Kapitel 1
Clerkenwell, London: Donnerstag, 27. Januar 1814
Der heulende Wind trieb Hero Devlin eisige Schneekristalle ins Gesicht, stach ihr in die kalten Wangen und nahm ihr den Atem. Sie hielt den Kopf gesenkt und umklammerte mit den Fäusten den Stoff ihres Kutschkleids aus feiner Merinowolle, als sie den durchnässten Rock durch die kniehohen Schneewehen zog, die die alte, gewundene Straße verstopften. Ein Bursche mit einer Lampe stolperte ihr voraus, um die Dunkelheit zu erleuchten, denn Clerkenwell war eine verkommene, gefährliche Gegend am Rand der Stadt, und die Nacht war längst hereingebrochen.
Sie war hier unterwegs, weil sie einen Artikel schreiben wollte – allein bis auf den Burschen und eine kleine französische Hebamme, die hinter ihr durch den Schnee watete. In ihrem Artikel sollte es um die Schwierigkeiten gehen, in die Familien gestoßen wurden, wenn die Royal Navy Männer von den Straßen holte, um sie zu zwangsrekrutieren. Die Hebamme, Alexi Sauvage, hatte Hero angeboten, sie mit der verzweifelten Ehefrau eines kürzlich eingezogenen Küfners bekannt zu machen, die im achten Monat schwanger war. Niemand hatte mit dem heftigen Schneesturm gerechnet, der just aufkam, als die Wehen der Frau einsetzten. Er machte die schmalen Gassen des Ortsteils für die Kutsche einer Adligen unpassierbar. Aber dank ihrer beider Gegenwart überlebten Mutter und Kind die lange, schwierige Geburt. Der Schnee wurde allerdings immer tiefer.
»Seht Ihr sie schon?«, rief Alexi und blinzelte durch das weiße Gewirbel in die Richtung, wo Heros Kutsche sie am Ende der Shepherd’s Lane erwartete.
Hero hob ihre kalte, gefühllose Hand zum Schutz an die Augen. »Sie sollte gleich …«
Sie brach ab, als ihr Fuß an etwas hängen blieb, das halb im Schnee verborgen war. Sie fiel nach vorne und landete mit beiden rasch ausgestreckten Händen in einer hohen Wehe. Sie wollte sich gerade aufrappeln, da erstarrte sie, denn sie bemerkte, dass sie auf das strubbelige schwarze Haar eines Menschen blickte, der mit den Gesicht nach unten neben ihr lag.
Der Bursche drehte sich alarmiert zu Hero herum, und das Licht seiner Laterne schwankte stark hin und her. »Mylady!«
»Mon Dieu«, flüsterte Alexi, eilte neben sie und bückte sich herunter. »Es ist eine Frau. Helfen Sie mir, sie umzudrehen. Rasch.«
Gemeinsam drehten sie die bereits starr werdende Frau auf den Rücken. Es war ein fürchterlich kalter Winter, und seit endlosen Wochen gab es Frost, sodass die Preise für Lebensmittel und für Kohle in die Höhe geschossen waren. Immer öfter wurden Leichen der Armen der Stadt in den Straßen gefunden. Aber diese Frau war keine Arme in fadenscheiniger Kleidung. Ihre feine schwarze Pelisse war mit schwarzem Pelz gefüttert, und die dunklen Locken, die ihr blasses Gesicht einrahmten, waren nach der neuen Mode geschnitten. Hero sah in die offenen, blicklosen Augen und brauchte die klaffende Wunde an der Schläfe der Frau nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie tot war.
»Sie muss ausgerutscht und sich irgendwo den Kopf angeschlagen haben«, sagte Hero.
»Das glaube ich nicht.« Alexi Sauvage betrachtete die hässliche Wunde mit einem professionellen Interesse. Als Frau durfte sie in England nur als Hebamme praktizieren. Aber Alexi war in Italien zur Ärztin ausgebildet worden, wo das erlaubt war. »Sie kann nicht hier gestorben sein. Eine Wunde wie diese blutet sehr stark – schaut Euch all das Blut in ihrem Haar und auf der Pelisse an. Aber im Schnee um sie herum gibt es kaum Blut.« Mit der Hand wischte sie sanft die schnell fallenden Schneeflocken zur Seite, die das Gesicht der Toten halb bedeckten. »Ich frage mich, wer sie ist.«
Hero beobachtete, wie der Schnee von den reglosen Zügen hinabfiel, und in ihrer Brust zog sich etwas zusammen. »Ich kenne sie. Sie ist eine Musikerin namens Jane Ambrose. Sie unterrichtet …«, sie hielt inne, und Alexi drehte den Kopf zu ihr und sah sie an. »Prinzessin Charlotte am Piano. Die Tochter des Regenten.«
Kapitel 2
Sebastian St Cyr Viscount Devlin stand unterhalb der Westminster Bridge auf den Stufen am Fluss. Den besorgten Blick hielt er auf das aufgewühlte Wasser der Themse gerichtet, in dem Eisbrocken schwammen.
Seit Menschengedenken hatte niemand einen solchen Winter erlebt. Anfang Dezember hatte über eine Woche lang ein dichter, tödlicher Nebel die Stadt erstickt, dessen Dunkelheit fast körperlich spürbar gewesen war. Darauf folgten Tage endlosen Schneefalls, die das gesamte Königreich unter riesigen Schneewehen begruben, die an manchen Stellen fast sieben Meter hoch waren. Seit gestern hatte Tauwetter eingesetzt und schickte massive Eisblöcke die Themse abwärts, die mit der Flut hin und her bewegt wurden, sich in Strudeln verfingen und gegen die Brückenbögen stießen. Ihr ständiges Aufeinanderprallen verursachte einen widerhallenden Lärm, der Sebastian an Artilleriefeuer erinnerte. Mit den fallenden Temperaturen und dem erneuten Schneefall dieses Abends hatte sich die Stadt in eine befremdliche Welt aus Schwarz und Weiß verwandelt, die durch ein Band aus Wasser, in dem gefährlich das Eis trieb, unterteilt wurde. Und um ihn herum fiel der Schnee immer noch dicht und schnell.
Er bemerkte eine seltsame Stille, die sich auf die Stadt zu senken schien. Sie war unnatürlich und beunruhigte ihn. Zwanzig Jahre Krieg, fallende Löhne und steigende Preise und weit verbreitete Hungersnot hatten England fast in die Knie gezwungen. Es bestand die sehr reale Sorge, dass dieser tödliche und todbringende Winter möglicherweise mehr war, als das Land noch ertragen konnte.
Er blickte zu den alten Steinwänden der Houses of Parliament, die sich gleich hinter der Brücke erhoben. Sie wirkten so stark; als ob sie für immer und ewig Bestand haben würden. Und doch wusste er, dass es nicht so war.
