Prolog
Ich beobachte sie durch mein Fenster. Der große weiße Van in der Einfahrt verdeckt sie beinahe. Doch ich kann gerade so sehen, wie die Frau ein paar Umzugshelfer einweist, die gerade Möbel ins Haus schleppen. Sie lächelt. Ihr Mann begibt sich zu ihr und legt einen Arm um sie. Einen Moment lang umarmen sie sich. Auch er hat ein breites Grinsen im Gesicht. Tja, es war wohl klar, dass sie glücklich sind. Sie ziehen in ein schönes, neues Haus in einem grünen Viertel, nur einen Katzensprung vom Fluss entfernt. Ihr kleines Mädchen rennt zu ihnen und umklammert mit einem Arm das Bein der Frau. Mit dem anderen zieht sie einen regenbogenfarbenen Mini-Koffer hinter sich her. Einen Moment lang stehen die drei da und geben ein perfektes Bild ab, bevor sich die Frau zurückzieht und die Umzugshelfer ins Haus winkt. Beim Anblick der kleinen Familieneinheit fühle ich mich einsamer denn je, meine Nase gegen eine Glastür gepresst, die sich nicht öffnen lässt. Sie dachten, sie würden in ihrem neuen Haus ein idyllisches Leben führen und ihre Tochter glücklich und zufrieden aufwachsen sehen. Ich werfe einen letzten Blick auf sie, bevor ich mich zwinge, den Blick abzuwenden. Das hätte ich sein sollen.
Kapitel 1
„Also, das hier … das ist das Sahnehäubchen!“ Tom, der Immobilienmakler, präsentiert den Raum mit einer ausschweifenden Geste.
Ich atme scharf ein und nehme Mikes Hand. Von einer Küche wie dieser habe ich geträumt. Schieferfliesen, eine große Kücheninsel, ein Aga und Oberlichter. Glänzende Arbeitsplatten aus Marmor. Platz für einen großen Tisch, ein Ecksofa und einen Sessel. Haken. Haken. Haken. Das stand alles auf meiner Wunschliste.
„Fantastisch, oder? Und täuschend groß“, fährt Tom gekonnt fort und zieht an seiner Krawatte. „Die Eigentümer – nicht die jetzigen, sondern die vorherigen – haben die Küche ausgebaut. Sie haben den Raum komplett umgestaltet.“
Er geht zu einer Tür in der Ecke und stößt sie auf. „Aber angrenzend an diese fantastische moderne Küche besteht noch immer die ursprüngliche Speisekammer aus den Dreißigern.“
Ich werfe einen Blick hinein und könnte beim Anblick der zum Bersten mit Lebensmitteln gefüllten Regale vor Freude schreien. Selbst für Gemüse- und Weinregale ist Platz.
Sicherlich entgehen Tom weder meine großen Augen noch meine Begeisterung, obwohl ich mich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühe. Gedanklich überlege ich mir allerdings bereits, wie hoch wir unser Gebot ansetzen. Könnten wir es uns leisten, den gesetzten Preis zu überbieten?
Mike selbst wirkt auch beeindruckt, obwohl er es besser verbergen kann als ich. Er drückt meine Hand.
„Gut, lassen Sie uns noch einen Blick in den Hauswirtschaftsraum werfen, bevor wir nach oben gehen.“ Tom präsentiert das Haus so professionell, wie man es von einem Makler erwarten würde.
Ein Hauswirtschaftsraum! So ein Zimmer wollte ich schon immer haben. Und das hier ist groß mit ausreichend Platz, um Wäsche aufzuhängen.
Wir gehen nach oben. Ich strahle Mike an. Er schüttelt unmerklich den Kopf. Lass dir nicht in die Karten schauen, denkt er sich wohl. Damit hat er natürlich recht, aber ich bin verliebt.
Oben führt uns Tom in ein helles Zimmer mit großen Fenstern, zartrosa Wänden und einem Einbauschrank. Es ist perfekt für unsere zweieinhalbjährige Tochter Poppy. Es ist bereits ein Kinderzimmer, mit ordentlich in Kisten gestapeltem Spielzeug und Bettwäsche mit Frozen-Motiv.
Das große Schlafzimmer hat ein riesiges Erkerfenster, vor dem ein sichtlich bequemer Sessel thront. Ich möchte darin versinken und durch das Fenster die Bäume betrachten. Selbst auf den Fluss kann man einen Blick erhaschen. Ich sehe mich im Schlafzimmer und dem großen angrenzenden Bad um. Weitere Punkte abgehakt.
Tom zeigt uns zwei weitere geräumige Schlafzimmer. Ich lächle, als Mike den offenen Kamin mit einem anerkennenden Nicken kommentiert. Der Raum würde ein großartiges Arbeits- oder Gästezimmer abgeben.
„Hat das Haus denn viele Interessenten?“, platzt es aus mir heraus, als wir die Treppe wieder hinabgehen.
„In der Tat“, erwidert Tom. „Es ist ein großes Familienhaus zu gutem Preis. Wenn Sie interessiert sind, würde ich an Ihrer Stelle schnell handeln.“
Mein Herz schlägt schneller und ich beiße mir auf die Zunge, damit ich ihm nicht sofort ein Gebot nenne.
Die Haustür geht auf. Eine große, schlanke Frau mit glänzendem kastanienbraunem Haar erscheint am Gang.
„Tut mir leid“, sagt sie direkt. „Ich musste noch mal nach Hause, um die Schwimmsachen meines Sohnes zu holen, bevor ich ihn zum Schulschwimmen bringe. Vor lauter Eile habe ich das heute Morgen vergessen!“
Aufgewühlt geht sie an uns vorbei und die Treppe hinauf.
