Leseprobe Die perfekten Nachbarn | Ein fesselnder Psychothriller voller Geheimnisse und Twists

Prolog

Juli 2005

Im Krankenhauszimmer herrschte eine Stille wie nirgendwo sonst. Hin und wieder wurde sie von Eloise Granthams leichtem Schniefen durchbrochen, die, obwohl sie eigentlich wach bleiben wollte, in einen unruhigen Schlaf gesunken war. Sie wünschte, das Kind im Bett würde die Augen öffnen, sich auf den Weg zur Genesung machen und beweisen, dass der schreckliche Autounfall es nicht sein Leben kosten würde.

Weder die Krankenschwester noch die Großmutter bekamen die ersten sichtbaren Anzeichen mit, die auf das Erwachen des Jungen hindeuteten. Josiah Granthams Augen zuckten, ehe sie sich öffneten, dann flatterten und schlossen sie sich wieder. Das reichte für den Moment.

***

Eloises Kopf kippte zur Seite, und sie schreckte hoch. Ein Gefühl der Schuld überkam sie, als ihr klar wurde, dass sie geschlafen hatte. Sofort wanderten ihre Augen zu ihrem Enkel, dem Kind, das ihr das Kostbarste war, und sie sah, dass sie nichts verpasst hatte. Er lag reglos da, aber heute, heute würde er hoffentlich den schrecklichen Tunnel verlassen, in dem er sich zu befinden schien. Er musste einfach zu ihr zurückkehren, ihr zeigen, dass sie nicht einen sehr wertvollen Teil ihrer selbst verloren hatte.

Sie streckte die Hand zum Fußende des Bettes aus und löste die Klemme der Krankenakte. Josiah John Grantham, geboren am 25. Dezember 1999, Elternteil Kirsty Grantham. Eloise strich sanft über seinen Namen. Es war ein schwieriges Weihnachtsfest gewesen, damals vor sechs Jahren, aber das kleine Baby, das man ihr am Ende des ersten Weihnachtsfeiertages in die Arme legte, hatte den halbgaren Truthahn wieder wettgemacht.

Wie sie und Kirsty gelacht hatten, als sie versuchten, den Truthahn hochzuheben. Dieser war nun von Kartoffeln umringt, die gleich mitgebacken werden sollten, doch das zusätzliche Gewicht war ihnen zum Verhängnis geworden. Als Kirsty sich nach vorne gebeugt hatte, um Eloise dabei zu helfen, die Bratenform zurück in den Ofen zu schieben, war ihre Fruchtblase geplatzt. Und als dieser wundervolle Junge, der dort im Bett lag, auf die Welt gekommen war, konnte er noch zehn Minuten des ersten Weihnachtsfeiertages erleben.

Kein Daddy, mit dem man die Freude des Augenblicks hätte teilen können; tatsächlich hatte kein Daddy jemals seine Existenz zugegeben. Aber in dem Moment, in dem Eloise ihr Enkelkind hielt, hatte das keine Rolle mehr gespielt. Sie und Kirsty wären genug für dieses wundersame Geschöpf.

Doch jetzt war gerade keine Kirsty da, um den Jungen zu halten, der in einem Koma gefangen war, dessen Ende alle herbeisehnten. Eloise klammerte sich an die Hoffnung, die ihr die Ärzte gemacht hatten, dass das Kind aufwachen würde, wenn sein Körper bereit dazu wäre, hoffentlich genauso wie seine Mutter. Aber Eloise hatte solche Angst. Angst, dass sie nicht nur einen, sondern sogar beide verlieren würde.

Sie griff nach seiner Hand, der Hand, in der keine Kanüle steckte, und betete, genau wie sie es getan hatte, seit die Polizei sie angerufen hatte, um ihr von dem Unfall auf dem Motorway M1 zu berichten.

Kirsty, bewusstlos im Northern General Hospital, ihr Kind in einem ähnlichen Zustand in der Kinderklinik, und alles, weil Kirsty mit ihm nach Meadowhall fahren wollte, um einen Film anzusehen.

Zwischen ihren Besuchen bei ihrer Tochter in einem Krankenhaus und ihrer Bettwache bei Jed in der Kinderklinik waren nach und nach die Einzelheiten des Unfalls ans Licht gekommen. Der geplatzte Reifen eines Jeeps, der Kirsty mit 90 Meilen pro Stunde überholte, hatte dazu geführt, dass dieser ihren viel kleineren Fiesta rammte, welcher sich überschlug und von einem weißen Van getroffen wurde, der einfach nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, um dem Auto auszuweichen – dem Auto, in dem sich alles befand, was Eloise auf der Welt liebte. Kirsty war am Unfallort gestorben, aber von erfahrenen Sanitätern wiederbelebt worden. Der sechsjährige Jed auf dem Rücksitz war angeschnallt gewesen. Er hatte eine Kopfverletzung, einige starke Prellungen sowie einen Armbruch erlitten. Alles heilbar, wenn er nur aufwachen und wieder das wundervolle Kind werden würde, das Eloise seit seiner Geburt liebte.

***

Das zweite Mal, als er die Augen öffnete, flüsterte sie seinen Namen und drückte sanft seine Hand. Er drückte zurück, sagte jedoch nichts und schloss seine Augen erneut, das helle Blau verbergend, das seiner Großmutter so lieb war. Eine halbe Stunde später öffnete er sie wieder, und die Krankenschwester hielt eine Schnabeltasse an seine Lippen. Nachdem Lippen und Hals befeuchtet waren, sprach er.

„Granny“, sagte er.

Jeds Weg zur Genesung hatte begonnen.

1

September 2022

Clare Staines fühlte sich durcheinander. Ihr Geist kämpfte damit, dieses (für sie) ungewöhnliche Gefühl zu bewältigen, an dem eigentlich vor allem Tante Freda schuld war. Tante Freda hatte vor rund fünfzehn Jahren ihren Mann verloren, und sie sprach von nichts anderem als ihm, dachte an nichts anderes. Sie liebte ihn immer noch und würde selbstverständlich für den Rest ihres Lebens um ihn trauern. Nun war sie widerwillige, tattrige siebzig Jahre alt. Bei seinem Tod war sie dreiundfünfzig gewesen – so alt wie Clare jetzt. Und Clare war sich ziemlich sicher, dass Tante Freda niemals irgendeine Art von Verwirrung hinsichtlich ihrer Liebe zu Onkel Joe empfunden hatte. Sie war unerschütterlich, staubte alle zwei Tage die Rahmen seiner Bilder ab und saß mindestens einmal die Woche an seinem Grab, um mit ihm zu plaudern. Sie hatte ihn damals geliebt und liebte ihn immer noch.

Clare hatte John, ihren eigenen geliebten Ehemann, vor acht Monaten, im Januar 2022, an den Krebs verloren. Die Verwirrung in ihrem Kopf hatte damit zu tun, dass sie dachte, sie sei darüber hinweg. Ihr Leben hatte sich verändert, und die Änderung ihrer Routinen war ihr willkommen gewesen. Vielmehr schien sie überhaupt keine Routinen gehabt zu haben. Die waren auf der Strecke geblieben.

Sie sollte sich nicht so fühlen. Sie sollte jede Woche sein Grab besuchen und ihn mit Rosen überschütten, mit ihm sprechen, ihm erzählen, was in den Leben seiner Lieben passierte, in ihrem und denen ihrer beiden Töchter. Ihm wieder und wieder sagen, wie sehr sie ihn liebte und vermisste. Mit anderen Worten: Sie hatte das Gefühl, sie sollte Tante Freda nacheifern.

In den ersten paar Monaten tat sie das auch. Sie trauerte. Phasenweise wurde sie damit fertig, aber nicht vollständig. Es war einen Monat her, seit sie John zuletzt Blumen gebracht hatte, und auch keine Rosen, sondern eigentlich nur ein paar Blüten aus dem Garten, die sie in Eile zusammengepflückt hatte; alles, was halbwegs frisch aussah. Hatte sie ihm erzählt, dass sie einen Yogakurs begonnen hatte? Nein, sie glaubte nicht. Oder ihm zögerlich Auskünfte über die kreative Schreibgruppe gegeben, die sich einmal im Monat im Gemeindesaal traf? Eigentlich hatte sie ihm überhaupt nichts erzählt, dachte sie.

Sie hatte vorgehabt, mit ihm darüber zu sprechen, wie es mit dem Kauf von Graces und Megans neuem Eigenheim voranging, der die Beziehung der beiden noch weiter festigte. Doch das Wissen, dass sie nicht wirklich in der Lage gewesen war, mit ihm über die Beziehung der beiden Frauen zu sprechen, als er noch am Leben war, ließ sie nun zweimal darüber nachdenken, ob sie die Sache jetzt, an seinem Grab, erwähnen sollte.

Sie erinnerte sich daran, dass sie die alten Blumen zum Müllcontainer gebracht, die Metallvase mit frischem Wasser gefüllt, sie zurück zum Grab getragen und dann die frischen Blumen hübsch arrangiert hatte. Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, überhaupt über irgendetwas gesprochen zu haben.

Kein einziges Wort war ihr über die Lippen gekommen. Hatte sie sich verabschiedet, als sie gegangen war? Hatte sie ihm wie gewohnt versprochen, bald wiederzukommen? Hatte sie zu irgendeinem Zeitpunkt „Ich liebe dich“ gesagt? Hatte sie dem ganz neuen, weißen Grabstein aus Marmor einen Fingerkuss gegeben, wie sie es sonst immer tat? Die Fragen ratterten ihr durch den Kopf, bis ihr klar wurde, dass sie sich nur sehr vage an ihren letzten Besuch erinnerte. Es hatte sich beinahe angefühlt, als würde man von ihr erwarten, regelmäßig mit Blumen aufzutauchen und die richtigen Dinge zu sagen. Nur hatte sie nichts gesagt.

Das konnte einfach nicht sein. Sie konnte nicht so schnell über ihn hinweg sein. Sie hatten einander seit der Vorschule gekannt, waren dreiunddreißig Jahre verheiratet gewesen – Clare konnte einfach nicht so früh über seinen schrecklichen Tod hinweg sein. War er nicht die Liebe ihres Lebens? Und warum überrollten sie jedes Mal diese Schuldgefühle, wenn sie darüber nachdachte, etwas zu tun, von dem sie wusste, dass es ihr Freude machen würde? John war immer etwas kontrollierend gewesen, und jetzt war es, als wären ihr die Ketten abgenommen worden, und darum fühlte sie sich schuldig? Unsinn!

Sara und Grace wären entsetzt, wenn sie wüssten, was in ihrem Kopf vorging. Sie vergötterten ihren Vater, genau wie Clare, weshalb es umso merkwürdiger war, dass sie nun diese Gefühle hatte – oder eben keine Gefühle, wenn sie es sich genau überlegte. Sie war wirklich verwirrt.

