Leseprobe Die Sehnsucht einer neuen Zeit | Eine historische Familiensaga

1. Kapitel

Charlotte

Dachte Charlotte später an den 13. Februar des Jahres 1967 zurück, kämpften Wut und Ärger gegen die Erleichterung in ihr. Denn von diesem Tag an änderte sich alles. Charlotte eilte die Wallgasse hinab in Richtung des Kaufhauses KAWA. Gleich nach dem Schulabschluss hatte sie hier ihre Lehre absolviert und war danach im KAWA geblieben. Wo denn auch sonst, wenn nicht im Betrieb der Familie? Tante Katharina beschäftigte in ihrem Kaufhaus die meisten Familienmitglieder.

Sie hastete weiter. Obwohl sie Handschuhe trug, steckte sie die Hände in ihre Manteltaschen. Dieser Februar war der kälteste, den sie bis jetzt erlebt hatte. Die Äste der Linden im Park waren schneebedeckt, ja selbst der Himmel schien mit einer weißen Eisschicht überzogen zu sein. Charlotte schauderte. Nicht einmal ihr gefütterter Mantel wärmte sie, aber schick war er allemal. Sie schaute an sich herab. Eine eigene Kreation. Er war schwarz-weiß kariert und schmal geschnitten, kragenlos, einzig eine schwarze Schleife hielt ihn am Hals zusammen. Ein Stück ihrer ersten Entwürfe und die Kundinnen schienen ihn zu mögen. Was war sie stolz gewesen, als ihre damalige Kollektion herausgekommen war, und genauso arg hatte sie befürchtet, dass es eine Eintagsfliege bliebe. Aber wie es aussah, verkaufte sie sich gut.

Die Glocken des Stifts Haug schlugen acht Uhr. Es blieb noch Zeit, bis sie mit Tante Sophia die neusten Entwürfe durchgehen würde. Als sie beinahe die Ecke des Kaufhauses erreichte, hielt ein Auto neben ihr – Katharinas Sportflitzer. Ihre Tante stieg aus, winkte ihr und holte ihre Handtasche aus dem Wageninneren.

Charlotte musterte ihre Umgebung. Die Reaktionen der Passanten ähnelten sich jedes Mal, wenn Katharina auftauchte. Die Leute blieben kurz stehen und starrten ihre Tante an, als wäre sie die Königin der Stadt, bevor sie sie grüßten. Charlotte unterdrückte ein Grinsen. Katharina war ein Mensch wie jeder andere. Auch ihr standen nach dem Aufstehen die Haare zu Berge, sie gähnte manches Mal ohne die Hand vor den Mund zu halten und lachte schallend über alberne Witze. Und doch schienen die Menschen sie zu bewundern. Auch jetzt genoss ihre Tante die Aufmerksamkeit. Wie immer grüßte sie lächelnd zurück und hakte sich bei Charlotte unter. Dann hielten sie beide inne.

Ein Mann stellte sich ihnen in den Weg und knipste Fotos von Katharinas Auto. Ein Wunder, dass der Wagen nicht bereits gestern fotografiert worden war, als ihre Tante ihn der Familie gezeigt hatte. Zugegeben, vor der heimischen Villa machte sich der rote Sportflitzer gut. Ein Porsche, schnittig, wie alle fanden, und er passte zu Katharina wie die edlen Lederstiefel und die passende Handtasche.

Charlotte selbst träumte eher von einem kleinen Auto, mit dem sie nicht so stark auffiel. Der Rummel um das Kaufhaus nervte genug wie auch die gesellschaftlichen Anlässe, zu denen sie eingeladen waren und wo erwartet wurde, dass möglichst viele aus der Familie sie besuchten. Aber für Katharina gehörte das ganze Brimborium zu ihrem Leben wie die Sahne zur Torte.

Charlotte zog ihre Tante weiter, doch die blieb stehen. Wie so oft musterte sie den Reporter, zog eine Braue hoch und räusperte sich. Der hob gleich die Kamera und richtete sie auf sie beide. Charlotte trat sofort zur Seite. Fehlte nur noch, dass sie sich auf einem Foto neben dem Sportwagen in der Zeitung fand! Lieber überließ sie es Katharina, sich in Pose zu werfen. Ihre Tante neigte den Kopf zur Seite und lächelte. „Ist mein neues Auto derart spannend?“

Der Mann senkte die Kamera und zog einen Ausweis aus der Manteltasche, den er ihnen vor die Nase hielt. „Schuster, vom Fränkischen Volksblatt.“ Er steckte den Ausweis weg. „Frau Wagner, äh, ich meine Frau Weiß, ist der Sportwagen ein Geburtstagsgeschenk? Von wem? Warum diese Marke?“ Katharina schwieg, ließ den Mann stehen und ging dann endlich in Richtung Kaufhaus mit. Da rannte der Reporter ihnen nach und fasste Charlotte am Arm. „Bitte, Fräulein Schmidt, sagen Sie mir wenigstens …“

Also blieben sie stehen. Charlotte starrte auf die Hand des Mannes auf ihrem Arm, bis der sie zurückzog. Dann hob sie das Kinn und schob sich an ihm vorbei. Die Leute von der Zeitung konnten ihr gestohlen bleiben. Das war Katharinas Feld. Doch diese drehte sich weg, ging mit ihr weiter und sie ließen den Mann erneut stehen.

Zusammen traten sie vor die Eingangstür des Kaufhauses. Dort hielten sie inne und schauten nach oben zu dem Schild über der Tür, auf dem in großen Lettern KAWA stand, gerade so, als grüßten sie damit das Kaufhaus. Charlotte lächelte. „Ich weiß noch, als ich am ersten Tag meiner Lehrzeit ins Geschäft wollte und mich Mama am Eingang festhielt und nach oben zum Schild zeigte.“

Katharina grinste. „So viel Zeit muss sein, um einen Blick darauf zu werfen.“

Charlotte fühlte mit ihr. Immerhin war es Katharinas erstes Schild und hing seit über zwanzig Jahren über dem Eingang; Opa Heinrich hatte es anfertigen lassen. Katharina erzählte gerne, wie sie es unter den Trümmern nach der Bombardierung Würzburgs gefunden und nach dem Krieg wieder aufhängen hatte lassen. Die Lettern waren die Anfangsbuchstaben von Katharinas Vor- und Nachnamen, also ihrem Mädchennamen, denn nach dem Krieg hatte sie Onkel Joseph geheiratet und von da an hieß sie nicht mehr Wagner, sondern Weiß. Das Schild ließ sie dennoch nicht ändern. Oft wurde sie auch noch mit Frau Wagner angesprochen, was Katharina nie zu stören schien.

Als sie durch die Tür traten, blieb Katharina stehen, drehte sich im Kreis und breitete die Arme aus. „Und? Was meinst du?“

Charlotte stöhnte leicht auf. „Ich habe dir doch meine Meinung gesagt. Ich würde die Kosmetikabteilung in jedem Fall hier unten lassen, weil ich es gut finde, wenn die Parfumdüfte die Kundinnen sozusagen willkommen heißen, neben den Haushaltswaren und denen der Handarbeit.“

Charlotte grüßte mit einem Nicken den Schuster auf der linken Seite und daneben den Schlosser, der gerade mit einer Reparatur beschäftig war.

Katharina strich sich durchs Haar. „Joseph will das auch so belassen. Aber ich weiß nicht, ob es nicht sinnvoller ist, die Damenabteilung vom ersten Stock ins Erdgeschoss zu verlegen. So können die Kundinnen und Kunden rasch auf einen Sprung hereinschauen und etwas mitnehmen, wozu sie sonst eben nach oben müssen.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Eine Kleinigkeit kauft man im Vorbeigehen, etwas wie Nähgarn oder Wolle zum Stricken, aber nicht Bekleidung. Dafür nimmt sich jede Frau Zeit und steigt gerne eine Treppe hoch.“

„Dennoch! Das Leben hat sich verändert.“ Katharina runzelte die Stirn. „Jetzt haben die Kunden Zeit und Geld für Sachen, die eben nicht lebensnotwendig sind.“ Sie deutete mit dem Kinn zur Tür. „Bei unserer Konkurrenz findest du die Damenabteilung im Erdgeschoss.“

„Ich weiß. Aber die bieten ja auch ausschließlich Kleidung an, keine Kosmetikartikel“, Charlotte zählte an den Fingern ab, „kein Geschirr, keine Elektrosachen, Schreibwaren, Bücher, Geschenkartikel, Handtaschen oder Schmuck.“

Katharina hob die Hände. „Schon gut. Mag sein, dass du und Joseph recht haben.“ Sie zuckte die Schultern. „Sophia möchte natürlich die Damenbekleidung nach unten verlegen. Sie ist immer für Experimente zu gewinnen, und Mode ist ihr am wichtigsten.“

Charlotte nickte. „Tante Sophia ist die Künstlerin in der Familie und mein Vorbild. In dem Punkt gebe ich ihr aber nicht recht.“

Sie schritten durch die Kosmetikabteilung, rochen die unterschiedlichsten Parfumdüfte, grüßten die Verkäuferinnen, die ihnen einen guten Morgen wünschten, gingen durch die Lederwarenabteilung, deren Duft nach Leder Charlotte liebte, und stiegen die Treppen hinauf zu dem Bürotrakt. Als sie Katharinas Büro betraten, schlug ihnen eiskalte Luft aus dem weit geöffneten Fenster entgegen. Rasch schloss ihre Tante es. „Hier ist es ja kalt wie in einem Kühlschrank.“

Aus dem kleinen Nebenzimmer kam ihnen Sophia entgegen. „Das hält uns wach.“ Sie rieb sich die Hände und wandte sich an Charlotte. „Ich bin auf deine Entwürfe gespannt.“ Sie machte eine einladende Handbewegung ins Nebenzimmer.

Charlotte lächelte. Wie immer kam Sophia gleich zur Sache. Sie war die mittlere der drei Schwestern, zwei Jahre jünger als die 56-jährige Katharina und glich mit ihrem blonden Haar weder der braunhaarigen Katharina noch Charlottes Mutter mit deren schwarzem Haar.

Sie folgten der Aufforderung Sophias und traten ins Nebenzimmer, das ein großer Tisch einnahm neben zwei kleinen Schreibtischen, an denen Sophia und Charlotte ihre Ideen entwickelten. Katharina schloss die Tür hinter ihnen. „Wenigstens ist es hier drinnen warm.“

Charlotte verteilte ihre Zeichnungen auf dem großen Tisch. Ihr Herz schlug so schnell wie das Schlagzeug der Rolling Stones und ihre Hände zitterten. Es waren nicht ihre ersten Entwürfe, aber dieses Mal hatte sie einiges gewagt. Einmal hatte sie die Rocklänge bei ihren Entwürfen gekürzt, zum anderen zu mehr Farbe gegriffen. Als sie im Herbst am Mainufer spazieren gegangen war, hatte sie das Wasser des Flusses im Kontrast zum blassen Himmel betrachtet, dann aber die bunten Blätter auf den Bäumen und dem Boden. Davon inspiriert zeichnete sie schwarze Kostüme und knallrote oder sonnengelbe Blusen darunter. Sie sammelte ihren Mut und wartete noch einen kurzen Augenblick.

Was, wenn Katharina ihre Ideen in den Papierkorb stampfen würde? Klar unterschieden sich ihre beiden Geschmäcker. Aber, mein Gott! Sie selbst wusste eben, was den jungen Menschen gefiel. Sie drückte den Rücken durch, räusperte sich, nahm sich einen Bleistift, an dem sie etwas Halt suchte, und deutete damit von einem Blatt zum nächsten. „Mir ist wichtig, dass in der kommenden Saison die Kleider maximal am Knie enden und eng anliegen.“ Sie warf einen Blick zu Katharina. Ihre Tante war gegen die neue Kürze, gegen den Minirock, der sich im Ausland durchsetzte und in Höhe der Oberschenkel endete. Anders als Sophia, die überzeugt davon war, dass er sich auch hierzulande verkaufen würde. Aber Katharina hatte bei allem das letzte Wort. Hoffentlich erklärte sie sich wenigstens mit dieser Rocklänge einverstanden, die Charlotte vorschwebte, nämlich in Höhe der Knie. Tat sie das nicht, waren die Entwürfe nichts wert.

Charlotte fuhr fort. „Weil die Blusen und Röcke eng anliegen, finde ich, dass sie einen Kontrast brauchen. Daher möchte ich kastenförmige Jacken anfertigen, und zwar so weite, dass sie wie eine Nummer zu groß wirken, ebenso auch weite Mäntel. Schlüpft die Frau aus ihnen heraus, soll jeder an ihr die Eleganz des Kleides bewundern.“

Das waren Stücke, die sie selbst gerne tragen würde, ob sie nun den Tanten gefielen oder nicht.

„Sehr schön.“ Sophia nahm jedes Blatt vorsichtig auf, betrachtete es wie etwas Kostbares und legte es sorgfältig zurück. Katharina hatte die Hände am Rücken gekreuzt und schaute Charlotte in die Augen. So war es immer. Sie wartete ab.

