Leseprobe Die Nachbarschaft | Ein nervenaufreibender Domestic Thriller, der unter die Haut geht

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EIN JAHR ZUVOR

Böse. Avril Jones fuhr zusammen, als das Wort in ihrem Kopf erschien. Früher hätte es keine besondere Wirkung auf sie gehabt, es war so harmlos wie jedes andere Wort im Wörterbuch: Botanik. Botschaft Aber jetzt war es aufgeladen, voll dunkler Bedeutung, eine eindringliche, unerbittliche Erinnerung daran, dass das Böse sie verfolgen würde, egal wie sehr sie auch versuchte, ihm zu entkommen. Sogar auf der M1.

Moralisch verwerflich und schlecht (4). Avril las den Kreuzworträtselhinweis noch einmal und umklammerte ihren Stift, während sie die Antwort aufschrieb. Dann drehte sie die Zeitung um, um sie nicht länger sehen zu müssen. Sie hatte keine Lust mehr, das Rätsel zu beenden und ihr war ohnehin übel von der Fahrerei.

Sie saßen zu viert in einem kleinen silbernen Mini Cooper, doch im Wagen herrschte ohrenbetäubendes Schweigen. Avril warf einen besorgten Blick in den Rückspiegel auf ihre Kinder. Tom trug Kopfhörer und spielte auf seinem iPad, während Bethany regungslos aus dem Fenster starrte, ihre Miene leer, als hätte man ihr die Seele herausgerissen.

Avril wandte den Blick ab und wedelte sich Luft zu mit der Hochglanzbroschüre, die sie in der linken Hand hielt. Die Broschüre versprach den Käufern einen aufregenden neuen Lebensstil in einer einzigartigen, luxuriösen Umgebung. Wenn jemand gerade jetzt eine neue Umgebung brauchte, dann war es sie. Oder gleich ein ganz neues Leben.

Stuart fuhr sieben Meilen pro Stunde unter dem Tempolimit, die Hände in der Zehn-vor-zwei-Position, die er im Fahrunterricht gelernt und die er in den nächsten drei Jahrzehnten strikt beibehalten hatte, als ob ihm jemand den Führerschein entziehen würde, wenn er auch nur eine Sekunde davon abwich. Avril fragte sich, ob seine Hände irgendwann vielleicht für immer in dieser Position stecken bleiben würden. Sie stellte sich vor, wie er älter und kahler wurde, die Arme vor sich ausgestreckt und die Finger um ein imaginäres Lenkrad gekrümmt, lange nachdem er aufgehört hatte zu fahren. Manchmal schaute sie ihn an und fragte sich, was sie je in ihm gesehen hatte, ob sie ihn überhaupt jemals wirklich geliebt hatte. Sie glaubte schon, dass es einmal so gewesen war, aber irgendwann war die Liebe erloschen, vielleicht zu dem Zeitpunkt, als sie aufgehört hatten, miteinander zu lachen. Oder einander zuzuhören. Oder Rücksicht aufeinander zu nehmen.

Sie hatte nicht auf ihn Rücksicht genommen, als sie spontan ihren robusten, zuverlässigen Honda gegen den Silver Bullet eintauschte, wie sie ihn gerne nannte. Stuart verabscheute den Mini Cooper. Er fand ihn überteuert und unpraktisch und beschwerte sich, dass es sich anfühlte, als würde man ein Go-Kart fahren. Avril liebte den Wagen, weil er neu und aufregend war. Als sie ihn kaufte, hatte er sie gefragt, ob sie eine Midlife-Crisis habe. Sie hatte mit zusammengebissenen Zähnen geantwortet, dass sie ihn in diesem Fall für einen heißen jungen Mann verlassen und sich einen Ferrari gekauft hätte.

Nicht, dass sie sich einen Ferrari hätten leisten können. Sie hatten gerade all ihre Ersparnisse ausgegeben und eine sündhaft teure Hypothek auf ein dreistöckiges Stadthaus aufgenommen, damit sie einen „aufregenden neuen Lebensstil in einer einzigartigen, luxuriösen Umgebung“ genießen konnten. Sie würden in absehbarer Zukunft vielleicht von Luft leben müssen, aber was Avril betraf, war es das wert.