„Ach, kein Problem, Helen“, erwidert Tom entspannt. „Wir sind gerade am Ende der Besichtigung angekommen.“
„Eigentlich freut es mich, Sie anzutreffen“, mischt Mike sich ein. „Ich habe schnell ein paar Fragen. Eigentlich wollte ich Tom damit behelligen, aber jetzt, wo Sie hier sind …“
Helen versteift sich plötzlich, aber ihr Tonfall bleibt entspannt. „Klar.“
„Wie lange wohnen Sie schon hier?“
„Seit einem Jahr“, antwortet sie. Noch bevor mich beunruhigen kann, wie schnell die Familie wieder auszieht, spricht sie eilig weiter: „Wir lieben es hier – in diesem Haus, in Twickenham –, aber mein Mann hat ein Angebot auf seine Traumstelle in einer anderen Stadt bekommen, also …“ Sie verstummt.
„Wohin geht's?“, fragt Mike.
Sei doch nicht so neugierig. Es ist mir peinlich und ich werfe Mike einen Blick zu. Doch Helen wirkt unbeirrt. „In die Midlands. Nach Birmingham“, erwidert sie locker. „Wir haben dort sowieso Verwandtschaft, also passt das alles sehr gut.“
„Und wie sind die Nachbarn so? Haben Sie ein gutes Verhältnis?“, hakt Mike beharrlich nach.
Ich weiß, dass er nur vernünftig ist und alles gründlich klären will, aber ich verziehe das Gesicht. Mir ist egal, wie die Nachbarn drauf sind. Ich will einfach nur dieses Haus.
„Komplett problemlos“, erklärt Helen mit einem kurzen Blick auf ihre Uhr. „Auf einer Seite lebt Mabel Jackson, sie ist alleinstehend – genauer gesagt ist sie leider seit kurzem verwitwet. Sie ist Ende siebzig. Sehr nett. Und in dem Haus, das an unseres anschließt, wohnen Josie und …“ Sie überlegt es sich anders. „Nein, nur Josie. Sie ist freundlich und hilfsbereit. Sie wohnt bereits eine Weile hier und Mabel schon ewig.“
Helen beginnt, die Treppe hinaufzugehen. „Also, hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, aber ich bin schon etwas spät dran. Ich muss die Sachen von meinem Sohn holen.“ Sie schenkt uns ein Lächeln, bevor sie im Kinderzimmer ihres Sohnes verschwindet.
„Wir melden uns“, erkläre ich Tom, als wir das Haus verlassen.
Er schüttelt mir enthusiastisch die Hand. „Klasse. Wie gesagt ist das Interesse groß und morgen stehen eine ganze Reihe an Besichtigungen an.“
Ich umklammere meine Tasche. Bitte lass uns den anderen zuvorkommen. Ich starre das Haus an: Dreißiger Jahre. Doppelhaushälfte. Das Haus liegt ein Stück abseits der Straße, mit einer breiten Einfahrt und einem schönen Vogelbeerbaum an der Vorderseite.
Okay, es ist nur eine Doppelhaushälfte. Aber es ist immer noch ein großes Upgrade gegenüber unserer beengten Maisonette-Wohnung in Tooting, South London.
Ich werfe einen Blick Richtung Hausnummer drei, der anderen Haushälfte, und sehe ein blasses Gesicht zwischen den Rollläden hindurchlugen. Die Person hat sehr blondes Haar, das beinahe weiß aussieht. Als ich gerade zögerlich die Hand zum Gruß hebe, verschwindet das Gesicht.
Mike hakt sich bei mir unter, während wir zum Auto gehen.
„Meine Güte! Ich weiß, ich sollte mich nicht zu sehr freuen, aber ich liebe das Haus“, schwärme ich. „O bitte, wir müssen es haben. Es ist einfach himmlisch!“
Mike lacht. „Ich wusste, dass du so reagieren würdest“, erwidert er und schnallt sich an. „Mir gefällt es auch, sehr gut sogar. Es wundert mich nur ein wenig, dass sie so bald schon ausziehen. Ein Jahr ist eigentlich echt nichts.“
„Ach Mike!“ Ich bin frustriert. „Das hat Helen doch erklärt. Hör auf, nach Problemen zu suchen.“
„Ich gehe das nur vernünftig an.“ Mike fährt aus der Einfahrt und wir blicken beide zurück auf das Haus.
„Ich weiß“, räume ich seufzend ein. Mike ist vorsichtiger als ich, aber ich will nicht, dass uns und diesem Haus irgendetwas im Weg steht.
„Was, wenn uns jemand zuvorkommt?“, frage ich besorgt.
„Mich überrascht, dass das Haus so preiswert ist“, fährt Mike fort, als hätte ich nichts gesagt. Er tippt das Lenkrad an. „Schließlich ist das die perfekte Twickenham-Gegend.“
„Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul,“ erwidere ich schroff. „Sie müssen wegen seiner Arbeit schnell umziehen. Schon vergessen?“
„Okay, okay! Hey, mir gefällt das Haus auch sehr. Wir geben ein Gebot ab. Aber nicht in Höhe vom gesetzten Preis, zumindest noch nicht.“
Ich ringe mit den Händen. „Aber vielleicht bekommen wir es dann nicht. Du hast doch selbst gesehen, wie preiswert es ist.“
„Lass dich von dem Makler nicht aus der Ruhe bringen. Er wird uns bis zu unserem besten Angebot drängen. Lass uns das zu Hause besprechen.“
Die Ampel schaltet auf Rot und Mike bremst langsam ab, bis wir stehen. „Glaubst du, dass es irgendwelche Probleme mit den Nachbarinnen gibt? Helen ist ein wenig ins Stocken geraten, als sie über die zweite Nachbarin gesprochen hat … Josie hieß sie, glaube ich?“
Ich verdrehe die Augen. „Du zerdenkst das alles zu sehr. Sie hat nett über Josie und die andere Nachbarin, Mabel, gesprochen. Außerdem muss man Nachbarschaftsstreit melden, wenn man sein Haus verkauft.“
Selbstzufrieden lehne ich mich zurück. Doch einen Gedanken werde ich nicht los. „Ich glaube, ich habe Josie am Fenster gesehen“, murmle ich. „Nur kurz, dann war sie wieder weg.“
Ich halte inne.