„Weiter möchte ich unbedingt weg vom Pastell“, fuhr Charlotte fort. „Farbe muss her! Und zwar im Kontrast zu Schwarz. Stellt euch ein knallgelbes Kleid unter einem schwarzen Mantel vor! Oder eben, wie ihr seht, eine weiße Bluse mit schwarzem Bund zur engen schwarzen Hose kombiniert. Dazu passen in erster Linie Ballerinas oder flache Stiefel, zu den Kostümen gerne ein Schuh mit einem Absatz von höchstens vier Zentimetern.“

Sie atmete aus und wartete. Am liebsten wäre sie auf und ab gelaufen, aber Sophia hatte sie stets gemahnt, ruhig zu bleiben und hinter ihren Ideen zu stehen. Katharina betrachtete nun doch jeden einzelnen Entwurf genauer. Charlotte hielt die Luft an. Was würde passieren? War ihre Arbeit umsonst gewesen oder stimmte Katharina endlich ihren Ideen zu?

Die richtete sich auf, lächelte und klatschte in die Hände. „Das gefällt mir außerordentlich gut. Gerade bei den jungen Leuten werden deine Sachen reißenden Absatz finden. Aber wo sind die ganz kurzen Röcke abgeblieben?“

Charlotte zuckte die Schultern. „Du warst doch gegen sie. Willst du sie nun doch in die Kollektion aufnehmen?“

Ihre Tante nickte. „Natürlich. In Berlin reißen die jungen Leute sie den Verkäufern aus den Händen.“ Charlotte lächelte. Katharinas Besuch in Berlin vor zwei Wochen war offensichtlich nicht ohne Spuren geblieben. Mode ließ sich nicht aufhalten und dort zeigte Frau wohl mehr Haut, ging selbstbewusster mit sich und ihrem Körper um. Davor verschloss sich ihre Tante anscheinend nicht mehr. Sie war immer noch eine Geschäftsfrau mit Weitsicht; bereit, sich zu entwickeln und anzupassen.

„In den Filialen in Nürnberg und Stuttgart haben die Kundinnen schon danach gefragt“, fuhr Katharina fort. „Joseph verhandelt gerade mit jemandem in Frankfurt, wie ihr wisst, und rief gestern an, dass dort diese Rocklänge sehnlichst erwartet wird.“

Sophia zog eine Mappe aus einer Schublade ihres Schreibtisches, alles Entwürfe von Charlotte, und drückte Katharina einen Stapel Zeichnungen in die Hand, die diese nacheinander durchblätterte. Dabei schaute ihr Charlotte über die Schulter und kommentierte sie. „Dazu sehen Stiefel prima aus, aber auch flache Schuhe. Bei hohen wirkt das Ganze geschmacklos und nicht mehr rebellisch und frei.“

„So ist das.“ Katharina grinste. „Rebellisch und frei.“

Sophia nickte. „Ein prima Gefühl.“

Charlotte stimmte ihrer Tante zu. Opa Heinrich nannte Tante Sophia stets die Rebellin der Familie. Ob es daran lag, dass sie nie geheiratet hatte? Zwar hatte sie mit ihrem Freund die gemeinsame Tochter Emilia großgezogen, aber sich zu binden, kam eben für Sophia nicht infrage.

Katharina stieß die Luft aus. „Gut, wir setzen das alles um!“

Meinte sie das ernst? Mochte sie die Miniröcke auf einmal? Wie lange war sie ihrer Tante damit in den Ohren gelegen und jedes Mal hatte die den Kopf zu ihren Entwürfen geschüttelt. Und auf einmal stimmte sie allem zu! Charlotte durfte alles umsetzen! Unglaublich! In ihrem Bauch kribbelte es. Am liebsten wäre sie hochgesprungen. „Du wirst sehen, die Röcke werden sie lieben.“

„Damit steht die Kollektion für die Frauen.“ Katharina wand sich an ihre Schwester. „Wie sieht die Abendmode aus, und wie die für die Männer?“

Das war Sophias Aufgabe, aber sie hatte alles mit Charlotte durchgesprochen. Die Abendkleider ähnelten den Ideen Charlottes, und die Anzüge der Männer waren ebenso schmal geschnitten wie die Kleider der Damen. Sophia würde Katharina alles vorlegen und mit ihr besprechen. Dazu brauchten sie sie nicht, also verabschiedete sich Charlotte. „Ich werde jetzt zum Versand fahren, Mama beim Abschluss helfen.“ Vor allem aber würde sie ihrer Mutter erzählen, wie gut ihre Entwürfe Katharina gefielen.

Die legte ihr die Hand auf den Arm. „Warte! Ich habe ein Geschenk für dich.“

„Ich bin letzten Samstag dreiundzwanzig geworden und ihr habt mich reichlich beschenkt.“

„Ich weiß. Aber vom Geschäft hast du noch nichts bekommen.“

Sophia räumte den Tisch für ihre Entwürfe frei und zwinkerte ihr zu. „Grüß Maria von mir, ich muss sie demnächst kurz sprechen.“

Charlotte nickte. „Ich werde es ihr sagen.“

Wieder einmal wunderte sich Charlotte. Ihre Mutter Maria war die jüngste der Schwestern, doch Katharina und auch Sophia fragten sie oft um Rat, gerade, was das Geschäft anging, aber auch in privaten Belangen. Mama wurde von allen geschätzt. Ihren Papa liebte Charlotte ebenso. Er leitete den Versandhandel, aber sein wirkliches Talent lag darin, ein prima Papa zu sein. Charlotte musste grinsen. An ihrem Geburtstag hatte er der versammelten Familie erklärt, dass er der Beschenkte sei, weil er die klügste Tochter der Welt gerade an sich drückte.

Katharina winkte sie zu sich. „Na, komm!“

Also folgte sie ihr in deren Büro. Ihre Tante reichte ihr eine längliche Schachtel, die in goldenes Papier eingewickelt war. Charlotte löste die rote Schleife, hob den Deckel ab, als es ihr die Sprache verschlug. Darin lag ein goldenes Armband, das bestimmt vier Zentimeter breit war. Es schien aus Goldfäden gewebt zu sein, so fein war es gearbeitet. Sie nahm es aus der Schachtel und legte es um ihr Handgelenk.

Katharina lächelte. „Warte, ich helfe dir.“

„Herzlichen Dank.“ Charlotte schluckte. „Es ist schick, unglaublich schön und vermutlich richtig kostbar, viel zu kostbar.“

„Du hast es dir verdient.“ Dann hob sie Charlottes Handgelenk. „Na, bitte. Passt wie angegossen.“

Sie umarmte ihre Tante und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Danke schön.“

Katharina löste sich aus der Umarmung und deutete zur Wanduhr. „Wenn du die Straßenbahn nach Heidingsfeld erwischen willst, musst du dich eilen.“

So kannte Charlotte sie. Immer kontrolliert und bloß keine Rührung aufkommen lassen.

„Da hat dir Katharina aber ein großzügiges Geschenk gemacht.“ Ihre Mutter saß ihr im Büro des Versandhauses gegenüber und strich über das Armband. „Es passt großartig zu deiner Garderobe, mein Schatz.“

„Ja, und wenn ich endlich die kurzen Röcke bei der Arbeit tragen dürfte, sähe es noch passender aus.“

Mama winkte ab. „Katharina wird noch mit sich reden lassen.“

„Ich habe sie überzeugt.“ Charlotte klatschte in die Hände. „Stell dir vor! Sie will die Minilänge in die Kollektion aufnehmen.“

„Na, also!“ Ihre Mutter lächelte. „Dann wirst du bald bei der Arbeit welche tragen dürfen.“ Sie ging zu ihrem Schreibtisch, nahm einen Stapel Akten auf und legte sie auf Charlottes Tisch. „Die überlasse ich diesmal dir.“

Nach einem Blick auf den Berg Papier stöhnte Charlotte auf. „Die Lohnabrechnungen.“

„So ist es.“ Mama schlüpfte in ihren Mantel und hing die Handtasche um. „Für heute mache ich Schluss. Margarethe wartet auf mich.“ Sie knöpfte den Mantel zu. Wie zerbrechlich Mama wirkte. Besäße sie selbst nur so eine schmale Taille! Nicht, dass sie an Übergewicht litt, aber ihr Knochenbau war kräftiger. Ihre Mutter aber hatte die Figur einer Tänzerin und es schien, als könnte sie kaum ihre Handtasche tragen. Dabei war sie innerhalb der Familie diejenige, die den Ton angab. Papa war eher für den Humor zuständig und unterhielt oft eine ganze Gesellschaft damit.

Ihre Mutter strich sich durch ihr dunkles Haar. Auch das hatte Charlotte leider nicht geerbt. Ihres war hellbraun, ein Gemisch aus Mamas dunklem und Papas blondem Haar. Mama behauptete immer, Charlottes Haar glich der Farbe des Milchkaffees, aber sie fand das ihrer Mutter viel schöner.

Mama verabschiedete sich und schloss die Tür hinter sich, also nahm Charlotte an ihrem Schreibtisch Platz. Wie schön, dass ihre Mutter den Nachmittag mit ihrer besten Freundin verbrachte. Hätte nur sie selbst auch eine, aber das Glück war ihr nie vergönnt. In der Grundschule hatte sie sich mit zwei Mädchen gut verstanden, doch dann hatten ihre Eltern sie aus der Schule herausgenommen, später hatte sie die beiden Mädchen nie mehr gesehen. Die restliche Schulzeit wurde sie von Privatlehrern unterrichtet, was ihre erste Begegnung mit dem Alleinsein war. Von da an wurde die Einsamkeit ihr ständiger Begleiter und wich auch jetzt nicht von ihrer Seite. Tagsüber war es noch erträglich, solange sie sich auf die Entwürfe konzentrierte oder Mama half. War sie aber abends alleine, stieg in ihr die Einsamkeit auf, und die suchte sie jeden Abend heim. Wie gerne würde sie mit einer Freundin über Musik reden oder welches Mitglied der Beatles ihr am besten gefiele. Am liebsten aber mit ihr spazieren gehen und ihr die Stimmung beschreiben, wenn man das Leben nur beobachtete, in dem Augenblick aber nicht dazugehörte, sondern mit sich alleine war.

Noch nie hatte sie mit jemandem darüber gesprochen. Dabei hatte Charlotte es versucht, junge Leute kennenzulernen. Bei Männern war es kein Problem, offenbar mochten sie sie, zumindest führten sie sie gerne aus. Sie hatte bereits zwei lose Freundschaften gehabt, aber nie war es über das Küssen hinausgegangen. Es hatte immer an ihr gelegen, dass es zu Ende ging, weil sie sich nie in die Männer verliebt hatte. Es war nie der Funke übergesprungen. Ob das daran lag, dass ihre Einsamkeit alles erstickte?

Mit den Frauenfreundschaften war es anders. Frauen musterten sie stets von Kopf bis Fuß, lächelten sie aber mit kalten Augen an und mehr als über Mode redeten sie nicht mit ihr. Also traute sie sich nicht, über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen, denn die entlarvten sie als schwachen Menschen. Und Katharina betonte stets, dass Probleme gelöst werden sollten und Ängste ein Zeichen von Schwäche waren.

Also hörte sie den Frauen zu, wenn sie fragten, wie die neuen Kollektionen ausschauten und welchen Wagen Katharina fuhr und beantwortete ihre Fragen. Und nun besaß ihre Tante den Sportflitzer. Protziger ging es nicht! Gut, Katharina hatte sich ihn nicht ausgesucht, er war ein Geschenk von Onkel Joseph, aber sie fuhr immer ein „standesgemäßes“ Auto, wie sie es nannte. Mit einem in Schuhkartongröße konnte sie nicht bei wichtigen Partnern vorfahren, meinte sie. Katharina musste es wissen, schließlich traf sie stets die richtigen Entscheidungen, sonst gäbe es keine Filialen im Land und die Klatschblätter brächten nicht Artikel über ihre Familie, die auch Reklame waren und den Verkauf ankurbelten. Dennoch nervte das alles! Lieber wäre es Charlotte, wenn sie in Ruhe ihre Kollektionen entwerfen und ansonsten in Würzburg leben könnte wie andere junge Leute auch. Wie bitte sollte sie denn Freundschaften eingehen, solche, die sich für sie als Mensch interessierten, wenn sie behandelt wurde, als träte nur eine Attrappe von ihr auf, die einzig aus einer äußeren Hülle bestünde? Und die trug den Stempel der Familie Wagner!

Sie nahm sich die erste Mappe und schlug sie auf, da flog die Tür des Büros auf, Simon trat ein, ließ sich stöhnend auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. „Na, zählst du das Familienvermögen?“

„Ah, mein Lieblingscousin.“ Charlotte grinste. „Und du? Hast du das Lager gefegt?“

Simons Hemdsärmel waren aufgerollt und das Hemd hing nicht nur aus der Hose, es war auch grau vor Staub. Er klopfte darauf herum, wobei ihm sein braunes Haar in die Stirn fiel. „Du hast nur einen Cousin.“

Unglaublich, wie sehr er Katharina ähnelte. Die gleichen dunklen Augen, das gleiche Haar und stets hob er das Kinn, wie sie es tat. Beide besaßen Stolz, der sich aber bei Simon rasch in Trotz wandelte. So wie jetzt, als er die Mundwinkel nach unten zog. „Ich habe die vielen Kartons mit den Sachen, die keiner braucht, auf die Laster geladen.“

„Freiwillig?“

„Mamas Befehl!“ Er hob die Arme. „Wer benötigt schon das ganze Zeug?“

Charlotte ging nicht auf seine Frage ein. Nicht schon wieder die Litanei über den unnützen Konsum!