»Meister.« Eine vertraute schrille Stimme im Cockney-Dialekt durchbrach die eisige Stille. »Meister!«
Sebastian drehte sich um und sah seinen schmalgesichtigen jungen Burschen, oder Tiger, ausrutschen und dann beinahe hinfallen, als er über den eisigen Fußpfad lief, der sich von der Brücke herunterwand. »Tom? Was zum Teufel machst du denn hier?«
»Ich dacht schon, ich find Euch nicht, Euer Ehr’n«, sagte Tom und fiel erneut beinahe, als er schlitternd zum Stehen kam. »Von Ihrer Ladyschaft ist grad eine Nachricht in der Brook Street eingetroffen.«
»Ja, ich hörte schon, dass sie in Clerkenwell aufgehalten wurde.«
»Aye, aber da is noch eine Nachricht, Euer Ehr’n. Sie is im Queen’s Head beim Anger, und sie sagt, Ihr wollt ganz bestimmt sofort hinkommen. Es is eine von Princess Charlotte’s Frauen ermordet wor’n, und Ihre Ladyschaft is fast über die gestolpert, wo die Leiche einfach so in der Straße gelegen hat.«
***
Er fand Hero neben einem prasselnden Feuer im Kamin eines Privatsalons des baufälligen alten Inns am Ende der Shepherd’s Lane. Gedankenverloren stand sie da und streckte die Hände in die Wärme. Ihr nasses, dichtes dunkles Haar lag platt an ihrem Gesicht; die Röcke des eleganten schwarzen Kleids, das sie in der Trauer um ihre tote Mutter trug, hingen durchweicht und glatt herunter.
»Devlin. Dem Himmel sei Dank«, sagte sie und drehte sich bei seinem Eintreten um.
»Es tut mir leid, dass deine Nachricht mich so spät erreicht hat.« Sie war einer der stärksten Menschen, die er kannte, strikt rational und außergewöhnlich tapfer. Aber als sie in seine Arme kam und er sie festhielt, spürte er, wie ein Schaudern ihren sehnigen Körper durchlief. »Geht es dir gut?«
»Ja.« Sie zog sich zurück und lächelte ihn schief an, als sei ihr der kurze Anflug von Verletzlichkeit peinlich. »Wenn ich auch erschütterter bin, als ich zugeben möchte.«
»Das würde jeden erschüttern.«
»Alexi nicht. Sie ist losgezogen, um die Frostbeulen der Köchin zu behandeln.«
Sebastian schnaubte. Er wusste nicht, ob die Französin mit dem feurigen Haar von irgendetwas zu erschüttern wäre. Aber er sagte nur: »Erzähl mir, was passiert ist.«
Er zog sie in die Wärme des Kaminfeuers, während sie ihm ruhig mit knappen Worten Bericht erstattete. »Zwei Wachtmeister der Pfarrgemeinde nehmen die Leiche in Augenschein«, sagte sie. »Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie direkt an Sir Henry in der Bow Street berichten und nicht an die Behörde hier in Hatton Garden.«
»Das war klug«, sagte Sebastian. Tödliche Gewaltverbrechen, die mit dem Königshaus zu tun hatten, brachten die Behörden, die damit befasst waren, oftmals in ein Dilemma. Und in der Vergangenheit hatten sich die Untersuchungsrichter von Hatton Garden als nicht sehr verlässlich erwiesen. »Weiß irgendjemand sonst Bescheid?«
»Meines Wissens nicht.«
Sebastian nickte und sah ihr in die Augen. Er brauchte nicht eigens auszusprechen, was sie beide dachten.
***
Sir Henry Lovejoy traf kurz nach Sebastian in Clerkenwell ein.
Der Untersuchungsrichter der Bow Street war ein kleiner Mann, nur etwa einsfünfzig groß, mit strengen religiösen Ansichten, einem ernsthaften Äußeren und unverbrüchlicher Integrität. Vor nicht allzu langer Zeit war Sebastian auf der Flucht gewesen, weil er des Mordes verdächtig war, und Sir Henry war mit den Ermittlungen betraut gewesen. In den Jahren seither hatte sich eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem Sohn des Earls und dem gestrengen, mittelalten Magistraten entwickelt. So unterschiedlich die beiden Männer auch waren, widmeten sie beide sich doch mit Leidenschaft der Suche nach Recht und Gerechtigkeit.
Er stand jetzt, in einen schweren Herrenmantel und einen Schal gepackt, der sein Gesicht halb bedeckte, vor dem Queen’s Head und sprach leise mit seinen Wachtmeistern, während Sebastian Hero in ihre Kutsche half. Sebastian sah zu, wie der Kutscher vorsichtig das Pferdegespann die Straße hinunterlenkte, als Sir Henry zu ihm kam.
»Ist Ihre Ladyschaft sich bezüglich der Identität des Opfers sicher?«, fragte der Magistrat. Seine Augen wurden schmal, als die Hinterreifen der Kutsche auf dem vereisten Kopfsteinpflaster seitwärts rutschten.
Sebastian nickte. »Ich fürchte, ja.«
»Das ist nicht gut.«
»Nein«, stimmte Sebastian ihm zu.
Die Kutsche bog weiter entfernt um eine Ecke, und die beiden Männer drehten sich um und wateten durch die Wehen, die die Shepherd’s Lane bedeckten. Der Schnee fiel immer noch dicht und schnell um sie herum.
Zwei Konstabler der Gemeinde standen bei einer dunklen, reglosen Gestalt Wache, die rasch unter dem fallenden Schnee verschwand. Die Männer hatten mit den Füßen aufgestampft und sich auf die Arme geklopft, um warm zu bleiben, aber als der Magistrat der Bow Street sich näherte, standen sie beide stramm.
»Stehen Sie bequem«, sagte Sir Henry.
»Aye, Euer Ehren«, sagte einer der Wachtmeister, rührte sich aber nicht.
Sebastian ging neben Jane Ambroses Leichnam in die Hocke, zog einen Handschuh aus und wischte der toten Frau mit der bloßen Hand den Schnee vom Gesicht, der sich bereits wieder auf ihre leblose Haut und die blauen Lippen gelegt hatte. Sie war eine auffallend attraktive Frau gewesen, dachte er und ballte die Hand zur Faust, als er den Unterarm auf dem Knie abstützte. Sie war in den Dreißigern, besaß dunkles, dichtes Haar, ausgeprägte Wangenknochen und ein herzförmiges Gesicht.
Die Seite ihres Kopfs war nur noch eine blutige Masse.
Lovejoy schob die Hände tief in die Taschen seines Herrenmantels und blickte zur Seite. »Kanntet Ihr sie auch?«
Sebastian zog sich den Handschuh wieder an, und sein Blick glitt wieder auf das stille, blasse Gesicht. »Nur dem Vernehmen nach.« Sie war als Jane Somerset, Tochter des Organisten von Westminster Abbey, geboren. Sie und ihr Zwillingsbruder James hatten als Wunderkinder gegolten und bei zahlreichen Konzerten großen Beifall erhalten. Die Sittsamkeit verlangte es von Frauen ihres Standes jedoch, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, sobald sie in ein heiratsfähiges Alter kamen. Also hatte ihr Bruder James Somerset sich zu einem anerkannten und vielversprechenden jungen Komponisten und einem der größten Pianisten seiner Zeit entwickelt, während Jane nicht mehr auftrat, einen erfolgreichen Bühnendichter namens Edward Ambrose heiratete und sich sozial annehmbaren »weiblichen« Zeitvertreiben zuwandte, wie dem Schreiben von Rundgesängen und Balladen und dem Unterrichten des Klavierspiels an Kinder wohlhabender Eltern. Die erste dieser Schülerinnen war Prinzessin Charlotte, die übersprudelnde junge Tochter des Regenten und mutmaßliche Thronerbin hinter ihrem Vater.