Stuart machte sich Sorgen, dass sie sich zu viel Geld geliehen hatten. Es passte ihm nicht, ihr Haus in Hampshire aufzugeben, das näher an seinen Eltern und seinem Job in der IT-Branche lag. Er meinte, dass ihre neuen Nachbarn bestimmt Snobs sein würden. Er sagte, die Nebenkosten seien überhöht und der Country Club eine unnötige Extravaganz. Avril widersprach ihm in allen Punkten.

Was war falsch daran, ein besseres Leben zu wollen? Unter Reichen zu leben, jeden Morgen in einem schönen Pool zu schwimmen und dann am See entlang zu spazieren, während man den Kajakfahrern zusah, wie sie durchs Wasser glitten? Dass ihre Kinder mehr Möglichkeiten und die herrliche Freiheit haben sollten, die sie in der Stadt nie genießen konnten. Jeden Tag frische Luft zu atmen. Aber das waren nicht die wahren Gründe für den Umzug, und es war auch nicht der Grund, warum Stuart widerwillig zugestimmt hatte.

Der wahre Grund. Er blieb unausgesprochen zwischen ihnen, genauso wie das kurze Wort, das sie quälte: Böse. Avril warf noch einen Blick in den Spiegel und legte dann, untypisch für sie, eine Hand auf die von Stuart. Sie war heiß und feucht. Er mochte keine langen Fahrten und hasste die Autobahn. Aber sie war der M1 dankbar, weil sie sie von der Vergangenheit wegbrachte, hin zu einem besseren Leben. Es war ihre Chance, neu anzufangen, reinen Tisch zu machen. Ihr Familienleben wieder herzustellen und den Schaden zu beheben, der entstanden war. Sie hoffte nur, dass es nicht zu spät war.

Sie musste positiv denken, denn sie war die Einzige von ihnen, die das konnte. Also war es ihre Aufgabe, sie alle aufzurichten. Sie hatte diesen drastischen Schritt initiiert und war entschlossen, zu beweisen, dass es die richtige Entscheidung war. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie mit ihren neuen Freundinnen Kaffee trank, während ihre Kinder mit den Nachbarskindern spielten. Wie sie an einer neuen Schule anfing, wo die Leute sie nicht hinter ihrem Rücken anstarrten und tuschelten. Sie dachte daran, wie Tom einem örtlichen Fußballteam beitrat und neue Freunde fand, die ihn nur um seiner selbst willen mochten und nicht wegen dem, wofür seine Familie unabsichtlich berüchtigt war. Wie Bethany lächelte und ihr schönes Gesicht wie früher erstrahlte. Und wie ihre Tochter wieder zu ihr zurückkehren würde. Und wie sie mit Stuart lachen und er sich zu ihr umdrehen und sagen würde: „Du hattest recht, Avril, das war die verdammt noch mal beste Entscheidung, die wir je getroffen haben.“

Nicht, dass Stuart jemals „verdammt“ gesagt hätte, aber darum ging es nicht. In Westford Park würde alles anders werden. Avril würde verdammt noch mal dafür sorgen.

***

„Nimmst du bitte die Kiste da drüben, Micky?“ Sandy Delahaye wischte sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn und wischte sie dann an ihrer Shorts ab, während sie zusah, wie ihr sechzehnjähriger Sohn sich bückte, um die Kiste aufzuheben.

„Wo soll ich sie hinstellen, Mum?“

„In die Küche, Schatz.“

Gehorsam trug Micky die Kiste hinein und Sandy blieb einen Moment stehen, um das Haus mit seinen glänzenden Fenstern und der weißen Holzveranda auf sich wirken zu lassen. Drinnen roch es nach frischer Farbe und Lack, und es war so makellos sauber, dass sie ihr Geschirr direkt in die Schränke stellen konnten, ohne sie vorher abzuwischen. Sandy seufzte vor Freude.

