Leseprobe Die Frau auf dem Foto | Der düstere Domestic Thriller mit unerwarteten Wendungen

Kapitel 1: Rachel

Damals

Es riecht nach nassem Gras, während ich im blassgrauen Licht des Morgens durch den Stamford Meadows Park laufe. Ich blinzele mir den Schweiß aus den Augen, schmecke noch die Bläschen des gestrigen Champagners, mit dem wir gefeiert haben. Verärgert kräusele ich die Nase bei dem Gedanken an all die leeren Kalorien, und zwinge mich, schneller zu laufen. Meine Turnschuhe klatschen rhythmisch auf den gewundenen Betonpfad, Adrenalin strömt durch meine Adern. Schneller, immer schneller.

Warum musst du dich so sehr bestrafen? Vor wem genau läufst du davon? Diese Fragen stellt mir Adie häufig.

Ich begrüße die Menschen, denen ich auf meiner morgendlichen Runde gewöhnlich begegne, mit einem knappen „Guten Morgen“. Den untersetzten, pensionierten Herrn mit seinem grauhaarigen Labrador, der ebenfalls uralt ist. Irgendwie kann ich mir den einen nicht ohne den anderen vorstellen. Dann das seltsame Paar, wie ich die beiden in meinen Gedanken nenne. Sie joggen gemeinsam, vermutlich der Gesellschaft wegen, aber sie reden nie, weder miteinander noch mit mir. Trotzdem gehören sie zu meinem morgendlichen Ritual, und deshalb halte ich jeden Tag Ausschau nach ihnen. Ich lege großen Wert auf Routine. Und dann ist da noch der bald geschiedene Typ Mitte dreißig, ebenfalls Jogger, der immer wieder versucht, durch Blickkontakt ein Gespräch zu beginnen. Aber ich gehe nie darauf ein.

Angeblich bin ich unsympathisch, trotzdem frage ich mich, was diese Leute wohl über mich denken. Meine Bekannten – sie Freunde zu nennen wäre zu viel der Ehre – würden vermutlich behaupten, ich sei die glücklichste Frau der Welt. Ich habe einen liebenden Ehemann. Zwei perfekt erzogene Kinder. Ein wunderschönes Haus in bester Lage. Und natürlich einen fantastischen Job, zu dem ich zurückkehren kann, wenn die Kinder älter sind.

Ein Schauder kriecht über meine kühle Haut, als ich an Adies Worte von gestern Abend denke: „Warum bist du nicht glücklich, Rachel, wo du doch alles hast, was man sich wünschen kann?“ Ich erinnere mich, dass sein Ton eher enttäuscht als vorwurfsvoll war. Mein Blick verweilte auf seinen dunklen, undurchdringlichen Gesichtszügen, als ich fragte: „Und was ist mit dem, was ich nicht will?“ Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, gefolgt vom allzu bekannten Zusammenpressen seiner Lippen und dem beunruhigenden Zucken in seinem markanten Kiefer. Als er wieder aufsah, war sein Gesichtsausdruck neutral, die Augen ohne jede Emotion.

Er hat natürlich recht. Die meisten Frauen würden alles dafür geben, in meiner Position zu sein. Zumindest oberflächlich betrachtet. Doch unter dieser Oberfläche liegen unzählige Lügen und Geheimnisse begraben. Sie gehören genauso zu unserer Ehe wie unsere beiden Kinder, Beatrice und Archie.

Als jemand, der als „unkonventionell attraktiv“ beschrieben wird, bin ich zu groß, zu dünn und zu kantig, um als wirklich weiblich zu gelten. Und dennoch fühlen sich Männer auf merkwürdige Weise zu mir hingezogen. Sie behaupten, ich sei ein Rätsel, aber das stimmt nicht. Ich bin jemand, der von einem Bedürfnis nach Ordnung angetrieben wird. Das ist alles andere als geheimnisvoll. Ich werde nervös, wenn etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. Wenn jeder Tag gleich wäre, würde ich vielleicht endlich verstehen, was Glück bedeutet. Nur mir selbst gestehe ich in schlaflosen Nächten ein, dass ich zu einer kalten Ehefrau geworden bin, einer distanzierten Mutter und einer gleichgültigen Freundin, und dass ich in Wahrheit vor mir selbst weglaufe.