Sebastian dachte über Jane Ambroses Verbindungen zum Hause Hannover nach, während er den rosa verfärbten Schnee um den Kopf der toten Frau herum betrachtete. Alexi Sauvage hatte recht: Wenn Jane Ambrose hier in Shepherd’s Lane getötet worden wäre, müsste der Schnee von ihrem Blut dunkelrot gefärbt sein, aber das war er nicht.
»Ich frage mich, warum sie ausgerechnet hier abgelegt wurde«, sagte er laut.
Lovejoy zog vor einem eisigen Wind die Schultern nach vorn. »Leider haben der Wind und der Schnee alle Spuren verwischt, die der Mörder vielleicht hinterlassen hat. Ich denke, sie könnte irgendwo hier in der Nähe von Straßenräubern überfallen worden sein, die dann unterbrochen wurden, als sie den Leichnam an einen weniger auffälligen Ort ziehen wollten.«
Sebastian berührte den blutbedeckten, pelzbesetzten Kragen der Pelisse von Jane Ambrose. Eine Kette mit einem goldenen Medaillon lag um den Hals der toten Frau. »Kein Straßenräuber hätte das zurückgelassen.«
Lovejoy warf einen hastigen Blick um sich und ging auf der anderen Seite der Leiche in die Hocke. Er senkte die Stimme, sodass sie für die beiden Konstabler nicht zu hören war, die die Menschenmenge zurückhielten, die sich trotz der frostigen Temperatur und des windgepeitschten Schnees inzwischen versammelte. »Trotzdem befürchte ich, bei Hofe wird man darauf bestehen, dass eine solche Version offiziell verbreitet wird. Wenn wir eine Autopsie möchten, sollten wir rasch handeln.«
Sebastian sah den Magistraten an und nickte.
Lovejoy richtete sich wieder auf und sandte einen seiner Männer zum nächstgelegenen Leichenhaus, um nach einer Liege zu fragen, mit der der Leichnam zur Praxis von Paul Gibson transportiert werden konnte, einem Anatom, der für seine Fähigkeit bekannt war, die Zeichen zu lesen, die bei einem gewaltsamen Tod hinterlassen wurden. Erst, als die sterblichen Überreste von Jane Ambrose auf die Bahre gehoben wurden, bemerkte Sebastian die Hände der Toten, die bis dahin unter den Falten ihrer Pelisse verborgen gewesen waren.
Sie waren nackt.
»Sie trägt keine Handschuhe«, sagte Sebastian. »Und auch keinen Hut, wo wir gerade dabei sind.«
Lovejoy stellte sich neben ihn. »Wie höchst eigenartig.« Selbst bei allerschönstem Wetter käme keine Edelfrau auf den Gedanken, ohne Hut und Handschuhe in der Öffentlichkeit aufzutauchen. Und bei dem derzeitigen Wetter wäre es eine blanke Narrheit. »Ich schicke meine Männer, in den Schneeverwehungen danach zu suchen. Vielleicht liegen sie hier irgendwo.«
»Vielleicht«, sagte Sebastian. »Aber es wäre immer noch eigenartig.«
Kapitel 3
Während Lovejoy sich mit ernsthaftem Gesicht auf den Weg machte, Edward Ambrose persönlich über den Tod seiner Gattin in Kenntnis zu setzen, verbrachte Sebastian fast eine Stunde damit, an die Türen der alten, teils baufälligen Häuser zu klopfen, die die gewundene Straße säumten. Er hoffte, auf jemanden zu treffen, der etwas gesehen oder zumindest gehört hatte. Doch die bittere Kälte und der schwere Schneefall hatten alle Anwohner längst an die Kamine gescheucht. Niemand räumte ein, irgendetwas zu wissen.
Er gab also auf und blieb einen Augenblick stehen, um Lovejoys Wachtmeister zu beobachten. Sie hatten ihre Laternen zum Schutz vor dem wirbelnden Schnee verschlossen und suchten weiterhin in den hohen Wehen nach Jane Ambroses vermisstem Hut und den Handschuhen oder anderen Spuren, die erklären könnten, was ihr zugestoßen war. Der Schnee erstickte ihre Bewegungen genauso wie den sonst üblichen Lärm der riesigen, erstarrenden Stadt um sie herum. Wegen der Intensität der unnatürlichen Stille kam es Sebastian plötzlich so vor, als könnten sie auch in einem verschneiten, bewaldeten Tal sein, und nur die verborgenen Kreaturen der Nacht umgäben sie.
Er richtete seinen Hut gegen den Schnee aus, schüttelte den befremdlichen Gedanken ab und wandte seine Schritte zum Tower Hill, zur Praxis eines gewissen einbeinigen, opiumsüchtigen Iren.
***
Sebastians Freundschaft mit dem irischen Chirurgen Paul Gibson reichte fast zehn Jahre zurück, als beide Männer die Farben des Königs getragen und von Italien und den westindischen Inseln bis zu den Gebirgen in Portugal in den königlichen Kriegen gekämpft hatten. Dann hatte eine französische Kanonenkugel Gibsons linken Unterschenkel weggerissen und ihn dahingestreckt; er war mit Phantomschmerzen und einem beständigen Kampf gegen eine gefährliche Opiumsucht daraus hervorgegangen. Damals war er hierher nach London gekommen, um an Krankenhäusern wie dem St Thomas’s und St Bartholomew’s Anatomie zu lehren und eine kleine Praxis im Schatten des Towers zu eröffnen.
Als Sebastian an dem von Laternen erleuchteten steinernen Nebengebäude ankam, das Gibson sowohl für offizielle Autopsien benutzte als auch für die heimlichen Sektionen illegal beschaffter Leichen, traf er jedoch nur die Französin Alexi Sauvage an. Sie hatte sich eine fleckige Schürze am Kleid festgesteckt und hielt ein blutiges Skalpell in einer Hand.
Die zart gebaute Frau um die Dreißig mit blasser Haut, braunen Augen und Haaren in der Farbe von Herbstblättern blickte von dem nackten Leichnam auf, der auf dem Steinblock in der Mitte lag. Sie sagte: »Ach, Ihr seid das«, bevor sie sich wieder der Arbeit an den sterblichen Überresten von Jane Ambrose widmete.