Clare kam heraus, die Hand ihrer vierjährigen Tochter Isla haltend. Islas braune Augen waren riesengroß und sie platzte fast vor Aufregung. Sandy wünschte, ihr Sohn würde sich genauso freuen, aber so war es nun mal mit Teenagern. Er würde darüber hinwegkommen. Irgendwann.

„Isla und ich gehen ein bisschen die Gegend erkunden“, sagte Clare. „Möchtest du mitkommen?“

„Mummy, ich will schwimmen gehen!“, rief Isla und hopste ungeduldig auf und ab.

Sandy lächelte ihre Tochter liebevoll an. „Dafür ist noch genug Zeit, Schatz. Aber ich weiß nicht mal, wo dein Badeanzug ist. Geht ihr zwei auf Abenteuerreise und ich mache mich ans Auspacken.“

Sie sah zu, wie Clare und Isla den Kiesweg entlang in Richtung See verschwanden. Sie sollte hineingehen und nach Micky sehen, sich um die endlos vielen Kartons kümmern, aber sie konnte nicht widerstehen, noch eine Weile draußen zu bleiben und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.

Es fühlte sich an, als wären sie im Urlaub. Sandy konnte kaum fassen, dass dies nun ihr Leben war: Jeden Tag in dieses schöne Haus kommen, im Garten grillen, im beheizten Außenpool schwimmen und auf der Terrasse des Klubhauses zu Abend essen. Isla würde nach den Ferien in die örtliche Grundschule gehen. Bei der Besichtigung der Schule hatte Sandy sich in die bunten Ausstellungen und die gut gelaunten, lächelnden Lehrer verliebt. Es war alles perfekt.

Ihre Freunde hatten sie ausgelacht, als sie erzählten, dass sie ihr schönes Haus in Northampton verkaufen und acht Meilen weiter nach Westford Park ziehen würden.

„Was um alles in der Welt wollt ihr da, mitten im Nirgendwo?“, hatte einer von ihnen gefragt.

„Entspannen“, antwortete daraufhin Sandy mit einem glücklichen Lächeln. „Frei sein. In der Natur leben.“

Ihre Freunde hatten die Augen verdreht und gesagt, dass sie innerhalb eines Jahres wieder verkaufen würden. Aber Sandy war entschlossen, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Das hier war das Paradies. Sie würde jeden Morgen spazieren gehen, die Vögel singen hören und im Wald nach Kaninchen und Igeln Ausschau halten. Sie würde jeden Tag malen; ihr juckten schon die Finger, sie spürte, wie sich in ihr die Inspiration aufbaute.

Aber zuerst musste sie auspacken. Sie ging durch die offene Eingangstür und fand Micky, der in der Küche in einigen Kartons wühlte.

„Wo ist das Essen, Mum? Ich bin am Verhungern.“

„Im Kühlschrank ist etwas Milch und in der Kiste da drüben ist Müsli. Das sollte fürs Erste reichen, bis wir ein bisschen mehr ausgepackt haben.“

Micky ging zum Kühlschrank, mit seinen langen Beinen legte er die Strecke im Nu zurück. Er war ein hübscher Junge und auch beliebt. Er sah seinem Vater so ähnlich, dass Sandy manchmal wegsehen musste, um sich daran zu erinnern, dass die Ähnlichkeit nur äußerlich war. Micky war nicht wie sein Vater. Er war freundlich, umsichtig und gutmütig.

Heute jedoch schmollte er. Er hatte nicht umziehen wollen, dabei waren es nur ein paar Meilen. Es würde sich kaum etwas ändern für ihn. Er würde weiterhin auf dieselbe Schule gehen und die gleiche Freundin haben. Sandy dachte an die anderen Kids, die in Westford Park lebten. Sie stellte sich große, selbstbewusste Mädchen vor, die auf Privatschulen gingen, und fragte sich, ob Micky sich nach ihnen umdrehen würde. Aber selbst wenn? Er war erst sechzehn und hatte noch sein ganzes Leben vor sich, der Glückliche.

