Kapitel Eins
„Andrew? Sag doch was! Alles in Ordnung?“
Mein Mann und ich sitzen uns an unserem Küchentisch zum Frühstück gegenüber. Den Tisch haben wir von Restoration Hardware, handgefertigt aus Kiefer-Massivholz. Ein wirklich schöner Tisch eigentlich.
Bis auf die kleine Tatsache, dass mein Mann gerade darüber erstickt.
Andrew ist rot im Gesicht, beinahe lila wie eine Pflaume, und zerrt panisch an seinem Hemdkragen. Gerade will ich unser Neugeborenes in die Wiege legen, damit ich ihm mit dem Heimlich-Griff zu Hilfe eilen kann, als ihm ein angekautes Stück Tofu aus dem Mund fliegt.
Und das alles nur wegen meiner Aussage gerade. Meine Güte, man könnte meinen, ich hätte dem Mann erklärt, dass sein Hund gestorben ist.
„Aber du hast doch gesagt …“, bringt Andrew mühsam keuchend hervor. Ich beobachte, wie die Ader an seiner Schläfe pocht. Er schwitzt, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren läuft. Es ist eiskalt. Na gut, er wäre gerade auch beinahe erstickt. Trotzdem. Ich ziehe mir meinen Kaschmircardigan eng um die Brust und wickle Baby Delilah warm in meinen Armen ein.
„Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich habe einfach viel nachgedacht und kann mir nicht vorstellen, wie wir uns das alles dauerhaft leisten können“, ich mache eine ausschweifende Geste über die frisch renovierte Küche unserer heiß begehrten Penthouse-Wohnung, bevor ich fortfahre, „solange uns mein Gehalt fehlt.“ Ich halte inne, um die Aussage wirken zu lassen. „Tut mir leid, aber ich habe mich bereits entschieden, Andrew. Nach Ende meiner Elternzeit gehe ich wieder arbeiten.“
Mein Mann starrt mich mit finsterem Blick an, als hätte ich ihm gerade eine Ohrfeige verpasst. Er fährt sich mit der Hand durch sein dunkles, lockiges Haar, das lang genug für einen Man Bun ist. Kann man mit fünfunddreißig schon eine Midlife-Crisis haben? Er will schließlich außerdem seit neuestem Andreas genannt werden – anscheinend klingt das besonders avantgardistisch. Der Typ übertreibt es mit der Nummer des hungernden Künstlers.
„Hey“, setze ich erneut an und versuche, ihn zu besänftigen. „Kannst du dir vorstellen, wie schnell man mich abschreiben wird? Es ist schlimm genug, dass ich zwei Monate Elternzeit nehme. Das ist in dieser Branche lange. Dutzende Trader sind auf meinen Job scharf.“ Ich zähle eine Reihe an Namen an den Fingern ab. „Parker Goodman, Jeremy Stevens, Chad Morgan …“
Andrew hebt die Hand, um mich zu unterbrechen. „Chad Morgan? Ernsthaft, Lucinda? Die Morgans sind doch gute Freunde.“
Ich blinzle meinen Mann ungläubig an – wie kann er nur so unfassbar naiv sein? „Das schließt nicht aus, dass er Interesse an meinen Kunden hat.“
„Das verstehe ich schon, okay.“ Das tut er nicht. „Aber deine Kundschaft liebt dich, Lucinda. Du musst nicht so früh schon wieder arbeiten gehen.“ Andrew deutet auf den Einbauschreibtisch in unserer Küche, auf dem sich Teddybären, Rasseln und Strampler stapeln, von letzteren genug, dass man damit ein kleines Dorf einkleiden könnte. Seit einem Monat klopft jeden Tag um 14 Uhr der Postbote und bringt uns haufenweise Pakete mit irgendwelchen Sachen für Delilah. Ich habe nicht ansatzweise geahnt, dass wir so viele Leute kennen, und keinen blassen Schimmer, was ich mit dem ganzen Kram anfangen soll. Von einem Tag auf den anderen hat sich unser einst geräumiges Apartment in ein provisorisches Amazon-Lager verwandelt.
Andrew steht abrupt von seinem Stuhl auf und stößt ihn dabei fast um. „Was heißt das jetzt, wer wird sich um sie kümmern?“ Da ist er ja. Der wahre Grund, warum mein Mann nicht will, dass ich wieder arbeiten gehe. Dann wäre er dafür zuständig, sich um Delilah mit all ihren Bedürfnissen zu kümmern. Andreas hat nicht das geringste Interesse daran, als Papa daheim zu bleiben. Andrew vielleicht, aber der scheint abgehauen zu sein.
Als ich nicht sofort antworte, fragt mein Mann nervös: „Suchen wir Delilah dann einen Kita-Platz?“
Ich reibe meine Nase an Delilahs Schopf und atme ihren beruhigenden Babyduft ein, gemischt mit Lavendel, während sie ein verschlafenes Gurren von sich gibt. „Mit dem ganzen Kita-Konzept fühle ich mich nicht wohl. Weißt du, wie viele Eltern ihre Kinder da trotzdem hinschicken, wenn sie krank sind?“
Andrew zieht eine Augenbraue hoch. „Wie viele, Lucinda?“
„Tja, wenn du schon fragst, Andrew – sieben von zehn. Siebzig Prozent der Eltern schicken ihre Kinder krank los. Verdammte siebzig Prozent! Tut mir leid, aber Kita ist keine Option.“
Andrew sieht mich an, als wäre ich zu siebzig Prozent Alien. „Woher weißt du das überhaupt?“
Ich zucke mit den Schultern. „Hm … muss ich irgendwo gelesen haben.“
„Na gut, was schlägst du dann vor? Du kannst doch sicher nicht von mir erwarten, dass ich aufhöre zu arbeiten und mit ihr daheim bleibe. Meine Träume aufgebe, während du dir deine erfüllst? Das ist wohl kaum fair.“
Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand per se von Arbeit an der Wall Street träumt. Das ist wohl eher ein Mittel zum Zweck. Aber diesen Streit werde ich nicht gewinnen. Andrew wird sich meine Worte zurechtlegen, wie es ihm passt, so wie er sich auch so lange alles zurechtgelegt hat, bis ich ihm seine einkommenslose Karriere im künstlerischen Schaffen mit recyceltem Müll finanziert habe.
Und lass Eines mal gesagt sein: Wenn der Kerl mir jetzt noch einmal verkündet, dass ihm nur noch ein Verkauf zum großen Durchbruch fehlt, schreie ich los und trete ihm gegen sein vor Kokosnussöl glänzendes Schienbein. Dazu müsstest du tatsächlich mal was verkaufen, Andrew! Ein ganzes Jahr ist mittlerweile vergangen und er hat nichts verkauft. Kein einziges Werk.
Ich versuche ihn ja zu unterstützen, aber er könnte mir doch auch mal entgegenkommen.
„Eine Nanny“, schlage ich vor.
„Eine Nanny?“
Ich betrachte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Manchmal meine ich, mein Mann und ich sprechen zwei völlig unterschiedliche Sprachen.
Andrew wirft verärgert die Hände hoch. „Als nächstes erzählst du mir bestimmt, dass du nach Staten Island ziehen und einen Minivan kaufen willst. O Gott, du erwartest sicher, dass ich anfange, anderen Suburban-Fahrern zuzunicken, oder? Auf gar keinen Fall! Das kannst du knicken, Lucinda.“
„Zunicken unter Suburban-Fahrern gibt es nicht, Andrew. Das hast du dir gerade einfach ausgedacht. Jeep-Fahrer winken sich zu. Und außerdem sind Suburbans keine Minivans. Das sind SUVs.“
Andrew verdreht die Augen. „Mir doch egal, was die sein sollen. Ich fahre keinen Suburban und ich ziehe auch nicht in die Suburbs. Punkt. Hörst du mich? Ich ziehe nicht in die Suburbs!“
Ich bin mir ziemlich sicher, dass das ganze verdammte Wohnhaus ihn gehört hat.
„Genauer gesagt ist es ein Stadtteil, kein Suburb“, murmle ich vor mich hin.
„Wie bitte?“
„Ach nichts. Entspann dich, Andrew. Niemand zieht nach Staten Island oder kauft einen Minivan. Wir reden hier nur von einer Nanny. Bitte, setz dich wieder. Lass mich ausreden.“ Ich deute auf einen Stuhl mir gegenüber am Tisch und Andrew lässt sich widerwillig darauf nieder. Er verschränkt die Arme vor der Brust.
„Wenn wir eine Nanny einstellen, wissen wir, dass Delilah zu Hause sicher ist. In unserem Zuhause hier in der Stadt, wo wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.“ Ich spreche die Worte betont aus, damit es auch ja nicht zu Missverständnissen kommt. „Denk mal darüber nach. Delilah wird gut umsorgt, statt eines von zwanzig Babys zu sein, die in einem sechs Quadratmeter großen Raum eingepfercht sind. Sie kann tagsüber nach draußen – in den Park, in die Bibliothek und zu Musikstunden. Sie kann mittags in ihrem eigenen Bettchen schlafen. Ich habe mal gelesen, dass es wichtig ist, eine gute Schlafroutine aufzubauen. Ich kann wieder arbeiten gehen und du kannst weiter deine Skulpturen machen. Eine komplette Win-Win-Situation, meinst du nicht?“
Andrew fährt sich mit der Hand übers Kinn, wo ihm allmählich ein Ziegenbart wächst. Habe ich erwähnt, dass er zurzeit den hungernden Künstler raushängen lässt? Er legt sich dabei richtig ins Zeug.
„Ich weiß nicht, was ich davon halte, eine Fremde im Haus zu haben.“
„Sie wird uns nur zu Beginn fremd sein. Danach wette ich, dass sie quasi zur Familie gehören wird.“
Andrew steht erneut auf und fängt an, in der Küche auf und ab zu gehen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr – 7:45 Uhr –, das Ganze zieht sich deutlich länger als erwartet. Muss er nicht irgendeinen Haufen Schrott einschmelzen oder mit einem Schweißbrenner herumhantieren? Ich unterdrücke ein Gähnen.