Sebastian blieb auf der Türschwelle stehen, erfasste mit einem Blick, was sie tat, drehte sich wieder um und blickte über den verwahrlosten, schneebedeckten Garten zu dem alten Steinhaus, das Paul Gibson als Praxis benutzte. Alexi Sauvage wohnte inzwischen seit einem Jahr bei dem Iren, weigerte sich aber standfest, ihn zu ehelichen. »Wo ist Gibson?«
Dieses Mal blickte sie nicht auf. »Eine Jolle, die versucht hat, unter der Brücke durchzufahren, ist gekentert. Ein paar Holzfäller konnten zwei der drei Männer von Bord retten, aber sie waren schon halbtot, als sie aus dem Wasser gezogen wurden, und Paul ist hingegangen, um zu sehen, was er für sie tun kann.« Sie zögerte. »In Anbetracht der Beziehungen von Jane Ambrose zum Palast hielt ich es für das Beste, mit dem Beginn der Leichenschau nicht zu warten, bis er zurück ist.«
»Das war klug. Danke«, sagte Sebastian, obwohl es sein Unbehagen nicht minderte. Nicht dass er ihr Wissen oder ihre Fähigkeiten bezweifelte, denn Gibson hatte ihm versichert, dass beides beträchtlich sei. Aber vor vier Jahren hatte Sebastian in den Bergen Portugals ihren Liebhaber getötet, und Alexi Sauvage hatte geschworen, ihn aus Rache umzubringen. Hero hatte es bewerkstelligt, einzugreifen und eine Freundschaft mit der Französin zu bilden. Aber Sebastian fühlte sich in ihrer Gegenwart immer noch nicht unbefangen, und er wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Er räusperte sich. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«
Mit angewinkeltem Handgelenk wischte sie sich eine Locke ihres feuerroten Haares aus den Augen. »Ich kann Euch sagen, dass, wenn sie mit etwas geschlagen wurde, es sich dabei nicht um eine Eisenstange oder einen Holzknüppel gehandelt hat, sondern um etwas Größeres von ungleichmäßiger Form.«
»Wenn?«
»Es kann auch sein, dass sie gestürzt ist und sich an etwas den Kopf eingeschlagen hat. Wegen der Stelle der Wunde ist es unmöglich zu sagen, was passiert ist.«
»Sie wollen sagen, sie könnte durch einen Unfall gestorben sein?«
»Ich sage, dass die Möglichkeit besteht. Aber wahrscheinlicher ist, dass jemand sie geschlagen und zu Boden gestoßen hat. Direkt unter ihrem linken Auge befindet sich ein Bluterguss.«
Sebastian richtete den Blick wieder auf das Gesicht der toten Frau. Er konnte die schwache Verfärbung im oberen Bereich ihres Wangenknochens sehen. Sie hatte die Größe und Form, die üblicherweise eine Männerfaust hinterlassen würde. »Ist der frisch?«
»Ja. Vermutlich nur Minuten vor ihrem Tod.«
»Es könnte also Totschlag gewesen sein. Jemand hat sie geschlagen, sie ist gestürzt, mit dem Kopf aufgekommen und gestorben.«
»Vielleicht. Es ist allerdings auch möglich, dass ihr jemand ins Gesicht geschlagen, sie niedergestoßen und ihr dann absichtlich den Schädel eingeschlagen hat. Sie hat auch zwei recht frische Brandwunden an den Fingern der rechten Hand. Nicht schlimm, aber sie sind da.«
»Brandwunden?« Sebastian trat näher, beugte sich vor und betrachtete ihre Hand. Die Kuppen ihres Daumens und der ersten drei Finger trugen feine Blasen. »Wovon?«
»Unmöglich zu sagen.«
Er richtete sich langsam wieder auf. »Wie lange, glauben Sie, ist sie schon tot?«
»Zwischen vier und zehn Stunden. Wegen der Kälte ist das nicht sicher zu sagen. Es hängt davon ab, ob sie die ganze Zeit draußen im Schnee gelegen hat oder bis kurz vor unserem Fund an einem warmen Platz festgehalten wurde.«
Sebastian richtete den Blick auf die verletzte Seite von Jane Ambroses Kopf. »War sie sofort tot?«
»Fast, ja. Sie ist nicht die Shepherd’s Lane entlanggelaufen und dann zusammengebrochen, falls Ihr das meint.« Alexi nickte zu einem Regal neben sich, auf dem eine kleine irdene Schale stand. Darin lagen ein schlichter Goldring und das Medaillon, das Sebastian vorher am Hals der Frau gesehen hatte. »Sind das ihre Kinder?«
Mit einem hohlen Gefühl von Traurigkeit ging er hin und griff nach dem Medaillon. Als er es öffnete, sah er zwei lächelnde kleine Jungen von vielleicht zwei und fünf Jahren. »Das weiß ich nicht«, sagte er nach einer Weile mit gepresster Stimme. Er betrachte die ordentlich zusammengelegte Kleidung auf dem Regal daneben. Jane Ambroses Kleid war schwarz, wie ihre blutgetränkte Pelisse. Offensichtlich war sie in Trauer gewesen. Aber als er die Schulter des Kleids berührte, war diese trocken und frei von Blut.
»Ich glaube, dass sie die Pelisse getragen hat, als sie ermordet wurde«, sagte Alexi Sauvage, die ihn beobachtete. »Es war sonst nirgendwo Blut.«
Er schloss das Medaillon mit einem leisen Klicken. »Sobald der Palast erfährt, dass sie tot ist und für eine Autopsie hierher gebracht wurde, werden sie wahrscheinlich jemanden schicken, um die Leiche abzuholen. Sie können es sich nicht leisten, auch nur den Hauch eines Skandals um Prinzessin Charlotte zu riskieren. Das bedeutet, dass sie Sie auch drängen werden, ihnen alle Resultate mitzuteilen, und über alles, was Sie gesehen haben, Schweigen zu wahren. Darauf sollten Sie vorbereitet sein.«
Sie sah ihn mit einem eigenartigen, schmalen Lächeln an. »Ich bin nur eine einfache Hebamme und sehr gut darin, mich dumm zu stellen, wenn ich muss.«
Sebastian nickte und wollte sich abwenden. Sie hielt ihn auf mit den Worten: »Es gibt noch eine Sache, die vielleicht relevant ist, vielleicht auch nicht. Ich glaube, dass ihr Gewalt angetan worden ist. Nicht heute, aber kürzlich. Vielleicht gestern oder vorgestern.«
Sebastian drehte sich um und sah sie überrascht an. »Sind Sie sicher, dass es Vergewaltigung war? Ich meine, manchmal …« Er unterbrach sich, war ärgerlich, weil er so peinlich berührt war und wünschte, Gibson wäre hier.
Die Art, wie sie die Augen verengte, verriet ihm, das sie den Grund für sein Unbehagen bemerkte und auch verstand. »Nicht nur die Abschürfungen legen das nahe. An ihren Handgelenken und Oberschenkeln befinden sich Blutergüsse. Als hätte sie jemand festgehalten und gezwungen. Sie sind älter als der Bluterguss in ihrem Gesicht. Ich würde sagen …«
Sie unterbrach sich, als der auffrischende Wind den Lärm einer fest gegen die Tür von Gibsons Praxis hauenden Faust heran trug. Eine befehlsgewohnte Männerstimme erklang: »Im Namen des Königs, öffnen Sie die Tür.«
***
Hero saß bequem auf einem der gepolsterten, hochlehnigen Stühle neben dem Kamin im Kleinen Salon und betrachtete den kleinen Jungen in ihren Armen. Sein Name war Simon, und er wurde in wenigen Tagen ein Jahr alt. Sie beobachtete, wie das Licht des Feuers über seine unschuldigen, entspannten Züge flackerte, sah, wie er in einer angedeuteten Saugbewegung die Lippen im Traum bewegte, und lächelte. Die Zeit, ihn die Treppe hinauf zu seinem Kindermädchen und ins Bett zu bringen, war längst verstrichen. Trotzdem blieb sie noch.
Sie hielt das Kind immer noch, als einige Minuten später Devlin hereinkam und den Geruch nach kalter Nachtluft und Kohlrauch mit sich brachte. »Ich hoffe, du hast zu Abend gegessen«, sagte er, ging zum Feuer und streckte seine von der Kälte geröteten Hände hin.
