, was sich darin befindet: alles, was Maman gehörte, mit perfekt ausgerichtetem Klebeband verpackt wie Weihnachtsgeschenke und aus der Wohnung meiner Mutter in Santa Clara herübergeschafft. Kartons, die hier seitdem unangetastet stehen, was mich traurig macht.
Bei ihrem Einzug sprachen wir davon, ihre Sachen durchzusehen, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie das nicht wirklich wollte, als ob sie beim Öffnen dieser Kartons der Realität ins Auge sehen müsste, dass sie nicht mehr dieselbe Person war. Oder noch schlimmer: dass sie sich vielleicht nicht mehr an die Sachen erinnern und sich innerlich leer fühlen würde. Auch wenn wir Erinnerungen oft durch die rosarote Brille sehen, halten wir an ihnen fest, weil sie uns Freude schenken und den Mut geben, dunkle Zeiten zu überstehen.
Wenn sie sich nicht erinnern könnte, hätte sie weder das eine noch das andere.
Also respektierte ich ihren Wunsch, auf den Tag zu warten, an dem sie sich stark genug fühlen würde, alles zu akzeptieren, was sie finden würde. Und wartete auf einen Tag, der nie kam.
Ich habe es nicht übers Herz gebracht, die Kartons ohne sie durchzusehen. Ich habe es immer wieder hinausgeschoben, habe mir eingeredet, dass ich zu sehr mit der täglichen Routine der Pflege von Maman beschäftigt war – mit einem starken Geist, aber einsamem Herz. Als müsste ich, wenn ich ihre Sachen durchsehe, aufs Neue miterleben, wie sie Tag für Tag mehr dahinschwindet. Ich weiß, was ihr letzter Wunsch in Bezug auf ihre persönlichen Dinge war, und ich gebe zu, dass ich nachlässig war, diesen zu erfüllen – worüber Ridge und ich erst gestern bei einem Kaffee im Fitnessstudio unweit des Filmstudios gesprochen haben.
„Ich mach mir Sorgen um dich, seit deine Mom gestorben ist, Juliana“, sagte Ridge, als ich mich zu ihm gesellte, während er behände auf einen schweren Boxsack einschlug. Er war groß, dunkelhaarig und umwerfend, wie er so seinen ganzen Körper einsetzte, als wäre er wild entschlossen, den Boxsack zu einem Haufen Sägemehl zu verarbeiten. Und doch ist er auch ein Mann, der lautstark und falsch wehmütige Cowboysongs singt, der das Doppelte seines Körpergewichts stemmen kann und zugleich mir einen Sonderplatz in seinem weichen Herzen eingeräumt hat, den ich manchmal für selbstverständlich nehme.
Ich fühlte mich schuldig, ihn mit meinen Problemen zu nerven, aber ich musste einfach mit irgendjemandem reden.
„Mir geht’s gut, Ridge … mehr oder weniger.“ Ich setzte mich längs auf die schwarze Lederbank und stellte die dampfenden Mokka-Latte ab, die ich geholt hatte, während ich die beeindruckenden Bauchmuskeln dieses Mannes bewunderte, der jeden Tag pünktlich um sechs Uhr morgens im Fitnessstudio steht. „Ich bin … na ja, verwirrt.“
„Willkommen im Club. Du machst gerade eine große Umstellung durch. Wie ich.“ Er schlug weiter auf den Sack ein, sodass ihm der Schweiß über das Gesicht lief und seine nackte Brust unter den heißen Lichtern bronzen und golden glänzte. Offensichtlich bin ich gegen seine Anziehung nicht immun. Ich lasse nur den Gedanken nicht zu. Denn ich will kein weiteres seiner Groupies sein.
Ridge ist eine Legende in der Stuntwelt und hat schon unzählige Auszeichnungen für seine Beiträge zur Branche und seine hochriskanten Stunts erhalten. Er spricht nicht viel über sich selbst, aber es schmerzt mich, zu sehen, wie er damit kämpft, zu akzeptieren, dass ihn mit vierzig langsam das Alter einholt. Ich habe ihn am Set beobachtet, und dieser Mann ist ein wahrer Kriegsgott in Aktion. Wenn es an die Arbeit geht, ist er voll bei der Sache und gibt niemals auf.
