1
11. Oktober, Southwark
Die Mutter am linken Spurstangenkopf des alten Datsun 280 ZX widerstand hartnäckig allen Versuchen, sie zu lösen. Der ölverschmierte Schraubenschlüssel rutschte ab, Ray riss sich den Handrücken auf.
„Bloody hell!“, fluchte er.
Ein hämisches Kichern kroch aus einer Ecke der kleinen Autowerkstatt im Süden des Londoner Stadtteils Southwark.
Ray fuhr herum und leckte sich das Blut ab.
Murat Yildiz, der Besitzer von Murat’s Motor Works, lehnte an der Stütze der Hebebühne und zündete sich einen seiner stinkenden Zigarillos an. „So wirst du die alte Karre niemals zum Laufen bringen“, sagte er.
„Wart’s doch ab. Wenn ich mit dem ZX fertig bin, wird er aussehen, als wäre er gerade vom Band gelaufen.“
Murat grinste. Der Zigarillo wanderte von einem Mundwinkel zum anderen. „Falls dieses Wunder eintritt, gebe ich einen aus, Kleiner. Aber der Tag wird nie kommen.“
Das Telefon auf dem Tisch in seinem Büro klingelte. Murat drehte sich kopfschüttelnd um, versenkte die Hände in den Hosentaschen seines schmierigen Overalls und stieß die Glastür mit der Hacke hinter sich zu.
„Er wird fahren“, murmelte Ray. „Die Leute werden sich nach ihm umdrehen, wenn er vorbeirollt.“ Er hob den Schraubenschlüssel auf und fixierte die störrische Mutter mit einem mörderischen Blick. „Und nun zu dir.“
Er kam nicht dazu, seiner Drohung Taten folgen zu lassen, denn eine helle Stimme lenkte ihn ab.
„Könnte mir jemand helfen? Was immer hier drin ist, wiegt ’ne Tonne.“
Ray wandte sich um. Das bestellte Ersatzteil war gekommen. Noch größer als seine Freude darüber war die Aufregung, wer es brachte. Hinter dem schwankenden Paket lugte eine rote Lockenpracht hervor. Sein Herz schlug schneller. Die Locken gehörten zu Tessa Fox – dieser Name stand zumindest auf dem Namensschild an ihrer Jacke. Ray nannte sie in Gedanken Foxie – wegen ihrer dunkelroten Haare, die sie an den Enden schwarz gefärbt hatte. Foxie arbeitete für FedEx und erzeugte ein heißes Kribbeln in seinem Bauch. Sonst wusste er nichts über sie, weil er nie die richtigen Worte fand, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Mit Autos kannte er sich aus. Sie waren einfache Maschinen, deren Funktionsweise er intuitiv begriff. Seine Mitmenschen, vor allem die Sorte mit roten Locken und blauen Augen, stellten seinen Verstand vor weitaus größere Schwierigkeiten.
„Warte, bin schon da.“
Er legte den Schraubenschlüssel auf den Werkstattwagen und griff nach dem Paket. Seine Fingerspitzen berührten die ihren für eine Sekunde oder zwei. Ihm wurde heiß und schwindelig. Wie eine ungeheure Datenflut, die über einen Computermonitor raste und von dem zugehörigen Elektronengehirn ebenso schnell verarbeitet wurde, konnte Ray in den meisten Menschen lesen wie in einem offenen Buch. Er wusste nicht, woher diese ungewöhnliche Gabe stammte, und hatte sie weder bewusst entwickelt noch trainiert. Zeigte sie sich, fühlte es sich an, als bliebe für ihn die Zeit stehen, während sie für den Rest der Welt weiterlief. Er saugte Kleinigkeiten auf, die den meisten Menschen entgingen, und setzte die Puzzlesteine zu einem klaren Bild zusammen. Instinktiv erfasste er, was sein Gegenüber fühlte und plante, und konnte dessen Reaktionen und Handlungen präzise vorhersehen. Als die Gabe in seiner Kindheit zum ersten Mal aufgetaucht war, hatten ihm die Eindrücke und Reize, die ihn überfluteten, eine Höllenangst eingejagt. Im Lauf der Jahre lernte er jedoch, damit umzugehen und sie zu kontrollieren, sodass sie ihren Schrecken verloren hatte. Ihm war klar geworden, dass er sich davor nicht zu fürchten brauchte. Trotzdem sprach er mit niemandem darüber, um nicht für verrückt gehalten zu werden. Ein Sonderling, der keine wirklichen Freunde fand und sich schwer damit tat, neue Bindungen einzugehen, war er ohnehin. Er wollte nicht auch noch als Freak gelten. Zu seinem Bedauern lieferte ihm sein außergewöhnliches Talent ausgerechnet bei Tessa widersprüchliche Erkenntnisse.
Er stellte das Paket neben der Hebebühne ab.
„Du musst den Empfang bestätigen, Ray“, sagte sie.
Sein Herz machte einen Sprung. Sie kannte seinen Namen! Er wischte sich die ölverschmierten Hände an den Hosennähten ab. Während sie den Scanner hielt und er unterschrieb, war er ihr ganz nahe und sog den Duft des Parfums ein, das sie benutzte.
Seit Wochen nahm er sich vor, sie nach einem Date zu fragen, doch es gab subtile Zeichen, die ihn davon abhielten. Ihr Lächeln war warm, ihre Blicke offenbarten Neugier und Interesse, aber schienen ihm zu oberflächlich. Was fehlte, war der Funke, der sie wirklich zum Leuchten brachte. Stets hielt sie eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen aufrecht, lehnte sich nie zu ihm hin und suchte seine Nähe, obwohl er spürte, dass sie den Graben überwinden wollte. Etwas hinderte sie daran; etwas, das in ihrem Wesen verborgen lag und sich ihm verschloss, und das verwirrte ihn.
Er gab ihr den Stift zurück und kam sich vor wie ein Idiot. Natürlich kannte sie seinen Namen – er stand auf der Lieferadresse des Pakets.
Tessa stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte an ihm vorbei auf den aufgebockten Datsun. Jedes Mal, wenn sie eine Lieferung brachte, geriet er ins Schwärmen über den alten Wagen, der ihm nicht einmal wirklich gehörte. Dann erzählte er ihr, welches Teil er heute ausgetauscht hatte und dass er einen neu entdeckten Schaden beheben wollte, während er zärtlich den stumpfen Lack streichelte. Über Autos konnte er stundenlang reden, doch in Gegenwart feuerroter Locken versagte seine Fantasie. Weiter war er nie gekommen.
Dabei zeigte Tessa jedes Mal echte Neugier, was seine Fortschritte anbetraf. Wahrscheinlich aber interpretierte er zu viel in die Situation hinein und sie hörte ihm aus reiner Höflichkeit zu. Ihre Anwesenheit stürzte ihn in ein Chaos aus widerstreitenden Gefühlen – was vermutlich auch der Grund war, warum seine Gabe bei ihr zu verwirrenden Ergebnissen führte.
„Meine Freunde nennen mich Robo“, sagte er und kam sich dämlich vor.
„Glaubst du, du kriegst ihn bald fahrbereit, Robo?“, fragte sie.
Er fuhr sich verlegen durchs Haar und merkte zu spät, dass er sich mit Maschinenfett beschmierte.
Murat grinste anzüglich hinter der staubigen Glasscheibe des Büros und machte eine obszöne Geste. „Der Datsun wird mal eine große Reise machen“, rief er und lachte. „In die Schrottpresse!“
„Hör nicht auf ihn“, antwortete Ray leise, „er ist ein Arsch.“
„Hab ich auch gemerkt. Du arbeitest schon lange an dem Wagen, oder?“
Ray hatte das Gefühl, als hätte er einen glühenden Faden verschluckt, der sein Herz in zwei Teile zerschnitt. Die eine Hälfte jubelte, weil Tessa verfolgt hatte, was er machte. Das hätte sie nicht getan, wenn sie sich nicht für ihn interessieren würde. Die andere Hälfte schmeckte bitter, denn in ihrer Stimme klang eine Spur von Ungeduld und Zweifel mit. Sie hoffte, dass er den Datsun zurück auf die Straße brachte, und wollte dabei sein, wenn es ihm gelang … aber sie glaubte nicht daran.