„Du meinst nicht, dass sie uns beobachtet hat, oder?“
Kapitel 2
„Hallo“, grüßt Mabel mich kühl und forsch.
Ich hatte eine ältere Frau erwartet, gebrechlich und verletzlich. Mabel ist jedoch alles andere als das. Sie ist groß und glamourös mit einer kerzengeraden Haltung. Ein rasiermesserscharf geschnittener silberner Bob umrahmt ihre großen, braunen Augen und ihre markanten Wangenknochen. Sie trägt Skinny Jeans und einen engen Rollkragenpullover und ist perfekt geschminkt: scharlachroter Lippenstift, smaragdgrüner Lidschatten und zartrosa Rouge.
Ich räuspere mich. „Tut mir leid für die Störung, aber mein Mann und ich haben auf das Haus nebenan geboten. Ich wollte einfach mal an ein paar Türen klopfen und mich umhören, wie es so ist, hier zu leben.“
Wir haben gestern ein Gebot abgegeben. Ich wollte unbedingt den Verkaufspreis bieten, aber Mike bestand darauf, dass wir ihn um fünf Prozent unterbieten, damit uns noch Verhandlungsspielraum bleibt. Typisch Mike, so vernünftig und pragmatisch. Normalerweise liebe ich das an ihm, aber gerade könnte ich ihn packen und schütteln.
Eigentlich hatte ich in unserer engen Maisonette-Wohnung in Tooting arbeiten sollen, doch mir ging das Haus nicht aus dem Kopf, also schlich ich mich für ein paar Stunden nach draußen, um mich noch mal vor Ort umzusehen. Layla, eine Freundin aus Studienzeiten, wohnt in der Nähe von Richmond und hat heute zufälligerweise frei. Auf ihren Vorschlag hin beschlossen wir, bei ein, zwei Häusern anzuklopfen, um mehr über die Gegend zu erfahren.
Zuerst versuchten wir es bei Josie und als dort niemand zu Hause war, gingen wir zu dem Haus gegenüber. Dieses Mal ging die Tür sofort auf.
Mabel lächelt und ihre strenge, misstrauische Miene scheint ein wenig verblasst zu sein. „Ich lebe seit dreißig Jahren hier“, erklärt sie bestimmt. „Meine Tochter ist hier aufgewachsen und ich liebe es hier. Die Atmosphäre ist schön familiär. Haben Sie Kinder?“
„Ja, meine Tochter ist zwei – zweieinhalb eigentlich.“ Trotz meiner anfänglichen Nervosität bin ich jetzt froh, dass ich mich getraut habe.
„Ihr wird es hier gefallen.“ Mabels abweisende Ausstrahlung ist mittlerweile größtenteils verschwunden. „Die Gegend bietet Kindern so viel Beschäftigung. Es gibt schöne Parks, den Fluss. Und Kew Gardens und Richmond sind auch gleich um die Ecke.“
„Wie schön“, antworte ich. „Mir gefällt die Atmosphäre hier.“ Ich spüre erneut Aufregung in mir aufkommen, bis ich mich an Mikes Bedenken erinnere, dass die jetzigen Eigentümer erstaunlich schnell wieder ausziehen. Zögerlich überlege ich mir, wie ich das am besten anspreche.
„Irgendwie ist es ein wenig überraschend, dass Helen und ihre Familie so schnell wieder umziehen“, erkläre ich hastig.
Mabels Lächeln verblasst. „Finden Sie?“, erwidert sie bedacht.
„Na ja, sie leben hier schließlich erst seit einem Jahr“, fahre ich fort. „Helen meint, dass sie wegen des Jobs ihres Mannes umziehen müssen.“
„Ah, ja, das stimmt.“ Mabel zuckt mit den Schultern. „Tja, das ist schade, aber was kann man da machen? Sie sind eine nette Familie, so viel steht fest.“
„Es muss traurig für sie sein, ein so schönes Zuhause zurückzulassen.“ Ich würde am liebsten das Gesicht darüber verziehen, wie unbeholfen ich dieses Gespräch führe. Ich will eine Antwort, aber Mabel scheint das Thema abgeschlossen zu haben.
Sie macht einen Schritt zurück in ihr Haus. „Das kann ich nicht beurteilen“, erwidert sie entschieden. Layla wechselt kurz einen Blick mit mir.
„Wie ist die Frau in der anderen Doppelhaushälfte so?“, fragt sie. Ich bin froh, dass meine Freundin den Mut hat, die Frage zu stellen, denn ich hätte jetzt für heute aufgegeben.
„Sie meinen Josie?“ Mabel versteift sich. „Ich kenne sie ehrlich gesagt nicht so gut. Sie lebt aber bereits eine Weile hier, schon seit über einem Jahrzehnt.“
Layla drängt Mabel weiter. „Lebt sie alleine?“
Mabel zieht die Augenbrauen zusammen. „Sie ist – oder war – verheiratet, aber ich glaube, es gab Probleme. Hören Sie, es steht mir nicht zu, darüber zu reden. Ich muss jetzt dann gehen. Ich treffe mich mit einer Freundin auf einen Kaffee. Viel Glück mit dem Haus.“
Mabel beginnt, die Tür zu schließen. „Es war schön, Sie kennenzulernen.“ Die Leichtigkeit ihres Tonfalls steht im Widerspruch zu ihrem offensichtlichen Unbehagen.
„Vielen Dank“, antworte ich schnell. „Tut mir leid für die Störung. Ich bin Ihnen sehr dankbar.“
Layla stupst mich an, während wir die Einfahrt hinunter zurückgehen.
„Pscht“, murmle ich. „Sag noch nichts. Sie könnte uns hören.“ Wir wenden uns vom Haus ab.