Simon beugte sich vor. „Allein schon die Lkws, die die Sachen durch die Gegend fahren müssen …“

„Ach, bist du jetzt auch gegen das Autofahren?“ Sie hob eine Braue. „Und wie bist du hergekommen?“

„Christian, ein Freund, hat mich gebracht. Aber das -“

In dem Augenblick jaulte die Sirene auf, ihr Vater riss die Tür auf. „Feuer! Raus hier!“

Charlotte sprang auf. „Die Bücher …“

Simon fasste sie am Arm. „Raus!“

Zusammen mit den anderen Mitarbeitern drängte sie sich auf den Hof hinaus.

Simon wandte sich an ihren Vater. „Onkel Edgar, was ist denn los?“

„Im Lager ist Feuer ausgebrochen. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“ Er schaute zu Herrn Krause, der im Lager arbeitete. „Sind alle draußen?“

Der nickte. „Habe selbst dafür gesorgt.“ Ihr Vater drehte sich zum Eingang um, aus dem bereits Rauch herausdrang, er fuhr sich durch sein blondes Haar. „Ich verstehe nicht …“

„Es war alles wie immer.“ Herr Krause rieb sich den Nacken. „Der junge Weiß ist gerade in die Pause gegangen, da flammte einer der Kartons auf.“ Krause starrte Simon an.

Der riss die Augen auf. „Da kann ich doch nichts dafür.“

Krause schüttelte den Kopf. „Habe ich auch nicht behauptet.“

Dann eilte Krause zu Meier, der mit einem Feuerlöscher hantierte, was nichts weiter brachte. Rauch drang aus Tür und Fenster.

Die Sirenen der Feuerwehr erklangen in der Ferne, nahmen dann an Lautstärke zu, bis schließlich zwei Wägen auf den Hof fuhren und alle Mitarbeiter aus dem Weg scheuchten.

Charlotte wischte sich über das Gesicht und starrte dann auf ihre nasse Hand. Weinte sie? Jedenfalls zitterte sie am ganzen Leib und das lag nicht nur daran, dass sie ihren Mantel im Büro hatte hängen lassen. Sie schaute zu Simon, der in seinem Hemd ebenso schlotterte und sich an ihren Vater wandte. „Onkel Edgar, wollen wir Charlotte nicht heimfahren?“

Ihr Vater nickte. „Ja, und dich auch. Ihr könnt ohnehin nicht helfen.“

***

Am Abend, als alle sich um den Esstisch versammelten, trug ihre Haushälterin Rosa das Abendessen herein. Es gab Bratwurst mit Kartoffelsalat und normalerweise hielt Opa Heinrich den Kopf nach vorne gereckt, schnupperte wie ein Hund in der Luft und fragte jedes Mal, ob er da den Duft nach Bratwurst rieche. Er liebte das Gericht. Heute aber schwiegen alle und schienen ihren Gedanken nachzuhängen. David hatte die Hand auf Opas Schulter gelegt, wohl um ihn zu trösten. Charlotte mochte ihn genauso gerne wie ihren Großvater, denn er hörte ihr stets zu, wenn sie etwas bedrückte. Sie schaute von David zu ihm. Beide waren hager, aber David überragte Opa um eine Kopflänge. Früher einmal war er der Bedienstete der Familie gewesen und genauso alt wie ihr Großvater. Im Krieg hatte er das Land verlassen und war schon bald nach Kriegsende zurückgekehrt. Nun behielt er alle Tätigkeiten der Bediensteten im Auge, was er nicht brauchte, denn er teilte sich die Aufgabe mit Rosa, die in Mamas Alter war und sich eigentlich um alles im Haus kümmerte. Wichtiger war, dass er stets ein offenes Ohr für jeden hatte. Charlotte schaute von einem zum anderen. Sie liebte es, dass sie alle zusammen in der Villa wohnten, bis auf Tante Sophia, die zu ihrem Freund Richard nach Randersacker gezogen war. So geborgen und zugehörig mochte sie sich immer fühlen. Opa betonte stets, dass sie gemeinsam alles stemmen konnten.

Sie hatten gerade mit dem Essen begonnen, David bekam koscheres Essen, weil er noch den jüdischen Glauben praktizierte im Gegensatz zu Onkel Joseph, als es an der Haustür klingelte. Wenige Augenblicke später öffnete Rosa die Esszimmertür und kündigte zwei Polizisten an. Sie zog sich zurück und die Polizisten in Uniform traten ein. Der Ältere der beiden, in Onkel Josephs Alter, drehte die Uniformmütze in den Händen. „Polizeiwachtmeister Obermeier.“ Er deutete mit dem Kinn auf den Jüngeren. „Mein Kollege Klein.“

Charlotte unterdrückte ein Grinsen, denn Klein überragte Obermeier um mehr als einen Kopf. Der räusperte sich. „Der Brand in Ihrem Versandhaus wurde gelöscht und die Brandursache festgestellt. Wie wir annehmen, wurde an mehreren Stellen im Lager ein Brennstoff verteilt. Wir fanden einen leeren Kanister draußen in Ihrem Müllcontainer und vermuten als Zündstoff Benzin.“

Opa Heinrich richtete sich auf. „Wie bitte? Da hat jemand bei uns Feuer gelegt?“

Der Ältere nickte. „So sieht es aus. Genaueres wird jemand vom LKA untersuchen und alle, die dort anwesend waren, noch einmal befragen.“

Katharina stand auf und trat vor die Polizisten. „Tun Sie das! Aber von meiner Familie und meinen Angestellten macht keiner so was.“

Jetzt ergriff Klein das Wort: „Das wird die Untersuchung ergeben. Möchte jemand, der hier Anwesenden uns noch einen Hinweis geben? Hat einer von Ihnen etwas Ungewöhnliches beobachtet oder jemanden auf dem Gelände gesehen, der da nichts zu suchen hatte?“

Charlotte schaute in die Runde und ihr Blick blieb an Simon hängen, der auf seine gefalteten Hände auf dem Tisch starrte. Was hatte er denn? Nie und nimmer würde er mit dem Brand etwas zu tun haben. Weil keiner was sagte, öffnete Katharina die Tür und begleitete die Polizisten hinaus. Gleich darauf sprang Simon auf. „Ich gehe nach oben. Hier braucht mich ja keiner.“

Zwar öffnete Onkel Joseph kurz den Mund, schwieg aber dann und ließ Simon gehen. Wieder einmal! Alle taten, als hätte Simon nichts mit dem Kaufhaus zu tun, dabei sollte er doch irgendwann der Nachfolger von Katharina und Joseph werden. Deswegen studierte er Jura und arbeitete jetzt schon hin und wieder im Versand. Charlotte wandte sich an Joseph. „Warum bleibt Simon nicht hier? Immerhin hat er doch heute im Lager gearbeitet.“

Katharina kam zurück und setzte sich wieder. „Er wird wohl kaum das Feuer gelegt haben.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht.“

„Na, dann soll er lieber für sein Studium lernen.“ Katharina schaute in die Runde. „Lassen wir die Polizei aufklären, wer das Feuer gelegt hat. Wichtig ist, dass wir nach außen zeigen, dass wir uns ärgern, schließlich ist das Meiste niedergebrannt. Aber unsere Versicherungen werden hoffentlich den Schaden übernehmen, also dürfen wir nicht jammern. Versteht ihr?“

„Nicht jammern?“ Edgar starrte sie an. „Sämtliche Bücher und Unterlagen sind verbrannt.“

Sophia mischte sich ein. „Wichtig ist doch, dass keiner zu Schaden gekommen ist.“

Mama räusperte sich und alle blickten zu ihr. „Edgars Einwand ist berechtigt. Nicht nur, weil unsere Arbeit zerstört wurde, sondern weil wir nichts mehr vorweisen können.“ Sie schaute von einem zum anderen. „Natürlich wird das Finanzamt seine Steuern einkassieren, aber was wird es in der Bevölkerung für ein Licht auf uns werfen, wenn es heißt, dass ausgerechnet die Bücher verbrannt sind?“

Katharina lehnte sich zurück, schwieg einige Augenblicke, dann richtete sie sich wieder auf. „Wir werden die negativen Schlagzeilen nicht verhindern können.“

Ihre Mutter schaute in die Runde. „Hat jemand Vorschläge, wie wir dem Ganzen entgegensteuern?“

„Ich könnte mich in der Handelskammer stärker als bisher engagieren“, schlug Joseph vor, „und so ein wenig die Stimmung in der Bevölkerung positiv beeinflussen.“

„Nein“. Charlotte war das heraus gerutscht, dennoch hielt sie ihren Einwand für richtig. „Onkel Joseph, du kannst gerne in der Handelskammer mithelfen, aber irgendwelche Aktionen in der Richtung zeigen nur ein schlechtes Gewissen. Ich meine, dass wir über dem Ganzen stehen und einfach so weitermachen sollten wie bisher. Wir zahlen unsere Steuern, können nichts für den Brand, also brauchen wir auch nichts Zusätzliches tun.“

Sophia lachte. „Charlotte denkt genau wie du, Maria.“

Mama nickte. „So ist es. Wir sind die Geschädigten, aber die Menschen werden das nicht sehen, sondern sich von der Meinung der Zeitungen lenken lassen, und für die zählt die beste Schlagzeile. Wie die lauten wird, ist klar. Daher schlage ich vor, dass wir genau den Umstand für die nächste Reklame nutzen.“ Sie schaute in die Runde. „Die neue Kollektion ist die für den Frühling und wir betiteln sie in der Art, dass wir uns die Lebensfreude nicht nehmen lassen.“

Katharina lächelte. „Lasst es uns doch auf den Punkt bringen. KAWA lässt sich nicht erschüttern.“

„Na ja, aber wir sind ja erschüttert. Schließlich hat bei uns jemand Feuer gelegt.“ Charlotte überlegte. „Vielleicht sollten wir eher betonen, dass wir trotz allem unseren Weg weitergehen.“

***

Charlotte kämmte sich ihr Haar vor dem Spiegel. Was war das für ein schrecklicher Tag gewesen. Wer machte überhaupt so was? Feuerlegen! Und warum? Auf dem Heimweg hatte sie sich in Papas Auto zu erinnern versucht, ob sie jemanden auf dem Gelände des Versandhandels gesehen hatte, der dort nicht hingehörte. Aber ihr war kein Fremder aufgefallen. Simon hatte sich neben ihr ausgeschwiegen. Natürlich steckte auch ihm der Schreck in den Knochen. Trotzdem hätte sie mit ihm gerne geredet, doch sie bekam nur einsilbige Antworten. Wenigstens waren Tante Katharina und Onkel Joseph versichert. Sie trat ans Fenster. Die Mondsichel stand am Himmel, leuchtete hinab, ob nun die Menschen Probleme hatten oder nicht. Der Mond schien zu beobachten und ganz bei sich zu sein. Zwar umgaben ihn die vielen Sterne, aber fehlten die, kümmerte es ihn bestimmt nicht. Charlotte zog die Vorhänge zu und kuschelte sich unter die Bettdecke. Wann hatte sie das Gefühl überfallen, sich in sich selbst zurückzuziehen, um Schlimmes auszublenden? Lieber die Einsamkeit zu wählen, als sich Üblem zu stellen? Diesmal aber musste sie sich mit dem Geschehen auseinandersetzen. Es hatte einen Brand gegeben und jemand hatte ihn gelegt!

***

Am nächsten Morgen las Charlotte über Katharinas Schulter schauend den Artikel über den Brand im Versandhaus. Die Tageszeitung wies darauf hin, dass nun KAWAs tatsächliche Einnahmen des letzten Jahres unklar seien. Katharina reichte Großvater Heinrich die gefaltete Zeitung über den Tisch, stand auf und hob das Kinn. „Was nützt es schon, sich aufzuregen?“

Charlotte verabschiedete sich von Opa mit einem Kuss auf die Wange. Heute wirkte er noch schmächtiger, gerade so, als hätte er sich in sich selbst verkrochen.

Als sie zusammen mit Katharina deren Büro betrat, rief Sophia sie aus dem Nebenzimmer. „Kommt mal her! Ich habe was für euch.“

Auf dem großen Tisch vor ihr lagen drei Entwürfe für die neue Reklame. Charlotte schüttelte den Kopf. „Wann um alles in der Welt hast du die gezeichnet?“

„Letzte Nacht.“ Sophia grinste. „Wir sollten ja schnell reagieren, oder nicht?“

Katharina legte ihr die Hand auf die Schulter und schwieg. Sie betrachtete jeden einzelnen Entwurf und reichte ihn danach an Charlotte weiter.