„Ich habe lange auf Ersatzteile gespart.“ Er deutete auf das Paket. „Du hast mir den Tag gerettet, denn jetzt komme ich einen Riesenschritt weiter.“
„Super.“
Tessa wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf den silberfarbenen Pick-up im Hof, der einem Kunden namens Dan Tanner gehörte; ein verwöhnter Kerl, der an jedem Auftrag, den Ray erledigte, etwas auszusetzen hatte. Der brandneue Toyota mit Überrollbügel und glänzenden Chromleisten funkelte im hellen Sonnenlicht. Es war der Wagen eines Gewinners, eines Machers, der nicht nur davon redete, loszufahren, sondern der es auch tat. Der rostige alte Datsun dagegen war die Karre eines Träumers, der es niemals schaffen würde, Southwark hinter sich zu lassen.
Ray bemerkte deutlich die Veränderung, die an Tessa vorging: Sie richtete sich auf, ihr Lächeln wurde breiter, zuversichtlicher. Er spürte, dass es nicht der teure Wagen war, der sie beeindruckte, sondern die Sicherheit, die er ausstrahlte; eine Sehnsucht, die er nicht erfüllen konnte. Er nahm einen Lappen, um einen Ölfleck von der Karosserie zu wischen. Doch damit erreichte er nur, dass er den Dreck breiter verteilte.
„Ich muss weiter“, sagte Tessa. Sie trat in das helle Sonnenlicht des Nachmittags hinaus.
„Wenn der Datsun läuft, hole ich dich ab“, rief er ihr nach.
Es war eine harmlose Einladung, doch Ray erschien sie voller Wagemut. Eine Minute später fuhr der weiße Lieferwagen mit dem rot-blauen FedEx-Schriftzug vom Hof. Ray wandte sich dem Spurstangenkopf zu und kämpfte mit all seiner Kraft gegen die verrostete Mutter an. Er war wütend auf sich selbst und den gezinkten Würfel, mit dem das Schicksal spielte. Es hatte ihn als Kind einer Alkoholikerin und eines Mannes, der sich aus dem Staub gemacht hatte, bevor Ray geboren worden war, in eine Welt geworfen, in der die Chancen von Anfang an ungleich verteilt waren. Er war wütend auf Murat, der ihn für einen Hungerlohn schuften ließ und ihn behandelte wie den letzten Dreck. Er konnte es sich leisten, weil er wusste, dass Ray im Umkreis von zwanzig Meilen keine Werkstatt finden würde, an dem er den alten Datsun herrichten konnte. Außerdem brauchte er einen guten Mechaniker, der seine Schrottkarren frisierte, und Ray war verzweifelt genug dazu.
Er war wütend auf Dan Tanner und seinen funkelnden Pick-up und Tessa, die nicht an ihn glaubte. Aber sie irrten sich alle. Der Datsun würde auf seinen eigenen Reifen aus der Werkstatt rollen, mit ihm hinter dem Steuer.
Motoröl tropfte auf seine Stirn. Er wischte es mit dem Ärmel seines Overalls ab, legte den Kopf in den Nacken und leuchtete den Motorraum mit einer Werkstattlampe aus. Er sah etwas, das er noch gar nicht bemerkt hatte und das all seine Hoffnungen zerstörte. Ein Haarriss zog sich durch den grau schimmernden Metallguss. Der Motorblock hing über ihm wie der Felsen des Sisyphus. Es spielt keine Rolle, wie sehr er sich anstrengte. Wenn es ihm nicht gelang, Geld aufzutreiben – einen verdammt großen Haufen Geld -, war sein Traum gerade geplatzt wie eine ölige Seifenblase. Was von dem Lohn, den ihm Murat zahlte, am Monatsende übrig blieb, wanderte umgehend in den Discounter am Ende der Straße, um in Form von Gin und Zigaretten von seiner Mum konsumiert zu werden.
Ray sah zur Glasscheibe des Büros hinüber. Murat hatte die Lehne seines zerschlissenen Ledersessels zurückgekippt, die Absätze seiner klobigen Sicherheitsschuhe ruhten auf dem Durcheinander des Schreibtischs. Er trank Dosenbier und starrte auf einen an der Wand befestigten Fernseher, in dem ein Pferderennen übertragen wurde. Wie alle Spieler war er süchtig nach Wetten. Obwohl er fast immer verlor, konnte er nicht aufhören.
Jeden Freitag las Ray die Stellenanzeigen des Evening Standard. In Southwark gab es keine Arbeit, die er hätte annehmen können und die besser bezahlt gewesen wäre. Das intuitive Verständnis für Maschinen und Motoren war ihm angeboren, aber er besaß weder einen Schulabschluss noch eine Ausbildung. Seine Chancen, sich gegen die Konkurrenz durchzusetzen, waren verschwindend gering.
Murat zerknüllte die Bierdose in seiner haarigen Pranke, warf sie in Richtung Abfalleimer und verfehlte ihn. Er war übler Laune, weil er wieder verloren hatte, und Ray würde es ausbaden müssen. In letzter Zeit blieb er ihm öfter den Lohn schuldig. Wenn er die Werkstatt schließen musste, stand Ray vor dem Nichts.
Einen kurzen Moment dachte er an den stumpfnasigen Revolver, der in Murats Schreibtisch unter einem Stapel Lieferscheinen lag. Vor ein paar Wochen hatten sie einen ganzen Nachmittag damit verplempert, auf leere Ölfässer zu schießen. Etliche Dosen Bier machten Murat gesprächig. Er hatte gestanden, dass er sich bedroht fühlte, weil er einem Typ Geld schuldete, der keinen Spaß verstand.
Ray starrte durch die staubige Glasscheibe, als könne er den Revolver mit purer Willenskraft in seine Hand zaubern. Doch was sollte er damit anfangen? Einen Kiosk überfallen oder einen Schnapsladen? Wie weit würde er mit ein paar Hundert Pfund kommen? Und was wurde dann aus seiner geplanten Spritztour mit Tessa?
Seufzend warf er den schmutzigen Lappen in einen verbeulten Blecheimer und begann, das Werkzeug einzuräumen. Der Datsun brauchte einen neuen Motor, doch woher sollte er den nehmen?
„He, Robo!“
Er fuhr herum. Murat stand hinter ihm.
„Was ist los?“
„Da ist ein Typ, der dich sprechen will.“
Ray wandte sich um. Vor dem Rolltor wartete ein Mann, der so wenig in diese Gegend passte wie ein Clown auf eine Beerdigung. Er trug einen dunklen Anzug und einen Aktenkoffer und sah sehr offiziell aus.
„Hast du was ausgefressen?“, fragte Murat. „Wenn du krumme Dinger drehst, schmeiß ich dich raus. Mein Laden ist sauber. Kapiert?“
Ray ersparte sich eine Antwort. Aus der Werkstatt rollten mehr Gebrauchtwagen mit überlackierten Unfallschäden und manipulierten Tachometern, als sich Ratten um die Essensreste in den Mülltonnen balgten. Er ging nach draußen. Ein milchiges Gespinst hatte den eben noch stahlblauen Oktoberhimmel überzogen und goss stumpfes Licht über den Hof vor der Werkstatt. Der unbekannte Besucher rückte seine Brille zurecht.
„Mr Ray Robertson?“, fragte er.
„Der bin ich. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Er reichte Ray eine Visitenkarte.
„Mein Name ist Alexander Harding von der Kanzlei Edwards & Harding. Wir vertreten die Angelegenheiten von Mr O’Sullivan. Er ist vor einer Woche verstorben. Die Erben haben uns mit der Prüfung seiner Vermögensverhältnisse beauftragt. Wir verschaffen uns zunächst einen Überblick.“
„Verstorben?“
Die Nachricht traf Ray wie ein Fausthieb. Der alte O’Sullivan hatte den Wohnblock, in dem Ray mit seiner Mutter lebte, als Hausmeister betreut, solange er sich erinnern konnte. Als Kind hatte er oft seine Zeit damit verbracht, ihm zur Hand zu gehen. Er war ein guter Handwerker gewesen und hatte ihm eine Menge beigebracht. Nachdem er seinen Job vor einem halben Jahr aufgegeben hatte, hatte Ray Besorgungen für ihn erledigt oder ihm einfach nur zugehört, wenn er von besseren Zeiten erzählte. Der alte Mann hatte – ohne es zu ahnen – die Rolle eines väterlichen Freunds übernommen, den Ray nie gehabt hatte.