Eigentlich war sie ziemlich wütend auf John, denn normalerweise war sie kein verwirrter Mensch. Sie war überzeugt, dass das Ganze gewissermaßen sowohl seine als auch Tante Fredas Schuld war. Für gewöhnlich war Clare ziemlich gefasst, wusste, was sie im Leben wollte. Dieser lästige Zustand, in dem sich ihr Geist befand, gefiel ihr nicht. Mit den Mädchen konnte sie nicht darüber sprechen; sie würden es einfach nicht verstehen. Sie wären verletzt, und Clare würde nicht zulassen, dass irgendetwas auf der Welt ihre Mädchen verletzte.

***

Clares engste und beste Freundin war Vicki Dolan, aber Clare war sich nicht sicher, ob sie dieser überhaupt von ihrer Verunsicherung erzählen konnte. Mit Rob, den Vic innig liebte und der in den letzten zwei oder drei Jahren dafür gesorgt hatte, dass es in ihrem Leben bergab ging, war Vic nicht glücklich. Nein, Clare konnte sie wirklich nicht mit Geschichten über ihre Verwirrung behelligen. Vic hatte genug Sorgen, hatte selbst verworrene Gefühle.

Als John im Oktober 2020 erstmals mit Krebs diagnostiziert wurde, hatten Clare und er beschlossen, es vor den Mädchen geheim zu halten, zumindest vorübergehend. Zum Teil, weil Sara zwei Wochen später Greg heiraten sollte und zum Teil, weil Grace zusammen mit Megan King, ihrer Partnerin, eine Urlaubsreise gebucht hatte und drei Tage nach der Hochzeit ihrer Schwester in die Staaten fliegen wollte.

Vic war Clares Fels in der Brandung, ihre Stütze. Clare wusste, dass sie es irgendjemandem erzählen musste, also brach sie eines Abends, drei Tage vor der Hochzeit, an Vics Küchentisch zusammen. Sie redeten und redeten und redeten, nichts davon ergab viel Sinn, denn sobald die Worte „maximal achtzehn Monate“ ausgesprochen waren, schien nichts mehr Sinn zu ergeben. Während des Gesprächs rief John an, und allein durch den Schmerz in der Stimme seiner Frau wusste er, was sie so lange aufgehalten hatte.

„Bleib so lange du willst, Liebling“, sagte er sanft. „Ich liebe dich.“

Rund einen Monat später erzählten sie es endlich Sara, Greg, Grace und Megan. Deren Reaktionen fielen recht unterschiedlich aus. Sara, ihre stets pragmatische Sara, fing sofort an zu recherchieren, ob man irgendetwas tun konnte, um diese entsetzliche Sache, die ihr Vater durchmachte, aufzuhalten, umzukehren oder auszumerzen, während ihre jüngere Schwester zusammenbrach.

Grace verspürte Wut, Trauer, Unsicherheit, beschwor jede Emotion herauf, die man nur heraufbeschwören konnte. Megan war ihr Fundament, ihr sprichwörtlicher Leuchtturm, der sie über jede Wegbiegung führte, gute wie schlechte.

Clare erinnerte sich daran, wie Sara eines Abends vor dem Computerbildschirm saß und schrie, während sie online recherchierte.

„Was meint ihr mit Palliativpflege? Wir haben 2021, verdammte Scheiße. Es sollte ein beschissenes Heilmittel geben!“ Mit einem gehetzten Blick hatte sie sich Clare zugewandt. „Tut mir leid, Mum. Entschuldige meine Ausdrucksweise …“ Und sie hatten gemeinsam geschluchzt und dabei nur zu gut den Frust hinter den Worten verstanden. Dies war der Abend, als das ungeheure Ausmaß des Ganzen sie alle am härtesten traf, dachte Clare.

Während die Mädchen mitansahen, wie sich Johns Zustand immer weiter verschlechterte, durchlebten sie einen kaum merklichen Wandel. Grace wurde stärker, konzentrierte sich mehr darauf, ihrer Mutter bei der Bewältigung der tagtäglichen Probleme zu helfen, und Sara zog sich langsam in sich selbst zurück.

Sie hielten ihre Traurigkeit vor John geheim, aber er war nicht dumm. Er wusste es. Er erkannte den Kummer in seinen Töchtern und in seiner Frau schließlich die Akzeptanz, dass sie mit dreiundfünfzig Witwe sein würde, und es gab nichts, was irgendjemand daran ändern konnte.

***

Als John am 23. Januar im Hospiz starb, wurden sie zu einer dreigliedrigen Einheit. Bei seiner Beerdigung war die Kirche brechend voll, aber die drei Frauen hielten zusammen, vollkommen vereint in ihrer Trauer. Greg und Megan standen daneben, bereit sie zu trösten, wenn alles zu schwer wurde, um es allein zu ertragen. Der Verlust dieses Mannes, dieser Kraft, die ihr Zuhause und ihr Leben zusammengehalten hatte, war einfach immens. Die vereinte Liebe dieser dreiköpfigen Einheit machte ihre Familie stärker, ließ ihre Nähe noch näher werden.

Bei der Trauerfeier waren ihre Freunde zusammengekommen, neben zahlreichen Bekannten vom Golfen, Arbeitskollegen aus Johns Büro und der Familie, sofern man diese so nennen konnte. Alle waren schockiert darüber, dass er in so jungen Jahren von ihnen gegangen war. Das waren die Worte, die fast alle zu dem trauernden Triumvirat, bestehend aus Clare, Sara und Grace, gesagt hatten. Direkt gefolgt von dem Satz: „Wenn ihr etwas braucht, meldet euch einfach.“

Doch Clare hatte eine Kraft in sich entdeckt, deren Existenz sie zwar vermutet hatte, die sie aber nie wirklich gezwungen gewesen war zu nutzen, weil sie sich auf John verlassen hatte. Er war ihre Kraft gewesen, hatte die Entscheidungen getroffen, ihre gemeinsamen Finanzen organisiert. An ihn hatten sie sich alle gewandt, damit er jegliche Art von Lebensproblemen löste, große wie kleine. John Staines, ein außergewöhnlicher Mann, ein Oberhaupt, ein starker Mann, ein geliebtes Familienmitglied, das sie zu früh verlassen hatte.

Und jetzt war Clare verwirrt.

2

September 2022

Das Haus der Familie war eigentlich ziemlich groß, überlegte Clare. Es konnte mit fünf Schlafzimmern, drei Badezimmern, zwei Empfangsräumen, einer riesigen Küche mit separatem Hauswirtschaftsraum, einem Wintergarten und einem gigantischen Garten aufwarten. Clare hatte das Gefühl, dass sie anfing wie eine Immobilienmaklerin zu denken und zu klingen.

Das Haus war der Ort, an dem ihre verwirrte Phase begann. Clare Staines, Witwe von John Staines, Mutter von Sara Carter und Grace Staines, nach außen hin sehr selbstbewusst und gesellig, aber innerlich durcheinander.

Es war vor ungefähr einer Woche gewesen, als sie im Wintergarten gestanden und darüber nachgedacht hatte, ob sie dem Rasen den letzten Schnitt des Jahres verpassen oder ihn noch eine Woche stehen lassen sollte, als ihr klargeworden war, dass es ihr eigentlich gefiel, ganz allein dort zu wohnen. Sie genoss ihren Freiraum, die Freiheit, tun zu können, was sie wollte und wann sie es wollte. John hätte gesagt: „Mähe den Rasen jetzt, warte nicht noch eine Woche. Dann wird es wahrscheinlich regnen und zu nass sein.“ Und sie hätte sofort den Rasenmäher geholt und dem Rasen am Ende noch einen zweiten, letzten Schnitt des Jahres verpasst, weil sie es zu früh getan hatte. Schließlich beschloss sie, dass der letzte Schnitt in der zweiten Oktoberwoche gemacht werden sollte. Danach würde das Gras bis zum März nächsten Jahres sich selbst überlassen werden.

Clare fand geradezu Gefallen an dieser neuen Person, dieser entschlossenen, ungezwungenen Clare.

Und sie wusste, sie würde John beseitigen. Heute würde sie den Rest seiner Klamotten zusammenpacken und sie zum Wohlfahrtsladen des Hospizes bringen und dann würde sie wieder nach Hause gehen und … ach, sie wusste es nicht, einfach irgendetwas tun! Sie würde dieses Haus zu ihrem eigenen machen, nicht ihrem gemeinsamen.

War diese Verwirrung nur ein Gefühl der Befreiung? Nein, sie glaubte nicht. Es fühlte sich an, als wäre es mehr als das. Vielmehr fühlte es sich nach Veränderung an, als würde sie die Kontrolle übernehmen, vielleicht. Möglicherweise war es an der Zeit, dass sie aufhörte zu denken: „Ich bin durcheinander“ und anfing zu denken: „Ich verändere mich, ich werde zu mir selbst“. Finanziell hatte sie nichts zu befürchten, das Haus war abbezahlt und John war ein cleverer Versorger gewesen. Sie hatte nicht arbeiten müssen, doch jetzt war es an der Zeit, zu entscheiden, ob sie vielleicht arbeiten wollte. Sie wollte ein paar Kurse besuchen, vielleicht Malerei, vielleicht Nähen, vielleicht einen Kurs in kreativem Schreiben, vielleicht sogar einen im Verputzen! Sie wollte sich der übermächtigen Präsenz ihres Ehemannes entledigen. So! Sie hatte es gesagt! Zugegeben, nur zu sich selbst und nicht laut, aber sie fühlte sich überaus beschwingt.

Clares Hände zitterten vor Aufregung über das Eingeständnis, dass John weg war und sie sich deshalb nicht vollkommen elend fühlte. Sie konnte sich an sein Gesicht erinnern – es gab viele Fotos von ihm, die im ganzen Haus verteilt waren und sie täglich an ihn erinnerten. Doch seine Stimme konnte sie nicht mehr richtig hören. Ihre Gedanken konnte sie akzeptieren, sie in sich verwahren, aber niemand, nicht einmal Vic, durfte davon wissen, dass sie ihr früheres Leben vollständig hinter sich gelassen hatte. Nach außen würde sie weiterhin genauso auftreten wie sonst, im selben Haus wohnen, im selben Körper leben. Doch ihr Geist würde fliegen.

***

„Mum!“, ertönte Graces Stimme aus dem Flur. Clare rief hinunter, sie sei im Schlafzimmer. Dann hörte sie die Schritte ihrer Tochter, die die Treppe hochrannte.

Grace sah sich erstaunt um. „Warum … was?“

„Ich sortiere Dads Sachen aus, Schatz.“ Es muss sein. Andere könnten die Kleidung vielleicht noch gebrauchen.“

„Nein“, sagte Grace, „das kannst du nicht tun. Es ist noch zu früh … Das kannst du nicht tun! Lass mich Sara anrufen, sie wird dir sagen …“

Clare ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Grace war starr vor Schock. Dies war der entscheidende Moment, der bestätigte, dass bei Clare wirklich etwas aus dem Lot geraten war. Ihre Töchter hatten sich eindeutig noch nicht damit abgefunden, dass John gestorben war, also warum hatte sie seinen Tod und John selbst so plötzlich aus ihrem Leben verbannt?