„Ihre Reaktion war ein wenig seltsam – was beide Nachbarinnen angeht“, kommentiert Layla. „Was meinst du?“
Ich denke über die Frage nach. „Ich wünschte fast, ich hätte doch nicht geklopft.“
Ich versinke in Gedanken und wir schweigen eine Weile. „Jetzt macht es mir auch Sorgen, dass Helen wegzieht“, vertraue ich ihr an. „Mabel hat die Frage danach gar nicht gefallen, oder? Ich frage mich, ob Helen wirklich wegen des Jobs ihres Mannes wegzieht. Vielleicht ist sie unzufrieden mit dem Haus oder der Gegend.“
„Sie ist deinen Fragen ein wenig ausgewichen, ja“, pflichtet Layla mir bei. „Aber vielleicht ist es ihr unangenehm, über ihre Nachbarn zu reden, vor allem mit völlig Fremden.“
„Da hast du recht“, räume ich ein und nicke energisch. „Ich hätte nicht fragen sollen. Ich denke einfach nicht mehr darüber nach.“
Mike muss ich nicht von meinem Gespräch mit Mabel erzählen. Er würde sich bloß Sorgen machen und anfangen, die Beweggründe für ihr Verhalten durchzuanalysieren. Ich will dieses Haus und ich lasse mich nicht davon aufhalten, dass eine Nachbarin etwas verschlossen ist.
„Um die andere, Josie, mache ich mir weniger Gedanken“, überlege ich laut. „Es klingt, als hätte sie einfach Eheprobleme. Das ist natürlich sehr traurig für sie, aber nichts, was uns davon abhalten sollte, dieses Haus zu kaufen.“ Im Vorbeigehen starre ich das Haus an. Ich will es immer noch unbedingt.
„Es ist sehr schön“, pflichtet Layla mir bei, als könne sie meine Gedanken lesen. „Lass dich von der Frau nicht abschrecken.“
Sie hält plötzlich inne und sieht sich um. „Ich bin mir sicher, dass ich diese Straße und das Haus kenne, aber ich kann nicht sagen, woher. Das geht mir schon durch den Kopf, seit wir angekommen sind.“
„Vielleicht warst du schon mal in der Straße“, schlage ich vor. „Gar nicht so unwahrscheinlich, oder? Du wohnst doch in der Nähe.“
„Vielleicht.“ Doch Layla wirkt nicht überzeugt.
Wir gehen an Josies Haus vorbei. Die Tür steht offen und eine Frau steht vor dem Eingang. Ich erkenne das blasse Gesicht, das ich gestern bereits gesehen habe. Ihr Haar ist beinahe weiß und sie trägt ein langes, ausfallendes blaues Kleid. Ich bleibe stehen, gehe dann einen Schritt auf die Einfahrt zu und überlege, ob ich mich vorstellen soll.
Als ich erneut hinsehe, ist die Tür zu. Überrascht trete ich zurück.
„Layla!“, rufe ich, „Josie stand gerade an der Tür, aber jetzt ist sie weg. Hast du sie gesehen?“
„Nein“, erwidert Layla. „Ich dachte, sie wäre unterwegs. Sie muss wohl zurückgekommen sein. Sollen wir klopfen?“
Ich bin mir nicht unbedingt sicher, dass wir bei ihr willkommen wären. Die Tür ist ziemlich schnell zugefallen.
„Nein, lassen wir das. Ich weiß nicht einmal, ob wir das Haus überhaupt bekommen.“
Ich nehme mein Handy aus der Tasche. Vielleicht habe ich ja ein Update vom Makler verpasst? Doch mich erwartet ein leerer Bildschirm und ich seufze.
Kapitel 3
„Ich will aber nicht ins Bett.“ Poppy runzelt die Stirn und wirft wütend einen Teddy in die Ecke ihres Kinderzimmers. Ich seufze und knie mich hin.
Zu behaupten, dass Poppy zur Schlafenszeit regelmäßig Schwierigkeit macht, wäre untertrieben. Ich habe es geschafft, meine Tochter auszuziehen, in die Badewanne zu locken, zu waschen und zu überreden, wieder aus der Wanne zu kommen und in ihren Schlafanzug zu schlüpfen. Ich bin erschöpft. Da Mike normalerweise frühestens um neunzehn Uhr von der Arbeit nach Hause kommt, fällt diese Aufgabe immer mir zu.
„Komm schon, Süße.“ Ich mühe mich um einen beruhigenden Tonfall. „Wir holen dir Milch und dann legt sich Mummy zu dir und liest dir Geschichten vor.“
„Nein!“, kreischt Poppy. Sie schleudert ihren geliebten Plüschhund gegen die Zimmertür.
Ich hasse diesen Teil der abendlichen Routine. Die Friedhofsschicht nenne ich es mittlerweile. Natürlich ist es nicht Mikes Schuld, aber ich kann mir nicht verkneifen, mich ein bisschen über ihn zu ärgern, wenn Poppy sich so aufführt. Kann er seinen Chef nicht um flexiblere Arbeitszeiten bitten?
Heute Abend fühlt es sich besonders schlimm an. Seit Mike unser erstes Gebot für das Haus abgegeben hat, sitze ich auf glühenden Kohlen. Und wir haben seitdem nichts gehört.
Unten dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Mike! Gott sei Dank. Jetzt kann er mir aber verdammt noch mal mit Poppy helfen.
„Gott sei Dank bist du da!“ Ich eile zu ihm. „Poppy führt sich auf.“
Mikes Gesichtsausdruck ist seltsam. Behutsam stellt er seinen Rucksack ab.
„Ich habe eine Rückmeldung bekommen“, erklärt er langsam. „Sie wollen den Verkaufspreis. Das Interesse ist groß, meint der Makler. Aber das muss er natürlich auch sagen.“
Poppy schreit, aber ich ignoriere sie. Ich falle Mike um den Hals und flüstere: „Oh, bitte, lass uns den Verkaufspreis bieten und das durchbringen! Ich will es unbedingt. Ich bin heute noch mal mit Layla am Haus vorbeigelaufen und mein Gott, wir wären dort so glücklich. Bitte!“
Mike zieht wieder diese grüblerische Miene. Normalerweise gefällt mir seine vernünftige Seite, aber gerade möchte ich ihn einfach nur ohrfeigen. Wenn wir dieses Haus verlieren, wird es sich anfühlen, als hätte jemand mit mir Schluss gemacht. Die Leere eines gebrochenen Herzens. Reiß dich mal zusammen. Ich schüttele mich.