Schließlich lenkt Andrew endlich ein. „Na gut, Lucinda. Ich bin dabei. Aber wie finden wir überhaupt eine gute Nanny? Ich meine, das ist unser Baby. Wir können sie nicht einfach irgendwem überlassen.“ Komisch, jetzt wo er weiß, dass er nicht mit ihr zu Hause bleiben muss, ist Delilah plötzlich wieder unser Baby.
„Mach dir keine Sorgen, Andrew. Ich kümmere mich um alles.“
Mein Mann faltet seine Serviette und wirft sie auf seinen Teller. Unser Gespräch über das echte Leben hat ihm wohl den Appetit verdorben. „Ich gehe dann mal ins Studio“, verkündet er und begibt sich zu unserer Seite des Tisches, wo er uns beiden schnell einen Kuss gibt, mir auf den Kopf, Delilah auf die warme Wange. „Sag Bescheid, wenn ihr zwei Ladies etwas braucht.“
Dieses Mal bin ich es, die die Augen verdreht. Ohne meinen Job gäbe es kein Studio, in das Andreas gehen könnte. Seine Erdgeschosswohnung im Herzen von Greenwich Village kostet ein Vermögen. Wenn ich nicht wieder arbeiten gehe, wird einer von uns eine Niere verkaufen müssen, um die Miete zu bezahlen.
Andrew schnappt sich seine Schlüssel von der Kücheninsel. Ich warte, bis ich höre, wie die Haustür zufällt und das Schloss einrastet. Dann atme ich zum ersten Mal an diesem Tag tief durch. Ich bin froh, dass unser Gespräch vorbei ist. Es war eine Qual. Qualvoll wie Nadeln in den Augen.
Jetzt kann ich mich ganz darauf konzentrieren, die perfekte Nanny zu finden. Auch wenn ich das Thema gerade erst angeschnitten habe, denke ich schon lange darüber nach, wie wir das ideale Kindermädchen für unsere Tochter finden können. Natürlich überlasse ich mein Baby nicht einfach irgendjemandem – nicht bei all den Verrückten da draußen. Andrew ahnt nicht, dass ich bereits recherchiere und Nachforschungen anstelle, seit ich auf den Streifen gepinkelt und die zwei blauen Striche gesehen habe.
Ich habe eine Liste mit fünf hochqualifizierten Anwärterinnen für den Job erstellt. Mit ihnen und ihren Referenzen habe ich bereits am Telefon gesprochen, aber heute ist der Tag gekommen, an dem sie sich mir alle endlich persönlich vorstellen werden. Hoffentlich habe ich in ein paar Stunden bereits die perfekte Nanny eingestellt.
Kapitel Zwei
Als ich in der Lobby unseres Gebäudes ankomme, in der sich der Pförtner befindet, schnaufe ich wie eine angehende Athletin. Und dabei habe ich den Aufzug genommen! Meine Güte, man braucht eine Menge Kram, um mit einem Baby das Haus zu verlassen. Es ist reiner Wahnsinn.
Delilah hat noch kein Interesse an ihrem Spielzeug, aber irgendwie schneidet mir die überquellende Wickeltasche trotzdem so in die Schulter, dass mir an der rechten Hand die Finger taub werden. Kaum vorzustellen, wie das wird, wenn sie mal Unterhaltung braucht. Tja, ich bin wohl komplett geliefert.
Das brutale Wetter erleichtert mir die Situation jedenfalls nicht gerade. Als ich durch die Drehtüren hinaus auf die Fifth Avenue gehe, legt sich mir die stickige Luft wie eine Schlinge um meinen Hals. Es ist der heißeste Tag des Jahres. Ein neuer Hitzerekord, um genau zu sein. Und es ist so lächerlich schwül, dass meine Sonnenbrille beschlägt, sobald wir das Gebäude verlassen, und die Menschen, die auf der Straße an uns vorbeilaufen, zu Schemen verschwimmen.
Delilah liegt bequem in ihrem Kinderwagen und sieht zuckersüß aus in ihrem rosa Strampler mit passendem Stirnband samt Schleifchen auf ihrem beinahe kahlen Kopf. Eine leichte Decke, weiß mit rosa Sternen, bedeckt ihren kleinen Körper. Die Kinderärztin hat von Sonnencreme bis zum sechsten Monat abgeraten, also habe ich ihre porzellanweiße Haut trotz der drückenden Hitze bedeckt. Zum Glück scheint es sie nicht zu stören.
Ich würde mit meiner Tochter lieber zu Hause in unserer klimatisierten Wohnung bleiben, aber ich habe Jenna versprochen, mich mit ihr auf einen Kaffee zu treffen. Ich habe meiner besten Freundin bereits zu oft abgesagt und heute Morgen hat sie mir mitgeteilt, dass sie „keine einzige faule Ausrede“ mehr gelten lässt. Neben der Arbeit ist Jenna meine einzige Verbindung zur echten, windelfreien Welt. Ergo sehe ich jetzt aus wie eine Obdachlose, die ihr ganzes Hab und Gut durch die Gegend schleppt und das ausgerechnet an dem Tag, an dem die Ozonschicht beschlossen hat, das Blockieren der Sonneneinstrahlung einzustellen.
Durch ein Wunder schaffe ich es ans Ziel, ohne zuvor auf dem Gehweg dahinzuschmelzen.
„Lucy!“ Jennas Stimme schallt durch das Café, einen kleinen, familiengeführten Laden in der Nähe meiner Wohnung. Alle verstummen und drehen sich nach ihr um.
Typisch.
Jenna ist mit ihrer Sanduhrfigur und dem glänzenden, kastanienbraunen Haar, das ihr über den Rücken fällt, allerdings tatsächlich ein Hingucker. Ihre Augen sind so grün, dass man meint, sie können gar nicht echt sein. Von ihren perfekten Gesichtszügen mal ganz zu schweigen. Sie hätte Supermodel statt Influencerin werden können, wäre sie ein paar Zentimeter größer.
Unsicher zupfe ich am Saum meines fleckigen weißen T-Shirts. Delilah hat mich heute Morgen zum hundertsten Mal beim Aufstoßen angespuckt. Meine Tochter hat wohl Sodbrennen. Oder machen Babys das eben? Hätte ich bloß mal das Buch gelesen, das unangetastet auf meinem Nachttisch liegt – Schwangerschaft und Geburt: Alles, was Sie wissen müssen –, als ich noch die nötige Aufmerksamkeitsspanne dazu hatte. Anscheinend gibt es ein viertes Trimester. Ein viertes Trimester, verdammt noch mal! Als ob drei nicht genug wären. Als ich das herausfand, war ich gerade online auf der Suche nach Antworten auf die Frage: Was zum Teufel stimmt mit meiner Neugeborenen nicht?
Ich schiebe den Kinderwagen durch die Ansammlung koffeintankender Gäste in den hinteren Teil des Cafés, wo Jenna mich mit ausgestreckten Armen erwartet. Ich freue mich so, sie zu sehen, dass ich fast in Tränen ausbreche. Einem wird erst klar, was ein Mangel an Interaktion mit Erwachsenen mit einem anstellen kann, wenn man es am eigenen Leib erfährt. Ich habe Andrew, aber der ist in letzter Zeit eher Kind als ein echter Erwachsener. Heißt es nicht eigentlich, man reife, wenn man ein Kind bekommt? Er dagegen hat sich eher in Benjamin Button verwandelt.
Auf dem Tisch erspähe ich einen Styroporbecher mit meinem Namen darauf. Haselnussduft kitzelt mir in der Nase. Wenn man einander so nahesteht wie Jenna und ich, weiß man, was die andere will, ohne dass sie darum bitten muss. Außerdem spürt man, wann die andere etwas im Schilde führt.
„Koffeinfrei?“ Ich mustere Jenna misstrauisch, während ich den dampfenden Becher mit den Händen umschließe. „Die Kinderärztin meint, Koffein ist schlecht für das Baby.“
„Ja, aber Dr. Ruth sagt, dass Augenringe schlecht für dein Sexleben sind.“ Sie zwinkert.
„Ist Dr. Ruth nicht vierundneunzig oder so?“
Jenna holt ihr Handy heraus, um es zu googeln. Sie runzelt die Stirn. „Ernsthaft, Lucy, woher zum Teufel wusstest du das?“
„Ich weiß alles, Jenna.“
Dieses Gespräch hatten wir so oder so ähnlich schon unzählige Male. Jenna und ich lernten uns am ersten Tag auf dem College kennen, als ich nervös in mein Zimmer ging, wo sie es sich auf einem der zwei Einzelbetten gemütlich gemacht hatte. „Ich habe mir das hier ausgesucht, macht dir doch hoffentlich nichts aus“, verkündete sie und starrte mich mit ihren riesigen grünen Augen an. Ich sah mich im Raum um, um mich zu orientieren. Dann zuckte ich mit den Schultern. „Eine Ausrichtung nach Süden im Schlaf korreliert mit besseren Gesundheitswerten, also passt mir das gut.“ Behutsam legte ich meinen Koffer auf das Bett.
Jenna lachte schallend auf. Ich lächelte, aber wie sie schon bald lernte, war das kein Witz gewesen. Bis heute staunt sie immer wieder über meine Auffassungsgabe. Zumindest eine Person weiß sie zu schätzen.
Jenna bückt sich, hebt meine Tochter aus dem Kinderwagen und nimmt sie auf den Arm. So liebevoll, wie sie Delilah ansieht, war es mit Sicherheit die richtige Entscheidung, sie als Patentante zu ernennen.