Ich verlangsame mein Tempo, als ich um die Ecke biege und eine bekannte Reihe prunkvoller Stadthäuser erblicke. Mit ihrer Regency-Fassade ist die denkmalgeschützte Rutland Terrace ein Paradebeispiel für Großzügigkeit im Herzen von Stamford. Mein Blick gleitet über die zeitlose Eleganz der Gebäude, doch als ich mich der glänzend schwarzen Tür mit der Nummer dreizehn nähere, zieht sich mir der Magen zusammen. Ein unangenehmes Gefühl kriecht in mir hoch. Seit zwei Tagen ist das offiziell unser Zuhause. Die Maklerin beschrieb es als „Charme und Charakter auf vier Etagen“, und sie hat nicht übertrieben. Als ich die Tür aufschließe, werde ich von einer herrschaftlichen Treppe, hohen Decken und bogenförmigen Fensterläden empfangen. Aber auch von Stille. Und Leere.

Wo sind die Kinderfüßchen, die über die alten, geometrischen Fliesen rennen, um sich in meine Arme zu werfen? Auch ein nasser, zotteliger, modisch gezüchteter Hund fehlt, der mir bellend entgegenspringt. Keine Spielsachen liegen achtlos verstreut auf dem Boden, über die ich stolpern könnte, und kein Wasserkocher summt endlos im Hintergrund – so wie damals in meinem Elternhaus. Anders als bei den meisten, die frisch umgezogen sind, herrscht hier kein Chaos, kein Streit darüber, wo etwas hingehört, kein Stress. Und was noch auffälliger ist: Ich habe nichts zu tun. Die Umzugsfirma, die ein Vermögen gekostet hat, erledigte alles nach Adies minutiösen Plänen, wo welches Möbelstück zu stehen hat. Wenn Adie fragt, warum ich nicht glücklich bin, meint er genau dieses Privileg.

Dass ich mich in meiner eigenen Familie unwichtig und unsichtbar fühle, behalte ich für mich. Unsere Kinder besuchen eine Privatschule, haben viele Freunde und verbringen ihre Freizeit mit außerschulischen Aktivitäten. Abgesehen vom täglichen Hin- und Herfahren brauchen sie mich kaum noch. Adie behauptet, wir seien mit „ausgeglichenen und stabilen“ Kindern gesegnet. Ein Seitenhieb gegen mich, weil ich angeblich „hochgradig sensibel und unberechenbar“ bin. Doch ich fühle mich schon lange nicht mehr wie eine Mutter und trauere Tag für Tag um meine Kinder. Obwohl Archie erst sechs und Beatrice acht ist, wirken sie bereits wie kleine Erwachsene. Sie sprechen nur noch von ihren Lieblingsbeschäftigungen – Netball, Hockey, Schach, Flöten- und Geigenunterricht. Archie eifert seinem Vater nach, liebt Naturwissenschaften und Mathematik. Beatrice ist sportlich und musikalisch. Keines der Kinder kommt nach mir.

Unser jüngster Umzug in die Rutland Terrace, von dem Adie behauptet, er sei „für immer“, liegt nur vier Straßen von unserem alten Haus entfernt – das bereits zu groß für uns vier war. Jetzt haben wir noch mehr Platz, in dem wir uns verlieren können. Ich bin keine gebürtige Stamforderin wie Adie, auch wenn ich seit unserer Hochzeit hier lebe. Ich komme ursprünglich aus London, und es erscheint mir absurd, dass ich in seiner Heimatstadt feststecke, während er fast täglich in die Stadt pendelt, in der ich aufgewachsen bin. Wie viele Mittelklassepaare entschieden wir damals, dass ich meine Karriere für die Kinder unterbreche. Finanziell sinnvoll, denn Adie verdient das Fünffache von mir.

Obwohl die Kinder inzwischen älter sind, stößt mein Wunsch, wieder zu arbeiten, bei Adie auf Widerstand. Er will noch ein Kind. Platz hätten wir ja mehr als genug. Auch wenn ich es ihm noch nicht gesagt habe, lautet meine Antwort entschieden und definitiv: Nein. Weitere fünf Jahre Leere würden mich in den Wahnsinn treiben. Nicht einmal im Haushalt kann ich mich verlieren, denn auf Adies Drängen haben wir eine Putzfrau eingestellt. Mein geheimniskrämerischer Mann möchte, dass ich mich auf die Organisation des Familienalltags konzentriere und gelegentlich Dinnerpartys für Freunde und Kollegen veranstalte. Eine Hausfrau im klassischen Sinn, das ist sein Idealbild. Ein Zeichen seines Erfolgs als Versorger.