Zu meiner Überraschung entspannen sich Mikes Schultern. Er atmet tief durch. „Hör zu“, setzt er an. „Ich weiß, wie viel dir das Haus bedeutet. Und ich will es auch, wirklich.“
„Ich liebe das Haus. Es ist günstig und wäre perfekt für unsere Familie.“ Erneut schweigt er einen Moment lang.
„Da hast du recht.“ Mike holt sein Handy hervor. „Ich rufe den Makler an.“
Ich falle ihm um den Hals. „Ach Mike! Ich freue mich so!“
„Ich will kuscheln.“ Poppy klammert sich an Mikes Beine. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Vor lauter Aufregung habe ich vergessen, dass Poppy immer noch nicht im Bett liegt. „Poppy will Daddy“, jammert sie.
„Ist es zu spät, um anzurufen?“, frage ich besorgt. „Es ist schon sieben.“
Mike bückt sich und nimmt Poppy auf den Arm. Sie strahlt und klammert sich an seinen Hals. „Nein“, antwortet er. „Ich habe Tom bisher immer am Handy kontaktiert und das wird er bei sich haben. Willst du anrufen? Ich bringe Poppy ins Bett.“
„Okay.“ Ich bin erleichtert, dass Mike die Friedhofsschicht übernimmt. Allerdings macht mich der Gedanke an das Gespräch mit Tom nervös.
„Er steht auf der Liste mit meinen letzten Anrufen unter ‚Tom Immobilienmakler‘.“
„Gute Nacht, Süße.“ Ich beuge mich vor, um Poppy einen Kuss zu geben, doch sie hat sich in Mikes Armen bereits abgewandt. Ein richtiges Papakind.
Ich gehe ins Wohnzimmer und schließe die Tür. Mein Herz setzt kurz aus, als ich den Anruf starte.
Vor lauter Nervosität wünsche ich mir beinahe, dass er nicht abnimmt, doch nach dem dritten Klingeln meldet er sich. „Hallo?“
„Hallo, hier ist Clara, Mikes Frau. Sie haben sonst immer mit Mike gesprochen.“ Meine Stimme zittert leicht. Ich schüttle frustriert den Kopf. Um Himmels willen, in meinem Job als Redakteurin eines Logistikmagazins interviewe ich ständig CEOs globaler Unternehmen. Ich werde es ja wohl schaffen, mit einem Immobilienmakler zu sprechen? Ich will dieses Haus einfach so sehr.
„Es geht um die Verhandlung für Hausnummer 5 in der Lunn Road.“ Ich atme tief durch. „Wir würden gerne den Verkaufspreis bieten.“
„Okay, sehr gut.“ Tom klingt sachlich. „Ich spreche mit den Eigentümern und komme so bald wie möglich auf Sie zurück.“
„Danke. Auf Wiederhören!“, verabschiede ich mich mit quietschender Stimme. Ich laufe im Wohnzimmer auf und ab. So bald wie möglich … Was zum Teufel sollte das heißen? In einer Stunde? Zwei? Morgen? Und wenn dieses Angebot abgelehnt wird, wie kann ich Mike dann davon überzeugen, den Verkaufspreis zu überbieten?
„Okay, Poppy schläft.“ Mike öffnet die Tür mit einem triumphierenden Grinsen. „Hast du den Makler angerufen?“
„Ja. Und er sagt, dass er so bald wie möglich auf uns zurückkommt.“ Ich gebe Mike sein Handy zurück. „Ich bin so aufgeregt! Das wird wahrscheinlich morgen sein, oder?“
„Warten wir's mal ab.“ Mike ist ruhig. Mir gefällt seine gelassene Art. Sie passt gut zu meiner nervösen Energie.
Ich bin schon seit zehn Jahren mit Mike zusammen. Damals war ich fünfundzwanzig und wir lernten uns bei einer Presseveranstaltung kennen. Mike ist Shipping Analyst und wir tauschten uns über Containerschiffvolumen, Handelsrouten und Frachtratenprognosen aus, bevor uns auffiel, dass wir nicht nur die maritime Welt gemeinsam hatten. Wir wohnten beide in Balham, London. Selbst unsere Familien lebten nur ein paar Kilometer voneinander entfernt in Surrey.
Unsere Beziehung nahm den üblichen Verlauf – wir dateten, mieteten gemeinsam eine Zwei-Zimmer-Wohnung in London und beschlossen dann in eine Immobilie zu investieren und etwas weiter Richtung Stadtrand nach Tooting Broadway zu ziehen.
Dann folgten Verlobung, Hochzeit und Poppy, unser blondes Mädchen mit blauen Augen, hinter dessen putzigem Aussehen sich eine starke Persönlichkeit verbirgt.
„Nach all dem können wir glaube ich beide einen Drink gebrauchen“, sagt Mike. „Ein Glas Wein?“
„Ja, bitte.“ Ich zappe durch die Programme, bis ich beschließe, mich mit den Nachrichten abzulenken.
Plötzlich höre ich Mikes Handy klingeln und springe auf – könnte es Tom sein? Dafür ist es doch sicher noch zu früh. Ich versuche zu lauschen.
Plötzlich steht Mike wieder im Raum. Er grinst von einem Ohr zum anderen. „Angebot angenommen.“
Ich falle ihm um den Hals und wir liegen einander lachend und grinsend in den Armen.
„Das schreit nach Champagner“, verkündet Mike.
Kapitel 4
Ich beobachte, wie die Männer in unserem neuen Haus unsere Möbel ausladen.
„Wir sind Hausbesitzer!“, hauche ich Mike zu. „Ich glaub es kaum.“
Stolz zieht Poppy ihren Mini-Koffer hinter sich her und umklammert uns dann an den Beinen.