Bei seinem letzten Besuch vor einer Woche hatte niemand geöffnet. Eine Nachbarin behauptete, O’Sullivan wäre in ein Krankenhaus eingeliefert worden – in welches, konnte sie nicht sagen. Ray hatte seitdem unruhig auf eine Nachricht von ihm gewartet. Nun wusste er, warum sie ausgeblieben war.
„Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe, Mr Robertson?“
Ray schreckte aus seinen trüben Gedanken hoch. Hatte der alte Mann sein Versprechen einlösen können, bevor er gestorben war? War der seltsame Anwalt deshalb gekommen? Bekam man normalerweise nicht eine schriftliche Mitteilung, wenn man geerbt hatte?
„Sie kommen wegen des Wagens“, sagte er.
„Das ist korrekt. Nach unseren Informationen besaß Mr O’Sullivan einen Oldtimer, einen … warten Sie …“ Er öffnete den Aktenkoffer, zog einen dünnen Plastikordner hervor und blätterte mit einer Hand darin, während er mit der anderen den Koffer balancierte.
„Einen Datsun 280 ZX“, antwortete Ray.
„Richtig, hier steht’s.“
Murat näherte sich neugierig und zündete sich einen Zigarillo an.
„Ich nehme an, Sie sind Murat Yimliz, der Besitzer dieser Werkstatt?“, fragte Harding.
„Der bin ich.“
„Und der Wagen befindet sich hier?“
Murat deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Steht auf der Bühne.“
„Sehr gut. Ich bin bevollmächtigt, einen Sachverständigen damit zu beauftragen, den Wert des Fahrzeugs zu schätzen.“
„Wozu?“, fragte Ray.
„Wie ich schon erwähnte, unsere Kanzlei verschafft sich einen Überblick über das Vermögen des Verstorbenen.“
„Aber der Datsun gehört mir“, sagte Ray. „O’Sullivan hat ihn mir geschenkt.“
Murat grinste hämisch.
„Dann sind Sie im Besitz einer Schenkungsurkunde, darf ich annehmen?“, fragte der Anwalt.
„Nein, aber …“
„Können Sie auf anderem Weg nachweisen, dass der Wagen Ihr Eigentum ist?“
„O’Sullivan wollte, dass ich ihn bekomme.“
„Wenn Sie keinen Zeugen benennen oder einen anderen Beweis für Ihre Besitzansprüche erbringen können, wird er der Erbmasse zugerechnet.“
„Ich kaufe ihn“, sagte Ray.
„Dazu müssen Sie sich an die Erben wenden.“
„Geben Sie mir die Adresse oder wenigstens eine Telefonnummer.“
„Ich bedaure, das ist aus Datenschutzgründen nicht möglich.“
„Ich biete Ihnen fünfhundert Pfund.“
Das war weit mehr, als er besaß, aber irgendwie würde er das Geld auftreiben. Er dachte an die Pistole in Murats Schreibtisch.
„Unsere Kanzlei ist nicht befugt, Verkaufsverhandlungen zu führen“, sagte Harding, „aber ich werde Ihr Ansinnen weiterleiten.“ Er wandte sich an Murat. „Zunächst muss ich einen Gutachter beauftragen. Nebenbei, wie hoch schätzen Sie den Wert des Datsun ein, Mr Yildiz?“
Murat kratzte sich hinter dem Ohr. „Fünftausend Pfund sollten schon drin sein.“
Ray fuhr herum. „Wenn ich mit ihm fertig bin – vielleicht. Im Augenblick bringt er keine dreihundert!“, rief er.
Der Anwalt steckte den Ordner in seine Aktentasche. „Ich werde veranlassen, dass er morgen abgeholt wird. Dann sehen wir weiter. Guten Tag.“
Er drehte sich um und stakste mit eckigen Schritten zu einem schwarzen BMW.
„Warum bist du mir in den Rücken gefallen?“, fragte Ray.
„Ich hab nun mal ein weiches Herz und weiß, wie sehr du an der Karre hängst, aber alles hat seine Grenzen. Du verbringst zu viel Zeit damit.“ Er deutete auf den in der Sonne funkelnden Pick-up und warf Ray einen Schlüssel zu. „Kümmere dich um den Toyota. „Tanner wünscht eine komplette Innenreinigung. Du hast zwei Stunden Zeit.“
Am frühen Abend schloss Ray die Tür der Souterrainwohnung auf, in der er mit seiner Mutter lebte. In der Küche türmte sich ein Berg aus schmutzigem Geschirr, der Kühlschrank war so leer wie Rays Bankkonto. Aus dem Fernseher im Wohnzimmer drang das Geplärr einer Gameshow. Mum war in ihrem Sessel eingeschlafen. Sie trug einen fleckigen Morgenmantel und ausgetretene Pantoffeln. Neben ihr lag eine leere Ginflasche auf dem Boden.
Ray schaltete den Apparat aus. Seine Mutter blinzelte und schlug die Augen auf.
„Wo treibst du dich herum?“, nuschelte sie. „Die verdammte Waschmaschine ist wieder im Eimer. Pack die dreckigen Klamotten zusammen, und lauf in den Waschsalon. Einkaufen musst du auch noch. Vergiss nicht, mir was zu trinken mitzubringen, sonst zieh ich dir das Fell über die Ohren.“
Ray hörte kaum zu, seine Gedanken kreisten unablässig um den Datsun. Ein Jahr lang hatte er seine ganze Energie in den Wagen gesteckt. Er war ein Symbol für die Hoffnung, der Tristesse um ihn herum entfliehen zu können. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, aber eines Tages würde er es tun. Wir oft hatte er davon geträumt, seine Habe in eine Tasche zu packen, in den Kofferraum des Datsun zu werfen und davonzufahren. Es war ein naiver, verzweifelter Traum gewesen, den nun die Realität auslöschte. Ihm blieben keine zwölf Stunden mehr, um einen Ausweg zu finden. Abgesehen davon, dass er nicht genug Geld besaß, um ihn den Erben abzukaufen – niemand würde sich an den Trottel erinnern, der Hunderte Arbeitsstunden verschwendet hatte, damit sie nun einen guten Preis erzielten.
„Sitzt du auf deinen Ohren, Junge?“
Mum war kaum in der Lage, ihr Gleichgewicht zu finden, und stemmte sich mühsam aus ihrem Sessel hoch. Wie Ray all das hasste! Er hasste die verwahrloste Wohnung, Murat, den verfluchten Anwalt und den Tod, der ihm einen grausamen Streich gespielt hatte.
Wortlos ging er ins Badezimmer, stopfte Schmutzwäsche in eine große Tragetasche und schlug die Tür hinter sich zu. Auf seinem Weg nach Norden versank er in brütendem Schweigen. Er lief an Secondhandläden und Discountmärkten vorbei und dachte an Murats Waffe.
Vor dem Waschsalon in der Brick Lane blieb er stehen und blickte auf sein blasses Abbild, das sich in der Fensterscheibe spiegelte. In ein paar Stunden würde es dunkel sein. Er besaß einen Schlüssel zur Werkstatt und könnte den Datsun problemlos stehlen, doch was hätte er damit gewonnen? Es gab kein sicheres Versteck für den Wagen, und der Verdacht würde sofort auf ihn fallen. Nein, die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, war, genug Geld aufzutreiben, um ihn auszulösen.
Ray drückte die Tür zu Jimmy’s Launderette auf, stopfte die Wäsche in eine Maschine und kramte in seinen Hosentaschen nach Kleingeld. Er startete das Waschprogramm und ging in das angrenzende, kleine Diner, in dem die Wartenden sich die Zeit mit Kaffee, Ale und heißen Snacks vertrieben. Mit rotem Kunstleder bezogene Bänke schirmten die einzelnen Sitzbereiche voneinander ab.
Er setzte sich auf einen Hocker an der Bar und bestellte eine Cola. Das monotone Murmeln der Waschautomaten drang leise herüber wie Meeresrauschen und wurde nur unterbrochen durch das gelegentliche Klappern von Münzen, die jemand in einen Schlitz warf. Er verbrachte seine Zeit oft damit, Menschen zu beobachten und seine Gabe zu vervollkommnen. Es lenkte ihn von seinen Sorgen ab und minderte seine Einsamkeit. Durch sein Talent, sich in ihre Herzen zu schleichen, wurde er ein Teil von ihnen; litt und lachte mit ihnen, ohne sich selbst der Gefahr auszusetzen, zu viel von sich preiszugeben und damit verletzbar zu werden.