»Schon lang. Die Köchin hat etwas für dich aufbewahrt, falls du es noch möchtest.«
»Eigentlich nicht.« Er drehte sich um und betrachtete mit feierlichem Blick ihr Gesicht. Was er sah, schien ihn zu besorgen, denn er fragte: »Geht es dir gut?«
Sie schob sacht das Sabberlätzchen unter das Kinn ihres schlafenden Sohnes. »Ja, aber ich fürchte, ich habe mich gehenlassen. Ich glaube, nichts weckt in uns so sehr den Wunsch, diejenigen, die wir lieben, im Arm zu halten, wie der Anblick plötzlichen Todes.«
Er stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern, und sie spürte das feine Schaudern, das ihn durchlief, als er »Ich weiß« sagte.
Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken, sodass sie zu ihm aufschauen konnte. »Hast du etwas herausgefunden?«
»Nur sehr wenig. Gibson war aus dem Haus, um sich um ein paar Schiffer zu kümmern, die aus dem Fluss gezogen worden sind. Alexi Sauvage hat deshalb allein mit der Autopsie begonnen. Ein Glück. Sie war noch nicht sehr weit, da sind die Männer des Regenten schon aufgekreuzt und haben den Leichnam gefordert.«
»Grundgütiger. Wie hat der Palast denn so rasch von Janes Tod erfahren?«
»Ein Mitarbeiter der Gemeinde hat eine Nachricht hingeschickt. Madame Sauvage konnte nicht eindeutig feststellen, ob Jane Ambroses Tod Totschlag oder Mord war. Aber wenn es Totschlag war, hat sich jemand offenbar ausreichend große Sorgen um die Folgen ihres Todes gemacht, um die Leiche wegzubringen und zu versuchen, es nach einem simplen Unfall aussehen zu lassen. Sie ist nicht allein mitten auf die Shepherd’s Lane gekommen. Nicht mit dieser Wunde.«
»Hat niemand in der Gegend etwas gesehen?«
»Nichts, das sie bereit wären auszusagen. Ich gehe davon aus, dass wir morgen früh in allen Zeitungen lesen werden, wie sie im Schnee ausgeglitten, gestürzt und nach dem Aufprall mit dem Kopf gestorben ist. Der Palast wird die Nachricht nicht durchsickern lassen wollen, dass jemand, der Prinzessin Charlotte nahestand, ermordet wurde.« Natürlich meinte Sebastian mit »der Palast« Heros Vater, Charles Lord Jarvis, den mächtigen, machiavellistischen Mann, der hinter der Regentschaft des schwachen Kronprinzen stand. Aber das brauchte er nicht auszusprechen; Hero kannte ihren Vater besser als jeder andere.
Sie sagte: »Ich habe Jane nie nahegestanden, sie aber sehr bewundert, und ich hätte sie gern näher gekannt. Sie war so strahlend, unglaublich talentiert, so … voller Leben.«
»Hast du sie je bei einem Auftritt gesehen?«
»Nur privat. Sie hat öffentliche Auftritte aufgegeben, als sie siebzehn war.«
»Wie lang ist das her?«
»Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Ich hörte, viele hielten sie für eine noch bessere Pianistin als ihren Bruder, und der war außergewöhnlich brillant.« Die Karriere von Janes Zwillingsbruder James Somerset hatte allzu früh geendet, als er im Alter von zweiunddreißig an der Schwindsucht gestorben war.
»Hast du je darüber nachgedacht«, fragte Devlin ruhig, »wie viele großartige Künstlerinnen, Musikerinnen, Gelehrte und Erfinderinnen unserer Welt im Laufe der Jahrhunderte entgangen sind, nur weil sie als Frauen geboren wurden?«
Sie sah wieder auf, um ihm in die Augen zu blicken, und lächelte. »Oftmals.«
Er zog ein goldenes Medaillon aus der Tasche und ließ es aufschnappen. »Das hier hat sie getragen. Weißt du, ob sie Kinder hatte?«
»Ich glaube, ja.« Vorsichtig, um das schlafende Kindlein nicht zu stören, griff Hero nach dem Medaillon und hielt es in der Handfläche. »Wie schrecklich tragisch.« Sie blickte schweigend eine Weile auf die Miniaturen der beiden rundwangigen, hellhaarigen Kinder. »Ist ihr Ehemann schon benachrichtigt worden?«
»Lovejoy hat sich darum gekümmert.«
Sie sah zu ihm auf, und etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, zu sagen: »Sicherlich denkst du nicht, dass Edward Ambrose selbst sie getötet haben könnte?«
Devlin ging zu einem Tisch neben dem Kamin, wo eine Flasche Brandy zum Temperieren stand. »Ehemänner haben tatsächlich die hässliche Gewohnheit, ihre Frauen zu töten. Laut Alexi hat jemand Jane vor zwei oder drei Tagen mit Gewalt genötigt, und ich würde Geld verwetten, dass es ihr Ehemann war.« Er schenkte sich einen Brandy in ein Glas und sah zu ihr herüber. »Wie eng ist deine Bekanntschaft mit Prinzessin Charlotte?«
Das Kind vorsichtig in den Armen balancierend, stand Hero auf und ging zur Glocke, um nach Simons Kindermädchen zu läuten. »Niemand hat eine enge Bekanntschaft mit Prinzessin Charlotte. Der Regent hält dieses arme Kind in Warwick House gefangen wie Rapunzel in ihrem Turm.«
»Allerdings ist sie kein Kind mehr, oder?«
»Nein. Sie ist Anfang des Monats achtzehn geworden – was allerdings fast niemand mitbekommen hat, weil ihr sie innig liebender Vater den Anlass auf keinerlei Weise begangen hat.«
»Wie charmant.«
»Ich vermute, es kommt daher, dass die Leute sie jedes Mal, wenn sie sich in den Straßen zeigt, ebenso laut bejubeln wie sie den Regenten ausbuhen. Also tut er sein Bestes, um sie zu verstecken.«
Devlin kam wieder zu ihr vor den Kamin, er hielt sein Glas in der einen Hand. »Und da wundert er sich, dass die Leute ihn verabscheuen.«
Simons Kindermädchen Claire erschien, um das schlafende Kindlein zu Bett zu tragen. Hero wartete, bis die Französin gegangen war, dann sagte sie: »Ich kenne eine von Prinzessin Charlottes Hofdamen – Miss Ella Kinsworth. Ich könnte sie morgen früh besuchen. Mal sehen, was sie mir über Jane erzählen kann.«
Devlin trank einen ausgiebigen Schluck Brandy. »Das wäre hilfreich.«
Hero nahm das Glas aus seinen Händen, nippte daran und gab es ihm wieder. »Meinst du, die Prinzessin hat irgendetwas mit dem Tod von Jane Ambrose zu tun?«
»Charlotte selbst nicht. Aber irgendetwas im Leben von Jane hat dazu geführt, dass sie mit eingeschlagenem Kopf mitten auf der Shepherd’s Lane gefunden wurde. Und es lässt sich nicht leugnen, dass ein Königshof ein tödlicher Ort sein kann.«
Kapitel 4
Paul Gibson saß mit gesenktem Kopf auf dem Bettrand und rieb sich eine mit Arnika angereicherte Paste auf den Stumpf seines linken Beins. Eine einzelne Kerze verbreitete ihren schwachen, flackernden Schein in dem kleinen Zimmer. Er hörte in der Ferne einen Nachtwächter rufen: »Es ist ein Uhr in einer verschneiten Nacht, und alles ist ruhig!« Das einzige andere Geräusch kam von dem Schnee draußen, der wie in einem Wolkenbruch herunterfiel.