„Lass uns nach unten gehen. Ich mache uns eine Tasse Tee.“

Clare führte Grace aus dem Schlafzimmer, weg von den diversen Haufen mit den Kleidern ihres Vaters, und schloss sachte die Tür hinter ihnen. Von jetzt an musste sie besser aufpassen, was sie mit den Dingen anstellte, die mit ihrem Mann zu tun hatten, musste akzeptieren, dass die Mädchen noch nicht bereit waren, loszulassen.

Als sie sich an den Küchentisch setzten, war Graces Gesichtsausdruck fast schon rebellisch. Ihre Mutter reichte ihr eine Dose Kekse und eine Tasse Tee.

„Greif zu“, sagte sie leise, „dann können wir reden.“

„Es gibt nichts zu reden“, fauchte Grace. „Du hast hier genug Platz, um seine Sachen aufzubewahren, wenn es dich so sehr stört, sie in deiner Nähe zu haben.“

Clare seufzte. „Das ist es nicht. Wir müssen ihn loslassen. Das ist nur meine Art, damit umzugehen. Ich muss das tun. Die Leute im Hospiz haben sich absolut wunderbar um Dad gekümmert, wie du weißt, also bringe ich alles in ihren Wohlfahrtsladen. So können wir etwas für sie tun, um uns bei ihnen zu bedanken, aber es ermöglicht mir auch, die lange Reise anzutreten, auf der ich lernen muss, ohne den einzigen Mann zu leben, den ich je geliebt habe. Ich muss das tun, Grace, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt.“

Grace nippte an ihrem Tee und blickte auf, um Clare in die Augen zu schauen. „Ich weiß. Ich bin so eine Kuh. Es war nur der Schock, als ich seine ganzen Klamotten gesehen habe …“

Clare stand auf und ging um den Tisch herum zu Grace. Sie legte ihre Arme um sie, beugte sich hinunter und gab ihrer Tochter einen Kuss auf den Kopf.

Grace stieß einen tiefen, tiefen Seufzer aus.

„Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann“, sagte sie, und Clare lächelte sie an.

„Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich bin durchaus in der Lage, Sachen zu sortieren. Jetzt lass uns über das neue Apartment sprechen, dass ihr euch angeschaut habt.“

Grace und Megan waren seit drei Jahren zusammen und wohnten in einem kleinen Häuschen, das sie von Megans Eltern mieteten. John hatte etwas Zeit gebraucht, bis er die Beziehung der beiden akzeptieren konnte. Irgendwann hatte er Megan gemocht, aber Clare glaubte, dass er bis zum Schluss nicht wirklich begriff, dass Grace ihre Entscheidung gefällt hatte, genau wie Sara mit Greg.

Und jetzt waren die beiden dabei, den nächsten Schritt zu gehen, indem sie ein neues Apartment im Stadtzentrum mit Blick auf den Fluss kauften.

„Wir schließen den Vertrag am Freitag ab“, sagte Grace. „Deswegen bin ich eigentlich hergekommen. Morgen werden wir es uns noch einmal anschauen, Fenster und Böden und so weiter ausmessen, und Megan dachte, du möchtest vielleicht mitkommen.“

„Es wäre mir eine große Freude“, sagte Clare, erleichtert, dass Grace vorerst nicht mehr an Johns Habseligkeiten zu denken schien. „Ich werde hier eine kleine Ausräumaktion veranstalten, also wenn du irgendetwas haben willst …“

Clare blickte in Graces Gesicht und wusste, dass sie es schon wieder getan hatte.

„Was?“, sagte Grace. „Was tust du, Mum? Versuchst du, Dad komplett loszuwerden?“

Schuldbewusst kehrte Clare innerlich zurück zu den flüchtigen Gedanken, die sie nur Minuten zuvor gehabt hatte, als sie sich eingestanden hatte, dass sie genau das tat. Sanft berührte sie die Hand ihrer Tochter.

„Grace, mein Liebling, eine Person allein braucht nicht so viel Krimskrams wie zwei. Vielleicht beschließe ich irgendwann sogar, von hier wegzuziehen. Es ist ein riesiges Haus und viel besser für eine Familie geeignet. Aber das liegt alles noch in der Zukunft. Für den Moment habe ich das Gefühl, dass ich die Trauer hinter mir lassen muss, die Monate, in denen ich wusste, dass dein Dad mich verlassen würde. Ich brauche etwas Ruhe und ein bisschen Zeit für mich. Und die Sachen, die du für das Apartment haben kannst, haben sowieso nichts mit Dads Tod zu tun. Ich habe nur mehr, als ich brauche.“

Grace nickte, aber Clare wusste nicht, ob sie wirklich einverstanden war.

Draußen ertönte die Hupe eines Autos und Grace sprang auf. „Das ist Megan. Sie hat gesagt, sie wollte noch vorbeikommen, bevor sie heimfährt. Ist das okay?“

Clare sah sie überrascht an. „Warum um Himmels willen fragst du überhaupt? Megan ist hier genauso willkommen wie du.“

Grace reagierte mit einem kurzen entschuldigenden Schulterzucken. „Dad …“

Clares Gehirnzellen erstarrten. Sie hatte gedacht, niemand außer ihr wüsste von Johns Einstellung zu Graces und Megans Partnerschaft.

„Ich bin nicht dein Vater.“ Die Worte klangen barscher als beabsichtigt und Grace sah sie aus ihren weit geöffneten blauen Augen an. „Solange du glücklich bist, ist es mir egal, mit wem du zusammen bist. Herrgott nochmal, Grace, ich könnte dich schütteln.“

„Das wäre Kindesmisshandlung.“ Grace grinste.

„Darauf kannst du wetten“, konterte Clare, erleichtert, dass sie und Grace sich wieder neckten wie früher.

***

Erst nachdem die Frauen gegangen waren, beschloss Clare, dass der Zeitpunkt gekommen war, sich Johns Büro anzuschauen. Er hatte immer einen ordentlichen Teil seiner Arbeit von zu Hause aus erledigt und ein kleines Vermögen für die Umwandlung eines der Schlafzimmer in sein Büro ausgegeben. Am Ende wurde immerhin ein schönes Zimmer daraus. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt, und diese waren nicht nur mit Gesetzesbüchern gefüllt, die er für seine Arbeit als Anwalt brauchte, sondern es waren auch viele Romane darunter, sowohl moderne als auch alte. Nach seinem Tod war Clare ein paarmal dort gewesen, um abzustauben, aber jetzt wollte sie das Ganze etwas pragmatischer angehen.

Das Erste, was sie erledigen musste, war, einen der neuen Partner in der Anwaltskanzlei Staines zu kontaktieren und ihn zu fragen, ob sie Johns Gesetzesbücher haben wollten. Wenn die Bücher erst einmal weg waren, könnte sie den verfügbaren Platz neu beurteilen und ihn ihren Bedürfnissen gemäß gestalten – den Bedürfnissen, die sie nie haben durfte, als John noch lebte. Sie wusste, dass er niemals darüber nachgedacht hätte, dass sie etwas anderes wollen könnte, als sich um ihn und ihre Töchter zu kümmern. Der Versorger versorgte, und er war der Meinung, seine Frau solle dankbar sein, dass sie ein so einfaches Leben hatte.

Clare ging hinunter in die Garage und holte ein paar Kartons herauf. Sie rief David Barker an, den neuen Inhaber von Johns Kanzlei, und sie vereinbarten, dass am nächsten Tag jemand vorbeikam und die Bücher abholte. Clare packte sie in sechs Kartons, um das Gewicht gleichmäßig zu verteilen, und schleppte sie hinunter in den Flur. Als sie die Bücher betrachtete, so ordentlich aufgestapelt, wie es ihr möglich gewesen war, fühlte sie nichts. David hatte gesagt, für den neuen jungen Anwalt, den sie gerade eingestellt hatten, seien sie von unschätzbarem Wert, daher war das Einzige, was sie ihnen gegenüber empfand, Dankbarkeit, dass sie jemandem nützlich sein würden. Sie versuchte sich vorzustellen, wie John die Bücher benutzte, aber sie konnte es nicht.

Sie konnte es einfach nicht.

Kopfschüttelnd ging sie zurück ins Büro und stand einfach nur da. Für heute hatte sie genug erledigt. Beim Versuch, den schwersten der Kartons nach unten zu schaffen, hatte sie sich bereits eine ordentliche Prellung an einem ihrer Arme zugezogen, und entschied sich daher, für den Moment alles so zu belassen, wie es war. Es war wie ein Schock, als ihr klar wurde, wie leer das Zimmer aussah, und das, obwohl sie nur Bücher entsorgt hatte.

Mit der Hand strich sie über die glatte Oberfläche von Johns Schreibtisch und beschloss, ihn umzustellen. Sie wollte eine Nähmaschine unterbringen und trotzdem noch den Schreibtisch für allgemeine Dinge wie das Bezahlen von Rechnungen und dergleichen behalten. Es wäre ihr ein Vergnügen, den Schreibtisch zu nutzen, ein frühviktorianisches, auf Hochglanz poliertes Möbelstück, das John und sie eines Tages entdeckt hatten, als sie durch das Antiquitätenviertel spaziert waren, auf der Suche nach einem Kartentisch. John war es gelungen, den Preis um 100 Pfund herunterzuhandeln, und der Vorbesitzer erklärte sich bereit, ihn zu liefern. John hatte es geliebt, an diesem Tisch zu arbeiten, hatte gesagt, er würde viel besser zu ihm passen als der modernere, den er in der Arbeit benutzte.

Der Raum hatte zwei Fenster an einer langen, recht hohen Wand, und der Schreibtisch würde wunderbar unter eines davon passen, während vor das andere eine Arbeitsfläche für Clares Maschine käme. Bei dem Gedanken, den Raum umzugestalten, war Clare ziemlich aufgeregt. Die leeren Bücherregale würden bald wieder gefüllt werden. Vor ihrem inneren Auge konnte sie Stoffballen sehen, Schachteln mit Nähgarn, nach Farben sortiert, und Bücher jeder Art. Johns Romane konnten alle an Ort und Stelle bleiben, bis sie sie durchgesehen und diejenigen aussortiert hatte, die sie schon gelesen hatte, dann konnten sie zum Wohlfahrtsladen.

Trotz des Gefühls, dass sie genug für heute getan hatte, holte Clare eine Dose Polierspray und ein Staubtuch aus dem Hauswirtschaftsraum und säuberte schnell die Regale. Jetzt roch der Raum viel frischer, und mit dem Kopf voller Pläne ging sie endlich zu Bett. Verworrener Pläne natürlich.