Ray ließ seine Blicke durch das Diner schweifen. In einer der Nischen saß ein Mann in einem blauen Arbeitsoverall, der eine so dunkle Aura ausstrahlte, dass Ray sich hastig wegdrehte. Ein junger Kerl in Rays Alter beobachtete eine blonde Frau, die gelangweilt auf ihr Smartphone starrte. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu merken, dass er scharf auf sie war, sich aber nicht traute, sie anzusprechen. Jeder von ihnen erzählte eine Geschichte, die meisten waren ziemlich traurig. Im Augenblick hatte Ray kein Interesse daran, in ihren Gesichtern zu lesen. Das änderte sich jedoch, als zwei Männer das Diner betraten, die er hier noch nie gesehen hatte.
2
11. Oktober, Alderney
„Steve!“
Jemand rief immer wieder seinen Namen und versuchte, ihn aufzuhalten. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter und schüttelte sie ab, stolperte, fing sich und hetzte weiter. Die Gasse, die er entlanglief, verengte sich immer mehr, je mehr er sich ihrem Ende näherte – einem verschwommenen, unwirklich hellen Licht, in dem eine winzige Gestalt auf ihn wartete: Abby.
Ihm lief die Zeit davon. Steve wusste, dass sie sterben würde, wenn er sie nicht rechtzeitig erreichte. Daher mobilisierte er seine letzten Kraftreserven, ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Hüfte und den keuchenden Atem, aber er kam zu spät. Nicht nur einmal, sondern stets aufs Neue. Die Fassaden der eng aneinandergepressten Häuser zu beiden Seiten der Gasse rückten aufeinander zu und drohten ihn zu erdrücken. Sie würden niemals zulassen, dass er Abby beschützen konnte.
„Steve!“
Sein Verfolger hatte aufgeholt und zerrte an ihm. Der Lichtfleck vor ihm schmolz zusammen, rückte in weite Ferne und nahm Abby mit auf die andere Seite der Nacht; an einen Ort, an dem er sie niemals finden würde.
Cataldos Schüsse hallten durch seinen Kopf. Er sah Abby auf der Schwelle des Reviers zusammenbrechen, sah Ivys totenbleiches Kindergesicht und Dave, der vergeblich versuchte, den schwarzen SUV aufzuhalten. Der Mörder entkam, das Leben sickerte aus Abby heraus, und ihre Seele verschmolz mit der Unendlichkeit wie ein Wasserwirbel mit dem ihn umgebenden See.
Ein grausamer Gott spulte das Band der Erinnerung an den Anfang zurück, und Steve begann von Neuem, die Frau, die er über alles liebte, vor der drohenden Gefahr zu schützen, nur um doch wieder zu versagen.
„Steve, wach auf!“
Etwas streifte feucht und rau seinen Handrücken. Träge bahnte er sich einen Weg durch die dicken Watteschichten seines Bewusstseins an die Oberfläche des Meeres, die die Realität abbildete. Es kostete ihn enorme Anstrengung, die Lider einen Spalt zu heben. Grelles Tageslicht stach in seine Augen. Die Schrecken des Traums verblassten, langsam setzten sich die Konturen von Pennys vertrautem Gesicht zusammen. In einer Mischung aus Besorgnis und Tadel blickte sie auf ihn herab. Steve streckte die Hand nach Watson aus, dem zottigen Berger de Picardie, den das Team der Alderney Police Force einstimmig als Revierhund adoptiert hatte. Als Watson Steves Aufmerksamkeit spürte, zog er verschreckt den Schwanz ein und verkroch sich ans Fußende des Sofas.
„Er duldet noch immer keine Berührungen, oder?“, fragte Penny.
„Wir reden miteinander, also machen wir Fortschritte“, krächzte Steve.
„Du redest, und er hört zu.“
Watson winselte leise.
„Immerhin einer, der mein Gejammer erträgt. Wie spät ist es?“
„Fast neun. Es macht Abby nicht wieder lebendig, wenn du versuchst, dich zu Tode zu trinken. Aber du kannst dich zusammenreißen und ihren Mörder finden.“
Er versuchte, sich aufzurichten. Dabei wurde ihm so übel, dass er es nur in letzter Sekunde ins Bad schaffte und sich in die Kloschüssel erbrach. Er spülte sich unter dem Wasserhahn den Mund aus und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Aus dem angelaufenen Spiegel schaute ihn ein hohlwangiges Gespenst aus blutunterlaufenen Augen an.
Penny lehnte am Türrahmen und warf ihm ein Handtuch zu. „Du hättest mich anrufen können“, sagte sie.
Steve stützte sich auf dem Rand des Waschbeckens ab und drehte ihr den Kopf zu, was einen heftigen Schwindelanfall auslöste.
„Hast du nicht genug damit zu tun, Franks Tod zu verarbeiten?“, fragte er.
„Jedenfalls lasse ich mich nicht volllaufen, bis ich ins Delirium falle.“
„Tut mir leid. Ich hatte ganz vergessen, dass dein Mann Alkoholiker war.“ Und mein Vater, fügte er in Gedanken hinzu. „Würde es dir besser gefallen, wenn ich dem Schicksal eine meiner riskanten Wetten anbiete?“
„Spar dir deinen Zynismus, und mach einen Menschen aus dir. Dein Flug geht um zehn.“
Er fuhr sich über die Augen. In seiner Trauer hatte er völlig vergessen, dass Matt ihn in London erwartete. Abby war nicht an den Folgen der Schussverletzungen gestorben. Sein Freund Superintendent Matt Frazer von der Metropolitan Police hatte von Mord gesprochen, als er ihn gestern Abend angerufen und die erschütternde Nachricht überbracht hatte. Die letzte Fähre nach Guernsey war längst abgefahren. Um aufs Festland zu gelangen, musste er fliegen, was bedeutete, bis zum Morgen warten zu müssen.
„Du hast mir ein Flugticket besorgt?“, fragte er.
„Bedank dich bei Dave. Er hat dir einen Direktflug nach London gebucht. Am Flughafen Gatwick steht ein Mietwagen für dich bereit.“
Steve schwieg betroffen. Während er in Selbstmitleid versunken war und sich betrunken hatte, unternahm sein Team alles, um ihn so schnell wie möglich ins Sussex County Hospital nach Brighton zu bringen, wo Abby gestorben war. Nein, nicht sein Team, korrigierte er sich. Sie waren inzwischen Freunde.
„Als du gegen halb neun nicht im Revier warst, begann ich mir Sorgen zu machen und bin hierher zum alten Pfarrhaus gefahren.“ Penny schüttelte die leere Whiskyflasche. „Zu Recht, wie mir scheint.“
Steve lehnte ausgelaugt am Waschbecken. Er hatte in seinen Sachen geschlafen. Das T-Shirt war mit Flecken übersät; aus einem unerfindlichen Grund war sein linker Fuß nackt, während der rechte in einer durchnässten Socke steckte. Er schämte sich.
„Wenn du den anderen verrätst, in welchem Zustand du mich gefunden hast, hetze ich Watson auf dich.“
„Hast du ihn als Kampfhund abgerichtet?“
„Worauf du dich verlassen kannst.“
„Er hat doch Angst vor seinem eigenen Schatten.“
„Das hab ich ihm abgewöhnt. Er ist jetzt ein Killer“, erwiderte Steve.
Der Hund wuffte leise zur Bestätigung.
