TEIL 1 GAYLA
1
Heißes Blut auf ihren Händen. Rot. Das leuchtendste Rot, das Galya je gesehen hatte. Ihr Kopf kippte zur Seite, und plötzlich sah sie nur noch in einen schwarzen Tunnel.
Nein, jetzt nur nicht ohnmächtig werden.
Sie keuchte, holte gierig Luft und nahm den kupfernen Geruch wahr, der ihr sofort wie eine Faust auf den Magen schlug. Sie schmeckte Galle im Mund und schluckte.
Als sie versuchte, die Glasscherbe herauszuziehen, um deren eines Ende sie als improvisiertes Messer einen Fetzen vom Bettlaken gewickelt hatte, zitterten die Beine des Mannes. Galya schrak zurück. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sie drehte die Scherbe hin und her und spürte, wie sie tief in seinem Hals an etwas Hartem schabte, dann knackte es. Die Klinge glitt aus dem zweiten Mund, den sie dem Mann unterm Kinn eingeschnitten hatte. Hellrotes Blut blubberte heraus, verteilte sich auf seinem litauischen Fußballtrikot und ertränkte das leuchtende Gelb.
Galya machte einen Schritt zurück. Das Blut auf dem Linoleum lief auf ihre nackten Füße zu. Es leckte schon an ihren Zehen, warme Küsse des Sterbenden, dessen Augen sich schon trübten. Er rutschte an der Wand zu Boden.
Aus ihrem Bauch sprang ein Schrei, doch sie presste die freie Hand auf den Mund und fing ihn noch im Mund ab. Die Hand auf ihren Lippen war schmierig, und dann konnte sie es auch schmecken.
Ihr drehte sich der Magen um, zwischen ihren Fingern quoll Erbrochenes hervor. Die Beine sackten ihr weg. Wie ein Zug schoss der Fußboden auf sie zu.
Der Länge nach lag sie in der heißen Pfütze. Sie versuchte herauszukrabbeln, aber das Blut auf ihrer nackten Haut war zu glitschig.
Erneut kam der Schrei hoch, und diesmal konnte sie ihn nicht unterdrücken. Obwohl sie wusste, dass er sie umbringen würde, ließ Galya ihn entfleuchen wie einen verschreckten Vogel, der aus dem Käfig ihrer Brust entkam.
Der Heulkrampf presste ihr den letzten Atem aus den Lungen. Sie rang nach Luft, hustete, rang erneut nach Luft, versuchte, klar zu denken.
Sie lauschte über das Rauschen in ihren Ohren hinweg.
Nichts zu hören außer dem erstickten Blubbern aus der Kehle des Mannes. Dann ein Klopfen an der Schlafzimmertür. Tränen schössen ihr in die Augen, die Tränen eines verängstigten kleinen Mädchens, aber Galya blinzelte sie weg. Sie war kein kleines Mädchen mehr, schon seit dem Tag nicht, als ihr Vater vor über einem Jahrzehnt gestorben war.
Denk nach, denk nach, denk nach!
Immer noch hielt sie die gläserne Klinge in den blutverschmierten Fingern. Die Spitze fehlte, der umgewickelte Stoff war durchtränkt. Vielleicht konnte sie die Kerle ja auf Abstand halten. Sie würden ihren toten Freund sehen und wissen, dass Galya ihnen dasselbe antun konnte.
Noch ein Klopfen, diesmal lauter. Der Türgriff klackte.
»Tomas?«
Angst durchfuhr sie. Nein, mit einer Glasscherbe würde sie die Männer nicht aufhalten können. Wieder drohte ein Weinkrampf. Noch einmal stemmte sie sich dagegen.
»Tomas?« Die Stimme lallte ein paar weitere Worte. Ein wenig Litauisch konnte sie zwar, aber nicht genug, um die betrunkenen Fragen zu verstehen, die von jenseits der Tür hereindrangen.