Ich dagegen sehne mich nach Gesellschaft. Vielleicht einen Hund? Etwas zum Liebhaben. Doch Adie hat Asthma und ist allergisch, auch wenn er beim Spaziergang mit Vorliebe fremde Hunde streichelt. Kochen kann ich nicht besonders gut, im Gegensatz zu seiner Mutter, aber ich bemühe mich täglich um gesunde, frische und möglichst biologische Mahlzeiten. Adie und ich essen meist, wenn die Kinder schon im Bett sind. Unsere Abende verbringen wir damit, einander zu sezieren. Wenn er denkt, ich merke es nicht, beobachtet er mich prüfend. Und ich ihn. Wir starren uns gegenseitig über den hochglanzpolierten Esstisch an, wie Feinde, die sich vorsichtig belauern, um den nächsten Zug zu planen.

Mit schwerem Herzen ziehe ich meine Laufschuhe aus und stelle sie in den Hauswirtschaftsraum. Ein wehmütiges Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich die bunten Gummistiefel der Kinder neben meinen traditionellen Grünen sehe. Doch schon bald machen sich dunklere Gedanken breit. Barfuß schlurfe ich die Betontreppe zur Küche im Souterrain hinunter und schalte das Licht ein. Während der steinerne Raum zum Leben erwacht, ziehe ich das dunkelgrüne Notizbuch hervor, das ich heute Morgen bei Walkers Books gekauft und unter meinem Laufshirt versteckt habe. Auch andere Menschen außer Adie haben Geheimnisse. Und ich habe vor, meines ab heute täglich in diesem Journal festzuhalten, als Beweis.

Adie verdient viel Geld, weil er in seiner Funktion als Chief Information Security Officer einer führenden Cybersicherheitsfirma Bedrohungen frühzeitig erkennt und Menschen schützt. Schade nur, dass er diese Fähigkeiten nicht auf seine eigene Familie anwendet, denn noch nie in meinem Leben habe ich mich so sehr in Gefahr gefühlt wie jetzt.

Kapitel 2: Lucy

Heute

Als wir die Tür mit dem abblätternden Lack zu Nummer 13 der Rutland Terrace aufstoßen, ist die Luft im Inneren schwer von Staub und riecht nach altem Holz und bröckelndem Mauerwerk. Es ist aber der Hauch von Parfüm, kaum wahrnehmbar, wie eine Erinnerung, der sofort meine Aufmerksamkeit fesselt. Ich stelle mir gern vor, dass er von dem Geist einer Frau stammt, die hier vor uns gelebt hat. Da ich mich schon immer für Spirituelles und Übersinnliches interessiert habe, neige ich zu solchen fantasievollen Ausbrüchen. Ich habe mir oft genug die Zukunft vorhersagen lassen, um zu wissen, dass ich friedlich in meinem Bett sterben werde. Natürlich erst, wenn ich sehr alt und umgeben von Dutzenden Kindern und Enkeln bin.

Ha. Schön wär's. Ich bin zwar Mutter von zwei Kindern, würde aber gern noch mehr haben. Mein rundlicher Körper scheint dafür gemacht zu sein. Doch Matt meint, zwei seien genug. Was er damit meint: mehr als genug. Ich verstehe ihn ja. Unsere zweite Tochter, Sophie, wurde mit dem Downsyndrom geboren. Natürlich möchten wir unsere geliebte Tochter nicht missen, aber selbst ich hätte nicht ahnen können, wie anstrengend es wird, ein behindertes Kind zu versorgen.

„Solltest du mich nicht über die Schwelle tragen oder so?“, necke ich Matt, als er sich an mir vorbeischiebt und ins Haus geht. Ich hingegen jongliere unseren Sohn Jack, der sich aus meinem Griff winden will, während ich mit der anderen Hand Sophies Buggy manövriere. Und dann ist da noch Casper, unser lebhafter Hund, ein echter tasmanischer Teufel, dessen Leine sich so fest um mein Handgelenk geschlungen hat, dass sie mir einschneidet. Wer auch immer behauptet hat, Cockapoos seien ideale Familienhunde, hat offensichtlich nie mit einem zusammengelebt!