Penny runzelte besorgt die Stirn. „Steve, einen geliebten Menschen zu verlieren, kann einen aus der Bahn werfen. Ich weiß, was in dir vorgeht, weil ich es selbst durchgemacht habe. Es zieht einem den Boden unter den Füßen weg. In manchen Augenblicken wühlt der Schmerz so heftig in dir, dass du glaubst, verrückt zu werden. Du willst, dass es aufhört, und bist bereit, alles dafür zu tun. Dann begegnet dir der Alkohol. Er flüstert dir zu, dass er dein Freund ist und dir hilft, zu vergessen, doch er belügt dich. Am Ende zerstört er dich.“
„Was hast du getan, um Franks Tod zu verarbeiten?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das Gleiche wie du. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass ich weiterleben muss. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, aber sie vernarben.“
Steve streckte sich und dehnte die verkrampften Muskeln. „Es war ein Ausrutscher und kommt nicht wieder vor. Ich bin schließlich der Chief von unserem Laden.“
Penny nickte. „Und wir wollen, dass das so bleibt.“
„Was ist mit Gordon?“
„Es hat ihn ziemlich beeindruckt, dass du sein Dienstvergehen nicht weitergeleitet hast.“
„Ich bin eben gut darin, Freunde zu gewinnen.“
Penny zog den Mundwinkel nach unten. „Das sagt ein Mann, der wie ein Einsiedlerkrebs in einem windschiefen, alten Haus über den Klippen einer winzigen Insel im Ärmelkanal lebt.“
Steve brachte ein klägliches Lächeln zustande. „Hey, ich habe Gesellschaft.“
„Okay. Ein Einsiedlerkrebs und ein psychisch gestörter Hund.“
„Wir passen hervorragend zusammen.“
„Dass du dich hinter deinem Sarkasmus versteckst, ist ziemlich anstrengend.“
„Es ist zu früh am Tag für eine Psychoanalyse, findest du nicht?“
Penny wurde ernst. „Ich mache mir Sorgen um dich. Kommst du klar?“
Er nickte. „Gib mir ein bisschen Zeit, um nüchtern zu werden, dann laufe ich zu Hochform auf.“
Sie schüttelte den Kopf. „Du bist und bleibst ein Zyniker. Ich sage den anderen, dass du verschlafen hast. Und jetzt spring unter die Dusche. Ich koche dir einen Kaffee und fahre dich zum Flughafen.“
„Was mache ich in der Zwischenzeit mit unserem vierbeinigen Killer?“
„Dave wird ihn mit Scones füttern, bis er platzt.“
Steve streifte das verschwitzte, mit Whiskyflecken übersäte T-Shirt ab. Penny zog die Badezimmertür zu, ließ sie jedoch einen Spalt offen.
„Du musst mir etwas versprechen, Steve“, rief sie.
„Das ist eine heikle Geschichte. Was man verspricht, muss man halten.“
„Dave und ich wollen, dass du den Mistkerl findest, der Abby getötet hat. Lass dich hier nicht wieder blicken, bevor du ihn geschnappt hast.“
„Bist du dir darüber im Klaren, was du dir da gerade einbrockst? Gordon ist der Dienstälteste im Revier und damit automatisch mein Stellvertreter. Er wird euch das Leben schwer machen und meinen neuen Bürosessel ruinieren.“
„Wir kommen eine Weile ohne dich zurecht.“
„Wie lange ist denn eine Weile?“, fragte er.
„So lange, wie es nötig ist.“
Sosehr Steve ihre Wortgefechte liebte – dieses Mal lag in Pennys Stimme so viel Entschlossenheit, dass er sich eine Antwort verkniff. Für die kommenden Tage würde er all seine Kraft brauchen.
3
Southwark
Die beiden Männer bestellten Guinness. Der Größere erregte sofort Rays Aufmerksamkeit und löste Alarm in ihm aus. Wenn man in dem Viertel, in dem er aufgewachsen war, nicht ständig in eine Schlägerei geraten wollte, musste man ein Gespür dafür entwickeln, Ärger aus dem Weg zu gehen. Das galt für Typen, die sich aus geringem Anlass prügelten, ebenso wie für korrupte Cops.
Aufmerksam beobachtete Ray den Mann mit dem blonden, militärisch kurzen Haarschnitt, denn er vereinigte beide Seiten in sich. Auch er studierte unauffällig seine Umgebung und suchte nach potenziellen Bedrohungen. Er durchquerte das Bistro wie ein Panther, der durch einen nächtlichen Dschungel schleicht. Seine dominante Haltung zeugte von Arroganz und der Gewissheit, dass es niemand wagen würde, sich mit ihm anzulegen – was in krassem Widerspruch zu seiner offenkundigen Erwartungshaltung stand, jederzeit mit einem Angriff rechnen zu müssen.
Wenn Rays Gabe, Menschen richtig einschätzen zu können, nicht plötzlich versagte, dann war der Typ ein Cop. Nein, er korrigierte sich: Ein Ex-Polizist, der seine Gewohnheit, als solcher aufzutreten, noch nicht abgelegt hatte. Er hatte also erst vor Kurzem seinen Job verloren. Freiwillig war er nicht ausgeschieden, denn er war zu verliebt in die Macht, die damit verbunden war. Ray war sich sicher, dass sie ihn gefeuert hatten.
Der etwa fünfundvierzig Jahre alte Mann trug eine teure Smartwatch, Markenklamotten und - wenn ihn nicht alles täuschte - maßgefertigte Schuhe. Ein Outfit, das Eindruck schinden und Überlegenheit verdeutlichen sollte. Doch ein aufmerksamer Betrachter erkannte schnell, dass nicht Selbstsicherheit, sondern der Zwang, sich stets aufs Neue beweisen zu müssen, dahintersteckte. Wie seine Kleidung waren auch seine Gesten und die Art, wie er sich bewegte und seine Stimme einsetzte, aufgesetzt und übertrieben. Er umgab sich mit einer Art Kokon, in dem er sich sicher fühlte, was auf das Gegenteil schließen ließ. Entweder hatte er einen Job gefunden, in dem er wesentlich mehr verdiente als ein durchschnittlicher Cop, oder er hatte die Seiten gewechselt. Auf jeden Fall steckte er voller Widersprüche und weckte Rays Interesse.
Mit einer herrischen Geste lud er seinen Begleiter ein, sich in eine der Nischen zu setzen, und begann, gestenreich und mit lauter Stimme auf ihn einzureden. Er benutzte einen Jargon, der Autorität und Überlegenheit ausstrahlen sollte, doch auch in seiner Rede überspannte er den Bogen, um seine Schwächen zu überspielen.
Der zweite Mann war kleiner und drahtiger. Er hatte dunkles Haar, auf seinen Wangen sprießte ein Dreitagebart. Das Auftreten seines Gegenübers war ihm entweder peinlich oder auf eine andere Art unangenehm, denn er versuchte mehrfach, mäßigend auf ihn einzuwirken; stets darauf bedacht, einen gewissen Abstand einzuhalten, was ihm in dem Separee nur schwer möglich war. Er blickte oft zu Boden, als schämte er sich. Ray bemerkte, dass seine Handflächen rau waren. Sie zeugten von harter, körperlicher Arbeit. Seine Kleidung war abgetragen, das Sakko an den Ärmeln fadenscheinig. Er trug es trotzdem. Entweder besaß er kein zweites, oder er legte Wert darauf, ein Erscheinungsbild aufrechtzuerhalten, das er sich schon lange nicht mehr leisten konnte. Um seinen rechten Ringfinger zog sich ein heller Streifen Haut. Er hatte bis vor Kurzem einen Ring getragen, den er vermutlich aus finanzieller Not versetzt hatte. An seinem linken Unterarm zeugte helle Haut davon, dass er eine Uhr getragen, sie aber verkauft hatte. Sein Guinness hatte er mit Münzen bezahlt, die er aus seinen Hosentaschen zusammengekratzt hatte. Er brauchte Geld, das stand außer Frage.
Unter seinen tief in den Höhlen liegenden Augen hatten sich dunkle Tränensäcke gebildet. Er schlief schlecht, war müde und abgekämpft. Sorgte er sich um jemanden, dem er nicht helfen konnte? Oder war er überfordert damit und leistete schier Übermenschliches? Er erschien Ray wie ein Spiegelbild seiner selbst. Dieser Mann versuchte das Richtige zu tun, war jedoch in einer Welt gefangen, die ihm dazu keine Chance ließ. Er spürte eine tiefe Verbundenheit mit ihm, obwohl er ihm nie zuvor begegnet war. Ray nahm seine Cola und rutschte unauffällig in die benachbarte Sitznische.
Die Gesichter der Männer spiegelten sich matt in der Fensterscheibe. Der Blonde mit dem Bürstenschnitt verstärkte seine Bemühungen, den anderen von etwas zu überzeugen. Er sprach von einer einmaligen Gelegenheit. Ray spitzte die Ohren.
„Das ist ein richtig fettes Ding, Spencer“, sagte er gerade.
„Ein fettes Ding mit hohem Einsatz.“
„Einer alten Frau die Handtasche zu stehlen, ist riskanter. Es kann überhaupt nichts schiefgehen.“
„Irren ist menschlich, schrieb der Ex-Bulle an die Wand seiner Zelle“, antwortete der Angesprochene.