»Alles in Ordnung da drinnen?« Eine andere Stimme, in dem schroffen, näselnden Englisch, das in diesem fremden, kalten Land gesprochen wurde. »Hinterlass bloß keine blauen Flecken auf dem Mädchen.«
Wie viele waren es? Als sie angekommen waren, hatte Galya sich die Stimmen zu merken versucht. Zwei sprachen Litauisch. Einer davon lag jetzt neben ihr auf dem Boden. Der andere sprach Englisch mit so starkem Akzent, dass sie ihn als Iren identifizieren konnte. Einer der beiden Brüder, vermutete Galya. Die ganze Woche über hatte sie durch die verschlossene Tür ihre Gespräche belauscht und herausbekommen, dass der eine Mark hieß und der andere Sam. Heute Abend war nur einer der beiden da.
»Tomas?« Eine Faust hämmerte gegen das Holz. »Jetzt hör schon auf mit dem Scheiß da drinnen. Wenn du nicht sofort kommst und aufmachst, trete ich die Tür ein.«
Galya kniete sich hin und drückte sich hoch. Ein kalter Luftzug fächelte über ihren nassen Bauch und die Oberschenkel. Das einfache graue Sweatshirt und die Jogginghose, die sie ihr gegeben hatten, lagen auf der Frisierkommode. Sie griff danach und wechselte beim Überstreifen die Scherbe von einer Hand in die andere. Sie spürte, wie das Blut auf dem Stoff klebte. Es mochte vielleicht Unsinn sein, aber angezogen fühlte sie sich irgendwie sicherer.
Bei jedem Schlag vibrierte die Tür. Dahinter fluchte der zweite Litauer.
»Verdammt noch mal«, rief der Ire.
Galya blinzelte, als die Tür im Rahmen erzitterte und ihr Wumm! im Schlafzimmer widerhallte. Sie verkroch sich in der hintersten Ecke und hielt das gläserne Messer ausgestreckt. Noch ein Wumm!, das die Glühbirne über ihrem Kopf schwanken ließ. Galya drückte sich noch tiefer in den Winkel. Die Scherbe vor ihren Augen zitterte.
Sie betete zu ihrer Großmutter, der Frau, die sie und ihren Bruder stets beschützt hatte, seit sie beide Waisen geworden waren. Solange Galya sich erinnern konnte, war die alte Frau immer ihre Mama gewesen. Jetzt lag Mama Hunderte Kilometer weit weg unter der Erde und konnte ihnen keinen Schutz mehr bieten. Obwohl sie an solche Sachen eigentlich nicht glaubte, rief Galya jetzt Mamas dahingeschiedene Seele an. Sie flehte, Mama möge auf ihre Enkelin herabschauen und sich erbarmen. O bitte, Mama, bitte komm und hol mich hier weg, o bi…
Die Tür flog auf, schlug gegen die Wand und prallte wieder zurück. Der Litauer bremste sie beim Eintreten mit der Schulter ab. Der Ire folgte. Als sie den Toten sahen, blieben sie wie angewurzelt stehen.
Der Litauer bekreuzigte sich.
Der Ire sagte: »Ach du Scheiße.«
Galya drückte sich noch weiter in die Ecke und machte sich so klein wie möglich, als würde niemand sie sehen, solange sie dort hockte.
Der Litauer fluchte kopfschüttelnd, seine Augen wurden feucht. Mit seiner großen Pranke wischte er sich über den Mund.
»Mein Gott, Darius, ist er tot?«, fragte der Ire.
»Sieht aus ja«, sagte Darius.
»Was machen wir jetzt?«
Darius schüttelte den Kopf. »Weiß nicht.«
»Scheiße«, sagte Sam. Das musste Sam sein, Galya war sich sicher.
»Wir alle tot«, sagte Darius.
»Was?«
»Arturas«, sagte der Litauer. »Er töten uns beide. Deinen Bruder auch.«
Sam begehrte auf. »Aber wir haben doch gar nichts …«
»Egal. Wir alle tot.« Er deutete mit seinem wulstigen Finger in die Ecke. »Wegen ihr.«
Sam drehte sich um und sah Galya an. Sie hob ihre gläserne Klinge und durchschnitt damit vor sich die Luft.
»Warum du das tun?«, fragte Darius, das Gesicht eingesunken vor lauter Verzweiflung.