Andrew wäre „irgendjemand anderes, bloß nicht Jenna“ lieber gewesen, aber das liegt daran, dass er sich nicht vorstellen kann, wie jemand mit ihrem Lebensstil unser Kind großziehen soll, falls uns beiden etwas Tragisches zustoßen sollte. Ich hatte gehofft, dass die beiden einander näherkommen, wenn ich Jenna zu Delilahs Patin ernenne. Stattdessen sorgte es für unzählige Meinungsverschiedenheiten zwischen Andrew und mir darüber, was für unser Kind das Beste ist.
Aber wenn ich Jenna und Delilah so ansehe, fühle ich mich, als wäre ich am Set einer Pampers-Werbung.
Ich will den beiden nicht den liebevollen Moment ruinieren, aber ich muss dringend etwas Wichtiges mit Jenna besprechen. Also werfe ich ihr den „Ich muss dir was sagen“-Blick zu, den ich im Laufe unserer zehnjährigen Freundschaft perfektioniert habe.
Jenna versteht sofort und legt Delilah behutsam in den Kinderwagen zurück. „Was ist los?“, fragt sie. Sorge macht sich auf ihrem Gesicht breit und ihre grünen Augen weiten sich.
„Also … ich habe es Andrew heute erzählt.“
Ihre Lippen formen stillschweigend ein O. „Wen hast du erwischt? Andrew oder Andreas?“
Ich werfe meiner besten Freundin einen vielsagenden Blick zu. „Was glaubst du denn?“
„O je. Und wie lief das Gespräch?“
Jenna kennt Andrew fast genauso gut wie ich – sie weiß, dass es nicht gut gelaufen ist. Eines kann man über meinen Mann sagen – er ist berechenbar. Selbst sein Wandel zum Recycling-Künstler war keine große Überraschung. Er brauchte etwas zu tun, als er seinen Job an den Nagel hing und den Sprung ins Nichts wagte.
„Es lief wie erwartet.“ Ich zucke mit den Schultern. „Er meint, wir leben in der Steinzeit. Der Mann verdient Geld, während die Frau mit dem Kind zu Hause bleibt.“
„Es gibt Schlimmeres, Lucy, als dass dein Mann sich um dich kümmern will.“
„Komm schon, Jenna. Du weißt genau, dass Andrew uns nicht versorgen kann. Nicht seit er eines Morgens aufgewacht ist und beschlossen hat, dass er der nächste Andy Warhol ist.“
Jenna ignoriert den Seitenhieb gegen meinen Mann. Sie hat das bereits dutzende Male gehört. Während ich aufregende Geschichten über die wilden Single-Sexkapaden meiner besten Freundin höre, bekommt sie erschütternde Geschichten über Andrew geliefert, wenn er mal wieder nicht die Klopapierrolle gewechselt hat. In letzter Zeit sind wir wie ein Disney-Film mit FSK 0.
Aber wie man so schön sagt: Ich würde es um nichts in der Welt ändern. Delilah zumindest nicht.
Und genau darum geht es bei diesem Rendezvous letztendlich. Ich greife in die Wickeltasche meiner Tochter und ziehe einen braunen Briefumschlag hervor.
Jenna versteift sich und schürzt mit besorgtem Blick die Lippen. „Was ist los, Lucy?“
Was meint sie denn, das hier los ist? Erwartet sie, dass ich gleich Scheidungspapiere hervorziehe? Andrew mag mich manchmal in den Wahnsinn treiben, aber ich habe nicht vor, meinen Mann zu verlassen. Ich meine, wenn ich ihn schließlich bis jetzt noch nicht verlassen habe …
„Entspann dich“, sage ich. „Es ist nichts Ernstes. Nur meine engere Auswahl an potenziellen Nannys. Ich würde mich freuen, wenn du dir die finalen fünf Anwärterinnen mal ansiehst.“ Jennas Gesichtszüge entspannen sich.
„Wie wäre es?“ Ich deute auf einen abgesessenen Zweiersessel mit Tartanmuster, der aussieht, als hätte ihn jemand vom Sperrmüll gerettet. Keines der Möbelstücke hier passt zueinander und die Beleuchtung ist trotz der Fensterwände unerklärlich spärlich, aber der handgemahlene Kaffee ist unübertrefflich. Ich nippe an meinem Latte und spüre, wie mir ein Energieschub heiß durch die Adern schießt. Der ist auf keinen Fall koffeinfrei.
Und er spült mich direkt durch. Plötzlich muss ich dringend mal. „Gib mir kurz“, bitte ich und presse die Beine zusammen.
Jenna betrachtet mich mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen. „Toilette?“
Mir bleibt weder Zeit, um zu antworten, noch, um mir meine Tasche zu schnappen. Ich bin bereits auf dem Weg zur Toilette am anderen Ende des Cafés. Zum Glück gibt es keine Schlange, denn ich schaffe es gerade so rechtzeitig.
Jenna telefoniert, als ich zurückkomme. Sie ist ständig am Telefon – so ist das wohl im Leben einer Influencerin. Aber als sie mich sieht, legt sie ihr Handy in den Schoß und klopft neben sich. Wir quetschen uns so eng aneinander, dass unsere Knie aneinander gepresst liegen. Sie legt mir eine Hand aufs Bein. „Bist du sicher, dass du das machen willst? Ihr habt eure Ersparnisse. Du könntest locker ein, zwei Jahre daheim bleiben und wieder arbeiten gehen, wenn Delilah in den Kindergarten kommt.“
Sie hat leicht reden, wenn man bedenkt, dass sie diejenige mit hunderttausenden Instagram-Followern und etlichen Sponsoren ist. Mit den klugen Investitionen, die sie im Laufe der Jahre mit meiner Hilfe getätigt hat, und ihren eigenen unternehmerischen Projekten könnte meine beste Freundin für den Rest ihres Lebens keinen Tag mehr arbeiten und trotzdem ein mehr als komfortables Leben führen. Ich dagegen habe ein Kind und einen angehenden Künstler zu versorgen.
Ich schüttele den Kopf. „Ich habe meine Gründe, Jenna. Ich muss das machen.“
In Manhattan eine Familie zu versorgen und ein Kind großzuziehen setzt mich unter Druck. Aber da ist noch etwas anderes. Etwas, das ich ihr nicht sagen kann. Etwas, das ich niemandem sagen kann.
„Hast du Andrew denn erzählt, dass sie bei euch einzieht?“
„Noch nicht. Aber ich habe es vor.“
„Ich glaube nicht, dass du ihn damit überrumpeln solltest, Lucy. Dein Mann kommt mit Überraschungen nicht gut klar.“
Wie gesagt kennt sie ihn gut. Und sie hat recht – ich hätte es Andrew heute Morgen sagen sollen. Doch mir fehlte der Mut, mich dazu durchzuringen. „Ich rede heute Abend mit ihm“, verkünde ich sowohl ihr als auch mir selbst gegenüber. Vor dem Gespräch von vorhin mag ich mich gefürchtet haben, aber allein beim Gedanken an das nächste droht mir eine richtige Panikattacke.
Aber darüber muss ich mir später Gedanken machen. Irgendwo in diesen Unterlagen ist Delilahs Nanny zu finden. Ich öffne den Umschlag und ziehe die fünf Lebensläufe heraus, einer davon mit einem professionellen Headshot versehen.
„So etwas sieht man nicht jeden Tag. Bewirbt sie sich für eine Stelle als Nanny oder startet sie einen OnlyFans-Account?“
„Jenna!“ Ich gebe ihr einen Klaps auf die Hand. „Das ist nicht gerade nett.“
„Ich mein ja bloß … Ich würde nicht wollen, dass die da vor meinem Mann in meiner Wohnung herumstolziert. Das wäre eine Wiederholung der Versuchung Adams, meinst du nicht?“ Als ob Jenna jemals irgendetwas zu befürchten hätte. Sie ist so perfekt, wie es nur geht. Damals bei unserem einzigen Streit fiel mir keine bessere Beleidigung ein, als dass grüne Augen eigentlich eine genetische Mutation sind.
Bei mir hingegen? Sie hat da durchaus recht. Es ist nicht gerade so, als wäre es zwischen Andrew und mir in letzter Zeit heiß hergegangen. Das letzte Mal miteinander geschlafen haben wir … oje, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Vor Delilah Geburt natürlich. Meine Gynäkologin meinte, ich solle mit dem Sex warten, bis ich bei der Nachuntersuchung sechs Wochen nach der Geburt grünes Licht bekomme. Es sind noch keine sechs Wochen vergangen. Unser Baby ist erst einen Monat alt!
Und die Affäre. Die verdammte Affäre.
Ich verdränge den Gedanken. Es geht nicht um Andrew und mich. Es geht um Delilah.
Bree Miller (das Headshot-Model) hat mich von allen Kandidatinnen, mit denen ich gesprochen habe, am meisten beeindruckt. Und ihre Referenzen sind tadellos. Ich habe mit ihren Eltern, Mitbewohnern und ihrem Arbeitgeber gesprochen – alle lieben sie. Sie scheint ein echtes Juwel zu sein.
Wünschte ich, sie wäre nicht jung und attraktiv? Natürlich – alles andere wäre ungewöhnlich. Aber sollte Delilah nicht das Beste bekommen? Und wer weiß, vielleicht entscheide ich mich ja auch gar nicht für sie. Ich habe noch vier andere Kandidatinnen zu treffen.
Ich muss wohl zu lange geschwiegen haben, denn Jenna ergänzt: „Nicht, dass ich glaube, dass Andrew dich mit eurer Nanny betrügen würde.“
Würde er das tun? „Nein, nein, natürlich nicht. Ich verstehe aber, was du meinst. Aber alle anderen Bewerberinnen kommen mir so … ich weiß nicht … alt vor? Delilah wird nicht lange ein Baby bleiben. Ich will nicht, dass ihr eine Dame mit Krückstock hinterherrennt.“ Die Bemerkung entlockt Jenna ein Lachen. „Außerdem verbringt Andrew die meiste Zeit in seinem Studio. Er wird also kaum Kontakt zu unserer Nanny haben.“
„Aber wird sie nicht bei euch wohnen? Wie könnte Andrew jemanden nicht bemerken, der mit ihm unter einem Dach wohnt? Er ist nicht blind, Lucinda.“
Ich presse mir einen Finger an die Lippen, um sie mit der Geste zum Schweigen zu bringen.