„Du vergisst, dass ich ein Cop war. Ich kann das Risiko besser einschätzen als jeder andere. Schließlich weiß ich, wie die Polizei arbeitet; ich meine, wie sie wirklich vorgeht – nicht diesen Quatsch aus den Fernsehkrimis.“
Volltreffer, dachte Ray. Er blickte sich verstohlen um. Außer den beiden Männern und ihm war das Bistro nun leer. Die Bedienung hinter dem Tresen war in ihr Smartphone vertieft. Bot ihm das Schicksal eine unverhoffte Chance? Er hatte sich nicht geirrt, der Blonde war ein ehemaliger Polizist, der die Seiten gewechselt hatte. Vielleicht besaß er noch Kontakte zu seinen früheren Kollegen und hatte einen Tipp bekommen. Entweder war er sich seiner Sache sehr sicher oder ein kompletter Idiot. Wenn er in seiner großspurigen Art weitere Details ausplauderte, lief er Gefahr, dass ihm jemand zuvorkam.
Ich zum Beispiel, dachte Ray.
„Wie geht’s deiner Frau?“, fragte er.
„Ihr Zustand ist unverändert.“
„Wird sie wieder laufen können?“
„Die Ärzte sagen, sie muss sich mit dem Rollstuhl abfinden. Die verdammten Pfuscher wissen genau, dass sie schuld daran sind, aber um ein Gegengutachten einzuholen, fehlt mir das Geld.“
„Das ist ’ne schlimme Geschichte. Wenn ich du wäre, würde ich mir die Schwachköpfe vornehmen und ihnen die Knochen einzeln brechen. Dann können sie ihr im Rollstuhl Gesellschaft leisten.“
„Damit die Bullen mich wieder verknacken? Ich gehe nicht noch mal in den Knast, Richards. Und ich drehe auch keine krummen Dinger mehr, das habe ich Ayla versprochen. Sie braucht mich, verstehst du? Wenn ich einfahre, ist niemand da, der sich um sie kümmern kann.“
„Was sagt dein Anwalt?“
„Er hat dem Klinikleiter einen Vergleich vorgeschlagen, aber der lehnt ab. Ich kann’s mir nicht leisten, mich durch sämtliche Instanzen zu klagen.“
Richards lachte. „Die alte Geschichte. Sie lassen ein Heer ausgekochter Anwälte aufmarschieren und dich am ausgestreckten Arm verhungern. Mit einem Koffer voller Pfundnoten sähe die Sache anders aus.“
„Von wie viel reden wir?“
„Eine schlappe Million.“
„Für alle?“
„Für jeden von uns.“
Der Mann namens Spencer schwieg eine Weile. Ray hielt den Atem an. Ob er auf das Angebot einging? Was würde er an seiner Stelle tun? Er dachte an Tessa und den ZX. Er würde jedenfalls keinen Moment zögern.
Seine Lippen formten ein lautloses: „Schlag schon ein!“
Wenn Spencer seine Bedenken überwand, rückte Richards möglicherweise mit Einzelheiten seines Plans heraus. Ray war klar, dass er ihnen nicht zuvorkommen und die Sache allein durchziehen konnte. Aber vielleicht brauchten sie noch mehr Leute … jemanden mit besonderen Fähigkeiten zum Beispiel.
Er nippte an seiner Cola und wartete angespannt auf Spencers Antwort. Sollte er sich auf das riskante Spiel einlassen? Wenn den Männern klar wurde, dass er ihr Gespräch belauscht hatte, schwebte er in Lebensgefahr. Er musste ihnen etwas anbieten; etwas, auf das sie nicht verzichten konnten. Um den Datsun behalten zu können, war er bereit, alles zu wagen.
„Was denkst du?“, fragte Richards.
„Bevor ich mitmache, will ich wissen, worauf ich mich einlasse.“
Richards senkte jetzt seine Stimme zu einem Raunen. Ray rutschte an den Rand der Sitzbank, um nichts zu verpassen.
„Ich kann dir keine Einzelheiten verraten. Falls du ablehnst und zu viel weißt, sind wir beide tot. Das ist dir klar, oder?“
Spencer stand auf und verließ die Sitznische. Ray zog blitzartig den Kopf ein.
„Tut mir leid. Dann ergibt das Ganze keinen Sinn.“
„Sachte, sachte. Setz dich wieder hin. Ein paar Einzelheiten kann ich dir verraten. Also pass auf. Wir werden eine Bank ausnehmen.“
„Ohne mich. Als ehemaliger Cop sollte dir eigentlich klar sein, dass es das Risiko nicht wert ist.“
„Wir haben es nicht auf Bargeld abgesehen oder auf Transportboxen, deren Inhalt beim gewaltsamen Öffnen mit Farbe markiert wird.“
„Geht’s ein bisschen genauer? Von welcher Bank reden wir?“
„Setz dich wieder hin, Spencer.“
Der Dunkelhaarige rutschte zögernd auf die Bank zurück.
„Von keiner auf dem Festland, sondern von einer auf den Kanalinseln“, fuhr Richards fort.
„Schwarzgeld von Briefkastenfirmen auf Guernsey?“
„Alderney. CIFS – die Channel Islands Financial Services.“
„Alderney?“ Spencers Stimme klang überrascht. „Da gibt’s doch nur baufällige Nazibunker und Kaninchen.“
Richards lehnte sich zurück und setzte eine überlegene Miene auf. „Wir plündern die ganze Insel aus. Bei der Gelegenheit kannst du gleich mit Sorokin abrechnen.“
„Die Zeiten sind vorbei. Ich arbeite nicht mehr für ihn.“
„Das hab ich auch gehört. Ihr habt euch nicht gerade freundschaftlich getrennt.“
„Ich bin nicht so verrückt, mich mit ihm anzulegen. Welche Aufgabe fällt mir bei der Sache zu?“
„Wie steht’s um deine Flugkünste?“
„Ich bin raus aus dem Cockpit und arbeite seit einem halben Jahr als Packer am Heathrow Airport.“
„Nicht gerade ein Job, der gut bezahlt wird.“
„So habe ich mehr Zeit für Ayla.“
„Du könntest noch viel mehr Zeit mit ihr verbringen, wenn du dich entschließt, mitzumachen. Mit einer Million Pfund könnt ihr euch niederlassen, wo ihr wollt. Ich werd’s jedenfalls durchziehen. Ein letztes großes Ding – und das war’s. Also, wie steht’s? Hast du es noch drauf?“
„Was soll ich fliegen?“
„Eine Kiste, in die wir alle hineinpassen. Könnte auch ein Helikopter sein. Kommt darauf an, was wir vor Ort bekommen können.“
„Wer ist noch dabei?“, fragte Spencer.
„Gino Briggs.“
Spencer zog zischend den Atem durch die Zähne. „Briggs ist ein Plappermaul.“
„Er ist für eine Spezialaufgabe vorgesehen, die kein anderer erledigen kann. Dann brauchen wir noch jemanden, der die Gewässer vor Alderney kennt und ein Boot hat.“
„Du sprichst von Marlin?“
„Kannst du ihn überreden, mitzumachen?“
„Er plant schon länger, sich zur Ruhe zu setzen, aber ihm fehlt das nötige Geld“, antwortete Spencer. „Ich kann mal mit ihm reden. Wer organisiert die Sache?“
Richards lachte leise auf. „Die Stimme aus dem Jenseits. Mehr darf ich im Augenblick nicht verraten.“
„Das gefällt mir nicht.“
„Der Boss hat seine Gründe.“
„Wann soll es losgehen?“
„In den nächsten Tagen. Die Vorbereitungen sind angelaufen. Also überleg nicht zu lange.“
Spencer schien zu zögern. Niemand sprach ein Wort.
„Wir müssen die Stromversorgung der Insel lahmlegen“, sagte Richards dann. „Ich hab dem Boss versichert, dass du der beste Mann dafür bist. Das Ganze ist ein Kinderspiel. Saint Anne ist die einzige Ansiedlung auf Alderney. Es gibt nur ein kleines Polizeirevier, besetzt mit drei Dorfpolizisten. Bevor die merken, was gespielt wird, sind wir längst wieder weg.“
„Ihr schafft es niemals, die ganze Insel unter Kontrolle zu bringen“, erwiderte Spencer.
„Lass das unsere Sorge sein.“
„Zu viele Risiken, zu viele Unwägbarkeiten. Der kleinste Fehler kann eine Lawine auslösen. Wir müssten einen Hellseher haben, um vorauszusehen, was alles schiefgehen kann.“
„Damit kann ich leider nicht dienen.“
Ray hörte, dass einer der Männer aufstand, wahrscheinlich Spencer.