3

September 2022

Zufrieden winkte Clare am nächsten Morgen Andy, dem jungen Mann aus Davids Firma, hinterher. Es hatte nur ein paar Minuten gedauert, die Kisten mit den Büchern in sein Auto zu laden. Der große Kistenstapel hatte im Flur gestanden, und Clare wusste, wenn er auch nur einen Moment länger dortblieb, würde sie eine weitere Ladung bekümmerter Gesichtsausdrücke und Zurechtweisungen von den Mädchen bekommen, falls sie vorbeikämen. Was sie nicht sahen …

Später rief David an und sagte, wie sehr er sich über die Bücher freute, und dass sie bereits in den Büroregalen standen. Er bedankte sich bei Clare und sagte, die Firma werde eine Spende an die Krebsforschung tätigen, da Clare kein Geld annehmen wollte. Sie plauderten höflich miteinander, wünschten einander alles Gute für die Zukunft, und nach dem Telefonat hatte Clare das Gefühl, dass das letzte Verbindungsstück zu John durchtrennt war.

Sie hatte ihn wirklich und wahrhaftig geliebt. Sie hatten sich in der Vorschule kennengelernt, wie viele junge Leute ihrer Generation, und waren zusammen aufgewachsen. Einen anderen Mann hatte sie nie angesehen – ach, wem machte sie etwas vor, sie war scharf auf David Beckham, Tätowierungen und so weiter – und sie hatten ein gutes Leben. Ihre Töchter vervollständigten es natürlich. Wenn ihr Sohn länger überlebt hätte als die zwei Tage, die ihm auf dieser Erde beschieden waren, wäre das Leben herrlich gewesen. Daniel war ein voll entwickeltes Baby, aber einfach nicht für diese Welt bestimmt. An diesem fürchterlichen Tag kurz vor Weihnachten 1999 war er einfach dahingeschwunden, während sie ihn hielten. Sogar dieser Sturm war beinahe vorbei gewesen.

Nach Clares Anstrengung mit den Büchern machte sie ein einstündiges Nickerchen auf dem Sofa in ihrem neuen Zimmer und träumte von John. Der Traum kam zweifellos daher, dass sie seine Sachen aussortiert hatte. Als sie aufwachte, konnte sie sich nicht klar an ihn erinnern und schob ihn schnell beiseite. Nachdem sie ihren Kopf wieder sortiert hatte, sah sie sich gründlich um. Wenn Grace und Megan kämen, um sie für die Besichtigung des Apartments abzuholen, würde sie die beiden um Hilfe beim Verschieben des Schreibtisches bitten. Alles andere würde sie allein schaffen. Sobald der Tisch auf seinem endgültigen Platz unter dem linken Fenster stünde, wäre der Raum bereit für Arbeitstische und andere Dinge. Sie würde den Raum um den Schreibtisch herum gestalten.

Clare fühlte sich beschwingt und zufrieden mit sich, doch dann hörte sie, wie die Haustür aufging, und wusste, dass Grace und Megan da waren. Der Mut verließ sie. Hoffentlich würde es keine weiteren Schuldzuweisungen geben. Sie konnte das vergnügte Schwatzen der beiden hören, während sie die Küche durchquerten, und rief sie zu sich nach oben.

Die beiden standen mitten im Türrahmen und begutachteten den leeren Raum.

„Ich will den Schreibtisch unter das Fenster stellen“, sagte Clare. „Ich weiß, deinem Dad gefiel er mitten im Zimmer, aber das lag daran, dass er immer in Bewegung war, Bücher aus dem Regal brauchte und sowas. Ich brauche eine freie Raummitte, also kann ich euch zwei bitte ausleihen, damit ihr mir helft, ihn umzustellen?“

Grace sah unglücklich aus, aber sie stellten sich an Clares Seite, und zu dritt begannen sie mit der Mammutaufgabe, den Schreibtisch zu bewegen. Er war schwer, und sie schleiften ihn eher, als ihn zu tragen. Clare war von dem Anblick begeistert – vor dem riesigen Fenster sah er so viel besser aus – und sie konnte nach draußen sehen, wenn sie daran saß. Selbst Grace pflichtete ihr widerwillig bei, dass er gut aussah. Megan knuffte sie spielerisch in den Arm.

„Halt die Klappe, Miesepeter. Ich bin da ganz bei deiner Mutter. Der Raum muss für sie funktionieren. Was hast du sonst noch damit vor, Clare?“

„Ich brauche ein paar Arbeitsflächen, eine für meine Nähmaschine und eine, auf der ich zuschneiden kann. Und einen großen Schrank als Stauraum, dann kann ich schon loslegen. Alles andere kann ich dann je nach Bedarf ergänzen.“

Grace sah sich um. „Es ist ein hübscher Raum.“

„Absolut, und darum werde ich ihn auch nutzen. Dein Dad war so gerne hier, und ich bin sicher, mir wird es genauso gehen. Er hat sich viele Gedanken über dieses Zimmer gemacht und eine Menge Geld investiert, um es zu etwas Besonderem zu machen, und es gibt keinen Grund, warum ich jetzt nicht davon profitieren sollte.“

„Vermisst du ihn, Mum?“

„Das ist eine alberne Frage, Grace. Du weißt, dass ich das tue. Aber irgendwann müssen wir wieder leben. Er wird nie zurückkommen. In meinem Herzen wird er weiterleben und ich werde weiterhin jeden Tag meines Lebens an ihn denken. Und hier, in seinem Lieblingszimmer, wird er immer bei mir sein.“

Lügen.

Sowohl Grace als auch Megan umarmten Clare, also musste sie überzeugend geklungen haben. Gemeinsam gingen sie hinunter, und Clare folgte ihnen in ihrem eigenen Auto zum neuen Apartment, anstatt auf die Rückbank des winzigen Aygo von Grace und Megan zu klettern.

Die Frauen parkten nebeneinander, gingen hinüber zum Rand des Parkplatzes und blickten hinunter zum Fluss. Clare blieb noch einen Augenblick länger als die beiden, beobachtete ein paar vorbeischwimmende Enten und dachte, wie schön die Aussicht doch an einem herrlich heißen Sommertag wäre. Heute war kein solcher Tag. Es war ziemlich kühl, und sie beeilte sich, Grace und Megan einzuholen, bevor sie den Aufzug erreichten.

Das Apartment war nicht riesig, aber es hatte zwei Schlafzimmer und einen wohlproportionierten offenen Wohnbereich. Kaum waren sie eingetreten, holten sie schon die Maßbänder hervor. Clare bekam die Aufgabe, alle Maße zu notieren, und sie bestand darauf, sowohl das metrische System als auch Fuß und Zoll zu verwenden. Grace und Megan lachten sie aus, doch Clare war schon einmal mit Maßen ertappt worden, die für ein englisches Gehirn keinen Sinn ergaben!

„Am Freitag unterschreibt ihr also den Vertrag?“

Grace nickte. „Auf jeden Fall. Darum haben sie uns schon den Schlüssel überlassen. Und wir können es kaum erwarten.“

„Gut, denkt an mein Angebot. Wenn euch irgendetwas fehlt, bin ich mir sicher, dass ich es habe.“ Clare dachte an das winzige Haus, in dem sie aktuell wohnten. „Habt ihr hierfür genug Möbel?“

„Wir nehmen unser Sofa mit. Ich weiß, es wird bei all dem Platz etwas verloren aussehen, aber irgendwann besorgen wir uns ein neues. Wir haben Küchenstühle für Besucher.“ Megan lachte. „Sie sind daran gewöhnt.“

Die beiden waren eindeutig sehr glücklich und so einträchtig, dass Clare geradezu neidisch war. Sie reichte Grace einen Scheck.

Grace sah erst den Scheck und dann ihre Mutter an. „Wieso? Ich meine … Das können wir nicht annehmen, Mum!“

„Warum nicht? Es ist dein Erbe. Eines Tages wirst du es bekommen, also warum nicht jetzt, wenn du es brauchst? Und bevor du irgendwas sagst, ich habe hier noch einen“ – Clare wedelte mit einem ähnlichen Stück Papier – „für Sara und Greg mit exakt derselben Summe.“

Grace reichte Megan den Scheck, und deren Augen weiteten sich. „Clare …“

„Megan King, werde mir jetzt bloß nicht sentimental. Als ich John geheiratet habe, waren seine Eltern bereits tot, aber meine Eltern haben uns 150 Pfund gegeben. Das war unsere Rettung, denn wir hatten nichts. John war noch ein ganz junger Anwalt und ich arbeitete in einem Laden, also waren wir knapp bei Kasse. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, und darum helfe ich euch jetzt aus.“

Grace nahm Megans Hand. Wir können eine neue Garnitur kaufen, ein Sofa mit passenden Sesseln, oder sogar eine Eckeinheit. Oh mein Gott, Megan, wir werden uns richtig hinsetzen können!“

Beim Anblick ihrer Gesichtsausdrücke musste Clare lachen.

„Denkt nur daran, was immer ihr jetzt von mir bekommt, wird nicht mehr da sein, wenn ich weg bin.“

„Du wirst nirgendwo hingehen.“ Grace kam herüber und gab Clare einen Kuss.

Das hatten sie auch bei Graces Vater gedacht, doch Clare sagte nichts.

Nachdem sie mit den Abmessungen fertig waren, verabredeten sie sich im Marks & Spencer’s Café im Einkaufsviertel Fargate, um eine Kleinigkeit zu essen und vielleicht ein bisschen shoppen zu gehen.

***

Es war ein gutes Mittagessen. Sie plauderten und sprachen über einen gemeinsamen Ausflug zu IKEA mit beiden Autos, damit sie mit Clares Auto die größeren Einkäufe, die sie höchstwahrscheinlich machen würden, transportieren könnten. Nachdem Clare noch einen Witz darüber gemacht hatte, dass der Kofferraum von Graces und Megans Auto nicht groß genug für all ihre Tüten von Marks & Spencer war, geschweige denn für eine IKEA-Tasche, verabschiedete sie sich.

***

Clare kam nach Hause, holte ihre Post aus dem Briefkasten an der Rückseite der Tür und ging in Richtung Küche. Sie machte sich eine Kanne Kaffee und setzte sich an den Tisch, erleichtert darüber, dass Grace sich vom Anblick ihrer Mutter, die die Kleidung ihres Vaters für den Wohlfahrtsladen zusammenfaltete, wieder erholt zu haben schien. Es war ein fröhlicher Tag gewesen, und mit einem deutlich besseren Gefühl als nach der Auseinandersetzung mit Grace schloss Clare diesen Gedanken innerlich in die Arme.

An der Küchentür ertönte ein sanftes Klopfen, dann hörte Clare die unvergänglichen Worte „Ich bin’s.“ Da sie diesen Satz schon seit Jahren hörte, wusste sie zum Glück, dass es Vic war, und stand auf, um die Tür zu öffnen. Zitternd betrat Vic die Küche.

„Schweinekalt draußen. Ich dachte, wir hätten Herbst, September“, murrte sie.