„Auch wenn ich mir manchmal Sorgen mache, dass du es bist …“, murmelt Jenna vor sich hin.
Ich ignoriere ihren Kommentar und fahre fort. „Na ja, wir werden sehen, wie die Vorstellungsgespräche laufen. Apropos, du musst mir einen Gefallen tun. Was hältst du davon, ein paar Stunden mit deinem Patenkind zu verbringen, damit ich diese Mary Poppins persönlich kennenlernen kann? Babys sollen anscheinend echte Männermagneten sein.“ Nicht, dass Jenna einen Magneten bräuchte, um sich einen Mann zu angeln, aber vielleicht würde Delilah einen netten Mann anziehen, anstatt all der nutzlosen Loser, mit denen meine umwerfende Freundin üblicherweise ausgeht.
Jenna mustert mich mit zusammengekniffenen Augen und lacht. „Der Trick ist für Typen, Lucy. Babys ziehen Frauen an. Ich glaube, Männer stoßen sie stattdessen ab.“
„Egal, wie auch immer. Ich wusste doch, dass Babys irgendeine magnetische Anziehung haben.“
„Ich würde liebend gerne ein paar Stunden mit meinem Patenkind verbringen, aber meinst du nicht, dass du das Baby zu einem Gespräch mit potenziellen Nannys mitbringen solltest?“
Dieses Mal bin ich es, die lacht. „Das wäre logisch, ja, aber ich muss sichergehen, dass ich es nicht mit Psychopathinnen zu tun habe, bevor ich irgendwen an Delilah ranlasse. Jedenfalls ist abgepumpte Milch in ihrer Wickeltasche und ein Schnuller, falls sie sich nicht trösten lässt.“
Beide sehen wir auf mein Baby hinab. So wie sie daliegt, macht sie kaum einen untröstlichen Eindruck. Allerdings hat Jenna Delilah noch nie mitten in der Nacht erlebt. Sonst hätte sie auf meine Bitte um Babysitting wahrscheinlich mit einem klaren Nein geantwortet oder zumindest großen Widerstand geleistet.
„Wo triffst du dich überhaupt mit ihnen? Ich nehme an, du lädst sie nicht in eure Wohnung ein, wenn du dich vor Psychopathinnen fürchtest.“
„Mach dich nicht über mich lustig, Jenna. Du weißt, dass es da draußen viele Spinner gibt“, erwidere ich und reiße dabei die Augen auf. „Und weil du fragst, ich treffe mich in der Bar gegenüber mit ihnen.“
„Also, kein Baby und ihr trefft euch in einer Bar? Das ist natürlich kein bisschen verrückt.“ Jennas runzelt die Stirn. „Was führst du im Schilde, Lucinda Douglass?“
„Das wüsstest du wohl gern.“ Ich schenke ihr ein verschwörerisches Zwinkern und stehe auf. Dann beuge ich mich über den Kinderwagen, um Delilah einen sanften Kuss zu geben.
„Mama kommt bald zurück“, flüstere ich.
Ich winke Jenna zum Abschied und begebe mich zur Bar, um unsere neue Nanny zu treffen.
Kapitel Drei
Bewerberin Nummer eins ist eine sechzigjährige Großmutter, die vor kurzem von London nach New York gezogen ist. Sie trägt ihr graues Haar zu einem festen Dutt geflochten, dem keine einzige Strähne entkommt. Die Dame muss in Haarspray-Aktien investiert haben. Heute Morgen habe ich einen Artikel darüber gelesen, dass die Marktanteile von L‘Oréal im letzten Jahr um mehr als vierzig Prozent im Wert gestiegen sind. Ich vermute, die Frau, die mir gerade gegenübersitzt, könnte allein dafür verantwortlich sein.
Und dann wären da noch ihre Schuhe. Sie trägt klobige schwarze Treter, die vermutlich orthopädisch sind. Sie schreit förmlich nach Internatsleiterin mit ihrem Haar, den Schuhen und der Perlkette über einem einfarbigen Pullover mit passendem Cardigan, aber jetzt ist sie nun mal schon da, also …
„Erzählen Sie mir von sich, Ms.“, ich werfe einen Blick auf den Lebenslauf in meinen Händen, „Randall.“
Sie schenkt mir ein steifes Lächeln. „Nun ja, wie Sie meinem Lebenslauf entnehmen können, habe ich langjährige Erfahrung. Ich habe vier verschiedene Familien betreut und bin jeweils geblieben, bis die Kinder in der High School waren. Ich liebe Kinder einfach, vor allem Babys. Sie sind so …“, sie hält inne und legt sich eine Hand auf die Brust, „formbar. Ich sehe es als meine Berufung, ihnen zu helfen, anständige Menschen zu werden.“
„Anständige Menschen“ hört sich nicht schlecht an. „Wie würden Sie Ihre Erziehungsphilosophie beschreiben?“
Ms. Randall verschränkt die Hände im Schoß und beugt sich nach vorne. Sie starrt mich mit anklagendem Blick an und ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Warum fühlt es sich plötzlich an, als wäre ich es, die sich gerade vorstellen muss? „Das hängt wohl vom Kind ab“, erwidert sie. „Ich versichere Ihnen, Mrs. Douglass, dass Ihre Tochter bei mir in guten Händen ist. Kinder benehmen sich unter meiner Aufsicht, sonst müssen sie mit entsprechenden Konsequenzen rechnen.“
Das klingt jetzt aber bedrohlich. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. „Wie zum Beispiel? Könnten Sie mir eine angemessene Konsequenz nennen?“
„Angenommen, Thomas ist unter meiner Obhut und sagt etwas Unanständiges, dann wasche ich ihm den Mund mit Seife aus. Eine wunderbare Abschreckung gegen das Pipi-Kacka-Gebrabbel, das ihr Amerikaner als ‚Potty Talk‘ bezeichnet. Was Thomas angeht, verspreche ich, dass er dieses Wort nie wieder in den Mund nehmen wird.“
Ich habe das Gefühl, dass dieser Thomas kein reines Gedankenspiel ist. Und dann stelle ich mir vor, wie meine geliebte Delilah Dove abbekommt. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass das Vorstellungsgespräch keine zehn Minuten dauert. Ich bezahle sicher niemanden dafür, meine Tochter zu vergiften.
Unglaublich nervös warte ich auf meine nächste Bewerberin. Ich hoffe, dieses Gespräch läuft besser als das letzte. Schlimmer kann es doch nicht mehr werden, oder? Ich atme erleichtert auf, als die Eingangstür der Bar aufschwingt. Bewerberin Nummer zwei ist mindestens zwanzig Jahre jünger als Ms. Randall und trägt einen dunklen, lockeren Bob, der ihr gerade so die Schultern streift. Sie ist ähnlich gut gekleidet – in langer Hose und Bluse –, aber im Gegensatz zu Ms. Randall sieht sie nicht aus, als wäre sie einem Strickkatalog entsprungen.
„Hallo“, begrüße ich sie und reiche ihr die Hand. „Ich bin Lucinda Douglass. Schön, Sie persönlich kennenzulernen.“
„Renee Cohen.“ Sie schüttelt mir die Hand und ich freue mich über ihren festen Händedruck. Psychologische Tests zeigen, dass Menschen mit einem festen Händedruck aufrichtiges Interesse an ihrem Gesprächspartner haben und weniger neurotisch sind als Menschen ohne. Ms. Randalls Handschlag glich dem mit einer gekochten Spaghetti.
Und noch etwas fällt mir sofort auf. Als Renee Cohen mich anlächelt, bilden sich tiefe Falten rund um ihre dunkelbraunen Augen. Und dann ist da noch eine auffallend große Lücke zwischen ihren Vorderzähnen. Klasse, Jenna und ihre lächerlichen Kommentare zum Einstellen einer attraktiven Nanny sind mir im Kopf geblieben.
Denn was ist, wenn sie recht hat? Öffne ich die Büchse der Pandora, wenn ich uns eine jüngere Frau ins Haus hole? Ist gerade der richtige Zeitpunkt in unserem Leben, um das Schicksal herauszufordern?
Gibt es jemals einen guten Zeitpunkt, um das Schicksal herauszufordern?
„Bitte, setzen Sie sich.“ Ich deute auf den Barhocker neben mir. Sobald sie sich gesetzt hat, starte ich mit meiner langen Liste an Fragen durch. Heutzutage kann man schließlich nicht vorsichtig genug sein, oder? Ich habe die Liste online gefunden und ausgedruckt – fünfzehn Fragen, die du deiner zukünftigen Nanny stellen solltest. Begonnen bei „Warum wollten Sie Nanny werden?“ bis hin zu „Was sind Ihre Qualifikationen?“.
„Ich habe einen Bachelor in Kinderpädagogik von der UConn und einen Master in Kinderpsychologie von der St. John’s University. Außerdem habe ich einen Erste-Hilfe-Kurs belegt“, erzählt sie mir.
„Wow“, erwidere ich, während ich mir Notizen zu ihrem Lebenslauf mache. „Das ist sehr beeindruckend.“
Die Bedienung kommt an den Tisch, um unsere Bestellung aufzunehmen. Ich werfe einen Blick auf die Uhr: 10:30 Uhr. Ich sitze hier bereits seit einer knappen Stunde. Aber wenn es so weitergeht, ist Renee Cohen mein letztes Vorstellungsgespräch des Tages. Mein letztes Vorstellungsgespräch überhaupt. Sorry, drei, vier und fünf, aber wirklich leid tut es mir nicht.