Sie fauchte, und die Scherbe sauste vor seinen Augen vorbei.
»Spar dir die Worte«, sagte Sam. »Die spricht kein Englisch.«
Galya verstand jedes Wort. Angesichts der Verstellung musste sie beinahe ein Kichern unterdrücken. Sie spürte ihren Geist flattern wie eine Fahne im Wind, die sich jeden Moment losreißen konnte. Einen Moment lang war sie versucht, einfach loszulassen und sich vom Wahnsinn davontragen zu lassen, aber so leicht aufzugeben, dazu hatte Mama sie nicht erzogen. Galya fletschte die Zähne und drohte erneut mit der Scherbe.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Sam.
»Ihm loswerden«, erklärte der Litauer.
Sam riss die Augen auf. »Wie, ihn einfach irgendwo abladen?«
»Wir sagen Arturas, dein Bruder kommen her, nehmen sie mit und kommen nicht zurück. Wenn Arturas fragen, wohin, wir sagen, wissen nichts.«
»Glaubt der uns das denn?«
Der Litauer zuckte die Achseln. »Wir sagen Wahrheit, wir tot. Arturas nicht glauben, wir auch tot. Wo ist Unterschied?«
Sam nickte in Richtung Zimmerecke. »Und was ist mit der da?«
»Was du denken?«, fragte der Litauer.
Sam blinzelte verwirrt und starrte Darius an. »Los.«
Der Litauer trat beiseite. »Nimm ihr weg Stiklas.«
»Was soll ich ihr wegnehmen?«, fragte Sam.
»Stiklas, Stiklas.«. Der Litauer suchte nach dem richtigen Wort. »Glas. Nimm ihr weg.«
Sam näherte sich mit erhobenen Händen. »Nur ruhig Blut, Schätzchen.«
Galya stach auf ihn ein und erwischte ihn fast am Unterarm.
»Scheiße!« Sam fuhr zurück.
Darius stieß ihn wieder vor. »Nimm ihr weg.«
»Ach, leck mich. Nimm es ihr doch selbst weg.«
Fluchend rempelte der Litauer den anderen zur Seite. Galya fuchtelte mit der Scherbe vor ihm hin und her, doch er packte mit einer schnellen Bewegung ihr Handgelenk, verdrehte es unsanft, und die Scherbe fiel zu Boden. Wie eine Schlange legte sich sein dicker Arm um ihren Hals, und bei ihrem letzten Atemzug roch sie Leder und billiges Aftershave. Dann versank alles in der Finsternis.
Sie träumte von Mamas rauen Händen, von warmem Brot und einer Zeit, als sie von Belfast nur gewusst hatte, dass es eine jämmerliche Stadt war, die manchmal im Radio erwähnt wurde.
2
Schreie weckten Detective Chief Inspector Jack Lennon auf. Er fuhr auf dem Sofa hoch. Wie lange war er eingenickt? Nicht sehr lange. Im Fernsehen lief immer noch derselbe Film.
Beim nächsten Schrei war er auf den Beinen. Ungefähr eine Woche war es her, seit Ellen das letzte Mal kreischend aus dem Schlaf hochgefahren war, in dem ihre Alpträume hausten.
Seine Tochter hatte mehr Leid erfahren, als je irgendein Mensch erleben sollte. Nach wie vor wunderte Lennon sich, dass sie überhaupt noch funktionierte, dass sie die innere Kraft zum Weiterleben besaß. Vielleicht hatte sie diese starrköpfige Ader ja von ihrer Mutter geerbt, die neben ihr gestorben war. Er hatte Marie McKennas Leichnam den Flammen überlassen, als er die bewusstlose Ellen aus dem Haus in der Nähe von Drogheda getragen hatte. Ellen sprach nie darüber, was dort passiert war. Vielleicht erinnerte sie sich nicht mehr, vielleicht wollte sie auch einfach nicht sagen, was geschehen war. Wie auch immer, für Lennon machte es die Sache leichter. Er war sich nicht sicher, ob er es ertragen hätte, solche Dinge aus ihrem Mund zu hören.