Auf dem ersten überquerte eine junge Frau eine Straße, die Gebäude zu beiden Seiten waren nur angedeutet. Natürlich ließen sich die Häuser aus Würzburgs Kaiserstraße erkennen einschließlich des Kaufhauses. Die Frau lächelte, trug unter einem weiten offenstehenden schwarzen Mantel einen engen, weißen Pullover, dazu einen kurzen Minirock und Ballerinas, beides in Schwarz. „Die Frau ähnelt mir.“ Charlotte schaute Sophia an. „Ist das Absicht? Die gleiche Statur wie ich, das lange braune Haar, die dunklen Augen.“

Sophia zwinkerte. „Möglicherweise.“

Auf dem zweiten Entwurf stand eine Frau neben dem Kiliansbrunnen an Würzburgs Bahnhof, hielt die Arme weit ausgestreckt und das Gesicht zur Sonne erhoben. Sie trug eines der ärmellosen Kleider aus Sophias Kollektion, bunte Blumen auf weißem Untergrund, der Rock im Petticoat Stil. „Und so sah deine Mutter in jungen Jahren aus.“

Die Frau hatte hochgestecktes, schwarzes Haar und war so zierlich wie ihre Mutter.

Charlotte grinste. „Na, wenn das Bild nicht Mamas pure Lebensfreude zeigt, dann weiß ich auch nicht.“

„Das ist der Plan.“ Sophia reichte ihr den letzten Entwurf.

Das dritte Bild wirkte auf Charlotte wie die Titelseite eines Romanheftes, stünde das junge Paar nicht in der Herrenabteilung des Kaufhauses. Natürlich trug der Mann einen Anzug aus der neuen Frühjahrs-Kollektion, die Frau zeigte sich nur im Profil und sie hatte sich in einen weiten Mantel gehüllt. Was aber Charlottes Blick anzog, war der Ausdruck des Mannes. Er hatte das Kinn gehoben, eine Braue hochgezogen und lächelte schief. Eine seiner Hände steckte in der Hosentasche und ein Bein hatte er zur Seite gedreht.

„Der Mann ähnelt Onkel Joseph.“ Charlotte grinste. „Den kann folglich nichts erschüttern.“ Sie schaute zu Katharina, die nickte. „So hat Joseph als junger Mann ausgesehen und das daneben mit dem braunen, halblangen Haar bin wohl ich.“

„Richtig.“ Sophia lächelte, wurde dann aber ernst. „Welchen Entwurf nehmen wir?“

Katharina hob einen nach dem anderen auf, schaute sie noch einmal durch, wischte sich über die Augen und holte dann tief Luft. „Ich finde es großartig, dass ich mich auf euch verlassen kann und ihr KAWA immer unterstützt.“ Sie ging mit den Zeichnungen zur Tür. „Die lassen wir alle drei drucken und legen sie der Zeitung bei.“

Charlotte schaute Katharina nach. So kannte sie ihre Tante nicht. Katharina wirkte sonst immer gefasst und niemals ergriffen.

Sophia zog die Brauen hoch. „Das Ganze trifft sie mitten ins Herz.“

Charlotte sammelte die Stifte vom Tisch ein. „Das dachte ich mir.“

***

Die Reklame hatte die Menschen begeistert und nun kam Charlottes Kollektion, die rasch umgesetzt worden war und von der es nur wenige Stücke gab, bei den jungen Kundinnen großartig an. Einige erzählten den Verkäufern, wie schön sie die Bilder fanden, und stürzten sich begeistert auf die engen Pullover und schmalen Hosen. Die Miniröcke verkauften sich hingegen nicht gut. Sophia versuchte Charlotte zu trösten. „Es gehört halt Mut dazu, so viel von seinen Beinen zu zeigen. Wir leben leider nicht in einer Großstadt.“

Charlotte deutete auf die von ihr entworfene Bademode. „Pah! Da will ich mir nicht ausmalen, wie sich die Bikinis verkaufen werden. Vermutlich gar nicht.“

„Na und?“ Sophia machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dann bieten wir alles nächstes Jahr noch ein Mal an. Wetten, da werden sie uns die Röcke und Bikinis aus der Hand reißen?“ Sie deutete auf Charlottes karierten Rock, einen Minirock, den sie sich zum ersten Mal anzuziehen getraut hatte. „Trag du weiterhin die Minis. Du bist ein Vorbild für Würzburgs Jugend. Nach und nach werden sie dir das nachmachen.“

Charlotte setzte sich an ihren Tisch, stützte das Kinn auf die Hand und kritzelte mit der anderen auf einem leeren Blatt herum. Momentan durchlief sie wohl eine Pechsträhne. Der Brand war schon schlimm genug und wer als Täter infrage kam, da hatte sie nach wie vor keine Idee. Und jetzt blieben sie auf den kurzen Röcken und Kleidern sitzen. Wozu gab sie sich Mühe, ihre Ideen bei Katharina durchzusetzen, wenn sie dann von den Kundinnen abgelehnt wurden? Am besten sie entwarf Kleidung wie zu Großmutters Zeiten. Röcke, die am Boden schleiften oder noch besser: Sie veranstaltete eine Modenschau, bei der die Mannequins Kopftücher trugen. Sie kicherte. Warum eigentlich nicht? Sie stand auf und legte die Schallplatte der Beatles auf. Sie hatte den Schallplattenspieler mitgebracht und es zur Gewohnheit werden lassen, bei der Arbeit Musik zu hören.

„All you need ist love“, sang sie mit.

„Na, dann …“ Sophia nahm am großen Tisch Platz. „Stellen wir die Liebe bei der nächsten Kollektion in den Vordergrund?“ Sie grinste. „Malen wir überall Herzen auf die Kleider?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein. Wir machen unsere eigene Modenschau und …“, sie hob einen Stift in die Höhe, „… wir entwerfen bodenlange Kleider, bunte, schrille, weite. Eben genau das Gegenteil von der jetzigen Mode.“

In Charlottes Magen kribbelte es, ach was, ihr ganzer Körper stand in Flammen.

Sie sprang auf, umarmte Sophia, die sie anstarrte, als hätte sie ihr vorgeschlagen, Kröten zu schlucken. „Wie bitte?“

„Hast du die Magazine aus dem Ausland gesehen? Und schon mal was von den Hippies gehört?“ Nun lief sie auf und ab. „Wir treiben das Schrille auf die Spitze. Binden den Mannequins bunte Tücher um die Stirn, schminken sie mal grell, mal gar nicht. Betonen eben die Freiheit.“

„Ähm, und was wird Katharina dazu sagen?“

„Die Sachen werden nur eine kleine Nische der Kollektion bilden. Aber mir sind sie wichtig. Wenn die Kundinnen keine kurzen Röcke mögen, sollen sie lange tragen.“

Charlotte blieb stehen. Die Ideen musste sie gleich festhalten. Über den Tisch gebeugt zeichnete sie Kleider, die ab der Taille so weit hinabfielen, dass eine Frau noch zwei Wäschekörbe unter dem Rock tragen könnte. Bei dem Gedanken grinste sie. Die Oberteile blieben eng, bekamen aber trompetenförmige Ärmel. Die Kleider bemusterte sie in Regenbogenfarben, teilweise zeichnete sie Blumen in knalligen Farben auf dunkle aber auch helle Hintergründe. An den Säumen setzte sie Borten ein, die farblich nicht harmonierten.

Sophia schaute ihr über die Schultern. „Ähm, die Borten sind braun und ocker. Und die zeichnest du auf ein Kleid mit bunten Blumen auf grünem Hintergrund?“

„Ja.“ Mehr brachte Charlotte nicht heraus. Sie hasste es, in ihrem Fluss gestört zu werden.

Sophia blieb dennoch hinter ihr stehen. Sie zeigte auf den letzten Entwurf. „Gut, aber hier verpasst du deinem Mannequin eine blau-gelbe Bluse zu einem Rock mit bunten Kringeln auf weißem Hintergrund. Charlotte! Da passt nichts zueinander. Das zieht keine Frau an, die einen Funken Geschmack besitzt.“

„Doch!“ Charlotte schaute über ihre Schulter zu Sophia. „Alles ist erlaubt. Verstehst du? Das ist die totale Freiheit.“

„Aha. Aber Katharina muss das absegnen.“

Charlotte nickte und zeichnete weiter. Dann notierte sie sich in ihrem kleinen Buch, dass sie das Muster auch in den Minikleidern aufgreifen wollte. „Dazu sollen die Frauen enge Mäntel mit Pelzbesatz tragen.“

„Das passt dann wie die Faust aufs Auge.“ Sophia hob eine Augenbraue.

„Eben.“ Charlotte grinste. „Alles ist erlaubt!“

„Dann überzeuge noch Katharina von der totalen Freiheit.“

Charlotte packte ihre Entwürfe in eine Mappe. „Jetzt gehe ich etwas essen. Und nach der Mittagspause werde ich die Entwürfe überarbeiten.“

Sie stand auf, eilte zur Toilette, drehte den Wasserhahn des Waschbeckens auf und wusch sich die Hände. Das kühle Wasser tat gut, doch jedes Mal, wenn sie den Wasserhahn aufdrehte, stahlen sich die Bilder des Brandes vor ihr geistiges Auge. Wie die Flammen aufgestiegen waren, die Feuerwehr versucht hatte, das Feuer zu löschen. Wie Simon auf seine Hände gestarrt und dann den Raum verlassen hatte. War er so erschüttert gewesen oder verheimlichte er was? Natürlich hatte er nichts mit dem Brand zu tun, aber möglicherweise hatte er etwas beobachtet, das er für sich behielt. Sie hatte ihn darauf angesprochen, er aber hatte nur den Kopf geschüttelt und behauptet, nichts zu wissen. Nun wurde das Gebäude renoviert, wenigstens das, was davon übrig geblieben war. Das Lager wurde bereits wieder genutzt, die Buchhaltung war hier im Hauptgebäude untergebracht worden. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf, aber sie fand keinen Ansatz, an dem sie ihre Nachforschungen beginnen könnte. Und so vergingen der Februar und März.

***

Charlotte verließ das Kaufhaus durch den Hinterausgang und spazierte Richtung Marktplatz. Es war ein kalter Tag im April, obwohl der Monat eher warm begonnen hatte. Der bedeckte Himmel drückte wohl zusätzlich auf die Stimmung der Menschen, denn die meisten senkten die Köpfe. Die Uhr des Stifts Haug schlug halb eins. Frauen traten schwatzend aus einem Café, aus dem es nach süßem Kuchen duftete. Charlottes Magen knurrte. Ob sie sich heute auch bei einem Bäcker etwas holen sollte?

Wie meistens um die Mittagszeit kamen ihr schon die ersten Schulkinder mit Ranzen auf den Rücken entgegen. Eine Gruppe Mädchen wechselte die Straßenseite, ein schmächtiges blieb zurück, flitzte aber dann hinter den anderen her.

„Du sollst uns nicht hinterherrennen!“, brüllte ein Kräftiges mit knallroten Wangen. „Bleib weg!“

Dem Schmächtigen brach die Stimme. „Was habt ihr plötzlich gegen mich?“

„Schau dich an! Du bist nicht …“ Das Kräftige wandte sich an die anderen, die kicherten. „Also du hast so komische Sachen an und deine Mama spricht so merkwürdig.“

„Genau!“, rief eines aus der Gruppe. Sie wandten sich zum Gehen um, als Charlotte sich zu dem zarten Mädchen hinab beugte. Sie lächelte die Kleine an. „Sag mal, bist du schon durch die Unterführung gelaufen?“ Seit einem Jahr gab es die Unterführung, um sicher den Barbarossaplatz zu überqueren. Charlotte wartete gespannt auf eine Antwort.

Die Kräftige rief sofort. „Na, die da hat doch Angst da durchzulaufen.“

Charlotte fuhr zu dem Schreihals herum. „Ich auch.“ Einige aus der Gruppe begannen zu kichern. Charlotte beachtete sie nicht. Sie wandte sich an die Kleine. „Würdest du mit mir da reingehen?“

Die nickte, als eines der Mädchen sich anbot. „Sie können auch mit mir zur durch die Unterführung. Ich habe dort keine Angst.“

Charlotte reichte der Kleinen die Hand, und ging los, während die anderen ihnen folgten.

Eines der Mädchen deutete zu ihnen. „Die da heißt Maria und kommt aus einem anderen Land. Heute hat sie zum Pauker gesagt, es gäbe eine Bienenschifffahrt statt der Binnenschifffahrt.“

Alle lachten, außer der kleinen Maria.

Charlotte zuckte die Schultern und sagte gelassen. „Na und? Dann hat sie sich halt versprochen.“

Die Angesprochene hielt ihre Hand vor den Mund. „Sie ist halt einfach dumm.“

Da drehte sich eines der Mädchen um und schüttelte den Kopf. „Das stimmt doch nicht. Maria hat lauter gute Noten.“ Sie deutete mit dem Finger auf die Kräftige. „Du hast doch eine Fünf in Geografie bekommen.“

Da stürmte die Kräftige auf das Mädchen los, aber Charlotte stoppte sie. „Halt! Wir schubsen und schlagen uns nicht. In Ordnung?“

Das Mädchen hielt inne, warf aber einen zornigen Blick in die Runde.