Letztes Jahr hat er seine Stuntarbeit zurückgefahren, um sich auf seine Zukunft zu konzentrieren (er ist in diesem Geschäft, seit er sechzehn war). Er gibt offen zu, dass man sich nicht für immer in Brand stecken oder mit dem Schwert aufspießen lassen kann.
Ich konnte es kaum glauben, als er mir erzählte, dass er einen neuen Job als Filmarchivar hat. Andererseits ist es schon seit Langem sein Traum, dafür zu sorgen, dass die Filme mit den besten Stunts – von der Stummfilmzeit bis zur Gegenwart – nicht verloren gehen, sondern für die nächste Generation von Stuntmen erhalten bleiben.
Ich war so sehr mit meinen Problemen in Bezug auf Maman beschäftigt, dass ich nicht gemerkt habe, wie ich mich in ein seltsames Schneckenhaus zurückgezogen habe.
Doch genau deshalb war ich an diesem Morgen dort. Ich brauchte motivierende Worte.
„Jahrelang habe ich meine Ängste ignoriert“, fuhr Ridge fort, „mich von Adrenalin leiten lassen. Ich habe mich durchgebissen und meinen Job gemacht.“ Er schlug so hart auf den Boxsack, dass ihm der Schweiß vom Gesicht spritzte. „Dann habe ich mich verletzt, und die Realität hat mich wie ein Faustschlag getroffen. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich mit meiner Verletzlichkeit abgefunden habe.
Ich habe keine Angst, aus einem Flugzeug zu springen oder auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Ich habe Angst, mein Team im Stich zu lassen … und das schließt dich mit ein, Juliana. Du bist immer für mich da, wenn ich was Dummes mache, und du bringst mich dazu, über Sachen zu sprechen, die bei einem Dreh passiert sind und über die ich eigentlich nicht reden will.
Ich werde dich jetzt nicht im Stich lassen. Du hast gesagt, dass du dich davor drückst, die Vergangenheit loszulassen und nach vorne zu schauen. Lauf nicht vor deiner Vergangenheit davon, sondern nimm sie an. Das Schwierigste an einem Stunt ist der Moment vor dem Sprung. Wenn man zu viel darüber nachdenkt, macht man einen Fehler. Wenn man nervös wird, verletzt man sich. Tu’s einfach … Triff deine Entscheidung und zieh sie durch.“
Mein Gespräch mit Ridge darüber, den Mut zu finden, mein Leben weiterzuleben, hat mir neue Energie für dieses Projekt gegeben. Ich habe es viel zu lange aufgeschoben. Warum also nicht an einem verregneten Nachmittag damit anfangen? Die Entwürfe, an denen ich gerade arbeite, sind für eine Show, die zu der Zeit spielt, als Maman eine Teenagerin war. Vielleicht finde ich etwas Inspiration für die Uniform meiner Flugbegleiterin. Ich lächele. Der Gedanke gefällt mir. Als würde sie mir helfen, nach vorne zu schauen.
Ich verdränge den stechenden Schmerz in meiner Brust und atme tief durch. Dann stelle ich die Kaffeetasse ab und mache mich an die Arbeit.
Es ist Zeit, Maman.
***
Meine Mutter, Madeleine Chastain, war noch ein Baby, als Paris 1944 befreit wurde. Aber die sittsame Französin wich immer der Frage nach ihrer Familie aus und wedelte abweisend mit der Hand, als würde sie jemanden Unsichtbaren verscheuchen, damit er ja nichts verriet. Vielleicht einen Geist. Soweit ich weiß, kam Mamans Familie im Krieg ums Leben. Das war in meinen Augen jedoch keine Ausrede dafür, dass sie gar keine famille hatte. Als ich ihre Lehrerkollegen, die zur Beerdigung gekommen waren, fragte, ob sie jemals Verwandte in Frankreich erwähnt habe, schüttelten sie nur den Kopf. Ich gebe zu, dass ich zu sehr von ihrem Tod erschüttert und von der Pflege erschöpft war, um weiter nachzuforschen. Ich frage mich, ob ich das hätte tun sollen. Sie muss doch irgendjemanden haben, dem ich schreiben und mit dem ich über die letzten Jahre meiner Mutter sprechen kann. Über ihren Abstieg in eine tiefe Depression, die sie glauben ließ, sie sei eine Last für mich. Einmal sagte sie etwas, das sich in mein Gedächtnis gebrannt hat.