„Kuscheln!“, ruft sie. Mikes legt den Arm um mich und wir umarmen einander zu dritt.
Ich kann nicht glauben, dass das jetzt unser Zuhause ist. Ich starre das Haus an, schnuppere freudig am Geißblatt vor der Tür und genieße den Anblick des Sonnenlichts, das durch die riesigen Äste des Vogelbeerbaums fällt.
„Lass uns reingehen“, schlage ich vor. „Ich kann es kaum erwarten, alles wieder zu sehen.“
„Ich hole noch ein paar unserer Koffer aus dem Auto“, antwortet Mike. „Bring du Poppy ins Haus und zeig ihr ihr neues Kinderzimmer.“
„Mein Zimmer!“, schreit Poppy aufgeregt und ihre pummeligen Beinchen werden immer schneller, während sie ihren Koffer hinter sich her zum Haus zerrt.
„Der wichtigste Raum“, murmle ich mit einem Lächeln.
Obwohl Poppy erst zweieinhalb ist, bin ich ein bisschen besorgt darüber, wie sich der Umzug auf sie auswirken könnte. Sie lebt von Geburt an in unserer Wohnung in Tooting und liebt ihr Kinderzimmer.
Um ihr die Umstellung zu erleichtern, haben wir eine große Sache aus ihrem schönen neuen Zimmer gemacht, das ganz in Rosa eingerichtet sein wird – Poppys Lieblingsfarbe.
Während wir die Treppe hochlaufen, rufe ich mir in Erinnerung, dass Poppys Zimmer auf der rechten Seite ist. Ich schwinge die Tür auf.
Ohne die ganzen Möbel darin sieht der Raum ein wenig kalt und verloren aus, aber das war zu erwarten. Ich weiß noch, wie trostlos unsere Wohnung bei unserem Einzug aussah, und wie wir sie im Handumdrehen zu unserem Zuhause gemacht haben.
Als Poppy die rosa gestrichenen Wände sieht, gibt sie einen Freudenschrei von sich, doch dann zeigt sie auf etwas. „Mummy, was ist das?“
Ich folge ihrem Finger und schnappe nach Luft. Neben dem Kleiderschrank ist die Wand mit blauem Filzstift vollgekritzelt worden. Die Fläche ist groß und ich bin mir sicher, dass das noch nicht da war, als wir das Haus besichtigt haben. Dann erinnere ich mich schlagartig wieder: An dieser Stelle stand ein Bücherregal, das die Kritzelei wohl abgedeckt hat. Ein schweres, hohes Bücherregal, in dem alle Bücher fein säuberlich sortiert waren. Ich weiß noch, dass ich mir leicht betrübt gedacht habe, was für ein Kontrast das zu Poppys gelinde gesagt eher unspektakulärem Schrank ist.
Ich spüre plötzlich Wut in mir hochkochen. Wer lässt bitte eine Wand in so einem Zustand zurück? Das ist völlig unangebracht. Hätte Helen das um Himmels willen nicht einfach überstreichen können? Auch Poppy ist nicht begeistert. „Mummy! Das ist nicht rosa. Ich will die Wand rosa!“
„Oh, Schatz, das wird das kleine Mädchen gewesen sein, das in diesem Zimmer geschlafen hat! Sie ist noch ganz klein“, improvisiere ich. Andererseits habe ich den Makler nach dem Alter der drei Kinder gefragt, die hier gewohnt haben. Wie alt war das Jüngste noch mal? Fünf? Zu alt, um die Tapete in ein Banksy-Werk zu verwandeln, so viel steht fest.
Poppy wirft sich brüllend zu Boden. „Mach das von meiner Wand weg! Mach das weg!“
Ich seufze. Das hier tue ich gar nicht gern, aber manchmal geht es nicht anders. Ich ziehe ein Oreo aus meiner Handtasche. „Komm schon, Süße, iss einen Keks und beruhige dich ein bisschen“, sage ich und versuche sie damit abzulenken. „Ich verspreche, dass Daddy und ich es so schnell wie möglich von der Wand abmachen.“
Poppys Schreie klingen zu einem Wimmern ab und sie nimmt einen Biss von dem Keks.
Ich nehme sie in den Arm. „Und sieh dir doch mal dein wunderschönes Zimmer an, es ist riesig und so rosa. Wir haben auch eine besondere neue Bettdecke in Rosa für dich, wart's mal ab.“
Poppy lässt zu, dass ich sie aufmuntere, und ein kleines Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. „Rosa“, haucht sie.
„Entschuldigung!“, grölt Rich, einer der Umzugshelfer, von unten.
„Einen Moment“, rufe ich zurück. Ich ziehe Poppy auf die Füße. „Komm, Poppy, wir müssen nach unten gehen und beim Umzug helfen.“
Doch Poppy gräbt ihre Füße in den Teppich. „Poppy bleibt hier“, verkündet sie schmollend und verteilt dabei Krümel im Raum.
Kurz zögere ich, doch dann zucke ich mit den Schultern. Ich brauche nur kurz und Poppy wird so die Gelegenheit haben, sich an ihr neues Zimmer zu gewöhnen.
„Bin gleich wieder da.“ Ich eile die Treppe hinunter.
Rich steht mit unserem Couchtisch am Gang. „Wo soll der hin?“
„Äh, ins Wohnzimmer.“ Es ist mein Lieblingszimmer und ich kann nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen, bevor ich gleich wieder zu Poppy zurück muss. Es sieht so gemütlich aus, mit dem offenen Kamin und dem Sitzfenster. Ich kann es kaum erwarten, es mir dort gemütlich zu machen und durch das Fenster die sich wiegenden grünen Äste des Vogelbeerbaums zu beobachten.
Als ich mir das Parkett genauer ansehe, trete ich erschrocken einen Schritt zurück. Getrockneter Matsch bedeckt den Boden und hier und da kleben Blätter daran.