Der Chirurg war ein schmaler, sehniger Mann, magerer als er sein sollte, und zwar wegen seiner Opiumsucht. Er wusste, dass sie ihn töten würde, wenn er ihrer nicht bald Herr wurde. Früher war sein Haar dunkel gewesen. Jetzt war es zunehmend von Silber durchzogen, obgleich er erst in den Dreißigern war. Er hatte gerade mehrere Stunden um das Leben zweier halbertrunkener, gebrochener Männer gekämpft, aber einer von ihnen war dennoch verstorben. Er fühlte sich müde, alt und nutzlos.
Eine weiche, weibliche Hand legte sich ihm in den Rücken, und trotz seiner betrübten Stimmung musste er lächeln.
»Einen hast du gerettet«, sagte Alexi, die oft besser als er selbst zu wissen schien, was er dachte.
»Und den anderen verloren.«
»Das kommt eben vor.«
»Sollte es aber nicht.«
Sie stieg aufs Bett, ging auf die Knie und legte die Arme um ihn. Sie hielt ihn fest. Er spürte das Gewicht ihrer Brüste durch den dünnen Stoff ihres Nachthemds, als sie sich an seinen vorgebeugten Rücken schmiegte. »Das Kindlein, dem ich heute auf die Welt geholfen habe, wird keine achtundvierzig Stunden überleben.«
Er lehnte den Kopf zurück an ihren. »Und das macht dir nichts aus?«, fragte er mit einiger Bewunderung. Eine Seite an Alexi war für ihn geheimnisvoll – eine harte Seite, die ihm genauso sehr Angst machte, wie sie ihn anzog.
»Auf einer bestimmten Ebene schon. Aber die Mutter des Säuglings hat bereits drei Kinder, die sie nicht satt bekommt, und sie ist selbst so abgemagert, dass die Milch niemals einschießen wird. Lady Devlin hat der Frau Geld gegeben, aber das wird nicht reichen. Vielleicht ist es besser, wenn das Kind jetzt stirbt – schnell –, anstatt länger dahinzusiechen.« Alexi machte in ihrer Kehle einen ärgerlichen Ton, als das Temperament ihre Stimme rau und ihren französischen Akzent stärker werden ließ. »Und unser charmanter Prinzregent hat keine Schwierigkeiten damit, Geld auszugeben, um seine Geliebten in Juwelen zu hüllen oder seine verschiedenen Paläste Jahr für Jahr umbauen zu lassen.«
Gibson verspürte eine vage Beunruhigung. Über solche Dinge sprach sie nicht oft. Aber nachdem er nun ein Jahr das Bett mit dieser Frau geteilt hatte und seinen Alltag mit ihr verlebte, war ihm klargeworden, dass sie die britische Monarchie fast genauso verabscheute wie Napoleon und sein Kaiserreich – und das aus ein- und demselben Grund: weil sie im Herzen eine leidenschaftliche Republikanerin war.
Und dann, da sie immer wusste, was er dachte, neigte sie den Kopf und kitzelte ihn im Nacken. »Mach dir keine Sorgen. Ich war außerordentlich bescheiden und respektvoll, als die Männer des Prinzen kamen, um den Leichnam von Jane Ambrose abzuholen.«
»Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«
»Umso besser, dass du nicht da warst. Du hältst dich gern für klug und besonnen. Aber in Wahrheit hast du selbst einen sturen Wesenszug.«
Grummelnd legte er die Paste beiseite und rappelte sich auf, um zu dem Waschbassin zu hüpfen und sich die Hände zu waschen.
Sie beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Und obschon er nicht annähernd so vorausahnend war wie sie, wusste er schon, was sie gleich sagen würde. »Dein Bein tut weh.«
»Der Stumpf? Aye.« Er sprach mit seinem stärksten irischen Akzent. »Aber nich annähernd so wie der Fuß, wo nich da is.«
»Ich könnte etwas dagegen tun«, sagte sie.
Er lächelte sie schief an. »Mit deinem Rauch und deinen Spiegeln?«
»Kein Rauch. Nur Spiegel.« Als er schwieg, sagte sie: »Warum sollen wir es nicht versuchen? Wenn es nicht klappt, kannst du sagen: ›Es hat nicht geklappt.‹ Aber es könnte klappen.«
Er antwortete nicht, weil sie das alles schon mehrfach durchhatten, und in Wahrheit fürchtete er ebenso sehr, dass es funktionierte, wie er fürchtete, dass es nicht funktionierte.
Sie lächelte leicht auf eine Art, die ihm verriet, dass sie seine Gründe nur zu gut kannte, und griff mit den Händen nach ihrem Nachthemd, um es sich über den Kopf zu ziehen.
»Dir wird kalt werden«, sagte er, obwohl ihn die Hitze der Lust schon durchlief.
Sie schüttelte ihr feuriges Haar zurück und streckte verführerisch den Hals zur Seite. »Dann komm und halte mich warm.«
Kapitel 5
Freitag, 28. Januar
Kurz vor dem Morgengrauen wurde der Schneefall weniger. Ein heulender Wind kam von Norden her auf, und die Temperaturen fielen sogar noch mehr.
London erwachte in einer gelähmten, weißen Welt. Ladenbesitzer und Diener waren früh auf, um den Schnee von den Bürgersteigen vor ihren Anwesen zu kehren, aber die Straßen blieben hoffnungslos verstopft. Sebastian warf nur einen Blick auf die Schneewehen, die die Brook Street blockierten, und beschloss, zu Fuß zur Bow Street zu gehen.
»Habt Ihr die Zeitungen gesehen?«, fragte Sir Henry Lovejoy, als die beiden Männer sich in einem belebten Kaffeehaus unter einer der alten Arkaden am Covent Garden Market trafen. In der Luft hing dicht der Geruch nach geröstetem Kaffee, heißer Schokolade und nasser Wolle.