Dass ich es schon schwer genug haben würde, wenn ich jemals von „ihr“ erfahren würde.
Wen sie damit meinte, habe ich nie herausgefunden.
Maman sprach nie über meine Großeltern und beharrte darauf, dass sie im Krieg gestorben seien. Als Teenager verbrachte ich viele Stunden damit, mir eine fantastische Vergangenheit als Widerstandskämpfer für sie auszudenken, in der sie als mutige Partisanen gegen die Nazis kämpften. Sie sorgten jedoch dafür, dass ihre Tochter bei den Nonnen in Sicherheit war, da sie höchstwahrscheinlich noch vor der Befreiung ihres Landes getötet würden. Ich hatte mir verschiedene „Looks“ für sie ausgedacht, aber mein Favorit war eine Skizze meiner Großmutter in Partisanen-Chic: Bleistiftrock, cremefarbene Seidenbluse, braune kniehohe Wildlederstiefel und eine Bomberjacke, die an der Taille zusammengerafft war. Dazu eine tiefblaue Baskenmütze tief ins Gesicht über ein Auge gezogen und die Lippen scharlachrot geschminkt.
Ganz anders als meine Mutter. Ich habe oft versucht, Maman dazu zu bringen, ihr typisches Outfit mit einer Halskette oder Ohrringen ein wenig aufzupeppen, aber sie weigerte sich immer strikt und sagte, sie sei im Herzen einfach ein Klostermädchen. Schließlich ist Glamour mein Geschäft. Für Schauspielerinnen den richtigen Schnitt für ein Kleid zu finden, die genaue Passform einer Jeans, den perfekten Winkel eines Hutes. Doch die pensionierte Kunstgeschichtsprofessorin ließ sich nie von ihrem schwarzen Kostüm, ihrer strahlend weißen Bluse, ihren flachen Pumps und ihrer eckigen Brille abbringen.
Diese Erinnerungen an Maman und die Fantasien von meiner Großmutter sind alles, was mir geblieben ist. Jetzt ist mir klar, dass ich in meinem Leben vieles vermieden habe, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, meinen Traum von Hollywood zu verwirklichen. Im College wurde ich als Model für die Werbung für Filmstudio-Touren ausgewählt, obwohl ich mich selbst nie als Schauspielerin oder als schön empfunden habe. Das Einzige, was ich an meinem Gesicht als interessant bezeichnen kann, ist das tiefe Grübchen auf meiner linken Wange.
Seit meiner Kindheit liebe ich es, zu zeichnen … Strichmännchen in die Schulbücher meiner Mutter zu kritzeln, Kleider für meine Barbie zu entwerfen, Kostüme für Schulaufführungen zu basteln. Ich erzähle Geschichten visuell, entwerfe Kostüme, die zu den jeweiligen Figuren passen, und verleihe ihnen das gewisse Etwas, damit sie auf der Leinwand gut wirken.
Maman konnte meine Liebe zum Design und zu Filmen nicht nachvollziehen. Sie liebte ihre Geschichtsbücher und ihre Studenten und sprach selten von etwas anderem. Ich habe sie nie ausgefragt, woher wir kommen, und darüber schien sie froh zu sein. Meine Mutter war eine verschlossene Person, die sehr darauf achtete, immer das Richtige zu sagen und zu tun. Sogar ihre Handschrift war präzise und perfekt. Ich wollte nie hinter die Kulissen schauen und dadurch ein anderes Bild von ihr bekommen. Kein Wunder, dass ich mich innerlich leer fühle, wenn es um die Kenntnis meiner Herkunft geht. Ich hole tief Luft und wage den Sprung, um etwas darüber herauszufinden.