Mittlerweile erreichten sie den Eingang zur Unterführung. Charlotte stieg die wenigen Stufen hinab, an der Hand Maria. Die anderen folgten. Vor einem der kleinen Läden, die hier unten eröffnet hatten, blieb sie stehen. „Jetzt hört mal zu! Eine von euch kann dies nicht, eine andere jenes nicht. Marias Mama spricht vielleicht nicht so gut Deutsch, noch nicht. Eine ist mutig, eine andere traut sich nicht hier nach unten, so wie ich. Und? Was ist denn schlimm daran, wenn man etwas nicht so gut kann?“

Der Reihe nach zuckten die Mädchen mit den Schultern.

„Soll ich es euch sagen?“ Charlotte schaute jedem von ihnen in die Augen. „Nichts ist daran schlimm. Ich habe mich nicht hierhin getraut und Maria hat mir geholfen, obwohl sie selbst ein mulmiges Gefühl im Bauch hatte. Stimmts?“

Maria nickte. Charlotte strich ihr über das Haar. „Und so könnt ihr alles schaffen, wenn ihr euch gegenseitig helft.“

Nacheinander reichten sie Maria die Hand und entschuldigten sich, außer der Kräftigen. Sie musterte mit verschränkten Armen die Kleine. „Aber die schaut aus! Nicht mal ein Halstuch hat sie bei der Kälte.“

Die Mädchen trugen warme Kleidung, alle, außer der Kleinen. Da nahm Charlotte ihr Halstuch ab, an dem sie eine Nadel mit dem Firmenzeichen trug und hängte es der Kleinen um. „So, jetzt wärmt das Tuch deinen Hals und eine Tapferkeitsmedaille ist auch noch dran.“

Maria legte beide Hände auf das Tuch und lächelte. „Danke.“

Die anderen Mädchen umkreisten sie, jede wollte die Brosche sehen. Nur die Kräftige wandte sich ab und rannte weg.

Charlotte schaute ihr nach. Vermutlich würde es dauern, bis sie nachgab, oder aber sie würde Maria weiterhin hänseln. Aber wenigstens hatte sie der Kleinen Freundinnen verschafft. Oder hatte sie durch ihr Eingreifen alles verschlimmert? Hoffentlich nicht!

Die Mädchen mit Maria in der Mitte winkten ihr zum Abschied und stiegen die Treppe in Richtung Woolworth hinauf, einem Konkurrenten von ihnen, der preisgünstig verkaufte. Charlottes Gedanken kehrten zu Maria zurück. Überall gab es Neid und der verführte zu Gehässigkeit, woraus wieder gemeines Handeln entstand. Das hatte ihr Opa Heinrich erklärt. Sie solle niemals Neid zulassen. Das brachte nichts außer schlechte Gedanken. Vermutlich hatte aus genau diesem Gefühl heraus jemand den Brand im Versandhaus gelegt. Aber wie war das möglich? Derjenige hätte gesehen werden müssen! Hoffentlich konnte die Polizei den Verbrecher doch noch finden.

Charlotte nahm die entgegengesetzte Treppe, blieb oben stehen und atmete die kalte Luft ein. Sie fasste sich an den Hals, an dem sie fror, dennoch war es richtig, Maria das Tuch zu schenken. Die arme Kleine! Wie gemein die Kräftige sich ihr gegenüber verhalten hatte. Wie gut sie selbst es kannte, ausgeschlossen und einsam zu sein. Sie schüttelte die Gedanken ab und ging weiter die Juliuspromenade entlang, vorbei am Spital und überquerte die Straße zum Dominikanerplatz. Dort kam die Straßenbahn quietschend zum Stehen, öffnete die Türen und spuckte die Passagiere aus. Charlotte wechselte hinter der Bahn die Straßenseite und blieb vor dem Schaufenster eines Konkurrenten stehen. Eine Schaufensterpuppe trug einen braunen Mantel aus Wolle über einem knielangen beigefarbenen Rock, daneben stand eine in einem braunen Kleid mit einem grünen Mantel um die Schultern gehängt. Alles in Braun, Beige, Grün. Es war an der Zeit für Farbenfrohes, Grelles, Verrücktes. Sie musste einfach Katharina von ihren Plänen überzeugen!

Sie eilte weiter in Richtung Markt, an Schlendern war nicht zu denken, dafür brodelte es in ihrem Inneren gerade. Wie konnte sie Katharina ihre eigenen Gefühle erklären? Was fühlte sie denn?

Plötzlich spürte sie Hände auf ihren Schultern. Simon trat vor sie. „Hoppla! Beinahe wärst du in mich hineingerannt.“

„Entschuldige bitte. Ich war so in Gedanken.“

Er verdrehte die Augen. „Ich wette, die drehen sich um das Kaufhaus.“

„Stimmt. Um meine neue Kollektion.“ Charlotte lauschte ihren Worten nach. Die klangen gut. Sie reckte das Kinn und musterte Simons Begleitung.

Er folgte ihrem Blick. „Das ist Ute. Meine Freundin.“ Dann deutete er auf sie selbst. „Charlotte, meine Cousine.“

Ute verzog das Gesicht. „Ich hasse es, wenn du so formell bist. Ich meine: Was sind schon Namen? Unsere Eltern gaben sie uns und meist haben sie nichts mit unserem Innern zu tun, verstehst du?“ Dabei flocht sie sich ihr blondes Haar zu einem Zopf, wickelte ein Gummi um dessen Spitzen und wandte sich an Simon. „Sieht deine Cousine immer so … nach Konsum aus?“

Simon schaute auf seine Schuhspitzen, dann Charlotte in die Augen und zu Ute. „Meine Cousine arbeitet im Kaufhaus meiner Eltern und entwirft ihre eigene Mode.“

Es klang, als habe er gerade erklärt, dass sie nackt durch den Park liefe.

Ute zog die Hände unter ihrem Cape hervor, das einer von Opa Heinrichs Wolldecken glich, und hob sie abwehrend. „Nein, echt nicht. Das ist nicht mein Ding.“ Sie wandte sich ab. „Simon, wir sehen uns dann heute Abend im Park. Christian kommt auch.“ Sie stiefelte davon.

Simon räusperte sich. „Ute hasst alles, was mit Besitz zu tun hat.“

„Ach, und sie beurteilt mich aufgrund meiner Kleider, obwohl sie mich nicht einmal kennt?“

Er zuckte mit den Schultern. „Meine Aufmachung findet sie auch blöd, aber sie mag meine Einstellung zum Kapitalismus.“

Charlotte rollte mit den Augen. Na, da passten sie ja wunderbar zusammen. Auch er lehnte den Kapitalismus ab, schimpfte über Überfluss, über die stetige Anhäufung von Geld innerhalb der Familie, was an sich paradox war, denn schließlich arbeitete er ja stundenweise im Versandhaus und sollte KAWA nach seinem Studium übernehmen. Jedenfalls konnte sie die Litaneien von ihm nicht mehr hören.

Simon starrte in die Ferne und dann in Charlottes Augen. „Sei ehrlich! Du denkst über deine neue Kollektion nach, die ein wenig anders ausschauen wird als die jetzige.“

„Natürlich. Aber sie wird nicht nur ein bisschen anders aussehen, sondern das genaue Gegenteil sein.“

„Na gut. Das bedeutet aber, dass die Damenwelt die Sachen der alten nicht mehr tragen soll, also wegwerfen kann und sich die neuen Sachen anzieht.“

„Das macht doch keine Frau.“ Charlotte lachte. „Jede kauft sich ein paar neue Stücke –“

„Bis der Kleiderschrank platzt.“ Simon schnaubte. „Aber wozu? Im Grunde ist Kleidung da, um uns zu wärmen, und davon brauchen wir erst neue, wenn die alte kaputt ist.“

Charlotte seufzte. „Simon …“

Er stoppte sie mit den Händen. „Ich weiß. Die Gegenargumente höre ich ständig von Mama. Wir leben vom Verkauf, blablabla.“ Er seufzte. „Nur ist das alles so sinnlos.“

„Sagt Ute, oder?“

Er zog die Mundwinkel nach unten. „Sage ich auch.“

„Wer hat denn etwas davon, wenn wir nichts mehr verkaufen? Dann –“

„Tut das ein anderer, ich weiß. Aber schau dich um! Hier in der Stadt leben noch immer Menschen in ihren Kellern, weil ihre Häuser nicht aufgebaut worden sind, weil es überhaupt nicht genug Wohnungen gibt. Die können sich nicht jede Saison eine neue Kollektion leisten. Und gleichzeitig bekommt Mama ein neues Auto, obwohl ihr altes noch super fährt. Wo ist da die Gerechtigkeit? Warum wird alles nicht gerechter verteilt?“

„Simon, wenn du Gutes tun willst, brauchst du Erstrecht Geld dafür.“

Er winkte ab. „Du verstehst mich nicht.“ Er ging weiter, drehte sich noch einmal um und schaute sie aus traurigen Augen an. „Keiner von euch tut das.“

Sie sah ihm nach, wie er mit hängenden Schultern, die Hände in den Hosentaschen davon ging. Was war denn das? Sie wandte sich ab und schlug den Weg ins Kaufhaus ein. Hatte er „von euch“ gesagt? Zählte er sich nicht mehr zur Familie?

2. Kapitel

Simon

Geld und neue Filialen, damit noch mehr unnütze Kleidung und Sachen verkauft werden, die kein Mensch braucht, wie zum Beispiel Haartrockner oder die ganze Schminke, die sich Frauen ins Gesicht schmierten. Als sähen sie schöner aus, wenn die Augenlider mit einem fetten, schwarzen Strich umrandet wurden, und dann wie der Flügel eines Vogels ausschauten. Simon betrachtete seine Mutter Katharina. Zugegeben. Sie schminkte sich dezent. Zum Glück! Warum tat sie das überhaupt? Nur um jünger zu wirken? Oder um etwas zu verdecken? Er konnte es nicht sagen, aber wenigstens fiel es bei ihr nicht so stark auf. Wie peinlich wäre es, wenn sie wie eine junge Frau ihre Augen mit blauer Farbe betonen würde, wie es jetzt in Mode war. Wie war er jetzt überhaupt auf die Schminke gekommen? Ach ja. Wegen der unnützen Dinge. Wie gut, dass seine Freundin so etwas ablehnte. Ute verstand ihn, sah, was wirklich im Leben zählte, nämlich, dass es allen gut ging. Allen! Nicht nur denen, die viel Geld besaßen. Früher hatte auch Charlotte ihn verstanden, als Einzige wohlgemerkt. Mit ihr tauschte er sich aus, erklärte ihr seine Gedanken. Aber mittlerweile hatten Mama und die Tanten sie in ihr Netz aus Wohlstand - begründet auf der Arbeit im Kaufhaus – eingesponnen.

Er rutschte auf seinem Stuhl nach vorne. Könnte er endlich diese Feier verlassen. Es war nicht auszuhalten. Wie immer redete seine Familie über das Kaufhaus, über nichts anderes. Selbst heute, an Tante Marias und Onkel Edgars 20. Hochzeitstag. Obwohl Maria sich auch nicht wohlzufühlen schien. Das Geschenk von Onkel Edgar, ein Goldkettchen mit einem Anhänger in Herzform, hatte sie mit einem zerknirschten Lächeln angenommen. Als Edgar es ihr umhängte, schien ihr Gesicht versteinert. Gut, bestimmt hatte der ihr das hundertste Kettchen geschenkt und damit nichts Besonderes ausgesucht. Oder lag es an etwas anderem, das sie traurig dreinschauen ließ? Ach, was ging es ihn an? Sollten sie doch in dieser Familie tun und lassen, wonach ihnen der Sinn stand. Er hatte andere Pläne.

„Mich beschäftigt noch immer der Brand im Versandhaus.“ Opa Heinrich riss ihn aus seinen Gedanken. „Es ist mir ein Rätsel, wie das passieren konnte.“

„Ach, Opa.“ Charlotte tätschelte seine Hand. „Es ist April, die Sonne scheint, Mamas und Papas Hochzeitstag. Lass uns feiern.“

Opa lächelte. „Du hast ja recht, mein liebes Mädchen.“

Simon schnaubte. Nur ja nicht über etwas Unbequemes sprechen! Lieber kehrte man es unter den Teppich. Wobei, das Thema „Brand im Versandhaus“ umschiffte er auch lieber. Nicht, dass er etwas damit zu tun gehabt hätte. Das nicht! Aber er hatte der Polizei nicht alles erzählt, weil sie ihn eben nicht danach gefragt hatten. Bestimmt spielte es keine Rolle. Warum belastete er sich dann damit?

Um auf andere Gedanken zu kommen, lauschte er dem Gespräch am Tisch.