„Es ist doch nicht schweinekalt. Man kann es nicht einmal als kalt bezeichnen, wenn du eine Jacke anziehst, Dummerchen.“

„Aber ich gehe doch nur über die Straße zwischen meinem Haus und deinem!“

„Okay. Ich gebe auf.“ Clare warf ihrer Freundin ein Lächeln zu. „Kaffee?“

„Wenn es für Gin noch zu früh ist, dann ja.“

„Ist es. Und ich glaube, ich muss wissen, was mit dir los ist, bevor du den Gin intus hast.“

„Woher weißt du, dass etwas los ist?“

„Das sehe ich. Ich kenne dich jetzt seit Gott weiß wie vielen Jahren, und ich habe es immer gemerkt, wenn etwas bei dir nicht in Ordnung war. Ich nehme an, es geht um Rob?“

Vic nickte kaum merklich. „Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn verlasse.“

„Was? Was ist aus dem Plan geworden, dass du ihn dazu bringen wolltest, zu gehen, damit du im Haus bleiben kannst?“ Clare war sich ihres besorgten Gesichtsausdruckes bewusst.

Vic strich sich ihr langes kastanienbraunes Haar hinter ihr rechtes Ohr und wandte den Kopf leicht zur Seite. „Er hat das hier getan.“

Der Bluterguss war trotz der Make-up-Schicht, die Vic aufgetragen hatte, deutlich zu sehen.

Clare fehlten die Worte. Sie streckte die Hand nach Vics Haar aus, hielt es zurück, und sah genau hin.

„Die Haut ist unversehrt. Warum hat er das getan?“

„Weil ich gesagt habe, dass ich ihn verlasse. Er ist davon überzeugt, dass ich bei einem anderen Mann einziehen will. Er scheint einfach nicht begreifen zu können, dass ich ihn einfach nicht mag. Er macht mich unglücklich, wir reden nie, und wir haben keinerlei gemeinsame Interessen. Ich habe eine kleine Mietwohnung gefunden, bis ich etwas Geld für das Haus bekomme, und dann bin ich weg. Ich hätte nie gedacht, dass er gewalttätig wird. Ich dachte nicht, dass er so viel Energie hätte, wenn ich schonungslos ehrlich bin. Es sind vor allem die fürchterlichen Dinge, die er sagt. Er ist so scheußlich, hat nie ein nettes Wort für mich übrig, und mir reicht es. Ich werde das Haus aufgeben, um so etwas Ähnliches wie Glück und Erleichterung in meinem Leben zu finden. Gestern habe ich die Wohnung besichtigt und die Kaution bezahlt. Jetzt gehört sie mir. Ich habe ihnen gesagt, dass ich schnell umziehen muss, aber eigentlich nur deshalb, damit ich es mir nicht wieder anders überlege. Doch gestern Abend hat er mir einen so heftigen Schlag verpasst, dass ich zu Boden gestürzt bin, und ich wusste, es gibt kein Zurück mehr.“

„Wo ist er jetzt?“

„In der Arbeit. Wenn er heute Abend heimkommt, wäre ich gerne weg, aber ich wollte nicht einfach so verschwinden. Ich musste es dir erzählen, dir meine Sicht der Dinge schildern, bevor er heute Abend hier angerannt kommt, um herauszufinden, was du weißt.“

„Dann erzähl es mir nicht. Es fällt mir leichter, die Unwissende zu spielen, wenn ich nichts weiß. Ich erwarte stündlich zur vollen Stunde eine Nachricht von dir, damit ich weiß, dass es dir gut geht, und sobald er akzeptiert hat, dass du weg bist, kannst du mir erzählen, wo du bist. Okay?“

Clare schenkte den Kaffee in eine Tasse und reichte sie Vic. „Willst du ihn mit Schuss?“

Vic schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche einen klaren Kopf. Das mit dem Gin war nur Spaß. Heute Morgen habe ich in der Arbeit angerufen und gesagt, dass es mir nicht gut geht und ich wiederkomme, sobald ich kann, aber wenn ich wieder geradeaus denken kann, gehe ich hin und sage ihnen die Wahrheit.“ Sie seufzte. „Das hier ist wirklich heftig, Clare. Ich habe Angst, aber jetzt, da ich es getan habe, fühle ich mich leichter. Die Wohnung ist nett, nur ein einziges Schlafzimmer, aber mehr brauche ich im Moment nicht.“

Vic nippte an ihrem Kaffee und sammelte ihre Gedanken. „Und es gibt einen Parkplatz im Innenhof auf der Rückseite, also ist sogar mein Auto versteckt. Ich werde schon zurechtkommen, ich weiß es. Er hat mir Angst eingejagt, Clare. Es kam so unerwartet, und ich kam nicht einmal dazu, seiner Faust auszuweichen.“ Die Tränen begannen ihr über das Gesicht zu rinnen, und Clare schob ein paar Taschentücher über den Tisch.

„Es ist gestern Abend passiert? Du hättest gleich herkommen sollen.“

„Ich habe mich nicht getraut. Ich wollte nicht, dass er auch auf dich losgeht. Er war ziemlich in Rage, das kannst du mir glauben.“

„Ich habe einen Baseballschläger …“

Vic brach grunzend in Lachen aus und wischte sich die Augen trocken, während sie versuchte, sich von ihrem Kummer zu erholen. „Den hatte ich vergessen. Du hast recht, das hätte geholfen. Hast du ihn immer noch bei der Haustür stehen?“

„Ja, aber nur, weil ich noch nicht daran gedacht habe, ihn wegzuräumen.“ John war oft weg, also war Clare seinen Anweisungen gefolgt und hatte den Schläger dort hingestellt, da sie oft allein im Haus war. „Morgen werfe ich ihn in den Müll. Ich wollte ihn sowieso nie wirklich haben.“

Vic leerte ihre Tasse und stand auf. „Ich wusste, du würdest dafür sorgen, dass ich mich besser fühle. Jetzt werde ich in mein Auto steigen und fahren. Ich habe es bis oben hin mit Zeug beladen, Bettwäsche und Handtüchern, den Sachen, die ich am dringendsten brauche. Ich mache mich aus dem Staub, bevor Rob heimkommt. Sag mir Bescheid, wenn er kommt und nach mir sucht, ja?“

Clare nickte. „Wenn er hier auftaucht, werde ich verdammt nochmal sicherstellen, dass er weiß, dass ich dein Gesicht mit dem frischen Hämatom gesehen habe.“

Vic beugte sich vor, um ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange zu geben. „Danke, Partner. Ich melde mich später. Und wenn ich mich eingerichtet habe, sage ich dir, wo ich bin. Dann kann ich dir einen ginfreien Kaffee machen.“

4

September 2022

Clare stand am Fenster, bis Vics Auto außer Sichtweite war, dann ging sie langsam die Treppe hinauf. Sie wollte das Büro schnell in Ordnung bringen, aber sie brauchte die Maße für den Tisch, den sie kaufen wollte und der ihre Arbeitsfläche zum Zuschneiden werden sollte, was auch immer sie zuschneiden würde.

Clare hatte immer Spaß an Handarbeit gehabt, es war ihre Flucht aus der Hausfrauenrolle, die John von ihr verlangte. Die Mädchen zu bekommen, war für ihn ein Segen gewesen. Es bedeutete, dass Clare zu Hause bleiben musste, um sich um sie zu kümmern, und John bekam allen häuslichen Komfort. Seine Beförderung kurz nach der Hochzeit hatte ihr Einkommen beinahe über Nacht verdoppelt, und ab diesem Zeitpunkt hatte er versucht, sie zu der Hausfrau zu machen, die er haben wollte. Sie hatte sich gegen seine Pläne gewehrt, bis sie mit Sara schwanger wurde, aber dann hatte sie dem Unvermeidbaren nachgegeben. Um die endlosen Stunden zu füllen, hatte sie mit Handarbeit angefangen.

Sie brachte sich selbst das Häkeln bei, wurde gut im Stricken von Fischerpullovern, und besuchte verschiedene Handarbeitskurse. Vom Patchwork-Kurs war sie begeistert gewesen, aber John hatte sich darüber beschwert, dass überall Stoffe herumlagen, und so hatte sie dieses Hobby wieder aufgegeben. Doch jetzt, als sie den Schreibtisch im Büro betrachtete, dachte sie darüber nach, ihre unbestrittenen Talente in diesem Bereich wieder aufleben zu lassen.

Sie öffnete die Bürotür und sog die Atmosphäre und den Geruch des Raumes auf, welcher von der Politur auf den Regalen stammte, die sie an vielen Tagen in Folge aufgetragen hatte. Sie ging hinüber zu dem Fenster, das ein natürliches Licht auf das werfen würde, was sie dort letztendlich als Arbeitsstation installieren würde, und blickte hinaus in den Vorgarten.

Gern hätte sie dort draußen ein kleines Bistro-Set gehabt. John hatte gesagt, niemand sitze in seinem Vorgarten, selbst wenn der den Großteil des Tages Sonne abbekäme. Das mache man einfach nicht, es sei zu öffentlich. Man sitze im Garten hinter seinem Haus. Und so hatten sie eine bequeme Ess- und Sitzgarnitur für die hintere Veranda gekauft. Doch warum die Sonne vergeuden? Clare wäre glücklich damit, vorne zu sitzen, und da es sich buchstäblich um einen kleinen Tisch und zwei Stühle handelte, konnte sie diese hinstellen, wohin immer sie wollte, entweder in die herrliche pralle Hitze oder in den Schatten, wenn die Hitze zu herrlich und prall wurde. Während sie so aus dem Fenster starrte, plante sie innerlich einen Ausflug ins Gartencenter, mit gezückter Kreditkarte.

Obwohl sie Johns Bücher weggebracht hatte und die Möbel umgestellt hatte, konnte sie seine Anwesenheit im Raum spüren. Doch sie konnte ihn nicht mehr hören. Oder hatte sie einfach aufgehört zu lauschen?

***

Die Wand, die ihr zur Verfügung stand, war etwas über acht Fuß lang, und als Clare ein wenig darüber nachdachte, wurde ihr klar, dass sie eine gute Länge bekäme, wenn sie zwei Tische mit je vier Fuß aneinanderreihen würde, doch wenn nötig könnte sie sie auch zu einem großen Viereck zusammenstellen. Mit Klebeband klebte sie zwei große Stücke des Guardian zu der Größe der Tische zusammen, die sie online gesehen hatte, legte sie auf den Boden und probierte verschiedene Konstellationen aus.

Als beide ihrer Gehirnhälften schließlich einverstanden waren, klappte Clare ihren Laptop auf und bestellte die zwei Tische, während sie an dem schönen antiken Schreibtisch saß, von dem sie wusste, dass er nicht so gut zu den beiden modernen Klapptischen passen würde, aber es war ihr egal. Sie glaubte keine Sekunde daran, dass sie zu ihren Lebzeiten noch einen antiken Zuschneidetisch finden würde, also lehnte sie sich glücklich in Johns bequemen ledernen Schreibtischstuhl zurück und lächelte. Sie freute sich darauf, ihren eigenen Handarbeitsstuhl zu kaufen – den konnte sie nicht online bestellen; sie musste ihn probesitzen, beschloss sie.