Lennon war jetzt hellwach. Er ging zu ihrem Schlafzimmer, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Ellen lag unter ihrer verknäulten Bettdecke und starrte ohne Anzeichen des Erkennens zu ihm hoch. Erneut schrie sie auf.
Lennon kniete sich neben das Bett und legte ihr eine Hand auf die kleine Wange. Er hatte gelernt, das Kind nicht in die Arme zu nehmen, wenn es aufwachte, verfolgt von seinen nächtlichen Schrecken. Der Schrecken war dann zu groß.
»Ich bin es«, flüsterte er. »Daddy ist ja da. Alles in Ordnung.«
Ellen blinzelte ihn an, und ihr Gesicht entspannte sich. Er hatte fast vergessen, wie alt sie aussah, wenn sie aus ihren Albträumen erwachte, ein siebenjähriges Mädchen, in dessen Augen sich Jahrhunderte von Schmerz spiegelten.
»Du hast nur geträumt«, beruhigte Lennon sie. »Du bist in Sicherheit.«
Ihre Finger wanderten zum Hals und streichelten die Haut, als schmerze sie.
»Wovon hast du geträumt?«, fragte er.
Seine Tochter runzelte die Stirn, vergrub den Kopf im Kissen und zog die Bettdecke so hoch, dass er nur noch ihren Scheitel sehen konnte.
»Du kannst es mir ruhig erzählen«, sagte Lennon. »Vielleicht geht es dir dann besser.«
Sie lugte hinaus. »Ich war ganz kalt und nass, und dann hab ich keine Luft mehr gekriegt. Ich bin erstickt.«
»So, wie wenn man ertrinkt?«
»Mmmm. Als hätte ich was um den Hals. Dann war da so eine alte Frau. Sie wollte mit mir reden, aber ich bin weggelaufen.«
»Hat sie dir Angst gemacht?«
»Mmmm.«
»Warum bist du denn dann weggelaufen?«
»Weiß nicht«, sagte Ellen.
»Glaubst du, du kannst wieder einschlafen?«
»Weiß nicht.«
»Kannst du es versuchen?«
»Okay.«
Lennon streichelte ihr übers Haar. »Braves Mädchen«, sagte er.
Leise sah er zu, wie ihr die Augenlider zufielen und ihr Atem sich beruhigte. Beim Klingeln des Telefons wurde sie einen Moment lang unruhig. Er hielt die Luft an, bis sie wieder still dalag, atmete erst wieder, als es schien, dass das Telefon sie nicht geweckt hatte, und ging hinaus, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Bernie McKenna hier«, meldete sich die Anruferin mit schroffer Stimme.
In den vergangenen Monaten hatten sie öfter am Telefon und persönlich miteinander gesprochen, als er zählen konnte, trotzdem meldete sie sich immer noch mit dieser steifen Förmlichkeit.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Lennon. Sein einziges Interesse an ihrem Wohlbefinden war, abschätzen zu können, wie das Gespräch sich entwickeln würde. Nur selten verliefen ihre Telefonate problemlos.
»Mir geht es gut«, antwortete sie. Nach Lennons Verfassung erkundigte sie sich nicht. »Was ist mit Ellen?«, fragte sie stattdessen.
»Was soll mit ihr sein?« Kaum hatte er gesprochen, bedauerte er die Feindseligkeit, die sich in seine Stimme geschlichen hatte.
»Zu diesem Ton besteht kein Anlass«, sagte Bernie. Sie stieß die Wörter hervor, als hätte sie dabei die Lippen zusammengepresst. »Sie ist meine Großnichte. Ich habe jedes Recht, mich nach ihr zu erkundigen. Ein größeres als Sie.«
»Sechs Jahre lang wollten Sie sie doch nicht einmal kennenlernen«, erwiderte Lennon. Im nächsten Moment zuckte er zusammen.
»Sie doch auch nicht«, erklärte sie.
Lennon unterdrückte seine Wut. »Jedenfalls, es geht ihr gut. Sie ist im Bett.«
»Hat sie immer noch diese Träume?«
»Manchmal.«
Bernie schluckte hörbar. »Als ich die arme Kreatur das letzte Mal sah, sah sie aus wie ein Gespenst.«
»In manchen Nächten ist es besser als in anderen«, sagte Lennon.