„Ich muss darüber nachdenken.“
„Bis morgen früh muss ich deine Antwort haben“, sagte Richards.
„Okay.“
„Ruf mich an. Würde mich freuen, wenn du dabei wärst.“
Ray beobachtete, wie Richards das Bistro verließ. Kurz darauf folgte ihm Spencer. Ray ging ihm nach. Er sah seine Chance gekommen, denn er besaß etwas, auf das die Bande nicht verzichten konnte: Die Fähigkeit, besser als jeder andere vorauszusagen, welche Entscheidungen Menschen trafen.
4
Regen prasselte auf das Glasdach vor dem Eingang des Sussex County Hospital. Die schwarz lackierten Stützpfeiler und Arkaden glänzten im trüben Licht des Herbsttages wie nasses Leder. Das Hauptgebäude stammte aus präviktorianischer Zeit und erinnerte mehr an einen Regierungssitz als an eine moderne Klinik.
Detective Chief Inspector Steve Cole stieg aus dem Mietwagen und suchte instinktiv Schutz unter dem Vordach, obwohl er weder den Regen spürte, der seine dünne Jacke durchnässte, noch den scharfen Wind, der vom Ärmelkanal her über das Land fegte. Seine Wahrnehmung war zu einem Tunnelblick verengt, der nur Raum ließ für den schweren Weg, der vor ihm lag.
Abby Bonham, die einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte, war seit achtzehn Stunden tot. Ihm war klar gewesen, dass ihre Chancen schlecht gestanden hatten, doch bis zuletzt hatte er gehofft, dass sie aus dem Koma erwachen und ins Leben zurückkehren würde. Diese trügerische Hoffnung war auf eine völlig unerwartete Weise erloschen. Während des Flugs hatte er intensiv darüber nachgedacht, wer einen Nutzen aus ihrem Tod zog. Wer ermordete eine Komapatientin, die bereits mit einem Bein im Grab stand? Hatte Abby etwas gewusst, das ihrem Mörder gefährlich werden könnte, wenn sie wieder aufgewacht wäre? Sie hatte keine Feinde gehabt – jedenfalls keine, von denen Steve Kenntnis hatte. Ihm wurde erschreckend klar, dass ihnen das Schicksal kaum Zeit gelassen hatte, einander wirklich kennenzulernen. Resigniert gestand er sich ein, dass er über Abbys Vergangenheit so gut wie nichts wusste.
Steckte Viktor Sorokin hinter dem Anschlag? Steve glaubte, den Mafiaboss als Auftraggeber ausschließen zu können. Sicher, sie hatten ihn um eine Million Pfund geprellt und ins Gefängnis gebracht. Sorokin hatte daraufhin eine Vendetta gegen Steve ausgesprochen und verkündet, jede Frau zu töten, in die er sich je verliebte. Er sollte die gleiche Einsamkeit erdulden müssen wie der Russe in seiner Gefängniszelle.
Matt Frazer hatte sich für Steve eingesetzt und die amtierende Innenministerin dafür gewinnen können, ihm eine neue Identität zu verschaffen. Da die Ministerin durch seinen Ermittlungserfolg einen politischen Gegenspieler losgeworden war, hatte sie eingewilligt.
Abby war in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden und Steve offiziell bei einem Flugzeugabsturz umgekommen. Anschließend hatte er als Detective Chief Inspector Steve Aiden Cole den Posten als Polizeichef von Alderney angetreten. In Wahrheit hieß er Thomas McCallum - eine Name, der ihm so fremd geworden war wie das Leben als verdeckter Ermittler, das er damals geführt hatte. Sein Plan hatte vorgesehen, Abby nachzuholen und mit dem Geld, um das sie Sorokin geprellt hatten, unterzutauchen. Doch der Auftragskiller Juan Cataldo hatte ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht und Abby vor dem Revier in Saint Anne mit mehreren Schüssen niedergestreckt.
Und dann war da noch Natasha Gradenko, die bei der verpatzten Razzia im Red Door - Sorokins Bar und Hauptquartier in der City of London - ums Leben gekommen war. Zumindest hatten das alle geglaubt. Damals ahnte niemand, dass sie lebte und mit Cataldo durchgebrannt war. Beide hatten dem Paten gewaltige Hörner aufgesetzt und Steve und Abby um ihre Beute gebracht.
So viel war inzwischen geschehen. Steve war wider Erwarten auf Alderney heimisch geworden. Mit Sorokin hatte er einen Burgfrieden geschlossen, darum war es unwahrscheinlich, dass er hinter dem Mord steckte. Sorokin war durch und durch Geschäftsmann, Abbys Tod brachte ihm keinen Vorteil. Er hatte sogar angeboten, für ihre Verlegung in die Spezialklinik für Komapatienten in Brighton und die weitere Behandlung aufzukommen. Ihre Chancen waren dadurch deutlich gestiegen. Steve hatte dem geheimen Deal zugestimmt, doch ihm war schnell klar geworden, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Fortan war er gezwungen gewesen, über die illegalen Geldwäschegeschäfte von Sorokin und John Baxter, dem selbst ernannten Inselkönig von Alderney, hinwegzusehen – ein Umstand, der ihm immer unerträglicher geworden war. Schließlich hatte er sich dazu entschieden, das schmutzige Spiel zu beenden.
Einerseits handelte Sorokin rational und berechenbar, andererseits war er dafür bekannt, dass er abtrünnigen Weggefährten auf brutale Weise deutlich machte, was passierte, wenn sie sich von ihm abwandten. War Abbys Tod eine Reaktion auf Steves Aufkündigung ihrer geheimen Zusammenarbeit? Sorokin genoss den Ruf eines Mannes, der offene Rechnungen blutig beglich. In Unterweltkreisen nannte man ihn den Prediger. Sein asketisches, scharf geschnittenes Gesicht erinnerte an einen alttestamentarischen Eiferer, der nach dem Credo Auge um Auge, Zahn um Zahn handelte.
Steves Verlust bedeutete auf eine tragische Weise Licht und Schatten für ihn. Auf der einen Seite verlor er die Frau, die er liebte. Auf der anderen Seite gewann er seine Unabhängigkeit zurück, denn Sorokin hatte sein Druckmittel eingebüßt. Doch was sollte er mit der neu gewonnenen Freiheit anfangen?
Er betrat die Eingangshalle der Klinik, wies sich aus und ließ sich den Weg zur Station für Komapatienten beschreiben. Die Korridore und Treppen erschienen ihm endlos und wichen geisterhaft vor ihm zurück. Der Albtraum der vergangenen Nacht wiederholte sich auf grausame Weise, als wäre er auf ewig dazu verdammt, in einem Labyrinth nach Abby zu suchen und sie doch niemals zu finden.
Die schlecht verheilte Hüftverletzung, die er von der Explosion bei der Razzia im Red Door davongetragen hatte, belastete ihn heute mehr als sonst, vermutlich eine Folge des Stresses. Er hätte den Lift nehmen können, zog es jedoch vor, zu laufen, weil die Anstrengung und der Schmerz seinen Verstand wach hielten.
Atemlos betrat er einen Gang, in dem es nach der typischen Krankenhausmischung aus Desinfektionsmitteln, Körperausdünstungen und Kantinenessen roch. Ein Absperrband verwehrte den Zutritt. Er tauchte darunter durch und ging auf eine halb geöffnete Zimmertür zu. Ein Constable verstellte ihm den Weg.