Während sie die sanfte Schaukelbewegung des bequemen Stuhls genoss, fröhlich vor sich hin sinnierte und darüber nachdachte, wie unklug es gewesen war, Johns Zeitungen nicht abzubestellen, hörte sie ein Hämmern an der Haustür. Sie stand auf und spähte aus dem Fenster, wohlwissend, wen sie dort unten in ihrer Einfahrt sehen würde.

Clare öffnete das Fenster und rief Rob zu, sie komme gleich herunter.

***

Sie öffnete die Haustür und Rob drängte sich an ihr vorbei. „Wo ist sie?“ Seine Stimme war scharf, fordernd.

„Sie lässt gerade ihr Gesicht für das Scheidungsgericht fotografieren“, sagte Clare und bewegte sich ein Stück auf den Baseballschläger zu.

„Was? Wovon sprichst du, verdammt nochmal?“

„In meinem Haus wird nicht geflucht, Rob.“

„Nicht geflucht? Ist das alles, was du zu sagen hast? Wo zur Hölle ist meine Frau?“

„Ich habe keine Ahnung. Sie war vor ein paar Stunden hier, aber ich habe sie darum gebeten, mir nicht zu sagen, wo sie hingeht, damit ich nicht schwach werde und in Versuchung gerate, es dir zu verraten, sobald du anfängst zu flennen und zusammenbrichst.“

„So weit kommt’s noch.“ Seine Worte klangen beinahe wie ein Knurren.

„Daran habe ich keinen Zweifel“, sagte Clare ruhig, „aber ich werde dir niemals sagen, wo sie ist, darum hätte ich gern, dass du jetzt mein Haus verlässt. Bring mich nicht dazu, die Polizei zu rufen …“

Er starrte sie eine gefühlte Ewigkeit lang an, dann drehte er sich um und ging. Schnell schloss Clare die Tür ab, dann linste sie durch das kleine Flurfenster, um sicherzugehen, dass er auch wirklich weg war. Sie konnte sehen, wie er die Straße überquerte und zu seinem Haus ging. Als sie sich abwandte, landete ihr Blick auf dem Baseballschläger, der Zielscheibe zahlreicher Spötteleien ihrerseits und ihrer Mädchen, nachdem John insistiert hatte, dass er im Flur bleiben solle. Sie beschloss, den Schläger an Ort und Stelle zu belassen.

Schnell schickte sie Vic eine Nachricht, um ihr mitzuteilen, dass Rob eine kleine Randale machte, um sie zu finden, und dass sie sich keine Sorgen machen solle. Vic antwortete ebenso schnell und schrieb, dass sie ihr kleines Apartment liebe, es aber nicht sehr sauber sei, weshalb sie gerade alles schrubbe. Außerdem dankte sie Clare für ihre Unterstützung und schickte ihr drei Küsse.

Clare lächelte und fragte sich, warum das alles so lange gebraucht hatte, um zu explodieren. Vic war so unglücklich gewesen, schon lange vor Johns Diagnose, und trotzdem hatte sie auf Robs Faustschlag gewartet, ehe sie etwas unternommen hatte. Vielleicht, dachte Clare, war es nicht das erste Mal gewesen. Die Wohnung hatte bereitgestanden und auf sie gewartet. Clare glaubte nicht, dass das in weniger als einem Tag passiert sein konnte. Es deutete auf einen früheren Schlag hin, den Vic nicht erwähnt hatte, vielleicht, weil sie die Sache überdenken musste, bevor sie etwas unternehmen konnte.

Nun hatte sie eindeutig etwas unternommen, und Clare wusste, dass Robs Besuch nicht der letzte gewesen war. Er würde versuchen zu verhindern, dass seine Frau eine offizielle Anzeige erstattete oder sogar einen Anwalt konsultierte, mit diesem Hämatom am Kopf.

Clare ging zurück ins Büro, sammelte die Zeitungen auf dem Fußboden ein und klappte ihren Laptop zu. Sie hob ihn auf, um ihn mit nach unten zu nehmen, dann stellte sie ihn zurück auf den Schreibtisch. Hier war nun sein Platz. Die Tischoberfläche sah nicht ganz so nackt und ungeliebt aus, wenn ein Computer darauf stand, und Clare musste sich daran gewöhnen, den Raum als das zu behandeln, wofür er vorgesehen war: als Arbeitszimmer.

***

Als Clare feststellte, dass sie eigentlich nichts essen wollte, wusste sie, dass Rob sie stärker aufgebracht hatte als ursprünglich gedacht. Sie prüfte, ob all ihre Türen abgeschlossen waren, zog mit einer Kanne Tee ins Wohnzimmer um und nahm ihren Kindle zur Hand.

Eine Stunde später war die Kanne leer und Clare hatte einige elektronische Seiten gelesen, ehe sie aufgab, da das kleine technische Gerät ihr mitteilte, die Batterie sei entladen.

Die Sonne stand schon recht tief, als sie die Verandatüren aufschloss und in den hinteren Garten hinaustrat. Die Rosen, die sie als Terrassenumrandung gepflanzt hatten, wiegten sich in der Nachtluft, und Clare wusste, dass sie recht damit gehabt hatte, ausschließlich auf stark duftende Varianten zu bestehen. John hatte eine Palette aus verschiedenen Farben gewollt, aber sie hatte sich durchgesetzt. Das Endergebnis war ein herrlicher Mix aus verschiedenen Rosendüften.

Clare durchschritt den Garten in seiner Länge und blieb stehen, um am Lavendel zu riechen, der perfekten Ergänzung zu den Rosen, und entfernte die verwelkten Blüten einiger Blumen. Sie liebte ihren Garten, und dachte ernsthaft darüber nach, das kleine Gemüsebeet wieder zu einem zweiten Rasenabschnitt werden zu lassen. Sie lächelte in sich hinein, als sie an die Möglichkeit dachte, dort eines Tages einen Sandkasten und eine Schaukel zu haben, wenn nur eine ihrer Töchter je dazu käme, ein Enkelkind für sie in die Welt zu setzen.

Als sie so dastand und das traurige Gemüsebeet betrachtete, traf sie die Entscheidung. Sie würde sich etwas Fertigrasen liefern lassen, damit der Garten ein wenig leichter zu bearbeiten war. Und dann geduldig auf die Ankunft eines Enkelkinds warten, das darauf spielen konnte.

Clare kam am Ende des Gartens an, wo die Pergola die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfing, und setzte sich für einen Moment, um zurück auf den Garten zu schauen. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah, und fügte Gärtnern der Liste all der Dinge hinzu, die sie nun tun würde, um das Wirrwarr in ihrem Kopf zu bekämpfen.

Das letzte Mal hatte sie hier gesessen, als John noch am Leben war. Sie hatte ihm hinunter zur Pergola geholfen, da er ziemlich wacklig auf den Beinen geworden war. Sie hatten über ihre Töchter gesprochen und behutsam das Thema Grace und ihre ‚gute Freundin‘ Megan umschifft. Die Worte ‚gute Freundin‘ waren auf zwei verschiedene Arten verwendet worden. Bei Grace hatten sie ‚Freundin‘ die so viel mehr ist, als das bedeutet, wohingegen John sie mit einem Anflug von Spott aussprach, beinahe ungläubig, dass seine Tochter offenbar eine Frau einem Mann vorzog. Clare wusste, dass er entsetzt wäre über ihre derzeitigen Pläne, eine gemeinsame Wohnung zu kaufen, und sie fragte sich kurz, wie weit diese Bigotterie noch gegangen wäre, wenn er überlebt hätte. So viele Male hatte sie geschwiegen, so viele Male hatte sie ihn anschreien wollen, er solle im aktuellen Jahrhundert ankommen, aber seine Krankheit drängte alles andere in den Hintergrund, und sie ließ es auf sich beruhen. Sie ließ es auf sich beruhen, weil sie gewusst hatte, dass er bald tot wäre, und es war ihr gelungen, seine Bosheit vor Grace verbergen.

Als die Dunkelheit sich herabsenkte, gingen in verschiedenen Bereichen flackernd die neuen Gartenlampen an, und Clare wartete, bis auch der Rest sich einschaltete. Sie liebte es, wenn sie alle den Garten erhellten. Manche brauchten länger als andere, aber innerhalb einer Viertelstunde leuchteten alle und würden es noch für einige Stunden tun, ehe ihre Solarbatterien wieder Sonne brauchten, um sich aufzuladen. Clare stand auf und ging zurück zur Verandatür, weiterhin die Düfte des Gartens in sich aufsaugend, und beugte sich hier und da hinunter, um eine Lampe zu berühren, die noch nicht zum Leben erwacht war.

Auf der Terrasse blieb sie stehen und blickte zurück – einfach wunderschön, ein bisschen wie eine Mini-Version von Blackpool, dachte sie grinsend. John hätte es gehasst.

Sie ging ins Haus, sperrte die Türen hinter sich ab und schloss den Lamellenvorhang. Dann schenkte sie sich ein Glas Wein ein, einladend und beruhigend, und knabberte an einer Brotstange, während sie ihren mittlerweile aufgeladenen Kindle in die Hand nahm. Hunger hatte sie keinen, aber sie ging davon aus, dass das Weintrinken das ändern würde und sie dann etwas mehr im Magen bräuchte als ein Glas Wein.

Clare setzte sich auf das Sofa, machte es sich bequem und fing an zu lesen. Wie der Kindle auf ihrer Nase landete, spürte sie nicht, sondern tat es im Schlaf als kleine Irritation ab. Als sie das nächste Mal aufwachte, war es fünf Uhr morgens, und sie musste dringend pinkeln.

Es war ein früher Start in einen weiteren herrlich sonnigen Tag.

5

September 2022

So früh aufzuwachen, hatte Clares Energielevel mit einem Schlag in die Höhe schießen lassen, und nach einem schnellen Frühstück und zwei Tassen Kaffee machte sie sich auf den Weg ins Büro, bewaffnet mit einem Maßband, falls sie ihre Pläne ändern sollte, Notizblock, Stift und einem Eimer voller Putzutensilien. Da am nächsten Tag die Vorhänge fällig waren – noch etwas, das sie auf ihrer To-Do-Liste abhaken konnte – wollte sie die Fenster putzen.

Sie begann damit, die Maße für die Tische, die sie als Arbeitsstationen aufstellen wollte, zweimal zu kontrollieren, auch wenn sie wusste, dass es zu spät war, um noch irgendetwas zu ändern, da sie heute Nachmittag geliefert werden sollten.

Clare fertige eine schnelle Skizze auf ihrem Notizblock an, notierte Längen und die geplante Konfiguration der Möbel und dachte kurz darüber nach, einen Schreiner kommen zu lassen, um Türen an den Bücherregalen anzubringen. Das würde sicherlich den Staub von den Stoffen auf den Regalen fernhalten und gleichzeitig die Bücher schützen, die nicht unbedingt zur Schau gestellt werden mussten. Sie würde Johns Unterlagen durchgehen, den Namen des netten Burschen suchen, den er hatte kommen lassen, um die ursprüngliche Arbeit zu erledigen, ihn dann anrufen – Ben hieß er, glaubte sie –, ihm erklären, was sie wollte und sehen, ob er sie in seinen Terminkalender unterbringen konnte.