»Haben Sie Dr. Moran wegen ihr angerufen?«
»Mein Hausarzt hat sie auf die Warteliste für die Kinderpsych…«
»Aber da wartet sie doch Monate. Dr. Moran kann sie sich sofort anschauen.«
Lennon konnte sich den Rest des Gesprächs jetzt schon vorstellen. Er schloss die Augen. »Ich kann mir keine Privatbehandlung leisten«, sagte er.
»Ich aber«, erwiderte Bernie. »Michael hat uns gut versorgt. Ich kann für alles aufkommen, was sie braucht.«
Lennon hatte Gerüchte über den beträchtlichen Nachlass gehört, den Michael McKennas Sippe geerbt hatte, als man ihm im letzten Jahr das Hirn weggepustet hatte. Er bezweifelte nicht, dass Bernie es sich leisten konnte, ein paar Schekel abzugeben, aber schon allein die Vorstellung machte ihn rasend.
»Ich will Michael McKennas Geld nicht«, erklärte er.
»Und was ist gegen das Geld meines Bruders einzuwenden?«
»Ich weiß, woher es stammt.«
Ein paar Sekunden lang hörte er sie schwer atmen, dann sagte sie: »So was muss ich mir von Ihresgleichen nicht bieten lassen.«
»Dann lassen Sie es eben bleiben. Hören Sie, ich habe noch zu tun, wenn Sie also …«
»Immer mit der Ruhe«, unterbrach Bernie ihn. »Ich hatte noch nicht mal Gelegenheit, die Frage zu stellen, deretwegen ich überhaupt angerufen habe.«
Er seufzte laut genug, dass sie es hören konnte. »Na schön. Was?«
»Weihnachten.«
»Das hatten wir schon besprochen. Ellen verbringt den Tag mit…«
»Aber ihre Großmutter will sie sehen. Die arme Frau ist durch die Hölle gegangen. Ellen ist alles, was sie jetzt noch von ihrer eigenen Tochter hat. Was hat es denn für einen Sinn, dass das Kind den Tag ganz allein in Ihrer Wohnung verbringen soll?«
»Sie wird nicht allein sein. Sie wird mit mir zusammen sein.«
»Sie sollte bei ihrer Familie sein«, erklärte Bernie. »Ihre Großmutter, ihre Cousinen, alle von unserer Seite werden da sein. Gönnen Sie ihr doch einen schönen Tag. Nur weil Sie unglücklich sind, müssen Sie das Kind ja nicht auch unglücklich machen.«
»Ich bringe sie zu ihrer Großmutter. Meiner Mutter. Und den Rest des Tages verbringt sie mit mir. Wir essen mit Susan, einer Nachbarin, zu Abend, mit ihr und ihrem kleinen Mädchen Lucy. Die beiden sind die besten Freundinnen. Sie wird hier glücklich sein.«
»Sie bringen sie zu Ihrer Mutter? Also, was soll das denn? Ihre Mutter ist ja nicht mal mehr genug bei Sinnen, um ihre eigenen Kinder zu erkennen, wenn sie vor ihr stehen, geschweige denn …«
»Das reicht«, unterbrach Lennon, dem sich die Kehle zuschnürte. »Ich muss los.«
»Aber was ist mit Weih…«
Er legte auf, unterdrückte das Verlangen, das Telefon gegen die Wand zu werfen, und legte es stattdessen zurück auf den Couchtisch. Wie oft würde er sich darüber noch mit Bernie McKenna streiten müssen? Seit dem Tag, als Marie gestorben war, schlich ihre Familie um ihn herum und wartete darauf, dass er einen Fehler machte, damit sie seine Tochter für sich beanspruchen konnten.