Offenbar hatte ein Themenwechsel stattgefunden. Sie redeten jetzt über den bevorstehenden Urlaub im Mai. Da sollte er Charlotte und Tante Maria nach Italien begleiten, weil ihm der Klimawechsel angeblich guttäte. In Wirklichkeit stünde er den Plänen seiner Eltern nur im Weg, die irgendwelche Städte besuchen würden mit dem Ziel, dort neue Filialen zu eröffnen. Er hatte ihnen vorgeschlagen, in der Zeit bei Opa zu bleiben. Dann könnte er die Tage mit Ute und dem Rest seiner Freunde verbringen. Aber nein! Seine Mutter hatte sich durchgesetzt. Der Junge müsse mal rauskommen, behauptete sie. Also war für ihn ein Zimmer in Italien gebucht worden, in einem Hotel in Strandnähe, wo sich die Deutschen in der Sonne aalten und es um nichts anderes ging, als was es zu essen gab. Merkte denn keiner, dass alles schieflief? Obwohl der Wiederaufbau der Stadt so gut wie abgeschlossen war, ging es noch einigen Menschen schlecht. Es gab Armut! Und was taten seine Verwandten? Sie reisten nach Italien, um rauszukommen! Ein völlig unnützer Luxus, wie den, den sie im KAWA verkauften. Und nicht nur im Kaufhaus seiner Eltern! Katharina hatte das große Kaufhaus in Berlin besucht und dort handelten sie genauso. Da waren die Frauen der Politiker gern gesehene Kundinnen. Denn Kleider machten ja Leute. Als ob die äußere Schale wichtig war! Zumindest war sie wichtiger als diejenigen zu unterstützen, deren Sorge nicht die Schale war, sondern das Dach über dem Kopf oder was sie essen sollten.

Doch solange Menschen an der Macht saßen, die nur verstaubten Gesetzen folgten, statt wirkliche Demokratie auszuüben, würde sich wenig ändern. Weder in der Stadt, noch im Land oder in der Welt. Der Krieg in Vietnam stellte doch das beste Beispiel für die Sinnlosigkeit und Unfähigkeit der Regierenden dar. Was hatte er selbst nicht schon dagegen demonstriert! Er war auch wegen der Verfassung seiner Universität auf die Straße gegangen. Umsonst! Hatten die Studenten ein Mitspracherecht bekommen? Mitnichten! Aber da war nicht das letzte Wort gesprochen, da würde er sich weiterhin dafür einsetzen, dass ein Vertreter von ihnen mit in den Verfassungsausschuss eingebunden wurde. Er holte tief Atem und schaute in die Runde. Offenbar war das Thema „Urlaub“ abgeschlossen. Alle schwiegen, doch dann begannen Tante Sophia und seine Mutter über Charlottes geplanter Modenschau zu diskutieren. Jetzt reichte es ihm endgültig.

Er stand auf und trat zu Tante Maria. „Ich hoffe, du bist mir nicht böse, aber ich habe noch einiges mit meinen Mitstudenten zu klären. Bis zum Mai müssen wir nämlich ein großes Pensum abarbeiten.“

Tante Maria erhob sich vom Stuhl und umarmte ihn. „Geh nur und erledige deine Arbeiten.“ Sie löste sich aus der Umarmung und schaute ihm in die Augen. „Danke für den Blumenstrauß. Ich liebe rote Gerbera.“

„Ich danke dir für die Einladung.“ Er wandte sich um und verabschiedete sich rasch von den anderen. Besonders von seiner Mutter, die natürlich wieder wissen wollte, mit wem er sich traf. „Mit anderen Studenten.“

„Lade deine Freunde doch einmal zu uns ein“, rief Opa vom Tischende. „Oder was meinst du, Charlotte? Die würdest du doch gerne kennenlernen.“

Charlottes Gesicht färbte sich rot. „Ja, Opa.“

Simon verließ die Villa und blieb am Gartentor kurz stehen. Tante Marias Blick von vorhin verwirrte ihn. Das war kein Blick zum Abschied oder einer des Dankes gewesen, vielmehr hatte Simon Trauer daraus gelesen. So als hätte sie am liebsten auch die Feier verlassen und einige Stunden frei von allen Zwängen verbracht. Er lächelte. Im Grunde war es das, was er suchte. Freiheit! Ohne die verstaubten Zwänge, und natürlich Gleichheit für alle. Er trat durch das Gartentor und eilte die Rottendorfer Straße hinab und immer weiter bis in die Stadtmitte. Heute hatten sie sich unterhalb der Festung Marienberg verabredet.

Simon bog in die Domstraße und schaute hoch zur Burg. Als er ein kleiner Junge gewesen war, hatte Opa ihm erklärt, dass er sich so lange beschützt fühlen konnte, solange die Festung oben vom Marienberg auf die Stadt herabschaute. Auf sie sei Verlass. Aber beim Anblick auf die Burg gerade wuchs in ihm ein anderes Gefühl. Könnte er doch dem Leben der Menschen zuschauen, wie die Burg es tat, und sich so wenig um alles sorgen wie sie, weil es ihn – alleine auf dem Berg lebend - nicht kümmerte, was im Tal oder auf der Welt vor sich ging. Er seufzte. So war es aber nicht. Ihn interessierten die Menschen und ihr Wohlergehen. Und er hasste Ungerechtigkeit! Er lebte mitten unter ihnen, in einer Familie, die den Massenkonsum ankurbelte. Er ballte die Fäuste, dann rannte er die Domstraße hinab, setzte an, um über die Alte Mainbrücke zu eilen, als er eine Stimme hinter sich vernahm. Ute!

„Warte, Simon!“ Sie kam heran, atmete schnell. „Ich bin auch etwas spät dran.“ Wieder holte sie tief Luft und deutete nach unten. „Wir bleiben heute auf der Seite des Mains. Christian hat mir Bescheid gesagt.“

Simon nickte, denn er brachte keinen Ton heraus. Was war mit seiner Freundin geschehen? Er erkannte sie kaum wieder. Ihr stets verstrubbeltes Haar trug sie bis gestern zu einem Zopf geflochten. Jetzt hatte sie sich einen Mittelscheitel gezogen und es glatt gekämmt. Hier im Licht der Laterne glänzte es wie Seide. Wenn er es richtig einschätzte, hatte sie außerdem nicht nur ihre Augenbrauen zu feinen Linien gezupft, sondern auch ihre Wimpern getuscht. Er betrachtete ihre Kleidung. Der Poncho schien gerade nicht mehr tragbar, denn sie hatte einen braunen Wollmantel übergezogen, unter dem ein braungeblümtes Kleid hervorblitzte. Lediglich ihre schwarzen Halbschuhe erfüllten wohl noch ihren Zweck.

„Was ist?“ Ute blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Willst du hier stehen bleiben?“ Sie wandte sich ab und schlug den Weg um das große Kaufhaus herum ein. Natürlich eine Konkurrenz des KAWAs.

Simon rührte sich nicht. Ute hatte ihm nicht einmal einen Kuss zur Begrüßung gegeben. Vielleicht befanden sich auch ihre Gefühle im Wandel und er zählte bald zur Ablage. Er gab sich einen Ruck und folgte ihr.

Christian hockte auf der Lehne einer Holzbank, die Füße auf der Sitzfläche und warf Steinchen ins Wasser. Als Simon zusammen mit Ute vor ihm standen, deutete er mit dem Kinn zum Fluss. „Genau wie die Steine gehen die Rechte der Bürger unter.“

Simon schaute sich um. „Wo sind die anderen?“

Christian zuckte die Schultern. „Haben wohl Besseres zu tun.“

„Aber …“ Simon starrte Ute an.

Ute verstand ihn ohne Worte. „Wir wollten doch über die Prospekte reden.“

Christian nickte. „Ja. Und es ist wichtig, dass jeder Einzelne es versteht. Die Gesetze sind keine Instrumente zum Schutz der Bürger, sondern dienen als Machtmittel einer bürgerfernen und autoritären Staatsgewalt.“

Simon hatte diesen Satz schon einmal gehört. „Genau das sagt –“

„Jeder, der seinen Verstand benutzt.“ Christian war ihm wieder ins Wort gefallen, wie er es häufig tat. Er zählte Beispiele auf, die seine Aussage untermauerten, dann endlich kam er auf die Universität und die Verfassung zu sprechen. „Wir müssen nicht nur Prospekte drucken und verteilen, sondern wieder auf die Straße gehen und jedem entgegenschreien, dass wir eine Studentenvertretung brauchen!“

„Eben.“ Simon holte tief Luft. „Deswegen treffen wir uns heute. Aber wo sind die anderen? Weder du noch ich haben die Entwürfe und eine Demo müssen wir mit den Leuten aus den Semestern absprechen.“

„Machen wir morgen in der Uni.“

Ute hatte noch kein Wort gesagt und gähnte jetzt hinter vorgehaltener Hand. „Ich bin todmüde.“ Sie wandte sich an Christian. „Sag mir morgen Abend, wo ich aufkreuzen und was ich machen soll. Bin gerade nicht mehr aufnahmefähig.“

Simon nahm ihre Hand. „Was ist denn los mit dir?“

Sie starrte auf den Boden. „Ich hab keine Kohle mehr, muss welche verdienen und renne mir schon den ganzen Tag die Hacken ab, um Arbeit zu finden.“

„Was?“ Simon hob ihr Gesicht seinem entgegen. „Du hasst doch Arbeit und lehnst Geld ab.“

„Träum weiter, reicher Junge!“ Sie schnaubte. „Wenn einem der Magen knurrt, weiß man, dass man Geld braucht, um ihn zu füllen.“

„Hey, wenn es nur das ist, da kann ich dir doch –“

Sie winkte ab. „Vergiss es! Ich lass mich nicht durchfüttern! Ich sorge selbst für mich!“

Er fasste sich an den Kopf. „Dann lass mich dir doch wenigstens eine Stelle besorgen.“

Sie lachte. „Bei euch im Kaufhaus? Bei den feinen Pinkel?“

Simon starrte sie an. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Das war er für sie? Er ließ ihre Hand los. „Ich dachte immer, dass wir uns verstehen.“

„Tun wir ja!“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Vielleicht ist die Idee mit dem Kaufhaus sogar gut. Aber da stelle ich mich schon selbst vor. Ich verzichte lieber auf eine Fürsprache.“ Dann ging sie los in Richtung Sanderau.

Simon starrte ihr nach. Deswegen schaute sie heute so anders aus. Sie hatte nach Arbeit gefragt.

Dann legte ihm Christian die Hand auf die Schulter. „Lass sie! Die beruhigt sich wieder, wenn sie Geld verdienen wird. Komm! Gehen wir noch „Zum Onkel“? Ich lade dich ein.“

Simon hatte weder Hunger noch Durst und er war noch nicht volljährig, was ihm sein Vater oft genug vorhielt. Ebenso wenig sah der es gerne, wenn er selbst in einem Gasthaus saß und womöglich ein Bier trank.

Natürlich bemerkte Christian sein Zögern. „Ist schon in Ordnung. Ich bringe dich nach Hause.“ Er zeigte auf die Straße hinter sich. „Mein Auto steht da.“

Auf der Heimfahrt pfiff Christian „Keine Liebe ohne Tränen“. Grundsätzlich summte oder pfiff er deutsche Schlager, mochte offenbar die Beatles oder Elvis Presley oder die Rolling Stones nicht. Er vertrat die Meinung, dass es doch schöne Lieder im eigenen Land gebe. Wozu die aus dem Ausland hören?

Als er den Wagen vor Simons zu Hause stoppte, legte er ihm noch einmal die Hand auf die Schulter. „Nimm dir die Sache mit Ute nicht so zu Herzen. Das wird sich wieder einrenken.“

„Danke für die Fahrt. Bis morgen.“

Simon schaute den Rücklichtern nach. Als er Christian vor einem halben Jahr kennengelernt hatte, hatte er ihn bewundert. Einmal für dessen Eifer bei allem, was er anging, sowohl das Studium als auch den Einsatz für die Studentenschaft. Er bewunderte, dass Christian sich weiterhin sorgfältig kleidete, also stets im Anzug erschien, obwohl seine Mitstreiter es eher lässig mochten. Ihnen versuchte, sich Simon anzupassen, indem er das Jackett wegließ und das Hemd aus der Hose zupfte. Christian zog aber seinen Stil durch, gleich, ob die anderen Studenten über ihn lästerten oder nicht. Er war bereits im vorletzten Semester, ließ Simon aber nie spüren, dass er ein Anfänger war. Er unterhielt sich stets mit ihm auf Augenhöhe. Auch jetzt mochte er ihn. Und doch fand er ihn verändert oder aber es wandelte sich sein Empfinden gegenüber seinem Freund, denn in der letzten Zeit fühlten sich Christians Reden nicht mehr echt an, eher wirkten sie einstudiert und herzlos. Als lausche er den Vorträgen eines Schauspielers. Möglich, dass er sich das nur einbildete, weil er Christians Einstellung mittlerweile auswendig kannte.