Eine halbe Stunde später blitzten die Fenster und der Spiegel. Clare saß in Johns Stuhl und spürte nichts. Es fühlte sich nicht so an, als würde John die Atmosphäre beherrschen, und sie führte es darauf zurück, dass sie die Möbel umgestellt hatte. Der Schreibtisch, dieses wundersame antike Möbelstück, hatte die ganze Zeit, in der John es besessen hatte, in der Mitte des Raumes gestanden, aber jetzt gehörte es ihr und stand an einem anderen Ort, unter dem linken Fenster, mit Blick auf den Vorgarten.

Es war am naheliegendsten, als Erstes die drei Schubläden auf der rechten Seite durchzugehen. Sie waren alle gleich groß und John hatte dort akribisch Akten über ihre Finanzen, seine Aktien und Wertpapiere und alles andere, was Clare wahrscheinlich würde wissen müssen, angelegt. Dennoch waren die obersten Gegenstände in der Schublade nicht von offizieller Natur: Es waren drei Weihnachtskarten – eine von ihr, eine von Grace und Megan und eine von Sara und Greg. Clare spürte einen Kloß im Hals und las sich die Worte ihrer Familie durch, durchwegs optimistisch, obwohl sie wussten, dass sie ihm nie wieder eine Karte schicken würden.

Clare legte die Unterlagen auf einen Stapel und ihr wurde klar, dass sie alles davon aufbewahren musste, wenn auch nicht unbedingt in der obersten Schublade. Dann sprühte sie Politur hinein, um die Schublade einer befriedigenden Reinigung zu unterziehen. Sie öffnete die mittlere Schublade, in der sich nur sehr wenig befand. Johns letzten Terminkalender legte sie auf den Stapel, der in die unterste Schublade kommen sollte, in der Hoffnung, dass sich irgendwo darin Bens Name und Telefonnummer befanden, ging durch die anderen Notizen und Kommentare über Fälle, an denen er beteiligt gewesen war, und legte einen neuen Stapel mit Unterlagen an, die geschreddert werden konnten. Sie wischte die Schublade aus und ging zu der untersten über, welche zwei Flaschen enthielt – eine mit Whisky und eine mit Brandy –, außerdem ein Brandy-Glas und einen Whisky-Tumbler.

Clare trug den Inhalt die Treppe hinunter, wusch rasch die Gläser aus und stellte die Flaschen in die Hausbar, neben den anderen Alkohol, der nun wahrscheinlich nie mehr getrunken werden würde. Bevor sie wieder hinaufging, machte sie sich einen große Tasse Kaffee und nahm noch einen Untersetzer aus dem Wohnzimmer mit. Gott bewahre, dass sie es je wagen würde, einen Ring auf dem Schreibtisch zu hinterlassen, der dessen Perfektion ruinieren würde, dachte sie und lächelte bei sich.

Nachdem die untere Schublade sauber war, nahm sie den Stapel mit den Unterlagen, die aufgehoben werden sollten, und legte alles hinein. Dann ging sie kurz ins Schlafzimmer, um eine der Tragetüten von Marks & Spencer vom Vortag zu holen. Sie warf all das zu schreddernde Papier in die Tüte und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf die linke Schubladenhälfte.

Auch hier passten die Schubladen perfekt zusammen, und Clare konnte nicht anders, als die Schönheit des Möbelstücks auf sich wirken zu lassen. Es hatte ein kleines Vermögen gekostet, aber als sie schwach dagegen protestiert hatte, hatte John gesagt: „Nun, wenn ich tot und begraben bin, kannst du es für mehr verkaufen, als ich dafür bezahlt habe. Es ist eine Investition, Clare.“

Sie hatten nicht geahnt, dass seine prophetischen Worte sich so schnell bewahrheiten würden und er nur etwa fünf Jahre lang in den Genuss käme, an seinem Schreibtisch zu sitzen.

In der linken obersten Schublade befand sich nur sehr wenig – neue Notizbücher, Schreib- und Bleistifte, sein Füllfederhalter, den er Kugelschreibern vorzog – das Handwerkszeug seiner Branche. Clare nahm alles heraus, säuberte die Schublade und legte alles zurück. In den unteren beiden Schubladen war nichts außer ein paar Schmierblättern, hauptsächlich mit Kritzeleien, die John während seiner Gespräche mit Klienten gemacht hatte. Sie hatten immer über diese Marotte gelacht, aber er hatte darauf bestanden, dass es ihm dabei half, sich zu konzentrieren. Manche der Zeichnungen waren sehr gut und zauberten Clare ein Lächeln ins Gesicht. Sie suchte drei der besseren heraus, denn sie hatte die Idee, sie einzurahmen, damit sie und die Mädchen je eine haben konnten.

Den Rest kippte Clare in die Tragetasche, bevor sie diese zusammen mit Johns altem Schredder auf den Treppenabsatz stellte, und kehrte zurück, um den Schreibtisch fertig zu putzen. Nachdem alle Schubläden sauber waren und geschmeidig auf und zu gingen – sie musste mit einer Kerze an der kleinen abgenutzten links unten entlangfahren, um das zu bewerkstelligen –, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Äußere des Schreibtischs. Er hatte einen kleinen Aufsatz mit sechs winzigen Schubläden, die komplett leer waren. Clare nahm eine nach der anderen heraus, sprühte sie ein und polierte sie, dann ließ sie sie wieder hineingleiten. Sie hatte Schwierigkeiten, die Schublade rechts unten wieder hineinzuschieben, also nahm sie sie heraus, rieb die beiden oberen Kanten mit der Kerze ein und versuchte es noch einmal. Es ging immer noch nicht leicht, also nahm sie sie wieder heraus und steckte die Hand in die Öffnung, diesmal ohne Lappen. Sie spürte ein kleines Stück Holz in der linken Öffnung und legte den Kopf auf den Schreibtisch, um hineinschauen zu können.

„Oh“, sagte Clare zu sich selbst, „was zum Teufel ist das?“ Erneut steckte sie die Hand hinein und berührte das kleine Stückchen Holz, dann zog sie daran. Es bewegte sich und sie hörte ein winziges Geräusch. Es kam von unter dem Schreibtisch. Clare schob den Stuhl zurück, um zu sehen, was passiert war.

Im Fußraum war eine kleine Schublade zum Vorschein gekommen, und sie konnte etwas Weißes darin erkennen. Behutsam zog sie es heraus und legte den Gegenstand, bei dem es sich um einen Umschlag zu handeln schien, auf den Schreibtisch, bevor sie mit dem Lappen in der zuvor versteckten Schublade herumwischte. Sonst befand sich nichts darin. Clare schob die Schublade zurück an ihren Platz und tastete dann nach dem kleinen Höcker, der die Schublade hatte aufgehen lassen. Er lag nun flach am Tischbein an und war für das bloße Auge komplett unsichtbar.

Sie setzte die Schublade des Aufsatzes wieder ein, ehe sie weitermachte, und bestaunte die Erfindung. Ein Geheimfach. Sie hatte von Schreibtischen gehört, die so etwas hatten, aber John hatte ihr nie davon erzählt, dass seiner ein solches besaß. Vielleicht hatte er es nicht gewusst und dieser Umschlag hatte schon darin gelegen, bevor John ihn gekauft hatte. Er muss begeistert gewesen sein, als er ihn entdeckt hatte, falls dem so war.

Jetzt musste nur noch die Tischoberfläche poliert werden und alles war gut. Dann würde Clare sich das kleine Vergnügen gönnen, den Umschlag und dessen Inhalt zu inspizieren.

Sie sprühte und polierte und machte es sich auf dem Stuhl bequem. Dann sah sie den Stempel mit Queen Elizabeths Kopf und dem Datum 15. Juni 2004, adressiert an Mr. John Staines.

6

September 2022

Mit einem Poststempel von 2004 handelte es sich definitiv nicht um einen antiken Umschlag. Er war lediglich achtzehn Jahre alt und in einem makellosen Zustand. Der Poststempel zeigte, dass er in Sheffield aufgegeben worden war. Er war nicht mit einem Brieföffner geöffnet worden, wie John es normalerweise getan hatte; ein einfaches Lösen der versiegelten Lasche hatte ausgereicht. Die Adresse war seine geschäftliche, nicht seine private, und Clare spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunterlief. Es war offensichtlich eine Art Karte. Sie schüttelte das unbehagliche Gefühl ab und beschloss, dass Unvernunft fehl am Platz war. Alle Antworten befanden sich in ihrer Hand.

Clare hielt den Umschlag noch eine Weile fest und fragte sich, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Dann ließ sie ihre Finger hineingleiten und zog den Inhalt heraus. Sie lächelte, als sie erkannte, dass es eine Karte zum Vatertag war, und fragte sich, welche der Mädchen die Zeit und Mühe auf sich genommen hatte, ihn an sein Büro zu schicken. Sie tippte auf Sara, die 2004 zehn Jahre alt gewesen war, und wahrscheinlich in der Phase, in der sie etwas anderes machen wollte als ihre kleine Schwester.

Auf der Vorderseite der Karte stand „Alles Gute zum Vatertag, Daddy“ und zeigte das kleine Bild eines Mannes in einem Sportwagen. Clare lächelte. Definitiv eine Karte, die zu Sara passte. Sie hatte John immer aktiv dazu ermutigt, einen Sportwagen anstelle der familiengeeigneten Fahrzeuge zu kaufen, die er bevorzugte. John hatte diese Karte eindeutig aufbewahrt, sie hatte ihm etwas bedeutet. Die erste Vatertagskarte, die Sara allein gekauft hatte?

Clare öffnete sie. Es lag ein Foto darin.

Es zeigte einen kleinen Jungen, der an einem Tisch saß, vor ihm ein riesiger Geburtstagskuchen. Der Kuchen hatte die Form einer Vier und es befanden sich vier Kerzen darauf.

Clare legte das Foto und die Karte auf den Tisch und rutschte den Stuhl zurück. Ihr war schlecht. Diese Karte hatte weder mit Sara noch mit Grace zu tun. Welche Geheimnisse hatte John gehabt? Und wollte sie das wirklich wissen? Ihr verwirrter Zustand schien sich mit jedem Tag, der vorüberging, zu verschlimmern.

Clare ließ das Bild und die Karte auf dem Schreibtisch zurück, unfähig, beides zu berühren, und verließ das Zimmer. Dann öffnete sie das Fenster an der Treppe und lehnte ihren Kopf dagegen, während sie tief die frische Luft einsog. Sie wünschte, sie hätte die Karte nicht gefunden. Jetzt wusste sie es und würde noch mehr herausfinden müssen. Außerdem wünschte sie sich, sie hätte die beiden Flaschen mit Alkohol nicht hinuntergebracht. Jetzt konnte sie gut einen Brandy gebrauchen.