»Die Morning Gazette hat es als einzige bis nach Mayfair geschafft«, sagte Sebastian und rutschte auf die altmodische, hochlehnige Bank gegenüber dem Magistraten. »Aber ich nehme an, es steht in allen das Gleiche.«
Lovejoy nickte. »Der Palast hat mitgeteilt, dass Jane Ambrose in den vereisten Straßen ausgerutscht ist und sich den Kopf eingefallen hat.«
»Das ist weniger sensationsträchtig als die Version mit den Straßenräubern, schätze ich.«
»Entschieden.« In brütendem Schweigen nippte Lovejoy an seiner heißen Schokolade, dann sagte er: »Gestern Abend hat mir zu später Stunde ein gewisser Major Burnside einen Besuch abgestattet.«
Sebastian kannte den Major, der in der Legion ehemaliger Soldaten, Spione, Informanten und Assassinen eine entscheidende Rolle spielte, die der mächtige Vetter des Regenten, Lord Jarvis unterhielt, um dessen Position zu sichern. »Und?«
Der Untersuchungsrichter setzte seine Tasse mit äußerster Vorsicht ab und räusperte sich. »Ich werde versuchen, Euch in dieser Sache auf jede mir mögliche Weise beizustehen. Aber offiziell sind mir die Hände gebunden.«
Sebastian sah seinem besorgten Gegenüber in die Augen. »Ich verstehe.«
Auf dem Platz draußen erscholl ein lautes Klappern, gefolgt von einem Ruf. Normalerweise schallte um diese Morgenstunde in Covent Garden eine Kakophonie aus Rufen von Käufern und Verkäufern, deren Stände von Obst und Gemüse überquollen, die auf dem Land gekauft worden waren und hier an die Ladenbesitzer und Straßenhändler verkauft wurden, die sich mit der Ware dann über ganz London verteilten. Aber es tröpfelte nur so wenig Ware in die Stadt, dass viele der Stände nicht einmal geöffnet hatten.
Sebastian fragte: »Haben Sie mit Jane Ambroses Ehemann gesprochen?«
»Ja, gestern Abend. Er wirkte gleichermaßen schockiert wie auch entsetzt vom Tod seiner Gattin. Aber waren die beiden Emotionen echt?« Lovejoy seufzte. »Das kann ich ehrlich nicht sagen. Etwas an seiner Reaktion hat für mich nicht ganz gestimmt, aber ich kann nicht den Finger darauf legen.«
»Sagte er, wo seine Frau gestern war?«
»Nein. Es fiel ihm schwer, überhaupt von ihr zu sprechen, und er entschuldigte sich dafür, dass er verstört und deshalb kaum hilfreich sei. Ich sagte ihm, dass Ihr Interesse an dem Fall habt. Vielleicht habt Ihr heute mehr Erfolg bei ihm.«
»Wenn er sich nicht mit Laudanum in die Gleichgültigkeit befördert hat.«
Lovejoy nickte. »Gibson ist sich ganz sicher, dass die Frau ermordet wurde?«
»Es war entweder Mord oder Totschlag«, sagte Sebastian. »Aber auf jeden Fall hat jemand ihre Leiche bewegt.« Er sah keine Notwendigkeit, die Tatsache auszusprechen, dass Jane Ambroses überstürzte Autopsie in Wirklichkeit von einer Französin ohne Lizenz durchgeführt worden war.
Lovejoy lehnte sich mit den Schultern an das hohe Rückenteil der Bank und runzelte die Stirn. »Warum hat er die Leiche in der Shepherd’s Lane gelassen, das frage ich mich.«
»Um jemand anderen verdächtig zu machen, vielleicht? Jemanden, der in der Gegend wohnt?«
Lovejoy dachte darüber nach. »Ja, das ist sicherlich eine Möglichkeit.«
»Was wissen Sie über Edward Ambrose?«
»Tatsächlich nicht viel. Aber ich habe einen der Männer beauftragt, ihn zu überprüfen. Dagegen sollte der Palast keine Einwände haben.«
»Vor allem, wenn sie nichts davon erfahren«, sagte Sebastian.
Lovejoy lächelte nur selten. Aber Sebastian glaubte, einen Hauch von Belustigung in den ernsten Augen des kleinen Magistraten zu sehen, bevor er zur Seite blickte. »Meine Männer können sehr diskret sein.«
***
Der Schnee wurde wieder stärker, als Sebastian über den halbleeren Markt voller Schneewehen zu Edward und Jane Ambroses Haus am Soho Square ging.
Der Platz, der aus der Zeit Charles’ II stammte, war einst bei Herzogen und Grafen und sogar bei George II, als er noch Prince of Wales gewesen war, beliebt gewesen. Mit der Erbauung neuer Wohnviertel wie Grosvenor und Cavendish Square waren die meisten adligen Anwohner von Soho westwärts gezogen. Es war aber immer noch Heimat mehrerer Honoratioren außer Ambrose, darunter Sir Joseph Banks und Franz Schmidt.
Das kleine, gepflegte Haus der Ambroses stand an der Seite des Platzes, an der früher die elegante Residenz des unglückseligen königlichen Bastards Duke of Monmouth gestanden hatte. Auf Sebastians Klopfen öffnete ein junges Hausmädchen mit blassem Gesicht und großen braunen, von Tränen geschwollenen Augen. Als Sebastian ihr seine Karte reichte, schniefte sie und sagte: »Oh, Mylord, Mr Ambrose sagte, ich soll Euch gleich zu ihm führ’n.« Sie ging ihm voran zu einem eleganten Kleinen Salon, in dem Edward Ambrose vor einem kalten Kamin stand.
Er sah mitgenommen und ausgezehrt aus, als hätte er in dieser Nacht nicht viel geschlafen. Er war ein großer Mann, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als seine verstorbene Gattin, und überraschend muskulös. Seine Züge waren gleichmäßig und attraktiv, sein goldenes Haar begann gerade erst, an der hohen Stirn schütter zu werden. Der Sohn eines verarmten Priesters aus Middlesex hatte als Theaterschreiber nur wenig Erfolg gehabt, bis um die Jahrhundertwende herum seine Oper Lancelot and Guinevere die Stadt im Sturm eroberte. Er schrieb immer noch gelegentlich ein Stück, aber keines war so erfolgreich wie seine Opern, die immer begeistert aufgenommen wurden.
Er stand vor dem Kamin und blickte auf ein großes Gemälde darüber. Sebastian folgte seinem Blick und erkannte, dass es ein Porträt von Jane Ambrose und wohl ihren beiden Kindern aus dem Medaillon war.
»Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte Sebastian, als Ambrose sich umdrehte. Seine Züge waren von der Trauer gezeichnet. »Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust.«
Ambrose nickte und schluckte hart, als wäre er zu mitgenommen, um zu antworten. »Bitte, setzt Euch«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. »Man sagte mir, dass Lady Devlin und eine Freundin Janes Leichnam gefunden haben. Wie furchtbar für sie. Ich hoffe, die Damen sind wohlauf.«
»Ja, danke«, sagte Sebastian und setzte sich auf einen der edlen Stühle im neoklassizistischen Stil der Architektenbrüder Adams. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, wenn Sie erlauben?«
Ambrose blieb stehen. »Gewiss. Ich werde helfen, so gut ich kann.«
»Können Sie mir sagen, wann Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen haben?«
»Gestern Vormittag.« Ambrose hob eine Hand und rieb sich in einer verwirrten Geste über die Stirn. »Beim Frühstück.«
»Wissen Sie, wie sie den Tag verbringen wollte? Hat sie das gesagt?«
Er nickte knapp. »Montags und donnerstags gehörte sie am Vormittag immer der Prinzessin.«
»War sie auch gestern bei Prinzessin Charlotte?«
Ambrose sah leicht verwirrt drein, als ob ihn die Frage überraschte. »Ich nehme es an. Ich meine, sicher weiß ich es nicht, aber … wieso nicht? Die Schneemassen wurden erst am späten Nachmittag so besorgniserregend.«
»Wohin wäre sie nach der Unterrichtsstunde bei der Prinzessin gegangen?«
»Ich habe sie zu Hause erwartet.«
»Aber sie ist nicht nach Hause gekommen?«
»Ich glaube, nein. Keiner der Dienerschaft hat sie gesehen.«
»Sie waren nicht hier?«
»Doch. Aber ich arbeite am Libretto für eine neue Oper. Derzeit macht es mich wahnsinnig – aber das ist in diesem Stadium normal.« Er verzog die Lippen fast zu einem Lächeln. Dann lächelte er richtig, aber es sah schmerzvoll aus. »Jane weiß – wusste –, dass sie mich in diesem Zustand am besten in Ruhe ließ. Ich habe mich in der Bibliothek eingesperrt.«
»Waren Sie nicht beunruhigt, als sie zum Abend nicht zurück war?«
»Nicht allzu sehr, nein. Jane hat ihr eigenes Leben geführt. Ich überwache – überwachte – ihre Aktivitäten nicht streng. Erst als mir auffiel, dass es sehr spät war, habe ich überhaupt daran gedacht. Und dann bin ich davon ausgegangen, dass sie beschlossen hatte, irgendwo zu bleiben und abzuwarten, bis der Sturm vorbei wäre. Gott steh mir bei, ich war sogar etwas verärgert, weil sie sich nicht die Mühe machte, mir eine Nachricht schicken zu lassen, dass sie später käme.«
»Haben Sie irgendeine Vorstellung, was Ihre Frau gestern in Clerkenwell vielleicht getan hat?«
»Nein. Ich habe verstanden, dass sie dort gefunden wurde, aber ich kann mir nicht vorstellen, weshalb sie dorthin gefahren sein sollte.«
»Was glauben Sie, wer sie getötet hat?«
Ein Zucken glitt über die Züge des Schriftstellers, und er schüttelte knapp den Kopf. »Der Untersuchungsrichter, der letzten Abend hier war – Sir Henry – deutete an, sie sei ermordet worden. Aber in allen Zeitungen steht heute Morgen, dass sie gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen ist.«
»Im Hinblick auf ihre Verbindung zu Prinzessin Charlotte«, sagte Sebastian, »verstehen Sie aber, warum das so ist, nicht wahr?«
Ambrose sah ihm in die Augen. Dann blickte er weg und nickte schweigend.
Sebastian sagte: »Kennen Sie irgendjemanden, der Ihre Frau lieber tot gesehen hätte?«
»Jane? Großer Gott, nein.«
»Niemand?«
»Nein.«
»Können Sie mir mehr von ihr erzählen?«
»Was gibt es da zu erzählen? Sie war eine brillante, schöne, talentierte Frau. Wieso sollte jemand so eine Person töten wollen?«
Sebastian warf erneut einen Blick auf das Porträt von Jane Ambrose über dem Kamin. Sie hielt den kleineren Jungen – auf diesem Bild noch ein lachendes Kleinkind von vielleicht anderthalb Jahren – auf dem Schoß, und der nachdenklichere größere Junge lehnte am Knie seiner Mutter. Anstatt den Betrachter anzuschauen hatte Jane den Kopf gedreht und war ganz auf ihre Kinder konzentriert. Ein sanftes, liebevolles Lächeln zeichnete ihre Züge weich. Es verstörte Sebastian zutiefst, diesen Einblick zu bekommen, wie sie einst gewesen war – so warm und voller Leben und Liebe –, und sich dann daran zu erinnern, wie er sie zuletzt gesehen hatte, ein kalter, blutiger Leichnam auf einer Steinplatte im Autopsieraum eines Chirurgen. Und eine mächtige Wut erwachte in ihm auf denjenigen, der ihr die Zukunft gestohlen und sie nur als Erinnerung zurückgelassen hatte.
»Ihre Kinder?«, fragte Sebastian und hatte Mühe, seine Stimme fest zu halten. Ambrose folgte seinem Blick. »Ja.« Er sog heftig den Atem ein, sodass sich seine Brust hob. »Es wurde vor sieben Jahren gemalt. Sie sind beide tot. Benjamin haben wir im Sommer verloren und Lawrence im November.«
Herrje, dachte Sebastian, und ihm tat das Herz weh angesichts der tragischen Verluste dieses Mannes. »Das tut mir sehr leid.«
Ambrose rieb sich mit einer Hand über das Gesicht und nickte.
Sebastian sagte ruhig: »Hatte Ihre Frau noch Familie?«
»Nein, nicht wirklich. Jane hat ihre Mutter verloren, als sie noch sehr jung war, während ihr Vater vor ungefähr zehn Jahren verstorben ist – nicht lang nach Janes Zwillingsbruder James. Und ihre Schwester Jilly ist vor zwei Jahren gestorben. An der Schwindsucht, genau wie James. In der Familie liegt anscheinend eine gefährliche Neigung zu dieser Krankheit.«
»Seit wann diente Jane als Prinzessin Charlottes Klavierlehrerin?«
Ambrose sah nachdenklich drein. »Das müssen schon neun oder zehn Jahre sein, mindestens. Warum?«
»Also kannte sie die Prinzessin gut?«
»Ja. Aber sicherlich denkt Ihr nicht, ihr Tod könne etwas mit Charlotte zu tun haben?«
»Zu diesem Zeitpunkt weiß ich es noch nicht. Hat sie viel über die Prinzessin gesprochen?«
»Eigentlich nicht. Man bleibt nicht lang bei der Prinzessin, wenn man über sie spricht – oder sich auch nur zu sehr mit ihr anfreundet. Wenn es nach Prinny ginge, würden sich nur Taubstumme, die sie hassen, um das arme Mädchen kümmern.«
Die blanke Wut in der Stimme des Mannes überraschte Sebastian nicht. Nur wenige Menschen, die mit dem Prinzregenten Kontakt hatten, verspürten keine solchen Gefühle, die von Verachtung bis zu Ekel reichten. »Wen hat Ihre Frau sonst noch unterrichtet?«
Ambrose runzelte die Stirn. »Sie hat über die Jahre verschiedene Schülerinnen gehabt. Aber auf Anhieb fällt mir nur Anna Rothschild namentlich ein.«
Sebastian spürte einen Anflug von Interesse. »Die Tochter von Nathan Rothschild, dem deutschen Bankier?«
»Ja. Jane unterrichtet Anna inzwischen seit drei oder vier Jahren. Oder zumindest hat sie das bis vor einigen Wochen getan; dann hat Rothschild sie plötzlich entlassen.«
»Er hat sie entlassen? Wissen Sie, warum?«
»Nein. Ich weiß nur, dass Jane außergewöhnlich empört war. Rothschilds Tochter Anna ist eine talentierte Pianistin, und Jane war enttäuscht, sie als Schülerin zu verlieren. Obgleich …« Ambrose brach ab.
»Obgleich?«, hakte Sebastian nach.
Ambrose atmete stark ein, sodass sich seine Nasenflügel blähten. »Sie weigerte sich, darüber zu sprechen – sie wurde sogar wütend, als ich versuchte, sie auszufragen. Aber um ehrlich zu sein, würde ich sagen, dass sie mehr als empört oder enttäuscht war. Sie hatte Angst. Bitten Sie mich nicht, es zu erklären, denn das kann ich nicht. Aber das ist das einzige Wort, mit dem ich es bezeichnen kann. Ich weiß nicht, warum, aber Jane war auf jeden Fall verängstigt.«