„Einen Eistee für mich, bitte“, sage ich.
„Und für Sie?“
„Ich hätte gern einen Wodka-Martini auf Eis mit Blauschimmelkäse-gefüllten Oliven.“ Renee gibt die Getränkekarte an die Bedienung zurück. Zuerst denke ich, es soll ein Scherz sein, doch als die Bedienung geht und sie sie nicht wieder zurückruft, wird mir klar, dass es ihr voller Ernst war. Mir fällt die Kinnlade herunter. Das ist so ziemlich das letzte, das ich erwartet habe. Bei einem Vorstellungsgespräch für eine Nanny-Stelle Wodka trinken? Bei einem Vorstellungsgespräch für eine Nanny-Stelle verdammt nochmal morgens um 10:30 Uhr Wodka trinken?
Vergiss es. Ich werde meine Tochter nicht einer Alkoholikerin in die Arme werfen.
Die nächste, bitte.
Leider tauchen Kandidatin drei und vier nicht mal zu ihren Terminen auf.
Nummer fünf ist meine letzte Chance, bevor ich wieder bei null anfangen darf. Ich wollte heute mit etwas Konkretem nach Hause kommen, um Andrew zu zeigen, wie ernst ich das Ganze meine. Um ihm zu zeigen, dass ich die Situation unter Kontrolle habe. Außerdem läuft mir die Zeit davon, weil ich bald wieder zurück ins Büro gehen werde.
Ich nippe an meinem Eistee, während ich auf Bree Miller warte. Nebenbei erkundige ich mich bei Jenna nach Delilah.
Alles gut?
Ich spüre eine Art von Nervosität, die ich nicht ganz erklären kann. Es ist das erste Mal, dass ich Delilah mit jemand anderem als meinem Mann alleine lasse. Es sind noch keine zwei Stunden vergangen und ich empfinde es bereits als unerträglich. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, sie regelmäßig einen ganzen Tag zurückzulassen.
Es wird meine Schuldgefühle etwas lindern, wenn ich weiß, dass sie in guten Händen ist. Aber so wie es aussieht, überkommen mich allmählich ernsthafte Zweifel an der Existenz solcher Hände.
Und schlimmer noch, fange ich an, das alles von Grund auf in Frage zu stellen.
Mache ich gerade einen schrecklichen Fehler?
Ich kaue auf meiner Nagelhaut herum, während ich die drei pulsierenden Punkte auf dem Bildschirm anstarre. Warum braucht Jenna so verdammt lange, um mir zu antworten?
Nach ein paar qualvollen Minuten bekomme ich eine Antwort.
Entspann dich, Lucy. Sie schläft tief und fest.
Ein wenig erleichtert atme ich auf. Ich bin jetzt bereits seit knappen zwei Stunden mit dieser Sache beschäftigt. Es ist noch nicht einmal Mittag und ich bin bereit, dass der Tag sein Ende nimmt. Bree Miller ist meine letzte Hoffnung. Wenn sie überhaupt auftaucht. Den bisherigen Gesprächen nach zu urteilen, besteht eine fünfzigprozentige Chance, dass ich wieder versetzt werde. Eine gefühlte Ewigkeit starre ich die Tür an und hoffe inständig, dass sie sich öffnet.
Schließlich tut sie es auch.
Und da ist sie.
Kapitel Vier
Sofort löst sich die Anspannung von meinen Schultern. Meine potenzielle Nanny ist nicht ganz die Sexbombe, vor der Jenna mir Angst eingejagt hat. Sie ist leger und angemessen in Sporthose und übergroßem T-Shirt gekleidet. Ihr blondes Haar hängt ihr locker um die Schultern, ordentlich, aber nicht übertrieben gestylt. Außer einem Hauch von Mascara ist sie ungeschminkt. Sie sieht nach einer erfrischend jungen, bodenständigen Mittzwanzigerin aus.
Genau wie ich damals, bevor mich das Leben an der Gurgel packte.
„Mrs. Douglass?“ Ich schrecke auf, als ich meinen Namen höre. Bree Miller steht vor mir und wringt unsicher mit den Händen.
„Hallo, ja“, stammele ich. „Tut mir leid, ich war wohl gerade nicht ganz da. Ich bin in Gedanken nur bei meinem Baby. Bitte, nenn mich ruhig Lucinda. Mrs. Douglass ist meine Schwiegermutter.“
Bree lacht nervös. „Ich bin Bree, wir haben uns telefonisch gesprochen. Ich war mir nicht sicher, ob ich die richtige Person angesprochen habe. Du siehst nicht alt genug aus, um schon ein Kind zu haben.“
Wow, eventuell liebe ich diese Frau jetzt schon.
Ich mustere sie. Bis jetzt ist Bree Miller die einzige Kandidatin, die ich mir mit Delilah am Boden vorstellen kann: beim Erkunden, Malen, Spielen im Dreck und all den anderen Dingen, die Kinder in einer gesunden Kindheit so tun. Und dann ist da noch die Tatsache, dass keine weiteren Vorstellungsgespräche anstehen. Ich möchte also unbedingt, dass dieses Arrangement klappt.
Die Bedienung kommt an unseren Tisch zurück, um Brees Bestellung aufzunehmen. „Hätten Sie gern etwas zu trinken, Miss?“
Brees Blick huscht über die Speisekarte. Äußerlich bin ich gelassen, aber innerlich schreie ich: Um Himmels willen, bestell bitte keinen Wodka-Martini auf Eis mit Blauschimmelkäse-gefüllten Oliven!
„Einmal Wasser mit Zitrone, bitte.“
Ich löse meine geballten Fäuste.
Bevor ich die erste Frage auf meiner langen Liste stellen kann, greift Bree in ihre Tasche. „Ich weiß, es ist noch früh, aber willst du vielleicht eine Praline?“ Sie holt ein Baci hervor, das in schicke Silberfolie eingewickelt ist wie ein kleines Geschenk.
„Wow“, erwidere ich, als ich die Schokopraline dankbar entgegennehme. Vor lauter Trubel um Andrew und die Vorstellungsgespräche habe ich heute noch nichts gegessen. Und: „Das sind meine absoluten Lieblingspralinen. Ich hatte seit Jahren keine mehr. Ich wusste gar nicht, dass es die noch gibt.“
„Wie witzig“, antwortet sie lachend. „Das sind auch meine Lieblingspralinen. Wie es so schön heißt: Schokolade ist Balsam für die Seele.“
„Das sage ich auch immer.“ Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus, während ich mir die himmlische Kugel in den Mund schiebe.
Kurz darauf kommt die Bedienung mit Brees Wasser und einem weiteren Glas Eistee für mich zurück. Ich nehme einen großen Schluck und beginne dann das Gespräch, auch wenn es sich eher nach einer reinen Formalität anfühlt. Denn abgesehen von der Praline und dem Kompliment, hat dieses Mädchen irgendetwas an sich, aufgrund dessen ich ihr vertraue.
Natürlich wirft Jenna mir immer vor, ich sei zu leichtgläubig. Aber ich glaube, das Problem liegt eher bei ihr als bei mir, denn sie scheint gar niemandem zu vertrauen. Außer mir, natürlich. Aber auch das hat eine Weile gedauert.
„Erzähl mir von dir, Bree. Was gefällt dir am Beruf als Nanny?“
„Ach, ich liebe Kinder einfach. Ich habe sechs jüngere Geschwister und habe geholfen, sie großzuziehen. Eine meiner Schwestern hat eine Behinderung und wir stehen uns besonders nahe. Ich besuche noch immer bei jeder Gelegenheit meine Familie in Upstate New York. Aber keine Sorge, du und deine Familie werden bei mir an erster Stelle stehen.“
Ich werfe einen Blick auf ihren Lebenslauf. „Wie ich sehe, arbeitest du seit deinem Abschluss an der NYU – das ist übrigens zufällig auch meine Alma Mater –, in einer Vorschule. Warum der Wechsel? Ich muss ehrlich sein. Karrierechancen kann ich hier kaum bieten.“
Bree atmet tief durch und stützt ihre Hände auf den Knien ab. „Ich will nicht, dass du schlecht von mir denkst …“ Sie hält inne und ich mache mich darauf gefasst, dass sie jetzt gleich die Bombe platzen lässt, die das Gespräch wie die beiden vorherigen beendet. „Im Vorschulalltag fühle ich mich überfordert. Ich würde mich viel lieber auf ein Kind konzentrieren, das ich aufwachsen sehen kann. Ein Kind, mit dem ich gemeinsam wachsen kann. Das hat mich schließlich ursprünglich an Kinderpädagogik interessiert. Mir geht es nicht ums Geld.“ Mein Körper entspannt sich.
Brees Lebenslauf war beeindruckend, aber das hier …
Ich schmelze dahin.
Ich drücke unauffällig die Daumen. „Was ist deine Erziehungsphilosophie?“
Keine Seife. Keine Seife. Keine Seife.
Bree streicht sich eine lose blonde Strähne hinters Ohr. „Ich glaube fest an positive Bestärkung. Ich bin kein Fan von Bestrafungen.“ Sie sieht mich mit ihren blauen Augen an. „Natürlich gibt es im Leben Konsequenzen für negative Verhaltensweisen. Aber ich bevorzuge Auszeiten und Gespräche auf Augenhöhe mit dem Kind, damit es versteht, warum das, was es falsch gemacht hat, falsch war. Damit aus Fehlern gelernt werden kann. Weißt du, was ich meine?“
Ich grinse. „Ja, und ich stimme dir komplett zu.“ Kein Dove für Delilah.
Bree erscheint mir perfekt. Es ist beinahe zu schön, um wahr zu sein, aber der Headshot geht mir nicht aus dem Kopf.