***

Simon ließ sich aufs Bett fallen, stand aber gleich wieder auf, denn im Liegen fasste er keinen klaren Gedanken, sondern kämpfte gegen den Schlaf an. Er stellte sich ans Fenster. Im Garten stand der alte Nussbaum, unter dem er zusammen mit Charlotte so oft gelegen war und sie ihren Träumen nachgehangen hatten. Sie hatte schon immer Mode entwerfen wollen und sich Tante Sophia als Vorbild genommen. Und er selbst? Er wusste es damals wie heute nicht. Andere hatten über ihn bestimmt und taten es im Grunde noch immer. Er war der Junior, der das Kaufhaus erben würde. Der künftige Geschäftsführer, der Chef! Unter ihm würde der Massenkonsum aufblühen. Er ballte die Fäuste, als ihn ein Klopfen an der Tür aus dem Gedankenkarussell riss. Zum Glück!

Charlotte steckte den Kopf zum Türspalt herein. „Noch wach?“

„Sieht so aus.“

Sie kam herein und ließ sich aufs Bett fallen, so wie er zuvor. Dann gähnte sie herzhaft. „Puh! Bin ich erledigt.“

„Dann ab mit dir ins Bett.“

Sie richtete sich auf und setzte sich im Schneidersitz hin, das Kissen stopfte sie sich in den Rücken. „Ich wollte kurz mit dir reden.“

„Schieß los.“ Er nahm auf seinem Schreibtischstuhl Platz.

Sie zögerte, dann brach es auch ihr heraus. „Ist dir Mama heute komisch vorgekommen?“

Er grinste.

„Was ist daran witzig?“

„Nichts.“ Er räusperte sich. „Ich freue mich nur, dass wir noch ähnlich empfinden.“

Sie lächelte. „So wie früher?“

„So wie früher.“ Dann nickte er. „Ja. Tante Maria feierte ihren Hochzeitstag und wirkte, als wollte sie von der Feier fliehen.“

Sie hob den Zeigefinger. „Genau das dachte ich auch. Sie saß steif auf ihrem Stuhl, bedankte sich artig für die Geschenke, schaute aber zum Fenster raus, als wäre sie lieber woanders.“

„Frag mich jetzt aber nicht nach dem Grund.“ Er hob die Hände. „Ich habe keine Ahnung, was in ihr vorgeht.“

Sie stützte ihr Kinn auf einer Hand ab und murmelte. „Ich auch nicht.“

Eine Weile schwiegen sie. Dann hob Charlotte den Kopf. „Da gibt es noch etwas, was ich dir erzählen wollte. Es wird dir aber nicht gefallen.“

„Was denn?“ Er warf ihr einen prüfenden Blick zu.

„Deine Eltern möchten, dass du im Kaufhaus hilfst, also neben deinem Studium.“

„Wozu das?“ Es kochte in ihm hoch. „Als ob ich nicht bereits hin und wieder im Lager schufte. Muss ich jetzt noch in den Verkauf? Verdienen sie nicht genug? Soll ich noch mehr Kohle scheffeln?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich glaube nicht, dass es ihnen ums Geld geht, eher darum, dass du einen Eindruck von der Arbeit bekommst.“ Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und stand auf. „Aber das werden sie dir selbst noch sagen.“

Nachdem sie ihm eine gute Nacht gewünscht hatte, verkroch er sich unter der Bettdecke. Was war das für ein mieser Tag gewesen. Er würde bestimmt keinen Verkäufer spielen!

Doch dann kam ihm eine Idee, über die er noch grübeln würde, und er änderte seine Meinung. Und ob er den Verkäufer spielen würde!

***

Tage später las Opa Heinrich die Schlagzeilen vor. Die Tochter Stalins flüchtete in die Schweiz und Helmut Schmidt wurde der neue Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Dabei kommentierte Opa jede Schlagzeile. Helmut Schmidt sei ein guter Mann, meinte er, und Stalins Tochter habe mehr Verstand wie manch anderer. Simon glaubte, sich verhört zu haben. „Warum?“

Opa lugte über die Zeitung. „Warum, was?“

„Warum findest du es gut, dass Stalins Tochter aus der Sowjetunion flieht?“

Opa faltete die Zeitung nicht zusammen, so wie sonst, wenn er sich auf eine Diskussion einließ, sondern murmelte nur: „Weil sie die Taten ihres Vaters und seiner Partei verabscheut und es auf dem Wege zeigt.“

„Warum versucht sie nicht, in ihrer Heimat etwas zu ändern, wenn sie mit dem Regime nicht einverstanden ist, anstatt davor zu fliehen?“

Maria wandte sich an ihn. „Manchmal hat man nicht die Macht, das Regime zu stürzen.“ Sie starrte auf die Tischplatte. „Dann kann man nur im Kleinen dagegen angehen. Vielleicht hat Swetlana das getan und es war vergebens und sie sah nur noch den Weg einer Flucht, um ein Zeichen zu setzen.“

Simon stand auf, um sich auf den Weg zur Universität zu machen. „Ich bin immer eher für den Kampf.“

„Und ich für den Frieden“, rief ihm Opa nach.

***

Vor dem Universitätsgebäude traf er auf Christian, der eine Zigarette rauchte und mit jemandem aus seinem Semester sprach. Simon stellte sich grüßend zu ihnen. Sie redeten über Benno Ohnesorg und dessen Gedanken. Christians Kollege nahm sich eine Zigarette aus der ihm angebotenen Schachtel. „Ohnesorg ist ein absoluter Pazifist wie wir alle.“

Christian blies den Rauch nach oben. „Was Vietnam angeht, natürlich. Das ist ein sinnloser Krieg.“

Der Kommilitone hob die Augenbrauen. „Ist das nicht jeder Krieg?“

Christian antwortete nicht, wandte sich stattdessen an Simon. „Sehen wir uns am Nachmittag?“

Simon nickte. „Klar.“

Der Kollege verabschiedete sich, Christian schnaubte. „Der kapiert nichts.“

Simon nickte. „Der klingt wie mein Opa.“

Christian trat den Zigarettenstummel aus. „Es ist gleich acht.“

Simon vermochte es nicht, sich auf die Vorlesungen zu konzentrieren. Sein Freund hielt den Krieg in Vietnam für sinnlos, was natürlich stimmte. Doch sie beide waren der Meinung, dass es sich lohnte, für eine Überzeugung zu kämpfen. Bloß wie definierte Christian den Widerstand? Wie weit war er bereit, zu gehen? Darüber mussten sie demnächst reden? Er selbst lief bei jeder Demonstration für die Studentenrechte mit. Das war für ihn selbstverständlich. Aber zu Gewalt war er nicht bereit. Die lehnte er in jeder Form ab. Nur wie sah das sein Freund? Er hoffte, dass auch die anderen Mitstreiter für eine gewaltfreie Demonstration stimmten. Ute sicherlich. Aber Christian umschiffte bis jetzt jede Diskussion darüber. Doch meistens richteten sich alle nach seinen Vorschlägen, weil er ein gewandter Redner war. Bestimmt würde er ein guter Anwalt werden. Anders als er selbst. Mit seinen Noten war er zufrieden, aber so richtig Freude bereitete ihm das Lernen nicht. Vielleicht würde sich das ändern, wenn er ein praktisches Semester absolvierte. Sein Vater plante für ihn eine Stelle bei dem Anwalt der Familie. Wie sollte es auch anders sein. Papa gestaltete seine Zukunft und er war noch nicht volljährig und konnte somit nicht selbst bestimmen, wie die aussehen sollte. Der Professor beendete die Vorlesung, Simon notierte sich von seinem Nachbarn rasch die Paragrafen, die behandelt worden waren. Er blies die Wangen auf. Wieder langweiliges Studieren irgendwelcher Paragrafen!

***

Vor dem Universitätsgebäude atmete Simon tief ein und aus. Wie gut die frische Luft tat. Er traf auf Christian und zusammen gingen sie über die Straße in den Ringpark und spazierten hindurch.

Simon blieb stehen. „Wohin gehen wir denn?“

„Zu einem Kollegen. Der hat die neuen Prospekte in einem Keller gelagert. Wir holen die ab und jeder von uns wird ein paar verteilen.“

Sie überquerten den Friedrich-Ebert-Ring und bogen in die Schillerstraße. Offenbar mussten sie noch eine Weile gehen, da bot es sich doch an, Christian auf Simons Gedanken anzusprechen. „Ich habe heute über Krieg und Gewalt nachgedacht.“

Christian lachte. „Wann? Während der Vorlesungen?“

„Na und?“ Simon zuckte die Schultern. „Wie du weißt, lehne ich Gewalt ab.“

„Vorhin meintest du aber, das Gerede über sinnlose Kriege klinge nach deinem Opa.“

„Stimmt. Aber dennoch lehne ich Kriege ab.“

Die Uhr der Adalberokirche läutete zu Mittag. Christian beschleunigte. „Komm! Wir müssen uns beeilen. Klaus hat nur wenig Zeit.“

Simon hetzte hinter ihm her, bis sie endlich am Ende der Straße ein einstöckiges Haus erreichten. Davor stand ein Mann in ihrem Alter in Arbeitskleidung. „Na, endlich! Meine Mittagspause ist gleich vorbei.“

„Entschuldige, Klaus.“ Christian stellte seine Aktentasche auf den Boden. „Schneller ging es nicht.“ Dann nahm er ihm einen Karton ab. „Danke dir!“

„Ja, schon gut.“ Klaus wandte sich zum Gehen. „Man sieht sich.“

Christian deutete mit dem Kinn zu seiner Tasche. „Kannst du die nehmen? Dann tragen wir den Karton zu meinem Auto und lassen die Prospekte erst einmal dort. Ich habe nämlich noch Vorlesungen, und du?“

Simon klemmte sich die Tasche unter den freien Arm, in der anderen trug er die eigene. „Ja, hab ich auch. In zwei Stunden die bei Professor König.“

„Gut. Was machst du bis dahin?“

„Ich werde bei Ute vorbeischauen.“

„Mach das.“ Christian stellte kurz den Karton ab, nahm ihn dann wieder auf. „Sie wird aber vielleicht unterwegs sein.“

„Woher weißt du das?“

„Na, sie sagte doch, dass sie eine Arbeit sucht.“

***

Ute wohnte in einer winzigen Kellerwohnung in der Sanderstraße, mit einem Raum, in der ihr Bett und Schrank standen, einer Ecke, in der ein Herd und eine Spüle Platz fanden und einem weiteren winzigen Bad mit Waschbecken und Toilette. Alles, was Ute brauchte, wie sie wiederholt behauptete.

Simon klopfte vergebens an ihre Eingangstür. Christian schien recht zu behalten, Ute war nicht zu Hause. Er wandte sich ab. Was sollte er jetzt in der verbliebenen Zeit tun? Er hatte vorgehabt, sich mit Ute zu unterhalten, nachdem sie gestern so kurz angebunden gewesen war. Doch das sollte wohl jetzt nicht sein. Er könnte zur Uni und lernen. Aber heute schien er keinen Kopf für Paragrafen und deren Auslegung zu haben. Er würde lieber durch die Stadt in Richtung KAWA spazieren und nach Ute Ausschau halten. Also ging er los, den Straßenbahnschienen folgend, in Richtung Grafeneckart. Am Rathaus bog er in die Domstraße. Eine Straßenbahn ratterte an ihm vorbei und hielt am Dom, wo sie ein paar Frauen mit Kindern ausspuckte. Er hob das Gesicht zum Himmel. Was für ein herrlicher sonniger Frühlingstag! In dem Augenblick legte jemand eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte zusammen und fuhr herum.

Ute lachte ihn an. „Na, heute bist du aber schreckhaft. Hast du ein schlechtes Gewissen?“

Simon strich sich das Haar aus der Stirn. „Warum sollte ich?“

Sie zuckte die Schultern. „Gestern warst du nicht gerade freundlich zu mir.“

Er riss die Augen auf. Verwechselte sie da nicht etwas? Dann schluckte er hinunter, was er erwidern wollte. Jede Schuldzuweisung führte bloß zum Streit. „Tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe. Das wollte ich nicht.“

Sie umarmte ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Das hast du wirklich. Du hast mich gemustert, als ob du mich nicht erkennen würdest.“

Er schluckte. Da hatte sie recht, denn sie hatte wie eine andere ausgesehen und tat das heute noch immer.

Sie hakte sich bei ihm unter und schlug den Weg zurück nach Hause ein. „Hör zu! Ich trage spießige Sachen im Moment, das weiß ich. Aber ohne die bekomme ich keine Arbeit. Und im Grunde sind Äußerlichkeiten total unwichtig. Oder nicht?“

Er nickte und schwieg, doch seine Gedanken ließen sich nicht abstellen. War es nicht Ute gewesen, die sich kürzlich von Charlotte abgewendet hatte, weil ihr deren Äußeres zu unangenehm gewesen war?

Ute machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist ja auch egal. Jedenfalls habe ich mich in eurem Konsumpalast vorgestellt und die haben mich genommen. Was sagst du jetzt?“

Er drückte sie an sich. „Super!“

Sie nickte und zog ihn weiter. „Ja, allerdings. Von irgendwas muss ich ja leben.“

Er blieb stehen. „Übrigens werde ich demnächst auch im KAWA aushelfen.“

„Hä?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du musst nur gute Noten heimbringen.“

„Das tue ich ja. Aber meine Eltern wollen, dass ich nebenbei etwas Arbeitsluft schnuppere und zwar nicht nur im Lager des Versands, sondern im Verkauf.“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Aha. Und da machst du mit? Noch mehr sinnloses Zeug verkaufen?“

Er schaute sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an.