Micky verschlang sein Müsli in Sekunden und warf die Schüssel achtlos in die Spüle. Sandy versuchte angesichts des Schepperns nicht zusammenzuzucken.

„Ich geh ein bisschen raus“, sagte er, bereits sein Handy zückend.

„Okay, viel Spaß.“

Nachdem Micky gegangen war, wurde es im Haus still. Sandy hörte in der Ferne das Lachen und Schreien von Kindern. Sie warf einen Blick auf die Müslischale im Spülbecken und erinnerte sich an Micky, als er noch ein kleiner Junge war, bevor die Pubertät kam. Damals wollte er nur süßes Zeug wie Coco Pops und Frosties. Jetzt bevorzugte er das einfache Weetabix.

Andere Mütter wären in diesem Moment vielleicht nostalgisch geworden und hätten sich an die Unschuld der frühen Jahre ihres Kindes erinnert. Und Micky war ein so lustiger, energiegeladener kleiner Bursche gewesen, immer auf der Suche nach Abenteuer. Es hätten glückliche Erinnerungen sein sollen, aber das waren sie nicht. Sandy schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Sie war jetzt in Sicherheit, erinnerte sie sich. Sie waren alle in Sicherheit.

Vielleicht war es der Trubel des Umzugs, der ihr die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis gerufen hatte. Sie fühlte sich erschöpft von den letzten Tagen und überwältigt von all dem Auspacken, das noch vor ihr lag. Das war es, nichts weiter, und das würde bald vorbei sein. Dies war ihr Neuanfang, ein Ort, an dem die Vergangenheit keinen Platz hatte.

Sandy lächelte, als sie die Stimmen von Clare und Isla hörte, und kurz darauf tauchten die beiden in der Küche auf. Isla hielt einen Lutscher in der Hand.

„Die haben hier Lollys umsonst!“, rief sie begeistert. „Das ist der beste Tag überhaupt!“

Sandy sah Clare fragend an, die grinste. „Wir waren im Bootshaus und der Mann, der dort arbeitet, hat Isla netterweise einen Lutscher gegeben.“

„Ah, verstehe. Und wie war die Erkundungstour?“

Die Frage war an Clare gerichtet, aber Isla warf ein: „Ich fand sie toll, Mummy! Ich liebe Westfield Park!“

„Westford Park, Schatz. Dein neues Zuhause.“ Sandy wandte sich Clare zu. „Und du?“

„Es ist toll. Es ist wirklich toll.“ Clare kam herüber und legte ihren Arm um Sandy. „Ich glaube, wir werden hier sehr glücklich sein.“

„Sag das mal Micky.“

„Micky wird schon klarkommen.“

„Ich weiß, dass er klarkommen wird.“

„Eben.“ Clare krempelte die Ärmel hoch. „Wie wärʼs, wenn wir einen Film für Isla anmachen, damit wir weiter auspacken können? Wo ist denn bloß die Kiste mit der Fernbedienung?“

Sandy sah zu, wie ihre Frau in einigen Kisten wühlte, bevor sie triumphierend die Fernbedienung in die Höhe hielt. Sie hatte solches Glück, Clare zu haben. Micky und Isla zu haben. Ihr Leben hier führen zu können, im wunderschönen Westford Park.

Ihre Freunde hatten Unrecht, dachte sie entschlossen. Hier gehörten sie hin. Dies würde das letzte Mal sein, dass sie umzogen. Sie würden sich hier niederlassen und das glückliche Leben aufbauen, das sie sich immer gewünscht hatten. Sie hatte das schon einmal gesagt, aber diesmal meinte sie es wirklich so, und nichts und niemand würde sich ihnen in den Weg stellen.

Sie warf einen Blick auf die Terrassentüren und verspürte plötzlich den Drang, nachzusehen, ob sie verschlossen waren. Nur einmal. Ich prüfe nur einmal nach. Sie runzelte die Stirn, Frust und Kummer machten sich in ihr breit.

„Alles okay, Liebes?“

Sandy riss den Blick von den Türen los und sah Clare an, die sie neugierig musterte. Scham stieg in ihr auf. Sie wusste, dass sie es Clare und auch Micky und Isla schuldig war, dass sie es in Westford Park auf die Reihe kriegte. Und vor allem war sie es sich selbst schuldig.