Zugegeben, in ihren ersten sechs Lebensjahren war er der Kleinen kein Vater gewesen, aber die anderen waren ihr ebenso wenig eine Familie gewesen. Maries Sippschaft hatte sie ausgegrenzt, als sie sich mit ihm eingelassen hatte, einem Cop. Und das lange bevor die Republikaner endlich ihre über Jahrzehnte hinweg gültige Haltung änderten und die Rechtmäßigkeit des Polizeidienstes an-erkannten. Bis dahin war jeder junge Katholik, der zur Polizei ging, umgehend zum Ziel von Mordanschlägen geworden, und jeder, der mit ihm Umgang pflegte, war aus ihrer Gemeinschaft verbannt worden. Genau das war Marie widerfahren, und er hatte ihr dieses Opfer damit vergolten, dass er sie verlassen hatte, als sie schwanger wurde. Die jüngsten Streitigkeiten erinnerten ihn nur wieder daran, dass sie allesamt Ellen im Stich gelassen hatten, und jedes Mal suchte er einen Grund, sich den anderen moralisch überlegen fühlen zu können. Doch es gab keinen. Sein eigener Verrat war der Allerschlimmste gewesen, und das würde Bernie McKenna ihm immer vorhalten. Nach jedem Anruf kochte er vor Wut und konnte sie nur mit schierer Willenskraft ersticken.
Noch bevor er sich wieder vollends beruhigt hatte, klingelte das Telefon erneut. Unwillig griff er danach und fluchte, ehe er auf die Sprechtaste drückte. »Herrgott noch mal, Sie wecken sie noch auf. Ich will darüber nicht mehr reden, also zum letzten Mal, Sie können…«
»Jack?«
»… sich Ihr Weihnachten in den …«
»Jack?«
Lennon hielt inne. »Wer ist da?«
»Chief Inspector Uprichard.«
Lennon setzte sich auf die Couch und legte die freie Hand über die Augen. »Nein«, sagte er.
»Ich brauche Sie hier, Jack«, verkündete Uprichard.
»Nein«, wiederholte Lennon. »Nicht noch einmal. Das hatte ich Ihnen doch schon gesagt, oder? Wir hatten uns darauf geeinigt. Über Weihnachten übernehme ich keine Nachtschicht. Ich kann nicht.«
»DI Shilliday ist krank geworden«, sagte Uprichard. »Und sonst habe ich keinen, der für ihn übernehmen kann.«
»Nein«, beharrte Lennon.
»Es wird eine ruhige Nacht. Da draußen ist nichts los. Sie können in Ihrem Büro schlafen. Ich haben eben nur keinen anderen, so ist es nun mal.«
»Nein«, wiederholte Lennon noch einmal, aber ohne rechte Überzeugung.
»Strenggenommen ist es gar keine Bitte Jack«, sagte Uprichard, dessen Stimme jetzt entschiedener wurde. »Zwingen Sie mich nicht, es Ihnen zu befehlen.«
»Scheiße«, fluchte Lennon.
»Also, das ist nun wirklich nicht nötig.«
»Ist es doch, verdammt«, erwiderte Lennon im Aufstehen. »Das ist das vierte Mal in einem Monat.«
Beinahe hätte er gesagt, dass er wusste, was dahintersteckte. Dass nämlich DCI Dan Hewitt vom Geheimdienst C3 die Fäden zog, um ihm das Leben schwerzumachen. Aber er riss sich am Riemen.
»Tut mir leid«, sagte Uprichard. »So ist es nun mal. In einer Stunde will ich Sie hier haben.«
Susan öffnete in einem enganliegenden Morgenmantel die Tür. In den zehn Minuten, seit Lennon sie angerufen hatte, hatte sie ihr Haar in Ordnung gebracht und so viel Make-up aufgelegt, wie überhaupt möglich war. Entweder das, oder sie ging immer mit Lipgloss ins Bett.
Ellen quengelte schniefend in Lennons Armen, ihre nackten Füße traten ihn strampelnd.
»Du bist ein Goldstück«, sagte er zu Susan. »Ich kann dir gar nicht genug danken.«
Susan schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, das gleichzeitig warmherzig und traurig war. »Ist schon in Ordnung. Ich war noch nicht eingeschlafen.« Lennon wusste, wenn er belogen wurde, aber trotzdem war er froh darüber. »Bevor du morgen früh aufstehst, bin ich schon wieder da.«
Susan streckte die Arme nach Ellen aus. »Komm her, Schatz, ich nehme dich.«
Ellen rieb sich wimmernd die Augen.