„Also ehrlich!“, murmle ich gereizt vor mich hin. Mussten die Umzugshelfer wirklich so eine Sauerei machen? War das nötig? Mein Gedankengang bricht ab, als ich feststelle, dass der Raum leer ist. Die Umzugshelfer waren hier noch gar nicht.
Das war wohl Helens Familie. Erst die Kritzelei an der Wand und jetzt auch noch das. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, ruhig zu bleiben. Mike und ich haben unsere alte Wohnung heute Morgen komplett sauber gemacht.
„Wohin?“ Rich betritt mit dem Kaffeetisch den Raum. Ich winke ihn in die Wohnzimmermitte.
„Irgendwo da. Danke.“
Er stellt den Tisch grob ab und stampft wieder nach draußen. Mir fällt auf, dass seine Stiefel dabei keine Spuren auf dem Boden hinterlassen.
„Poppy!“ Ich sollte zurück zu ihr gehen. Ich eile die Treppe hoch und in ihr Zimmer. Die blaue Pilzstiftkritzelei fällt mir sofort wieder ins Auge, als wäre die Wand gebrandmarkt.
Aber Poppy ist nicht hier. Sie versteckt sich auch nicht im Kleiderschrank. Sie muss auf Erkundungstour gegangen sein. Ich sollte sie besser schnell finden.
„Mummy!“, quiekt Poppy. Und da steht sie schon, meine Tochter, auf halber Höhe einer Leitertreppe, die auf den Dachboden führt. Jemand hatte die Treppe heruntergelassen und die Dachbodenluke offen stehen gelassen.
Außer Atem steige ich auf die erste Stufe, packe Poppy und ziehe sie herunter.
„Meine Güte, Poppy, das ist gefährlich!“, schimpfe ich. Aber meine kleine neugierige Tochter trägt keine Schuld. Es sieht nach einem weiteren Versehen der vorherigen Bewohner aus. Nachdem der Dachboden fertig ausgeräumt war, haben sie offensichtlich vergessen, den Zugang zu schließen. Ich schnalze laut mit der Zunge. Was zum Teufel geht hier vor sich?
„Komm, Schatz, lass uns Daddy suchen gehen“, säusele ich.
Poppy hüpft an meiner Hand die Treppe hinunter.
Zwei von Richs Kollegen manövrieren gerade Poppys Bett in den engen Flur.
Bevor sie mich danach fragen können, antworte ich bereits: „In das Zimmer auf der rechten Seite“. Das mit den blauen Kritzeleien an der Wand, möchte ich am liebsten ergänzen.
Ich wende mich nach rechts und ziehe Poppy in Richtung der Essküche mit angrenzendem Familienzimmer. Ich kann es kaum erwarten, den Raum erneut zu bestaunen. Wow! Von unserer Telefonzellenküche zu dieser hier.
„Huhu“, grüße ich Mike strahlend, als ich ihn sehe. Bei all der Vorfreude kann ich nicht lange sauer bleiben.
Doch Mike erwidert mein Lächeln nicht. Stirnrunzelnd starrt er den großen schwarzen Einbauherd an.
„Daddy! Kuscheln!“ Poppy springt ihm in die Arme, aber Mike ist abgelenkt.
Er zeigt auf einen großen Riss in der Herdplatte. Ich sehe rot. Es reicht.
„O mein Gott!“ Ich schlage mit der Hand auf die Arbeitsplatte. „Das ist inakzeptabel.“
Mike stellt den Herd an und alle Kreise leuchten auf. Er lächelt gezwungen. „Wenigstens funktioniert er noch.“
„Er sieht furchtbar aus“, erwidere ich. Poppy befreit sich aus Mikes Armen und geht die restliche Küche erkunden.
„Und Mike, das ist nicht alles.“ Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. „Ein großer Teil der Wand in Poppys Zimmer ist voller Filzstift. Vorher stand dort definitiv ein Bücherregal – wahrscheinlich haben sie es dort hingestellt, um die Kritzeleien zu verdecken. Ich bin echt sauer. Es sieht richtig unschön aus. Als ich wieder nach oben bin, um nach Poppy zu sehen, stand sie auf der Leiter zum Dachboden. Der Wohnzimmerboden war voller Matsch und nein, das kam nicht von den Stiefeln der Umzugshelfer.“
„Okay.“ Mike zieht eine grimmige Miene. „Wir wenden uns direkt an den Anwalt, der uns bei der Kaufabwicklung geholfen hat. Man muss ein Haus in anständigem Zustand hinterlassen und das haben sie eindeutig nicht getan. Sie müssen für die Reparatur der Herdplatte aufkommen oder sie ersetzen. Und sie sollen die Kosten dafür übernehmen, dass wir Poppys Zimmer streichen müssen.“
Ich nehme Mike dankbar am Arm. Normalerweise mache ich nur ungern einen Aufstand, aber in diesem Fall halte ich es für gerechtfertigt und bin froh, dass Mike ein Macher ist. Alleine hätte ich mich wahrscheinlich nur darüber geärgert, anstatt etwas zu unternehmen.
Rich taucht im Türrahmen auf. „Wir sind fast fertig.“ Er wischt sich mit einer verschwitzten Hand über das Gesicht. „Nur noch ein paar Kleinigkeiten …“
Mike zeigt Rich, wo die letzten Möbelstücke hinkommen sollen. Misstrauisch sehe ich mich im Zimmer nach weiteren Problemstellen um und entdecke auf der Arbeitsplatte neben der Spüle einen an mich und Mike adressierten Umschlag.
Ich öffne ihn und lese den darin enthaltenen Brief:
Liebe Clara und lieber Mike,
willkommen in eurem neuen Zuhause! Wir hoffen wirklich, dass es euch hier gefällt. Wir haben hier zwar nur ein Jahr gewohnt, aber wir hatten eine wunderschöne Zeit. Ein paar Hinweise: Die Mülltonnen werden dienstags geleert. Plastik und Bio wechseln sich wochenweise mit den Restmülltonnen ab. Wenn ihr eine Reinigungskraft braucht, wendet euch unter der unten stehenden Nummer an Kathy. Sie hat hier seit unserem Einzug wöchentlich geputzt und ist großartig. Und zum Schluss: Genießt die kleine Aufmerksamkeit, die wir euch dagelassen haben und stoßt auf ein wahrhaft glückliches Familienleben im neuen Zuhause an.