Sie ballte die Fäuste und lächelte. „Alles bestens. Wo wollen wir anfangen?“

***

Lily Sanderson war heiß und sie war ein bisschen genervt. Die Umzugshelfer hätten ihnen eigentlich bis zum neuen Haus folgen sollen, aber nach einer halben Stunde war nichts von ihnen zu sehen. Die Faulpelze waren wahrscheinlich zu McDonaldʼs oder in den Pub gegangen. Sie wünschte selbst, sie wäre im Pub.

Eric stand draußen und telefonierte. Seine gebräunten Beine waren muskulös von dem ganzen Golf und Squash, das er nach der Arbeit spielte. Lily legte den Kopf zur Seite und bewunderte, wie sein lachsfarbenes Poloshirt eng auf seinen breiten Schultern saß. Siebzehn Jahre Ehe und sie fand ihren Mann immer noch umwerfend. Wie viele Leute konnten das schon von sich behaupten? Nicht viele, wettete sie.

Aber wo zum Teufel waren die Umzugshelfer? Lily spähte die Straße hinauf und hielt nach ihnen Ausschau. Sie zuckte zusammen, da sie hinter sich ein Geräusch hörte. Als sie sich umdrehte, stand ihre Tochter Poppy da.

„Poppy, du hast mich erschreckt“, sagte sie und legte eine Hand auf ihre Brust.

Poppy antwortete nicht. Genervt setzte sie sich auf die Kücheninsel und schlug ein langes Bein über das andere. Sie hatte die schöne Haut und das dunkle Haar ihres Vaters geerbt, und auch seine Sturheit. Aber ihre Augen waren definitiv die von Lily. Immerhin das.

„Mir ist langweilig“, erklärte Poppy und verdrehte die besagten Augen.

„Dir ist immer langweilig. Geh und such dir was zu tun.“

„Und wie soll das gehen, wenn noch nichts von unseren Sachen da ist? Oder wenn du uns an den Arsch der Welt verschleppt hast, echt jetzt.“

„Nicht so eine Ausdrucksweise, Poppy!“

„Arsch ist kein Schimpfwort, Mutter.“

Lily musterte ihre Tochter. „Warum gehst du nicht spazieren? Schau, ob du ein paar Freunde findest.“

„Weil ich keine sechs Jahre alt bin, Mutter.“

Lily versuchte nicht das Gesicht zu verziehen, als Poppy das Wort Mutter sagte. Sie war nicht wählerisch. Mum, Mummy oder sogar Ma wären okay, aber es war schon eine Weile her, dass sie von ihrer Tochter mit einem dieser Koseworte bedacht wurde. Oder überhaupt mit einem, wenn sie es sich recht überlegte.

Um Poppy aufzuheitern, sagte sie: „Als wir hierherfuhren, habe ich einen Jungen in deinem Alter gesehen, der Richtung See ging. Er sah ziemlich gut aus.“

„O Gott.“ Poppy schlug sich die Hand vor die Stirn. „Du bist so peinlich.“

Lilys Geduld, nach tagelangem Organisieren und Packen schon arg strapaziert, war am Ende. „Um Himmels willen, Poppy, hör auf, dich zu beschweren. Wir haben gerade das teuerste Haus in dieser Siedlung gekauft. Du hast die besten Einrichtungen in der Gegend vor der Haustür und alle deine Freunde werden dich beneiden. Was genau willst du denn noch?“

„Und du meinst, dass es darauf im Leben ankommt, oder? Ein schickes Haus und ein schicker Pool. Das ist der Schlüssel zum Glück. Man muss nur Geld reinstecken, dann wird alles gut. Solange von außen alles glänzt, dann interessiert es einen Scheiß, was drinnen vor sich geht?“

„Nicht solche Ausdrücke, Poppy!“

Lily wollte mitfühlend sein, aber sie verstand nicht, was Poppy zu meckern hatte. Sie war jung, schön, beliebt und klug. Sie kam aus einem stabilen, liebevollen Zuhause. Lily hatte alles getan, um ihrer Tochter das perfekte Leben zu ermöglichen, ein Leben, das weitaus besser war als das, das sie selbst als Kind gehabt hatte. Sie hatte sie vor den Grausamkeiten des Lebens abgeschirmt, damit sie eine unschuldige, glückliche Kindheit haben konnte. Poppy wusste nichts von den Opfern, die Lily für sie gebracht hatte, und sie musste es auch nicht wissen, aber eine gelegentliche Anerkennung ihrer Privilegien wäre schön gewesen.