Susan küsste sie aufs Haar. »Du kannst bei Lucy im Bett schlafen, in Ordnung?«
Ellen vergrub ihren Kopf unter Susans Kinn. Schon viele Male war sie im Schlaf hierher verfrachtet worden.
Lennon berührte Susans Unterarm. »Danke«, sagte er.
Sie lächelte noch einmal. »Wenn du wieder da bist, komm doch einfach zum Frühstück vorbei.«
»Die Nachbarn könnten reden«, sagte Lennon.
»Dann lass sie doch.«
3
Die in Plastik gewickelte Leiche rollte gegen Galya, als der Wagen ruckartig zum Stehen kam. Vom Blutgeruch musste sie in den Lappen würgen, den man ihr in den Mund gestopft hatte. Mit den Schultern drückte sie sich an der Rückwand des Kofferraums ab und schob mit den Knien die Leiche weg. Sie hatten ihr mit irgendeinem dünnen Elektrodraht die Handgelenke gefesselt, aber schon jetzt lockerte er sich auf ihrer vom Blut glitschigen Haut. Sie hätte ihn leicht abstreifen können, beschloss aber, ihn vorerst dran zu lassen, bis sie ihre Hände auch wirklich gebrauchen konnte.
Sie merkte, wie der Wagen schaukelte, als die Männer ausstiegen, dann hörte sie die Türen zuschlagen. In den letzten Minuten war die Fahrt langsam gewesen, mit scharfen Kurven und plötzlichen Stopps, bis der Wagen dann mit einem letzten schlingernden Ruck auf holprigem Untergrund zum Stehen gekommen war. Angestrengt versuchte Galya, Laute zu erhaschen. Von irgendwoher drang Verkehrslärm, aber noch näher war das sanfte Plätschern von Wasser.
In dem Moment, als sie mit vom Motorenlärm dröhnenden Kopf in der Düsternis aufgewacht war, war ihr klar gewesen, dass man sie umbringen wollte. Ohne Zweifel. Das Geräusch des gurgelnden Wassers war nur eine Bestätigung. Darin würden sie den Toten versenken und sie hinterherwerfen. Vielleicht würden die Männer sie vorher töten, vielleicht würde man sie auch einfach ersäufen. Auf jeden Fall würde sie bald im Wasser liegen.
Von draußen waren jetzt Stimmen zu hören, die des Iren schrill und panisch, die des Litauers tief und wütend. Beim Näherkommen warfen sie sich gegenseitig Vorwürfe und Flüche an den Kopf. Ein Schlüssel kratzte auf Metall, das Schloss drehte sich, und kalte Luft strömte herein.
Zwischen Darius und Sam bildete sich eine Nebelwolke, als ihr Atem sich vermischte. Der Litauer packte die Leiche seines Landsmanns, zerrte sie ächzend aus dem Wagen und ließ sie mit einem nassen Klatschen auf die Erde fallen.
Galya wehrte sich nicht, als Sam sie packte. Als er sie auf die Füße stellte, schien die eiskalte Erde ihr in die Sohlen zu beißen. Die Heftigkeit der Schauer, die sie durchfuhren, schüttelte sie, und er umklammerte ihre Arme noch fester.
Der Wagen, ein alter BMW, stand nur ein paar Schritte von einer Wasserfläche entfernt, abgestellt auf einem Streifen Brachland, der von der leeren Straße durch einen niedrigen Bordstein abgetrennt wurde. Ringsum standen regungslos und still Lagerhäuser und Kräne in der kalten Nacht. Träge Wellen plätscherten gegen den Uferdamm. Auf der anderen Kanalseite sah man weitere Lagerhäuser und dahinter die Lichter der Stadt. Galya versuchte, den Kopf zu wenden, um mehr von ihrer Umgebung zu erkennen, aber Sam verdrehte ihr den Arm.
»Lass das«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr.