Liebe Grüße,
Helen, Jim und Familie.
Der Brief passt gar nicht zu dem Zustand, in dem Helen und Jim das Haus hinterlassen haben. Ehrlich gesagt finde ich es ein bisschen frech. Trotzdem ist es nett, dass sie uns etwas dagelassen haben. Ich nehme an, Helen meint eine Flasche Sekt. Doch auf der Arbeitsplatte steht nichts und in den Schränken auch nicht. Das ist jetzt schon etwas unverschämt – uns angeblich ein Geschenk zu machen und es dann nicht zu dazulassen.
Tja, das scheint Helens Charakter gut zu beschreiben. Unbedacht und schlampig, denke ich mir pedantisch. Wahrscheinlich wollte sie uns eine Flasche dalassen und hat es vergessen.
Mike kommt zurück. Ich winke ihm mit dem Brief zu. „Schau dir das mal an.“
Er überfliegt den Text. „Wir werden trotzdem fordern, dass sie für die Herdplatte und die Wand aufkommen“, beschließt er.
„Definitiv.“ Ich zögere keinen Augenblick. „Ich fand es auch einfach ein bisschen frech. Und wo soll bitte die ‚Aufmerksamkeit‘ sein, die sie uns dagelassen haben?“
Mike liest den Brief noch einmal durch und sieht sich um. „Wahrscheinlich haben sie sie vergessen“, antwortet er und zuckt mit den Schultern. „Wir haben sowieso unseren eigenen Sekt. Ihren brauchen wir nicht.“
Poppy schlittert gerade singend über das Parkett. Ich bin erleichtert, dass sie zufrieden zu sein scheint. Mir fällt der Riss auf der Herdplatte ins Auge und ich wende mich ab.
„So, die Helfer sind gegangen“, verkündet Mike. „Dann zeig mir mal das Gekritzel an Poppys Wand.“ Mir wird ein wenig das Herz schwer. Vielleicht hätte ich keine so große Sache daraus machen sollen. Es soll nicht den Moment trüben, der eigentlich einen Neuanfang für uns bedeutet.
Ich hake mich bei ihm unter. „Komm, Poppy, wir zeigen Daddy dein schönes neues Zimmer.“
Poppy stößt einen kleinen Freudenschrei aus, doch dann runzelt sie die Stirn. „Meine Wand sieht schlimm aus!“, jammert sie.
Wir gehen die Treppe hinauf und betreten Poppys Zimmer. Poppy geht direkt zur Wand und wedelt mit der Hand herum.
Mike schüttelt den Kopf. „Jep, das zahlen sie uns“, verkündet er.
„Komm schon“, erwidere ich. „Bitte, lass uns versuchen, auch das Gute zu sehen. Lass uns das Obergeschoss hier entdecken gehen. Ich habe es mir noch nicht richtig angesehen.“
Wir ziehen weiter in unser zukünftiges Schlafzimmer. Unser schmales Doppelbett sieht zu klein für den Raum aus. Vielleicht ist es Zeit für ein großes Zwei-Meter-Boxspringbett? Als nächstes werfen wir einen Blick in eines der Gästezimmer. Die Nachmittagssonne flutet den Raum mit Licht und ich lächle. Das wird das Zimmer für unser zweites Kind. Wenn wir das Glück haben, noch eines zu bekommen.
„Hörst du das?“ Mike legt den Kopf schief.
Wir gehen ins Badezimmer, aus dem ein Geräusch zu kommen scheint. Zufrieden betrachte ich die traditionelle freistehende Badewanne, doch dann sehe ich den undichten Wasserhahn.
Tropf, Tropf, Tropf. Unerbittlich. Poppy hält ihre Hand darunter und saugt sich das Wasser von ihrem Finger. Tropf, Tropf, Tropf.
„Oh, um Himmels willen“, ruft Mike und verdreht die Augen. „Jetzt müssen wir vielleicht auch noch einen Klempner kommen lassen. Verdammten Glückwunsch zum neuen Zuhause!“
***
Ich schenke mir ein Glas Sekt ein. Das Glas sprudelt über und ich fange den Schaum mit den Fingern auf und lecke sie mir ab. Mein letztes Glas Sekt ist lange her. Was habe ich auch schon zu feiern? Aber wie hätte ich es lassen können? Die Flasche stand auf der glänzenden Arbeitsplatte, neben dem Brief. Zweifelsohne voller Schwärmereien über das Haus. Ich brauchte nur einen Moment, um mir die Flasche zu schnappen und sie einzustecken. Wie auch immer, vielleicht habe ich jetzt ja doch etwas zu feiern. Ich hatte heute eine gute Zeit. Es hat Spaß gemacht, den getrockneten Matsch und die sorgfältig gepflückten Blätter des Vogelbeerbaums auf dem Wohnzimmerboden zu verteilen. Ich habe mich wieder wie ein Kind gefühlt, als ich mit Filzstift im rosa Kinderzimmer herumgekritzelt habe. Das habe ich früher definitiv auch gemacht. Ich weiß noch, wie Mum und Dad mit mir geschimpft haben. Wie immer. Und ich habe gern auf dem Dachboden herumgestöbert. Den Herd zu beschädigen war mühsamer. Ich habe mit einer Flasche Oliven Öl auf die Platte eingeschlagen. Das hat geklappt. Allerdings hat es eine Weile gebraucht, die fettige Flüssigkeit aufzuputzen. Ich hielt es für einen Schritt zu viel, das Ganze so zu lassen. Ich erhebe mein Glas. „Auf einen Neuanfang“, rufe ich. „Für sie und für mich.“