Aber sie war ein junges Mädchen. Bereit, die Welt zu erobern, gegen Konventionen zu kämpfen und über jede Kleinigkeit zu streiten. Lily musste die Leidenschaft ihrer Tochter bewundern, wenn auch nicht ihr Temperament.

Sie wandte sich wieder dem Fenster zu. „Die Umzugshelfer sollten besser bald hier sein.“

„Apropos gut aussehen, einer der Umzugshelfer war ziemlich fit.“

„Sehr witzig, Poppy.“

„Ich meine es ernst. Vielleicht frage ich ihn nach einem Date.“

Lily verbarg ihr ironisches Lächeln. Als Teenager hatte sie sich auch für ältere Männer interessiert, aber das war eine andere Geschichte, von der Poppy nichts erfahren würde. „Tu dir keinen Zwang an. Noch besser, tu es vor Daddy, denn ich würde wirklich gerne sehen, wie er darauf reagiert.“

„Vater weiß es besser, als irgendwas zu sagen.“

Lily wandte ihren Kopf vom Fenster ab. „Und was soll das heißen?“

Poppy schaute weg. „Nichts. Vielleicht gehe ich doch spazieren.“

Lily musterte ihre Tochter. Poppy hatte ihren Vater früher vergöttert, aber jetzt war an jedem etwas auszusetzen, auch an ihm. Lily wusste nicht, was er diesmal verbrochen haben konnte, um ihre Missbilligung zu verdienen. Wahrscheinlich hatte er sich geweigert, ihr Geld für eine neue Handtasche zu geben.

Poppy hopste elegant von der Kücheninsel und strich sich das lange Haar hinter das Ohr. „Ruf mich an, wenn meine Sachen da sind.“

Lily sah ihr mit schwerem Herzen nach. Es passte ihr nicht, dass Poppy alleine unterwegs war. Sie sorgte sich um Stalker und Serienmörder. An den meisten Wochenenden blieb sie abends auf, um ihre Tochter von irgendwo abzuholen, und Poppy beklagte sich, dass sie sie überwachte, dass ihre Freunde länger ausgehen dürften und sie alle Uber nach Hause nehmen würden. Lily war es egal, was Poppys Freunde taten, sie scherte sich nur um Poppy. Aber hier würde alles anders sein. Dies war eine sichere, geschützte Gemeinschaft. Poppy konnte ein bisschen mehr Freiheit genießen, ohne dass Lily ihr ständig im Nacken saß. Und vielleicht würde das helfen, die Kluft zu überwinden, die sich zwischen ihnen gebildet hatte, als Poppy dreizehn wurde und entschied, dass ihre Eltern, einst ihre Helden, ihre Todfeinde waren.

Aber jetzt war sie fast sechzehn und wollte rebellieren. Lily konnte ihr das kaum übel nehmen; sie war in dem Alter selbst eine Rebellin gewesen. Manchmal wunderte sie sich, wie sie diese Jahre angesichts der Risiken, die sie eingegangen war, überlebt hatte. Aber ihre Erfahrung bedeutete auch, dass sie wusste, dass das Leben voller Gefahren war, und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Poppy einer solchen Gefahr ausgesetzt sein könnte. Das war einer der Gründe, warum sie nach Westford Park gezogen waren. Sie sehnte sich nach den goldenen Zeiten, als Kinder auf der Straße spielten, ohne vor Kidnappern oder einem rasenden Auto Angst haben zu müssen, und als Nachbarn aufeinander Acht gaben. Es war das Leben, von dem sie immer geträumt hatte: weiße Lattenzäune und der Duft von Apfelkuchen. Der beheizte Pool und der Country Club waren auch nicht zu verachten.