Das Auspacken kann beginnen.
Ich lasse mir Zeit und sortiere zuerst die Kartons, die hier in meinem Arbeitszimmer gelagert sind. Dann beginne ich mit den kleineren und blase den Staub von der braunen Pappe. Erfüllt von einer Ehrfurcht, die mich nicht überrascht, schneide ich mit einer Schere das Klebeband durch. Ich nehme mir Zeit für jede einzelne Schachtel, als würde Maman mich beobachten und anerkennend nicken.
Mit klopfendem Herzen gehe ich sorgfältig ihre Habseligkeiten durch und suche in jedem Karton nach Hinweisen auf meine Wurzeln. Bisher noch kein Erfolg in dieser Hinsicht … Keine weltbewegenden Enthüllungen. Aber in jedem Karton, den ich öffne, finde ich Erinnerungen, die mir helfen, ihren Verlust zu verarbeiten. Dennoch lässt mich meine Neugier nicht los, mehr über sie herauszufinden, um die Lücke zu füllen, woher ich komme. Ich bin überglücklich, als ich eine versiegelte Schachtel mit Briefen meiner Eltern finde – ich habe nicht gewusst, dass sie überhaupt existiert.
Vor Jahren erzählte mir Maman, dass mein Vater Amerikaner war, sie aber nie geheiratet hatten. Sie erzählte von ihrer Fernbeziehung, die ihren Höhepunkt fand, als meine Mutter nach Amerika kam, um ihr Baby zur Welt zu bringen. Mich. Nachdem ich einige Briefe überflogen habe, wische ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel. Ich spüre die tiefe Liebe zwischen ihnen, aber die Familie meiner Mutter wird mit keinem Wort erwähnt, als wäre sie ohne Vergangenheit geboren worden.
Ich finde Fotos von mir als Baby, dann aus meiner Kindheit, da ich in einer Zeit vor der Digitalisierung aufgewachsen bin. Meine Erstkommunion, Verkleidungen zu Halloween, die pubertären Jahre, in denen ich mich vor der Kamera versteckte. Ich liebe es, diese glänzenden zehn mal fünfzehn Zentimeter großen Abzüge in den Händen zu halten, deren Farben leuchten wie eine Szene aus Oz. Dann finde ich alte Filmkassetten von meinen Reisen nach San Francisco und New York für Dreharbeiten – Städte, die Maman so gerne mit mir besucht hat. Nirgends hier wird etwas über ihr Leben erwähnt, bevor sie sich in Kalifornien niedergelassen hat, außer in ein paar Briefen auf Französisch. Briefe aus dem Kloster, in dem meine Mutter lebte, bis sie meinen Vater kennenlernte, unterschrieben von einer Nonne namens Schwester Rose-Celine.
Ich lege die Briefe beiseite und suche nach etwas über meine Mutter als junges Mädchen. Sie war vierzig, als ich geboren wurde, also muss sie ein Leben vor mir gehabt haben, Verwandte irgendwo … aber nichts. Selbst ihre Finanzen waren überschaubar: Rechnungen, Ersparnisse, monatliche Rentenschecks. Ich gebe zu, dass ich angenehm überrascht war, als ich entdeckte, dass Maman mir ein großzügiges Vermächtnis hinterlassen hat, das ich für schlechte Zeiten aufbewahren werde. Oder für die Urlaubsreise, die ich nie gemacht habe. Während ich in Gedanken mit der Vorstellung von einer tropischen Brise und weißen Sandstränden spiele, wird mein Blick von einer quadratischen Schachtel angezogen, die sich von den anderen unterscheidet. Elegant verpackt und ordentlich verschnürt mit einem aufwendigen Knoten. Die Schachtel befindet sich in einer größeren Schachtel und ist versteckt unter alten Kleidern. Einer Klosteruniform. Einem grauen Leinenrock, einer weißen Bluse mit Bubikragen und kurzen Ärmeln, einem hellblauen Pullover. Der Duft eines betörenden französischen Parfüms strömt aus der verschlossenen Schachtel und lässt mich verzückt aufseufzen. Rose … und Pflaume, oder? Und Himbeere … und eine Gewürznote, die ich nicht identifizieren kann. Ein aufreizender Duft, der in starkem Kontrast zur Uniform steht.