Mit dem Kopf an der Fensterscheibe blieb sie stehen und wartete, bis ihr Herzschlag sich verlangsamte, dann kehrte sie zurück zum Schreibtisch. Sie zog das Bild auf dem Tisch zu sich heran, bis es direkt vor ihr lag. Jetzt war sie sich sicher, dass sie das Kind nicht kannte. Sie nahm das Bild, drehte es mit angehaltenem Atem um und las.

Jed, vierte Geburtstagsparty, 25.12.03

Das war’s. Keine weiteren Informationen auf dem Foto. Sie zog die Karte zu sich heran und schob das Bild beiseite. In der Karte stand mehr.

Sie war in Schreibschrift geschrieben, von einem Erwachsenen, weil der Junge noch zu klein war, um Nachrichten zu verfassen. Dennoch hatte er versucht, seinen Namen zu ergänzen. Jed, in Großbuchstaben, noch dazu ziemlich windschiefen. Die Erwachsene, wahrscheinlich seine Mutter, hatte geschrieben:

Ich hab dich lieb und vermisse dich, Daddy.

Hab einen schönen Vatertag!

Dein kleiner Junge

 

Unter ihre Worte hatte der Kleine geschrieben:

JED.

Das Schlimmste war die Nachricht auf der Vorderseite.

John – er hat seinen eigenen Namen geschrieben! In ewiger Liebe, K. xxx

Clare griff nach dem leeren Eimer, den sie heraufgetragen hatte und übergab sich heftig. Jed. Bei dem Namen klingelte etwas in ihrem Kopf. Sie fragte sich, wer er war, wo er war … Und wer konnte K. sein, außer seiner Mutter?

Wer war dieses Kind, das am ersten Weihnachtsfeiertag 1999 geboren worden war? Dann erstarrte sie. Daniel war nur sechs Tage zuvor, am 19. Dezember, zur Welt gekommen, das Baby, das zu kostbar gewesen war, um zu überleben. Nun stellte sich heraus, dass John, während sie gemeinsam über den Verlust ihres zwei Tage alten Kindes getrauert hatten, offenbar die Geburt eines Sohnes gefeiert hatte. Clare fiel keine andere Erklärung ein, auch wenn sie nicht verstehen konnte, wie er es so lange geheim halten konnte. Wusste dieses Kind, dieser Jed, vom Tod seines Vaters? Wusste er überhaupt, wer sein Vater war? Die Zeit, die vergangen war, die Möglichkeit, dass die Liebe, von der in der Karte die Rede war, erloschen war und K. sich dazu entschieden hatte, ihrem Sohn den Kontakt zu seinem Vater nicht zu erlauben … All das ging Clare durch den Kopf, während sie abwog, was zu tun war. Jetzt würde sie dieses Wissen nie wieder vergessen können.

Und was war mit Sara und Grace? Würden sie irgendwann in der Zukunft, wenn ihre Mutter nicht mehr da war, um sie zu beschützen und zu leiten, über dieses Geheimnis ihres Vaters stolpern? Vielleicht würde Jed sie ausfindig machen. Es war mittlerweile mehr als einfach, DNA-Übereinstimmungen auf Genealogie-Seiten zu finden. Er könnte eines Tages auftauchen und das komfortable Leben von ihnen allen komplett auf den Kopf stellen.

Clare trug den Eimer ins Badezimmer, leerte und säuberte ihn und brachte dann die Putzutensilien und ihre leere Kaffeetasse hinunter. Für heute war die Arbeit erledigt. Sie musste nachdenken.

Sie kehrte zurück ins Büro und steckte das Bild und die Karte zurück in den Umschlag, nachdem sie erst noch einmal das Geheimfach geöffnet und kontrolliert hatte, dass ihr nichts entgangen war. Sie war überrascht davon, wie einfach es sich öffnen ließ, jetzt da sie von seiner Existenz wusste, und trotzdem, wenn man es nicht wusste, war das Fach völlig sicher. Der Lappen musste am Hebel, der den Mechanismus auslöste, hängengeblieben sein, und das hatte das Einsetzen der Schublade erschwert, weil das clevere Ding in ihr versteckt war. Jetzt bewegte sie sich reibungslos, und Clare war sich sicher, dass ihre Töchter das Geheimfach nie finden würden … Es sei denn, ihnen war danach, den Schreibtisch übergründlich zu putzen. Sollte Clare die Karte und das Foto vernichten? War das das Naheliegendste?

Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie das nicht tun konnte. Laut der Karte war Jed der Halbbruder ihrer Töchter, und eines Tages würden sie das Bild vielleicht noch brauchen. Am besten ließ Clare es dort, wo es die letzten fünf Jahre gewesen war. In den fast fünfzehn Jahren zuvor hatte es wahrscheinlich an einem ähnlichen Ort in Johns Firma gelegen.

***

Die Tische kamen um kurz vor zwei, und Clare schleppte sie nacheinander die Treppe hinauf ins Büro. Nachdem sie an Ort und Stelle waren, hob sie ihre Nähmaschine hoch und stellte sie auf das Ende des rechten Tisches, wo sie der Steckdose am nächsten war. Sie steckte sie ein und zog ein kleines Stück Stoff aus der Box mit Resten, die sie auf eines der Regale gestellt hatte. Sie legte es unter den Nähfuß und drückte auf den Knopf. Sofort erwachte die Maschine surrend zum Leben, und zum ersten Mal seit Stunden lächelte Clare. Dann holte sie den kleinen viktorianischen Esszimmerstuhl, der am Treppenabsatz stand, und stellte ihn vor die Maschine, ein vorläufiges bisschen Komfort, bis sie sich einen richtigen Bürostuhl ausgesucht hatte.

Mühelos gewöhnte Clare sich ein, wechselte ein paar Sticharten durch und nähte in Linien über den roten Stoff, dann hob sie den Nähfuß an. Sie nahm den winzigen Stoffrest heraus und untersuchte ihn – alles gut. Keine fehlenden Stiche, perfekte Spannung – es schien so lange her zu sein, seit sie die Maschine zuletzt benutzt hatte. Sie schaltete das Licht der Maschine aus, setzte die Abdeckung wieder darauf und stand auf. Der Stuhl konnte vorerst bleiben, wo er war. Vielleicht würde sie ihn noch einmal brauchen, bevor der neue Stuhl da war.

Clares Blick schweifte zum Schreibtisch hinüber, doch dann wandte sie sich bewusst ab. Womöglich würde sie die Karte an einem anderen Ort verstecken müssen, irgendwo, wo sie nicht dauernd daran denken müsste, leicht zugänglich.

Ihre Gedanken wanderten zu John und der Tatsache, dass er in seinem letzten Lebensmonat die Treppen nicht mehr hatte steigen können. Er hatte unten geschlafen, kaum noch gehen können, geschweige denn ihr Schlafzimmer im ersten Stock erreichen. Und sie war die ganze Zeit über an seiner Seite gewesen.

Hatte er an die versteckte Schublade gedacht? An die Karte, die zu einer Menge Probleme führen konnte? Seine eingeschränkte Beweglichkeit musste so frustrierend für ihn gewesen sein, und bestimmt hatte er gebetet, dass die kleine Schublade nie gefunden wurde.

Clare ging wieder hinunter. Ihr verwirrter Zustand wurde von Tag zu Tag schlimmer, aber eines stand fest. John hatte etwas Unverzeihliches getan, indem er eine Affäre mit K. hatte, wer auch immer das war, aber sie ging stark davon aus, dass er auch sein Kind im Stich gelassen hatte. Die Affäre war schon unverzeihlich, doch die Sache mit dem Kind war geradezu grausam.

Konnte sie es ignorieren? Sollte sie es ignorieren? Clare hatte keine Ahnung und brauchte Zeit, um nachzudenken. Sie empfand einen leisen Anflug von Dankbarkeit, dass die einzige richtige Information, die sie hatte, der Name Jed war, und dass der Name seiner Mutter mit K anfing. Nichts davon reichte aus, um sie auf die hirnrissige Idee zu bringen, den –mittlerweile erwachsenen – Jungen ausfindig zu machen und sich im Namen des Mannes, den sie die meiste Zeit ihres Lebens geliebt hatte, bei ihm zu entschuldigen.

Dass sie von Jed erfahren hatte, brachte die Erinnerungen an den Verlust von Daniel zurück, an sein winziges Herz, das während der Zeit in ihrem Bauch Schaden genommen hatte und nach nur zwei Tagen nicht mehr in der Lage gewesen war zu schlagen. Es war ein furchtbares Weihnachten gewesen, das stillste, das sie je gehabt hatten. Sara und Grace hatten das ungeheure Ausmaß dessen, was ihre Eltern durchmachten, verstanden, hatten ihre Geschenke geöffnet und waren zum Spielen hinauf in Saras Zimmer gegangen. Das Weihnachtsessen war düster gewesen, und am Nachmittag hatte Clare sich ins Bett gelegt und war dort bis zum Boxing Day, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, geblieben.

Und offensichtlich hatte Jed an jenem Weihnachtsfest seinen eigenen erfolgreichen Einzug in die Welt gehalten. Ein Kind raus, ein Kind rein.

Clare stand am Wohnzimmerfenster, starrte in die Welt hinaus, die ihr kleiner Junge nie kennengelernt hatte, und wischte sich eine Träne weg. Sie hatten Johns Asche in dem Grab beerdigt, in dem sich Daniels kleiner Körper befand – Clare war gegen eine Einäscherung ihres Sohnes gewesen – und sie beschloss, bald, hoffentlich in der kommenden Woche, ein paar Blumen ans Grab zu bringen, zusammen mit Reinigungsmitteln. Die Blumen wären für Daniel. Die scharfen Worte der Verachtung für John.

Clare bemerkte, wie Robs Auto vorbeifuhr, und blieb stehen, um zu sehen, ob er wieder herüberkommen würde. Er öffnete die Fahrertür und knallte sie zu, seine Laune war offensichtlich, so, wie er sich verhielt. Anstatt zu seinem Haus zu gehen, überquerte er die Straße und kam zu ihrem.

Clare ging in den Flur, stellte den Baseballschläger an eine Stelle, wo sie, falls nötig, danach greifen konnte, und wartete darauf, bis Rob an die Tür hämmerte. Sie ließ die Sicherheitskette eingehängt und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

„Wo zur Hölle ist sie?“ Er schrie nicht, aber sein Tonfall klang leicht drohend.

„Nun, um es mit deinen Worten zu sagen, Rob, woher zur Hölle soll ich das wissen? Wegen dir habe ich wahrscheinlich meine beste Freundin verloren. Wenn ich in den nächsten ein bis zwei Tagen nichts von ihr höre, melde ich sie bei der Polizei als vermisst, also stell dich darauf ein.“

Und sie knallte die Tür zu.

Clare hatte die Männer in ihrem Leben langsam satt, und sie würde sich diesen Scheiß von keinem Mann mehr bieten lassen. Sie schaute zu, wie Rob die Straße überquerte und sich noch einmal zu ihr umdrehte, und hoffte, dass er wirklich glaubte, sie hätte keinen Kontakt zu Vic gehabt.