Apropos Nachbarn: Vor dem Haus gegenüber hielt ein Auto. Lily schaute neugierig aus dem Fenster, als eine Frau aus einem Mini Cooper stieg und sich den Rücken streckte, bevor sie den Sitz nach vorn zog. Einen Moment später kletterten zwei schlaksige Kinder heraus. „Meine Güte, wie haben die es geschafft, sich alle in dieses kleine Auto zu quetschen?“

Lily warf einen Blick auf ihren eigenen Range Rover in der Einfahrt und dann zurück zu den Neuankömmlingen. Der Ehemann war aufgetaucht und putzte seine Brille. Die Frau ging auf ihn zu und deutete auf den Kofferraum. Sie trug ein hübsches Kleid von Boden, das Lily sich als Gesprächseinstieg für ein Treffen mit den beiden merkte. Vielleicht könnten sie Kataloge austauschen oder zusammen shoppen gehen, wenn sie sich erst einmal kennengelernt hatten. Lily gefiel die Vorstellung, in Westford Park neue Freundinnen zu finden. Dann verspürte sie das vertraute Gefühl der Angst und fragte sich, ob die Frau sie mögen oder ob sie sie sofort durchschauen würde.

Als Nächstes besah sie sich die beiden Kinder. Der Junge war etwa elf oder zwölf, schätzte sie, aber das Mädchen sah ähnlich alt aus wie Poppy. Obwohl sie groß war, wirkte sie schmächtig, mit blasser Haut und dunkler, weiter Kleidung. Sie sah zudem unglücklich aus, und Lily vermutete, dass dieses Mädchen genau wie Poppy schmollte, weil es gezwungen worden war, umzuziehen und von all seinen Freunden getrennt zu werden. Vielleicht könnten sie und Poppy Freundinnen werden. Es wäre schön für Poppy, wenn jemand in ihrem Alter in der Nähe wohnen würde. Vielleicht gingen sie auf die gleiche Schule und könnten zusammen mit dem Bus nach Hause fahren. Poppy könnte das Mädchen unter ihre Fittiche nehmen und dafür sorgen, dass sie sich anständig kleidete. Wie in Clueless, ihrem Lieblingsfilm.

Lily hörte das Brummen eines Motors und reckte den Hals, um die Straße hinunterzuschauen. Da war endlich der Lastwagen. Sie warf einen Blick auf Eric, der immer noch am Handy war, und verspürte plötzlich den Drang, zu weinen. Das war nicht der Neuanfang, wie sie ihn sich erhofft hatte, bei dem Eric nicht ständig fort war, jeden Abend pünktlich nach Hause kam und das Wochenende mit seiner Familie verbrachte. Nicht mal am Tag des Umzugs konnte er sein Handy einfach mal ausschalten. Gleich würde ihr Mann ihr mit reumütiger Miene mitteilen, dass es irgendeinen Notfall auf der Arbeit gäbe oder dass im Golfclub ein begehrter Last-Minute-Platz frei geworden sei. Wahrscheinlich würde er mit einem Geschenk für sie zurückkommen, mit Blumen oder einer teuren Flasche Wein, die er auf dem Heimweg besorgt hatte. Und sie würde lächeln, ihn küssen und ihm für die aufmerksame Geste danken. So hatten sie es immer gemacht, aber sie war optimistisch gewesen, dass es hier anders sein würde.

Aber es war erst der erste Tag. Es war noch viel Zeit, um Dinge zu ändern. Lily würde einkaufen gehen, sich sexy neue Unterwäsche besorgen und Eric vielleicht sogar ein freches Foto schicken. Das würde ihn vom Golfplatz in ihre Arme treiben. Das war alles, was sie wollte: ihren Mann in ihren Armen. Sie schob das vertraute Gefühl der Angst beiseite und ging hinaus, um die Umzugshelfer zu begrüßen.