Unter den Kleidern finde ich eine schmale Schachtel aus dem Pariser Kaufhaus Aux Trois Quartiers. Oh, là, là … so typisch französisch. Das alte Klebeband ist vergilbt und zerbröckelt zwischen meinen Fingern, als ich hineinschaue. Dort, in einen zart gewebten, elfenbeinfarbenen Spitzenschleier gehüllt, liegt eine schmale Schmuckschatulle mit burgunderrotem Samtüberzug. Meine Hände zittern, als ich sie öffne – meine Mutter hat nie Schmuck getragen.
Wem gehört sie?
Ich öffne die Schmuckschatulle und entdecke eine wunderschöne, herzförmige Diamantbrosche. Durchbohrt von einem Pfeil. Und noch etwas.
Ein Foto einer umwerfenden Blondine, das mir den Atem raubt.
Im ersten Moment der Überraschung ist mir ganz mulmig zumute. Ich habe das seltsame Gefühl, dass ich etwas in der Hand halte, das ich nicht sehen sollte, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden. Die Frau sieht aus wie ein Star aus der Epoche des klassischen Films. Eine Schauspielerin oder ein Model? Die Inszenierung, die Pose, die Frisur und das Make-up sind sehr dramatisch, ganz im Gegensatz zum Look der damaligen High Society. Mein Bauchgefühl – und meine Erfahrung – sagen mir, dass es sich um ein Werbeporträt aus einer Pressemappe handelt. Ich starre das Schwarz-Weiß-Foto an. Eine überlebensgroße Frau, eine Frau, die jeden in ihren Bann zieht. Wunderschönes, platinblondes Haar fällt in Wellen über eine nackte Schulter. Ein tief ausgeschnittenes, aufreizendes Kleid schmiegt sich eng an ihren Körper. Ihre Augen strahlen eine brennende Leidenschaft aus, die von verbotenen Nächten erzählt … und von unausgesprochenen Sehnsüchten.
Ich könnte schwören, dass die Frau dieselbe diamantene Herz-Brosche mit dem Pfeil trägt, die ich in der Hand halte.
Zufall? Ein eigenartiges Kribbeln läuft mir den Rücken hinunter und lässt mich erschaudern. Oder eher nicht?
Ich durchstöbere die Schachtel, finde aber keine weiteren Fotos. Wer ist diese wunderschöne Frau? Ich rühme mich mit ausgiebigem Wissen über die klassischen Filmstars, aber sie erkenne ich nicht.
Warum hat Maman das Bild aufbewahrt?
Der Aufdruck in der unteren rechten Ecke verrät, dass das Foto in Paris aufgenommen wurde, wahrscheinlich vor dem Krieg und vor der Geburt meiner Mutter. Außerdem steht dort mit weißer Tinte eine Zahl geschrieben – wahrscheinlich die Indexnummer des Fotografen, da sie zu lang für eine Adresse ist.
Ich drehe das Foto um und sehe auf der Rückseite eine Widmung in französischer Sprache:
Für meine süße Tochter Madeleine. Eines Tages wirst du die Wahrheit erfahren.
Ich bin fassungslos, meine Hände zittern, mein Herz pocht, während ich das Foto anstarre.
Diese wunderschöne Blondine mit dem verführerischen Lächeln ist meine Großmutter?
Das kann einfach nicht wahr sein. Oder doch?
Ich schaue noch einmal genauer hin. Unter der Widmung steht noch Ville Canfort-Terre, France und das Jahr 1949 geschrieben. Nach der Befreiung von Paris. Nach der Zeit, in der laut meiner Mutter ihre Eltern getötet worden waren.
Wer ist sie? Mir wird klar, dass ich über ein Geheimnis gestolpert bin, das ich niemals hätte entdecken sollen. Dass ich eine glamouröse Großmutter hatte, die den Krieg überlebt hat. Was ist mit ihr passiert? Und noch erschütternder …
Warum hat meine Mutter mich belogen?