„Darf ich dich etwas Persönliches fragen?“
„Klar. Schieß los.“
„Warum der Headshot? Hoffst du, am Broadway oder als Influencerin groß rauszukommen oder so? Meine beste Freundin Jenna ist Influencerin und sie geht nicht einmal die Post holen, ohne so ein Foto mitzunehmen.“
Kreise bilden sich auf Brees Wangen. „Du findest es peinlich, dass ich so ein Bild mitgeschickt habe, oder?“
„Nein, nein“, antworte ich beschwichtigend. „Es ist bloß … Delilah ist erst einen Monat alt und vielleicht bekommen wir eines Tages noch mehr Kinder.“ Vorausgesetzt natürlich, wir schaffen es bis zu diesem ‚eines Tages‘. „Ich plane viel im Voraus und muss wissen, ob das für dich nur eine Überbrückung ist, bis du etwas Besseres findest.“
Daraufhin grinst Bree. Ich kann nicht umhin zu bemerken, wie perfekt gerade und weiß ihre Zähne sind. „Die Idee mit dem Foto habe ich von der Facebook-Seite der Real Nannies of the Upper East Side. Es ging darum, sich von der Menge an Mitbewerbern abzuheben oder so. Ich weiß, ich weiß, die Idee war albern. Aber mal im Ernst, ich gehe nirgendwohin. Ich würde nichts lieber tun, als meine Tage damit zu verbringen, mit deiner Tochter die Stadt zu erkunden, zu malen und Löcher zu buddeln.“
Es ist, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Ich werfe einen Blick auf meine Liste an Fragen. Wenn man es weiß, weiß man es einfach, und ich weiß, dass Bree Miller Delilahs Nanny sein soll.
Sie ist allerdings auch meine letzte Kandidatin. Außerdem besteht da noch die Tatsache, dass meine Brustwarzen anfangen zu tropfen. Ich muss zurück zu meiner Tochter.
Also bleibt mir nur noch eine Frage: „Wann kannst du anfangen?“
Kapitel Fünf
„Das ist nicht dein Ernst! Du hast das Headshot-Model eingestellt?“ Jenna steht in ihrer Küche und stützt eine Hand auf der Hüfte ab. Ich sitze auf einem Barhocker und trinke ein Glas eiskaltes Wasser. Ich habe in den letzten Stunden so viel getrunken, dass ich Tag und Nacht lang nur noch pinkeln werde. Aber verdammt, so gut mit Flüssigkeit versorgt war ich in meinem Leben noch nie.
Ich habe Delilah bereits gestillt und sie friedlich schlummernd zurück in ihren Buggy gelegt. Sie schläft mal wieder tief und fest.
„Ja. Aber …“
„Aber was?“
„Die anderen Kandidatinnen waren einfach furchtbar, Jenna. Nein, schlimmer als furchtbar. Eine meinte, sie würde Delilah den Mund mit Seife auswaschen, eine andere trinkt um zehn Uhr früh Wodka-Martinis. Um zehn Uhr früh, verdammt noch mal!“ Jenna schiebt ihr prickelndes Glas Prosecco zur Seite. „Zwei von ihnen sind nicht einmal aufgetaucht. Sie schrieben mir noch, dass sie auf dem Weg seien, und dann haben sie mich geghostet. Mal im Ernst, wer macht denn bitte so was?“
„Verstehe ich das richtig: Du stellst die mit dem Headshot ein, weil sie gekommen ist? Du kennst das Mädchen kaum ein paar Minuten. Und was ist Brie bitte für ein Name? Ist das Mädchen ernsthaft nach einem Käse benannt? Ich sage dir, das ist so was von einer red Flag.“
Ich bin mir nicht sicher, inwiefern ein von den Eltern gewählter Name eine red Flag darstellen kann, aber … ich verkneife mir ein Lachen.
„Das ist B-R-I-E, Jenna. Sie schreibt sich B-R-E-E. Hörst du den Unterschied?“
Jenna klopft mit ihren frisch manikürten roten Fingernägeln auf die Arbeitsplatte. „Gut, wie heißt sie denn mit Nachnamen?“
„Miller.“
„Meine Güte, Lucy.“ Sie legt sich die Hand auf die Brust. „Du stellst ein Käsebier ein? Das ist noch schlimmer.“
„Um Himmels willen, Jenna, das Mädchen wurde nicht nach einem Käse benannt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie auch nichts für ihren Nachnamen kann! Und übrigens gibt es achtundzwanzig Millionen Millers auf der Welt. Und damit meine ich nicht das Bier!“
Jenna verdreht die Augen. „Wie auch immer. Ich meine ja nur. Ich hätte gedacht, du würdest dich für jemanden mit mehr Erfahrung in der Kinderbetreuung entscheiden, statt für einen Möchtegern-Softcore-Pornostar.“
Ich werfe meiner Freundin einen vielsagenden Blick zu. „Wow, du erschließt dir ganz schön viel aus einem einzigen Foto, Jenna.“
Sie redet in sanfterem Ton weiter. „Na ja, du lässt eben diese Fremde bei dir einziehen, Lucy. Bist du sicher, dass du da keinen Fehler machst? Du weißt doch, dass ich nur das Beste für dich will.“
„Man kann sich wohl nicht sicher sein, dass man einen Fehler begeht, bis man es tut, oder? Ich habe jedenfalls ein sehr gutes Gefühl bei ihr.“
„Du und dein Bauchgefühl …“ Jenna schüttelt den Kopf und ihr gewelltes Haar hüpft in fließenden Wellen mit. Es ist, als würde sie mit Ventilator im Gesicht einen Werbespot für Pantene Pro-V drehen. Sie runzelt die Stirn und eine Falte bildet sich zwischen ihren Augen. Sobald sich ihre Gesichtszüge entspannen, verschwindet sie wieder. Früher habe ich selbst diese wütende Furche zwischen den Augen nur bekommen, wenn ich die Miene verzogen habe, aber jetzt bekomme ich sie nicht mehr weg.
Jenna ist mir in Sachen Genetik überlegen, aber sie schläft auch jede Nacht acht oder neun Stunden am Stück, anstatt Abschnitte von acht oder neun Minuten.
Gerade mag alles schön und gut sein – na ja, nicht wirklich –, aber das wird definitiv nicht mehr der Fall sein, wenn ich mich wieder mit Risikobewertungen, Berechnungen und dem Geld anderer Leute herumschlage. Und wenn alles nach Plan läuft, muss ich bereits in einem Monat meinen Hintern aus dem Bett schwingen und auf der Arbeit voll funktionstüchtig sein. Wird Delilah bis dahin überhaupt schon durchschlafen? Werde ich meiner kleinen Maus das Schlafen antrainieren müssen? Sie weinen lassen müssen, bis sie aufhört? Lieber würde ich mir mit einer Pinzette das Auge ausstechen. Und wir alle wissen, dass Andreas das auch nicht tun wird.
Ist das hier denn wirklich ein Fehler?
Ich bin in Gedanken versunken und eine unendlich lange Stille breitet sich zwischen uns aus. „Na gut“, gibt Jenna schließlich nach. „Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Bree Miller steht der Ärger ins gephotoshopte Gesicht geschrieben.“
***
Jennas Warnung geht mir noch nach, als ich auf dem Rückweg zu meiner Wohnung am Laden an der Ecke anhalte. Ich bemühe mich darum, nicht zu sehr darüber nachzudenken. Ich habe meinem Chef und meinen Kunden bereits mitgeteilt, dass ich am 1. Oktober wieder auf dem Börsenparkett stehen werde. Ich habe Bree die Stelle als Nanny angeboten und sie hat sie freudig angenommen – ich kann das jetzt nicht einfach zurücknehmen. Oder doch? Nein, nein, natürlich kann ich das nicht. Bree kündigt wahrscheinlich gerade auf der Arbeit und teilt ihrer Mitbewohnerin mit, dass sie nächsten Monat ausziehen wird. Ich werde dieses arme Mädchen nicht arbeitslos und obendrein bald obdachlos machen, nur weil meine beste Freundin sich darüber aufregt, dass ihr Name nach Käse klingt … Entschuldigung, nach Käsebier.
Apropos Käse: Ich hole ein paar Packungen frischen Mozzarella, Auberginen, knallrote Kirschtomaten und eine Auswahl an Kräutern, um Andrews Lieblingssoße zuzubereiten. Zu guter Letzt werfe ich noch eine große Packung Butter in den Korb. Ich habe vor, meinem Mann Honig – oder in meinem Fall Butter – ums Maul zu schmieren, bevor ich heute zum zweiten Mal eine Bombe platzen lasse. Die Bombe, für die es eigentlich heute Morgen Zeit gewesen wäre. Delilah beginnt sich in ihrem Kinderwagen zu regen. Sie hat vormittags und nachmittags fast nur geschlafen. Das verheißt nichts Gutes für unseren Abend.
Allerdings steht der Abend dank dem Überraschungsgast ab 20 Uhr sowieso unter schlechtem Stern. Bree hat darauf bestanden, heute Abend vorbeizukommen, um Delilah und Andrew kennenzulernen. Gut, Delilah wird wahrscheinlich schlafen, aber Andrew … na ja, hoffen wir einfach, dass mein romantisches Gourmet-Dinner bei ihm für gute Laune sorgt.
Ist es noch zu früh? Ich weiß, dass wir heute Morgen gerade erst besprochen haben, womöglich eine Nanny einzustellen, aber hoffentlich ist es weniger schmerzhaft, wenn ich das Pflaster mit einem schnellen Ruck ziehe, statt in Zeitlupe.
Es ist bereits 16 Uhr, als ich zu unserer Wohnung zurückkehre. Ich lege Delilah in ihre Babyschaukel, die sie sanft zu einem beruhigenden Mozart-Stück hin und her wippt. Es ist entspannend. So richtig entspannend. So entspannend, dass ich der Versuchung widerstehen muss, auf die Couch zu plumpsen und die Füße hochzulegen. Ich weiß, dass ich dann weg bin, sobald mein Hintern das Kissen berührt.