„Dieser Flügel ist für Besucher gesperrt, Sir. Ich muss Sie bitten, zu gehen.“
Matt Frazer kam aus dem Zimmer. „Das geht in Ordnung, Constable. Chief Inspector Cole ist ein Kollege aus Alderney, der uns in diesem Fall beraten wird.“
Matt umarmte ihn. „Mein Beileid, Steve.“
„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.“
„Es wäre besser gewesen, du wärst in Saint Anne geblieben. Doch ich wusste, dass ich dich nicht würde abhalten können, zu kommen. So kann ich wenigstens ein Auge auf dich haben.“
„Du erwartest ernsthaft, dass ich mich aus den Ermittlungen heraushalte?“
„Die Leitung der Untersuchung liegt bei der Sussex Police. Offiziell sind wir nur als Beobachter hier.“
„Wenn Sorokin den Mord in Auftrag gegeben hat, fällt die Sache auch in die Zuständigkeit der Metropolitan Police.“
„Bislang führt keine Spur zu ihm. Ich habe dich hergebeten, damit du Abschied nehmen kannst, Steve. Falls du vorhast, einen Rachefeldzug zu starten, schicke ich dich umgehend auf deinen Felsen im Ärmelkanal zurück.“
„Du wirst mich nicht daran hindern können, den Mörder zu suchen.“
„Das hatte ich befürchtet“, seufzte Matt. „Ich werde tun, was in meiner Macht steht, um Einblick in die laufenden Ermittlungen zu erhalten. Die Kollegen in Brighton sind nicht begeistert davon, dass ihnen die Met über die Schulter schaut. Offiziell habe ich dich angefordert, weil du an Sorokins Verhaftung beteiligt warst. Detective Chief Inspector Craig Miller vom Sussex Murder Investigation Team leitet die Untersuchung. Es war schwierig genug, ihn zu überzeugen, dass ich eine Verbindung zu der Razzia im Red Door sehe. Er reagiert empfindlich, was die Verteilung der Kompetenzen angeht, also halte dich mit Kritik zurück. Du bist hier nur als Zaungast geduldet, ist das klar?“
„Wie weit seid ihr mit der Untersuchung des Tatorts und der Leiche? Habt ihr eine erste Spur?“
„Wir stehen noch am Anfang. Es hat mich meine ganze Überredungskunst gekostet, Miller zu überzeugen, das Zimmer bis zu deinem Eintreffen unverändert zu lassen.“ Matt blickte ihn forschend an. „Ich hatte übrigens früher mit dir gerechnet. Bist du okay? Verzeih mir die Bemerkung, aber du siehst beschissen aus.“ Er schnüffelte. „Und du hast eine Fahne, die einen Elefanten umhaut.“
„Ein kleiner Ausrutscher. Nichts, was dich beunruhigen müsste. Ich will sie sehen.“
Steve starrte auf die Zimmertür, die ihm wie die Pforte zur Hölle erschien. Er wusste, wenn er hindurchtrat, würde sich sein Leben erneut grundlegend verändern. Danach würde nichts mehr sein wie zuvor. Dann begann eine Schussfahrt, an deren Ziel ein Aufprall wartete, den er möglicherweise nicht überlebte.
Matt sah ihn prüfend an. „Ich komme mit dir, alter Freund. Keine Widerrede.“
Sie betraten das Krankenzimmer. Abby lag in einem Spezialbett für Komapatienten, umgeben von medizinischen Apparaturen, die sie in einem Zustand zwischen Leben und Tod gehalten hatten. Sie schien geschrumpft zu sein, seit er sie zuletzt gesehen hatte, wirkte ätherisch und verloren in dem Bett, das viel zu groß für sie war.
Drei Mitarbeiter des Spurensicherungsteams waren zugegen. Einer von ihnen wandte sich an Matt.
„Wir sind hier fertig, Superintendent“, sagte er.
„Danke. Informieren Sie mich bitte, wenn Ergebnisse vorliegen.“
„Wenden Sie sich dazu an Chief Inspector Miller.“
Sie verstauten ihre Ausrüstung, klappten die Aluminiumkoffer zu und verließen das Zimmer. Steve trat an das Bett. Seit Monaten hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, und doch war er anders gekommen, als er erwartet hatte. Das Leben hielt immer wieder grausame Überraschungen bereit.
Nun, da es so weit war, spürte er eine Leere, die ihn verwirrte. Eine bleischwere Last fiel von ihm ab, weil die Ungewissheit und das verzweifelte Hoffen ein Ende gefunden hatten. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als das Unvermeidliche zu akzeptieren. Vielleicht half ihm die Tatsache, dass er mit Abbys Tod gerechnet und sein Herz Zeit gehabt hatte, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Ihre Seele war schon lange gegangen und hatte nur ihre sterbliche Hülle zurückgelassen, die künstlich am Leben erhalten worden war.
Steve zwang sich, sie mit den Augen eines erfahrenen Mordermittlers zu betrachten und für den Moment Schmerz und Leere zu verdrängen. Er würde den Rest seiner Tage Zeit haben, zu trauern. Je schneller er die Spur des Mörders aufnahm, desto größer waren die Chancen, ihn zu fassen.
Er konzentrierte sich auf jedes Detail, doch dem ersten Anschein nach deutete nichts auf ein Verbrechen hin.
„Wie hat er es gemacht? Wie ist sie gestorben?“, fragte er.
„Todesursache war eine Lungenembolie, ausgelöst durch eine Luftinjektion. Er hat den Schlauch, mit dem Abby mit Sauerstoff versorgt wurde, an das Venensystem angeklemmt.“
„Demnach besitzt er medizinische Kenntnisse. Habt ihr das Personal schon überprüft?“
„Die Befragungen laufen noch. Falls es ein Klinikmitarbeiter war, werden wir das wahrscheinlich nicht beweisen können. Pflegekräfte und Ärzte zusammengerechnet, kommen wir auf siebzehn Angestellte, die Zugang zur Station haben und in den vergangenen vierundzwanzig Stunden Dienst hatten.“
„Gibt es keine Möglichkeit, zu überprüfen, wer wann das Zimmer betreten hat?“, fragte Steve.
„Im Eingangsbereich zur Intensivpflegestation hängt eine Überwachungskamera. Die Kollegen werten zurzeit die Aufnahmen aus. Möchtest du eine Minute mit ihr allein sein?“
„Ich wollte dich gerade darum bitten.“
Matt verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Eine Stille kehrte ein, wie sie nur die Anwesenheit des Todes hervorzurufen vermag. Steve sank auf einen Stuhl und betrachtete Abbys bleiches Gesicht. Die kurze Zeit, die er mit ihr hatte verbringen dürfen, rauschte im Zeitraffer an ihm vorbei. Viel zu schnell, um die kostbaren Augenblicke festhalten zu können, sich jedes Bild für immer einzuprägen und die Erinnerung zu bewahren. Mit der Zeit würden sie verblassen wie ein altes Polaroidfoto.
Nach einer Weile, als er die Stille nicht mehr ertrug, stand er auf und schob den Stuhl unter den Tisch zurück. Die Hülle, die Chief Inspector Steve Cole repräsentierte, funktionierte noch, aber darunter breitete sich eine Schwärze aus, die wie zähflüssiger Teer durch seine Adern floss und jede Emotion erstickte. Ein unbewusster, doch starker Teil seines Ichs übernahm die Führung und reduzierte seine Gedanken auf das, was notwendig war, um den Mord aufzuklären. Nur die Konzentration auf diese Aufgabe hielt ihn am Leben und half ihm, die Zeit zu überstehen, bis Narbengewebe die furchtbare Wunde bedeckte. Was danach kam, wusste er nicht.
Warum nahm das Schicksal ihm stets Menschen, die er liebte, und verschonte ihn? Erst hatte es seinen jüngeren Bruder Andy geholt und nun Abby. Wer war der Nächste? Matt oder Penny? Nun, viele Möglichkeiten bleiben nicht mehr, dachte er verbittert.
„Wer immer dir das angetan hat, wird dafür bezahlen“, flüsterte er.
Fast glaubte er, Abbys Antwort zu hören, die leicht spöttische, doch warme Stimme, die er so geliebt hatte. Er beugte sich über sie, küsste sie auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Matt Frazer telefonierte. Als er ihn kommen sah, beendete er das Gespräch.
„Weiß ihre Mutter Bescheid?“, fragte Steve.
„Man hat sie informiert.“
„Gut. Wo fangen wir an?“
„Wir fangen nirgendwo an. Die Zuständigkeit liegt bei der Sussex Police, vergiss das nicht.“
„Warum hast du mich herbestellt, wenn ich nur nutzlos herumstehen darf?“
„Wir haben eine Spur, die zum Mörder führen könnte. Ich will deine Meinung dazu hören.“
Steves Verstand arbeitete nun eiskalt. „Ich bin ganz Ohr.“
Matt strich sich über das unrasierte Kinn. „Jemand hat einen Umschlag auf Abbys Bett zurückgelassen. Er wurde erst jetzt sichergestellt, weil das alarmierte Pflegepersonal ihn zur Seite legte, als sie versuchten, sie zu reanimieren. Eine Krankenschwester erinnerte sich daran und übergab ihn den Kollegen.“
„Was war in diesem Umschlag?“
„Ein kurze Mitteilung: Job well done.“
Steve stieß den Atem zwischen den Zähnen hindurch. „Sorokin!“
Matt nickte. „Es sieht so aus, als hätte er zu Ende gebracht, was er begonnen hat.“