Darius bückte sich und packte die Fußgelenke seines toten Freundes. Er zog, kam aber nicht einmal einen Meter weit, weil sich die Folie im Geröll verfing. Fluchend ließ er die Beine wieder los.
»Helfen«, sagte er.
»Was?«, fragte Sam.
»Helfen«, wiederholte der Litauer. »Tomas werfen in Wasser. «
»Ich halte schon die hier fest«, sagte Sam und packte Galyas Arm noch fester.
»Wo soll hin?«, fragte Darius, breitete die Arme aus und deutete auf das weite Areal mit nichts als Wasser und flachen Gebäuden. Dann zeigte er auf die Leiche am Boden. »Du helfen.«
Eine feuchte Hitze blieb auf Galyas Arm zurück, als Sam sie losließ. Er schob sie rückwärts gegen den Wagen.
»Du rührst dich nicht«, befahl er.
Dann ging er hinüber zur Leiche, hockte sich hin und packte sie bei den Schultern.
Darius rief: » Vienas, du, trys, hup!«
Keuchend hievten die Männer die Leiche ein paar Zentimeter vom Boden hoch. Schnaufend und grunzend schlurften sie zum Wasserrand. Eine blutbefleckte Hand rutschte aus der Folie und strich mit den Fingerspitzen über das lockere Geröll.
»O Gott«, entfuhr es Sam.
Plötzlich wummerte wie aus dem Nichts ein verzerrter Disco Beat los. Entsetzt schrie Sam auf und ließ die Schultern des Toten los.
Galya machte einen Schritt vom Wagen weg.
Darius legte die Füße ab und richtete sich auf. Irgendetwas an der Leiche vibrierte. Er bückte sich wieder und riss ein Loch in die glänzende Folie. Drinnen tastete seine Hand einen Moment lang herum, dann kam sie wieder zum Vorschein, ein Handy zwischen den wulstigen Fingern. Fassungslos schaute er aufs Display, dessen Licht ihn noch blasser aussehen ließ, als er ohnehin war. Er warf Sam einen Blick zu.
»Ist Arturas«, sagte er.
Sam schluckte so heftig, dass Galya es in seiner Kehle glucksen hörte.
»Gehst du dran?«, fragte er.
Darius starrte ihn finster an. »Du dummer Mann. Ich drangehen und sagen, Bruder nicht können? Sagen, er gehen in Wasser, ja?« Sam fuhr zurück, als hätte die Beleidigung ihn mitten auf die Brust getroffen. »Woher soll ich denn das wissen, verdammt? Er ist dein Boss, nicht meiner.«
»Arturas Boss von jedem«, sagte der Litauer.
Sam machte einen Schritt vor. »Er ist dein Boss, nicht meiner.«
Darius hielt ihm das Telefon hin, aus dem immer noch die blecherne Musik schepperte. Sein feistes Gesicht schwoll vor Wut noch mehr an. »Okay, du sagen, er nicht dein Boss, du ihm sagen jetzt.«
»Leck mich«, sagte Sam.
Galya verdrehte ihre Handgelenke und spürte, wie der Elektrodraht beim Herunterfallen hinten ihre Beine streifte.
Darius trat über die Leiche hinweg und stand Sam jetzt direkt gegenüber.
»Du glauben, du starker Mann?«, fragte er, immer noch das aufleuchtende und dudelnde Telefon in der Hand.
Zwei Meter trennten Galya jetzt schon vom Wagen. Mit den Zehenspitzen schob sie den Draht weg, behielt die Hände aber auf dem Rücken. Sie drückte mit der Zunge gegen den Lappen in ihrem Mund, schob ihn heraus und ließ ihn zu Boden fallen. Sie beruhigte ihre Atmung.
Sam trat auf die andere Seite der Leiche. »Hör mal, das ist jetzt nicht der Moment, dass wir uns in die Haare kriegen, oder? Wir müssen die Sache hier regeln, bevor jemand vorbeikommt und uns fragt, was wir hier mitten in der Nacht treiben.«
Darius ließ sich nicht beruhigen. »Du besser aufpassen dein Maul, sonst du auch in Wasser.«
Sam hob die Hände.
Darius schlug sie weg.
Galya rannte los.