Ich kann es mir gerade nicht leisten, einzuschlafen. Ich muss mich mit dem Abendessen ernsthaft ins Zeug legen.
Delilah lasse ich friedlich im Wohnzimmer schaukeln, damit ich mich derweil an die Zubereitung meines Honig-ums-Maul-Gerichts machen kann. Zum Glück sind die Auberginen bereits paniert und gebraten (ich bin keine Martha Stewart!). Aber eine Soße koche ich selbst. Ich schneide Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch und bringe alles am Herd langsam zum Kochen. Als nächstes gebe ich Salz, Pfeffer, Oregano, Basilikum, ein Lorbeerblatt und die Hälfte der Butter dazu und lasse die magische Mischung köcheln.
Dann schenke ich mir ein großes Glas Rotwein ein. Natürlich sollte ich in der Stillzeit nicht trinken, aber was soll ich sagen? Es war eben ein harter Tag. Und wenn ich meine Erwartungen an der Szene von heute Morgen orientiere, steht mir ein verdammt intensiver Abend bevor. So wie ich meinen Mann kenne, erwartet mich ein Feuerwerk.
Ich nehme einen großen Schluck und lasse mich vom Alkohol wärmen und beruhigen.
Sobald die Zutaten zu einer köchelnden Paste eingekocht sind, fange ich an, Auberginenscheiben, Soße und Mozzarella aufeinander zu schichten. Und gebe natürlich die restliche Butter hinzu. Schließlich raspele ich noch etwas frischen Parmesan darüber und voilà! Ich schiebe mein Meisterwerk in den Ofen. Während die Auberginen garen, bereite ich einen Salat zu und koche Fettuccine auf dem Herd. Dann decke ich den Tisch mit unserem Hochzeitsgeschirr und zünde zwei Spitzkerzen an.
Das Ambiente ist absolut perfekt – das perfekte Abendessen, um meinem einst perfekten Ehemann die perfekte Nanny näherzubringen.
Ich will mich gerade setzen und mein Glas Wein genießen, als mich ein Klopfen an der Tür erschreckt.
Wer könnte das sein?
Es ist ein bisschen spät für Pakete.
Ein zweites Klopfen.
Hm … Der Pförtner hat mir keine Benachrichtigung über einen Besucher geschickt.
Könnte jemand die falsche Wohnung erwischt haben? Nur eine weitere Wohnung teilt sich das oberste Stockwerk mit uns. Unsere Nachbarin ist Mitte achtzig und ihre erwachsenen Kinder kommen selten zu Besuch. Aber selbst wenn, wissen sie eigentlich, zu welcher Wohnung sie müssen. Sie werden sie schließlich mal erben.
„Komme schon“, rufe ich und wische mir die Hände an meiner bereits besudelten Bluse ab. Ich sollte mir besser etwas Verführerischeres anziehen, bevor Andrew nach Hause kommt. Und mir vielleicht mal mit dem Kamm durchs Haar fahren?
Mit zusammengekniffenen Augen werfe ich einen Blick durch den Spion.
Was macht sie denn hier?
Kapitel Sechs
„Hey, Lucinda.“ Bree steht in meiner Tür und grinst von einem Ohr zum anderen. Neben ihr stehen zwei große Koffer und sie trägt einen Teddybär unter dem Arm. Ich bin, gelinde gesagt, verwirrt. Als ich ihr mitgeteilt habe, sie könne heute Abend vorbeikommen, meinte ich damit: „Hey, komm doch vorbei, um Delilah kennenzulernen und mir dabei zuzusehen, wie ich sie ins Bett bringe?“ Es braucht keine zwei übergroßen Koffer, um ein Baby ins Bett zu bringen.
„Wie bist du am Pförtner vorbeigekommen?“, frage ich völlig überrumpelt.
„Ich habe ihm erzählt, dass ich deine Schwester bin.“
„Meine Schwester?“
„Ja, er meinte, ich sehe dir wirklich ähnlich. Netter Kerl.“
Hm. Sollte ich mich geschmeichelt fühlen, dass unser Pförtner Ashton meint, ich sehe einer attraktiven Zwanzigjährigen ähnlich? Oder ihm vorschlagen, in eine Brille zu investieren? Eines Tages lässt er noch einen bewaffneten Mann ins Haus, der sich als meine Mutter ausgibt.
Bree und ich sehen uns kein bisschen ähnlich – sie ist über ein Jahrzehnt jünger als ich und hat weder Krähenfüße noch Dehnungsstreifen. Neulich habe ich mir ein weißes Haar gezogen. Das Einzige, was an Brees Kopf weiß ist, sind ihre sonnigen Highlights.
Und dann ist da noch ihr Gepäck. „Warum hast du denn Koffer dabei, Bree?“
„Meine Mitbewohnerin war ziemlich angepisst, als ich ihr erzählt habe, dass ich nächsten Monat ausziehe, also dachte ich mir, da kann ich genauso gut jetzt schon kommen. Meinst du nicht auch?“
Ich ringe um eine Antwort, doch mir fehlen die Worte.
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr und betrachte dann Bree, die unbeholfen vor der Tür steht. Es ist gerade mal 17:30 Uhr. Pünktlichkeit ist lobenswert, aber zweieinhalb Stunden zu früh? Einen ganzen Monat zu früh? Andrew ist noch nicht einmal zu Hause. Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihm zu erklären, dass Bree bei uns einzieht. Oder dass ich überhaupt jemanden eingestellt habe.
„Tut mir leid“, entschuldigt sich Bree mit trauriger Miene. „Ich hätte nicht so früh hier aufkreuzen und erwarten sollen, dass es okay ist, wenn ich bleibe. Ich habe mich einfach so darauf gefreut, Delilah kennenzulernen und mit ihr zu kuscheln, bevor sie schlafen geht. Und ehrlich gesagt, konnte ich nirgendwo anders hingehen. Ich wollte nicht stören …“ Über meine Schulter hinweg wirft sie einen Blick auf den romantisch gedeckten Tisch und sieht dann auf ihre Füße hinab. „Ich überlege mir etwas und komme dann später wieder“, erklärt sie kleinlaut und wendet sich zum Gehen ab. Sie sieht so winzig aus mit ihren riesigen Koffern, wie ein Kind. Ich denke an mein eigenes Kind und habe ein schrecklich schlechtes Gewissen.
Das ist einfach furchtbar.
„Bree, warte.“
Mit hoffnungsvollem Blick in ihren hellblauen Augen wirbelt sie zu mir herum.
„Du musst nicht gehen. Das ist schon in Ordnung. Bitte, komm rein.“ Ich öffne die Tür ganz und weiche zur Seite, um ihr Platz zu machen. Es ist das erste in einer sicherlich langen Reihe an Tänzchen, die wir veranstalten werden, während wir uns an unser neues Wohnarrangement gewöhnen. Das Arrangement, von dem ich Andrew noch erzählen muss.
O Gott. Andrew.
Rate mal, wer noch zu früh dran ist …
Ich höre gerade die Schritte meines Mannes im Flur, als es plötzlich in der Wohnung laut piepst.
Rauch macht sich breit. So viel Rauch.
„Meine Auberginen!“
Ich will direkt in die Küche rennen, bleibe aber kurz stehen, um Bree hastig Anweisungen zu geben. Ich deute auf das Wohnzimmer, während ich alles herunterrattere: „Delilah schläft da drin in ihrer Schaukel. Wenn sie aufwacht, kannst du sie in dein Zimmer bringen. Das liegt am Gang, die zweite Tür rechts. Tut mir leid, ich hatte noch nicht die Gelegenheit, Handtücher bereitzulegen oder so …“
„Bitte, Lucinda. Ich weiß, dass ich dich überrumpelt habe. Ich komme schon zurecht. Geh, kümmere dich um dein Essen.“
Ich schenke ihr ein schwaches Lächeln, bevor ich in die Küche sprinte und mir ein Geschirrtuch schnappe. Ich reiße den Ofen auf und dicke, schwarze Rauchschwaden schlagen mir entgegen. Ich will gerade nach dem Feuerlöscher greifen, doch es sind keine Flammen zu sehen. Es sieht so aus, als hätten meine Parmesan-Auberginen das Feuer gelöscht (und es zuvor ausgelöst?). Auf jeden Fall sind sie komplett verkohlt. Ironischerweise hat mein magisches Stück Butter den Prozess wahrscheinlich beschleunigt.
Kann es überhaupt noch schlimmer werden?
„Was zur Hölle ist hier los, Lucinda?“
O ja. Ja, das kann es.
Andrew steht mit den Händen auf der Hüfte in der Küche und starrt mich mit zusammengekniffenen Augen an, als hätte ich ihn mit Pfefferspray attackiert. Sein Blick wandert zu dem Backblech im Ofen, dessen Inhalt mittlerweile einem verkokelten Stiefel ähnelt. „Du hast gekocht“, kommentiert er kopfschüttelnd. Dann hustet er laut in seine Armbeuge.
„Habe ich versucht, ja“, antworte ich knapp. Dabei versuche ich, mir nicht anmerken zu lassen, wie peinlich mir der kolossale Fehlschlag ist, der eigentlich unser Abendessen hätte darstellen sollen. Okay, jetzt ist es also raus: Ich bin nicht die Gourmetköchin, für die ich mich womöglich ausgegeben habe. Wie auf Kommando sprudelt das kochende Wasser am Herd laut zischend auf die Herdplatte. Weil ich die Fettuccine komplett vergessen habe. So viel zum Thema „al dente“.
„Es gibt noch Salat.“ Ich halte ein Salatblatt hoch. Es hängt mir schlaff von der Hand, ein weiteres Opfer des spritzenden Wassers und des dichten Smogs. Was für eine verdammte Katastrophe.
Andrew öffnet eines der Küchenfenster, sodass ein Teil des Rauchs entweichen kann. Dann steigt er auf einen Stuhl, holt den Rauchmelder von der Decke und entfernt die vier Doppel-A-Batterien, damit er endlich aufhört, zu piepen.