„Hey!“ Sie stieß ihn kurz von sich. „Ich muss überleben. Deswegen werde ich dort arbeiten.“

„Schon gut.“ Dann zog er sie weiter. „Ja, ich lass mir das gefallen, denn ich habe einen Plan.“

Sie stieß ihn an. „Sag schon!“

„Nein, jetzt nicht.“ Er zog sich an sich und küsste sie. Dann hielt er sie etwas auf Abstand. „Ich muss dich etwas fragen, das mir auf der Seele brennt. Und zwar geht es um Christian. Du kennst ihn ja schon länger.“

„Ja, und?“ Sie schaute ihn wie einen Fremden an. „Was willst du wissen?“

„Du und ich lehnen ja Gewalt in jeder Form ab. Frage ich aber unseren Freund dazu, scheint er mir auszuweichen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das bildest du dir nur ein. Christian hat feste Meinungen zu allem, was die Politik betrifft. Niemals weicht er einer Frage aus.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich muss jetzt los, einiges für nächste Woche richten, weil da fange ich schon an zu arbeiten.“

Sie trennten sich am Sandering. Simon schaute ihr nach, wie sie mit kurzen abgehackten Schritten die Straße zum Park überquerte. Diese Schritte passten nicht zu ihr, eher zu einem Soldaten, aber nicht zu einer Frau, die für den Frieden demonstrierte. Er schnaubte. Nun begann er schon damit, Menschen nach Äußerlichkeiten zu bewerten. Zudem die Frau, in die er verliebt war! Verliebt, weil sie ihn verstand und sie die gleichen Vorstellungen von einem gerechten Leben hatten. Und nun würde sie im Kaufhaus seiner Eltern arbeiten. Er schüttelte den Kopf. Das war geradeso, als verfasse sein Vater romantische Gedichte.

Simon machte sich auf den Weg zur Universität, da warteten noch zwei Vorlesungen auf ihn. Zwei Studenten überquerten die Straße und nickten ihm kurz zu. Einer rollte eine Zeitung zusammen und steckte sie in seine Manteltasche. „Jetzt haben sie Kennedy von einer Ruhestätte zur anderen überführt.“

Der Zweite wechselte seine Tasche von einer Hand in die andere. „Das war ein Präsident, der war für den Frieden wie kein anderer.“

Simon überholte die zwei. Es war höchste Zeit für seine nächste Vorlesung. Die beiden unterhielten sich weiter über Kennedy, doch mit zunehmendem Abstand zwischen ihm und ihnen, vermochte er nicht mehr der Unterhaltung zu folgen. Opa hatte Kennedy stets als Friedensstifter gelobt. Natürlich schätzte Simon ebenso den Frieden, aber es war doch auch wichtig, zu demonstrieren, wenn Unrecht geschah, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen und sie herauszuschreien, um die Menschen darauf aufmerksam zu machen. Was nutzte es denn, sie zu erkennen und sich darüber aufzuregen und sie dann hinzunehmen und sich darüber zu ärgern. Nein, eine Akzeptanz des Unrechts kam nicht infrage. Das hatte es zu anderen Zeiten gegeben, aber die waren endgültig vorbei.

Wie das wohl damals für seine Familie gewesen war? Nie erzählten seine Eltern oder Opa Heinrich etwas darüber. Seine anderen Großeltern in der Schweiz sah Simon zu wenig und wenn, dann ging es eher um die Gegenwart oder die Zukunft. Klar war, dass sie während des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz geflohen waren, weil sie wegen ihres jüdischen Glaubens verfolgt worden waren. Wegen ihres Glaubens! War das zu fassen? Das war so, als würde er selbst dafür bestraft werden, weil er nicht dem Anhäufen von Geld hinterherjagte, sondern sich wünschte, dass es allen Menschen gut ginge. Leider waren die Juden damals nicht nur verfolgt, sondern getötet worden. Welch Gräueltaten!

Ein Kommilitone stieß ihn an. „Möchtest du noch länger hier im Gang vor der offenen Tür stehen oder die Vorlesung hören?“

Er grinste und folgte ihm in den Hörsaal.

***

Simon trottete die Münzstraße entlang, knöpfte sich den Mantel zu und stellte den Kragen hoch. Heute war es ein sonniger Tag gewesen, gerade aber fröstelte es ihn. Ob Christian sich mit ihm treffen wollte? Dann würde der in der Nähe der Villa warten. Simon gähnte. Hoffentlich ließ er ihn heute in Ruhe, er war müde und musste noch einige Nachträge schreiben, weil er wieder einmal gedanklich nicht den Vorlesungen gefolgt war. Die Scheinwerfer eines Autos beleuchteten den Asphalt. Er rieb sich die Augen. Diese späten Vorlesungen strengten aber auch an. Zurzeit verließ er das Haus im Dunkeln und kehrte wieder heim im Dunkeln.

Er überquerte die Balthasar-Neumann-Promenade, den Residenzplatz und bog in den Rennweg. Wenige Schritte vor ihm stand Tante Maria wie eine Statue still und schaute in den Park. Als er nur noch eine Armlänge von ihr entfernt war, sprach er sie an.

Sie drehte sich langsam zu ihm um, als erwachte sie aus einem Traum. „Guten Abend, Simon.“

„Guten Abend.“ Er deutete zum Park. „Gibt es da was zu sehen?“

Sie wischte sich über die Augen. „Ich habe jemandem nachgeschaut.“

Simon blickte in den dunklen Park, aber da war niemand.

„Ist schon weg.“ Sie schaute zu Boden, dann hob sie den Kopf wieder.

Auf dem Heimweg schwiegen sie. Ihm war es recht. Ohnehin redete Tante Maria nur, wenn es bedeutend war. Wie er selbst schien sie sinnfreies Geplauder zu hassen.

Als sie die Villa betraten, kam ihnen David entgegen. „Guten Abend, ihr Lieben. Hattet ihr einen angenehmen Tag?“

Tante Maria schnaubte. „Bestimmt war deiner erfreulicher, lieber David.“

Simon hängte seinen Mantel an die Garderobe und nahm Maria ihren ab. Was sie nur belastete? Sollte er Charlotte fragen oder würde er sie unnötig aufregen? Im Grunde regelte seine Tante ihre Angelegenheiten alleine. Maria drückte David kurz den Arm und ging die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer.

David schaute ihr nach und wandte sich dann an Simon. „Und wie war dein Tag? Wie jeder andere?“

Simon nickte. „So ist es.“ Er streckte sich. „Ich bin heute müde und muss aber noch lernen.“

David legte ihm die Hand auf die Schulter. „Jetzt wird erst gegessen, dann hast du wieder Kraft zum Lernen.“

Während des Abendessens führte Simons Vater das Wort. Er erzählte von dem großen Kaufhaus in Berlin und seinen Plänen, Filialen zu eröffnen. „Das kostet natürlich Geld. Aber die Investitionen werden sich schnell lohnen.“

Tante Maria hob den Kopf. „Wo willst du das Geld dafür hernehmen?“

Papa hob die Augenbrauen. „Ich dachte daran, das Grundstück meiner Eltern zu verkaufen.“

Maria nickte und widmete sich wieder ihrer Suppe.

Charlotte saß neben ihr. „Wo ist eigentlich Papa?“

Maria schaute nicht auf. „Er trifft sich mit einem Freund.“

Dann drehte sich wieder alles um Filialen und Geld, wie immer. Simon stand auf. „Entschuldigt bitte, aber ich muss noch lernen.“

***

Er setzte sich an den Schreibtisch, als es an der Tür klopfte. Mama trat ein. „Ich möchte dich nicht stören, ich wollte nur fragen, an welchem Tag du im Kaufhaus arbeiten magst? Oder meinetwegen kannst du auch an zwei Tagen helfen.“

Simon zuckte zuerst mit den Schultern, dann nickte er. „Ich denke, ich werde an einem Nachmittag, an dem ich keine Vorlesungen habe, ein paar Stunden arbeiten. Am besten dienstags.“

Mama strich ihm über den Arm. „Prima! Dann freue ich mich darauf, dich am kommenden Dienstag als Mitarbeiter im KAWA begrüßen zu dürfen.“

Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, krampfte Simons Magen. Sobald er seinen Plan ausführte, würde sie von ihm enttäuscht sein, und nicht nur sie. Auf der anderen Seite würde er etwas von der Ungerechtigkeit abtragen und das war das Entscheidende.

Er klappte die Mappe mit seinen Notizen auf, als es erneute an der Tür klopfte. Charlotte steckte den Kopf zum Türspalt herein. „Störe ich?“

„Komm rein.“

Sie ließ sich aufs Bett fallen, reckte die Arme in die Höhe. „Bin ich heute erledigt.“ Dann setzte sie sich auf. „Deine Freundin Ute wird ab nächster Woche bei uns arbeiten.“

„Ja, ich weiß. Wo steckt Mama sie hin?“

„Darum kümmert sich Katharina doch nicht. Ute werde ich unter meine Fittiche nehmen. Zuerst wird sie Botengänge für mich erledigen und dann sehen wir weiter.“

„Botengänge?“ Er hörte wohl nicht recht. „Kommt sie nicht in den Verkauf?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Da fehlt ihr wohl das Gespür dafür, oder?“

„Keine Ahnung.“

Sie lachte. „Ja, weil du dich nie mit der Arbeit im KAWA beschäftigst.“

Er starrte sie an. Was, wenn Mama ihn auch nur auf irgendwelche Botengänge schickte?

Charlotte zog sich die Bettdecke über die Beine. „Ute wird Stoffproben aus dem Lager aussuchen, Muster zusammenstellen, auch bei Anproben dabei sein, bis sie ein Gespür für Mode bekommt.“

„Verstehe.“ Er stand auf und ging zum Fenster, dann lehnte er sich gegen die Fensterbank. „Weißt du, wo Mama mich einsetzen will?“

„Dich? Auf jeden Fall im Verkauf. Ich glaube sogar, dass sie dich in der Herrenabteilung einplant.“

Er holte tief Luft, weil ihm ein Stein vom Herzen fiel. „Aber ich habe doch auch keinen Schimmer vom Verkauf.“

„Schau dich an!“ Sie deutete auf ihn. „Du weißt, wie man sich kleidet, und das musst du nur an die Kunden weitergeben.“

Er nahm wieder auf dem Stuhl Platz. Das klang gut, sehr gut, sogar.

Charlotte wickelte eine Haarsträhne um den Finger. Das tat sie immer, wenn sie etwas beschäftigte und sie noch nicht wusste, wie sie es ansprechen sollte.

Er wollte es ihr leicht machen. „Raus mit der Sprache! Was gibt es?“

Sie zog den Finger aus dem Haar. „Mich lässt der Brand im Versandhaus nicht mehr los. Irgendwer hat ja das Feuer gelegt und der will uns Böses. Die Polizei findet aber den Täter nicht, also läuft der frei herum und kann uns weiter schaden.“

„Es kann auch eine Frau gewesen sein.“

„Ja, klar. Aber da muss doch was passieren! Simon, wir müssen denjenigen finden.“

Er stand auf. „Und wie? Ich meine, wenn nicht einmal die Polizei etwas rausbekommt.“

Charlotte senkte den Kopf, dann hob sie ihn wieder. „Irgendetwas beschäftigt mich, was mit dir zu tun hat. Ich weiß aber nicht mehr, was mich stutzig gemacht hat.“

Zunächst bekam er den Mund nicht mehr zu. Das durfte doch nicht wahr sein. Dann schluckte er seinen Zorn hinunter. „Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich das Feuer gelegt habe oder in das Ganze verwickelt bin.“

Sie schüttelte den Kopf. „Quatsch! Natürlich nicht. Es war irgendwas, was du gesagt hast.“ Sie winkte ab. „Egal. Hast du wirklich nichts gesehen oder ist in den Tagen vorher Merkwürdiges passiert?“
Er zuckte die Schultern. „Nein. Mir ist nichts aufgefallen, sonst hätte ich es ja der Polizei gesagt.“

Sie stand vom Bett auf. „Sollte ich irgendwas herausbekommen, wirst du mir dann helfen, weiterzukommen?“

„Ja klar.“

Er schaute zur Tür, als Charlotte sie von außen zuzog. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass der Brand Charlotte derart beschäftigte, gerade sie, die sich eher auf die positiven Seiten des Lebens konzentrierte und alles Unschöne von sich schob. Aber was hatte sie nur gemeint? Was sollte er gesagt haben, das mit der Tat oder gar dem Täter zu tun hatte? Natürlich wäre er demjenigen gerne auf die Schliche gekommen, bloß wusste er beim besten Willen nicht, wie er das anstellen könnte. Er hatte weder einen Hinweis noch die leiseste Ahnung, wer das gewesen war.

Etwas hatte er der Polizei verschwiegen, weil ihn keiner danach gefragt hatte. Aber das war so unwichtig wie nur was. Oder?