Als das Geräusch verstummt, höre ich mein Herz in der Brust. Es hämmert laut und schnell und geht mir unglaublich auf die Nerven. Allerdings wird Andrew noch viel genervter sein als ich gerade, wenn ich ihm die Neuigkeiten verrate. Ich denke ernsthaft darüber nach, das Pflaster doch lieber langsam abzureißen.
„Wo ist Delilah?“, fragt er. „Ich kann mit ihr nach draußen gehen, während du das mit dem Abendessen richtest. Vielleicht können wir ja Pizza bestellen oder so? Sie sollte wahrscheinlich nicht diesen ganzen Rauch einatmen.“ Andrew wedelt den Rauch vor seinem Gesicht zur Seite.
„Sie ist im Wohnzimmer.“ Er wendet sich ab. „Aber warte, ich muss dir vorher noch etwas sagen …“
Zu spät.
Andrew ist bereits mit Bree zusammengestoßen, die im Torbogen steht und Delilah an die Brust gedrückt hält. Ich kann nicht einmal tief durchatmen, um mich zu beruhigen, weil überall verdammter Rauch ist.
„Entschuldigung, dass ich störe“, sagt sie. „Ich glaube bloß, … dass Delilah Hunger hat.“ Hunger? Ich beobachte Bree gespannt. Ich bin mir nicht sicher, wie sie darauf kommt, wenn Delilah doch tief und fest in ihren Armen schläft, aber okay. Wenn sie das sagt, muss es wohl stimmen. Unsere brandneue Nanny kennt mein Baby und dessen Stillzeiten besser als ich.
O Gott. Was ist los mit mir?
Schnell reiße ich mich wieder zusammen. Dann stelle ich die beiden einander vor. „Bree, das ist mein Mann Andrew. Andrew, das ist Bree, unsere …“
„Live-in-Nanny“, fällt sie mir ins Wort.
Tja, so kann man die Neuigkeiten auch verkünden. Tschüss, Pflaster.
„Entschuldigung, unsere was?“ Meinem Mann weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht. „Lucinda, kann ich dich mal unter vier Augen sprechen? SOFORT.“
Jenna hatte recht. Ich hätte Andrew heute Morgen die Nachricht überbringen sollen, dass ich mit einer Anzeige nach einer Live-in-Nanny suche. Ehrlich gesagt hatte ich zu viel Angst, dass er nein sagen würde und ich ihn nicht vom Gegenteil überzeugen könnte. Ich kann mir nicht leisten, zu spät zur Arbeit zu kommen, falls meine Nanny mal im Stau steckt oder so. Ich dachte mir, ein Kindermädchen kann gar nicht zu spät kommen, wenn sie nur ihr Zimmer verlassen muss, um zur Arbeit zu kommen.
Ich hatte vorgehabt, Andrew all das zu erklären, bevor Bree einzieht – wirklich –, ich wollte ihn nur nicht mit zu viel Informationen auf einmal überfordern. Tja, der Schuss ging nach hinten los. Aber woher hätte ich ahnen können, dass Bree samt Gepäck hier auftaucht, wenn sie doch erst in einem Monat einziehen sollte?
„Ich kann Delilah in mein Zimmer bringen, damit ihr euch aussprechen könnt“, bietet Bree an. „Kannst du mir ein Fläschchen geben, damit ich sie füttern kann?“
„Ihr Zimmer? Wo ist bitte ihr Zimmer, Lucinda?“ Andrews Stimme ist um mindestens fünf Oktaven nach oben geschossen. Ich glaube, er steht unter Schock. Das, oder er rechnet sich gerade aus, wo das Schlafzimmer unserer neuen Nanny liegt. Jetzt komme ich mir wirklich wie ein Arschloch vor. Ich hätte Andrew fragen sollen, bevor ich seinen Zeichenraum als Nannyzimmer angeboten habe. Allerdings hat unsere Wohnung, auch wenn sie geräumig ist, nur drei Schlafzimmer. Wo sollte Bree denn sonst hin, wenn sie nicht gerade zwischen Andrew und mir schläft?
„Was zur Hölle ist hier los, Lucinda?“, fragt Andrew mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Kiefermuskulatur zuckt. Er sieht aus, als ginge er gleich in die Luft. Ich hatte damit gerechnet, dass er wütend sein würde, aber nicht so wütend. Sollten New-Age-Künstler nicht eigentlich ruhige Typen sein? Typisch New Age eben?
„Gib mir einen Moment – ich kann das erklären.“ Ich wende mich Bree zu. „Im Kühlschrank stehen Fläschchen. Nimm dir eine und wärme sie zwei Minuten auf, dann kannst du sie damit füttern. Bitte hilf ihr beim Aufstoßen, sonst hat sie die ganze Nacht Blähungen.“ Wem mache ich hier was vor? Delilah wird so oder so die ganze Nacht wach sein.
Und mich beschleicht das Gefühl, dass Andrew und ich auch die ganze Nacht aufbleiben werden, um uns über unsere neue Nanny zu streiten.
Bree holt ein Fläschchen aus dem Kühlschrank und wärmt es auf, während Andrew und ich unbeholfen dastehen und es vermeiden, einander anzusehen. Ich mache das zumindest. Bree hustet laut in die Armbeuge, während sie darauf wartet, dass der Flaschenwärmer fertig ist. Nach gefühlten zwei Stunden (anstatt der wahren zwei Minuten) piept endlich der Timer.
„Ich kann Delilah ins Bett bringen“, bietet Bree an. „Damit ihr beide euch aussprechen könnt.“
„Das wäre fantastisch, Bree. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“
„Ich helfe doch gern.“ Bree geht mit Delilah und der Flasche in den anderen Raum und lässt mich mit dem Zorn meines Mannes allein. Gute Zeiten.
Und er zögert nicht, seinen Frust an mir auszulassen. „Eine Live-in-Nanny, Lucinda? Meinst du nicht, dass wir das vielleicht hätten besprechen sollen? Du hast erst heute Morgen auch nur die Möglichkeit erwähnt, eine Nanny einzustellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dabei nicht davon geredet hast, dass sie bei uns einzieht.“
Ich lasse den Kopf hängen. „Du hast recht, Andrew. Ich habe auf den richtigen Moment gewartet, um das anzusprechen.“
„Und du meintest, der richtige Moment wäre nach ihrem Einzug bei uns? Manchmal verstehe ich dich nicht.“
Gut, jetzt wo er es so sagt …
Ich kaue auf einem Fingernagel herum. „Was soll ich sagen? Sie kam zu früh.“
„Verstehe ich das richtig, sie ist schuld, dass du mir nicht von der bei uns einziehenden Nanny erzählt hast, weil sie pünktlich war?“
„Nicht pünktlich, Andrew. Um drei Stunden zu früh. Siehst du da den Unterschied? Und damit das klar ist: Sie sollte erst nächsten Monat einziehen. Nachdem ich Zeit hatte, es mit dir zu besprechen.“
Andrew schüttelt den Kopf. „Der Punkt ist, dass du ihr überhaupt bereits gesagt hast, dass sie einziehen kann, ohne vorher mit mir zu sprechen. Das hier soll eine Partnerschaft sein, keine Diktatur, Lucinda. Du kannst nicht einfach alle Entscheidungen treffen.“
Er hat völlig recht. Und ich habe auch wirklich ein schlechtes Gewissen.
„Du hast ja recht, okay.“ Ich gehe auf ihn zu und lege meinem Mann eine Hand auf die Brust. Die Wut weicht langsam aus seinem Gesicht, während ich meine Finger zu seinem Bauch wandern lasse. Mein Verhalten beschert mir ein schlechtes Gewissen, der Wein dagegen Lust.
Ich habe Andrew schon lange nicht mehr so berührt. Normalerweise rege ich mich heutzutage zu sehr über seine Klugscheißerei auf, um mich ihm auch nur ansatzweise nähern zu wollen. Seit Delilahs Geburt habe ich ihn, glaube ich, kaum angesehen.
Wenn ich ehrlich bin, sieht er gut aus.
Mal im Ernst, seit wann hat der Typ Bauchmuskeln?
Manchmal vergesse ich all die Gründe, aus denen ich mich damals in ihn verliebt habe.
„Hör mal, Andrew“, setze ich an. „Wir hatten seit Delilahs Geburt keine Chance mehr auf Sex und theoretisch könnten wir JETZT SOFORT Sex haben.“ Ich zwinkere und wandere mit meiner Hand so tief, wie es geht, ohne dass wir es direkt in der Küche treiben. „Siehst du, wie gut es ist, eine Nanny dazuhaben? Siehst du, was wir alles machen können? Ich verspreche, dass das ein gutes Arrangement für uns alle sein wird. Du wirst schon sehen.“
Ich werde mich ganz schön ins Zeug legen müssen, um die Wogen wieder zu glätten. Wenn ich eines über meinen Mann weiß, dann wie ich dafür sorge, dass er seine Wut auf mich vergisst.
„Ich dachte, du müsstest auf die Untersuchung nach sechs Wochen warten?“ Andrew kaut auf seiner Unterlippe herum, während er das fragt.
„Ich denke, einmal kann ich da eine Ausnahme machen.“ Ich zwinkere verschwörerisch.
Was machen zwei weitere Wochen schon für einen Unterschied?
Andrew hebt mich hoch und wirbelt mich im Kreis. Ich schnappe nach Luft.
Vielleicht liebe ich den Kerl ja doch noch ein bisschen.
Ich versuche, den Moment zu genießen. Ja, wir alle müssen uns erst mal an dieses neue Arrangement gewöhnen. Dann müssen wir eben kommunizieren und ein paar klare Grenzen setzen.
Das rede ich mir ein, während ich aus dem Augenwinkel sehe, dass Bree uns beobachtet.
Das ist nicht komisch. Oder doch?