„Dafür müsstest du erst ein paar Kilo abnehmen“, schnauft Matt und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Ich weiß, dass er das nicht böse meint, und sage nur: „Sehr witzig.“

So ist er eben. Außerdem hat er recht. Ich sollte wirklich abnehmen. Ich nehme es mir immer wieder vor, aber das Frustessen ist längst zu einer Art Selbstmedikation geworden – und ich finde keinen Weg, damit aufzuhören.

Matt kommt zur Tür zurück und schenkt mir ein zaghaftes Lächeln, als wäre ihm bewusst, dass er mich vielleicht verletzt hat.
„Lass mich den Buggy nehmen“, bietet er an.
„Danke“, murmele ich und streiche ihm sanft ein Spinnennetz aus dem sommersprossigen Gesicht. Oft frage ich mich, was Matt eigentlich in mir sieht. Er ist so gut aussehend, hat sandfarbene Haare und grüne, schelmische Augen, ganz der Junge von nebenan. Am Geld kann es nicht liegen. Wir kommen beide aus einfachen Verhältnissen, sind aber fleißig und ehrgeizig. Matt ist Einzelkind und war schon immer der verwöhnte Goldjunge, entsprechend großzügig sind seine Eltern. Ohne deren Hilfe hätten wir uns dieses Haus nie leisten können. Ich hingegen bin das Jüngste von sechs Kindern. Ich kenne meinen Platz in der Hackordnung. Wenigstens hat mich das geerdet.

Als ich den bedrückten Blick meines Sohnes sehe, vergesse ich Matt sofort.
„Jack, was ist los?“, frage ich besorgt.
„Wenn da Spinnen sind, komm ich nicht rein!“, protestiert er und wirft misstrauische Blicke auf die Spinnweben in Papas Haar. Die Arme sind trotzig vor seiner siebenjährigen Brust verschränkt.
„Keine Sorge, Jack“, lacht Matt. „Ich habe spezielle Spinnen-Sinne. Ich spüre sie auf und verjage sie.“
„Versprichst du's?“, fragt Jack zögernd, so sehr will er ihm glauben.

In diesem Moment wende ich mich kurz von ihnen ab. Ich erinnere mich noch genau an das Misstrauen, das ich vor zwei Jahren empfunden habe, als ich herausfand, dass Matt eine Affäre mit seiner Kollegin hatte. Seitdem bin ich nicht mehr dieselbe. Der Verrat hat mich verändert. Ich bin zynischer geworden. Vorher war ich so glücklich, wie man es nur sein kann. Ich liebte meinen Mann, und wir waren entschlossen, unsere Ehe zu retten, und das nicht nur wegen der Kinder. Also habe ich ihm verziehen. Und jetzt, nach zweiundvierzig Paartherapie Sitzungen, sind wir uns wieder so nah wie früher und ziehen in das Haus unserer Träume. Eines, von dem wir nie dachten, dass wir es uns leisten könnten. Jeden Tag sage ich mir, wie glücklich ich mich schätzen kann.

Ich schiebe alle negativen Gedanken beiseite und folge meiner Familie in die einst prachtvolle Eingangshalle mit der großen Treppe und den hohen, wenn auch staubigen Fensterläden, durch die ungleichmäßige Lichtstreifen fallen. Der Raum wirkt älter und heruntergekommener als bei der Besichtigung. Überall hängen dicke Spinnweben, die Schatten bewegen sich.
„Ich geh schon mal den Wasserkocher anstellen, ja?“, sage ich und rümpfe die Nase wegen des muffigen Geruchs nach Schimmel und Staub.
„Das hört sich gut an“, sagt Matt, aber ich merke, dass er gar nicht richtig zuhört. Er wollte dieses Haus so sehr, es war eine regelrechte Besessenheit. Ich denke an den Mann zurück, der er damals war, als er sich in diese Möchtegern-Ehebrecherin verliebt hatte. Ihren Namen kenne ich bis heute nicht, denn ich hatte nie den Mut, danach zu fragen.

Matt wirft mir ein verkniffenes Lächeln zu. Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich die vertraute Falte, als wüsste er ganz genau, was ich denke.
„Alles in Ordnung, Liebes?“
Immer Liebes. Nie ‚meine Schöne‘ oder ‚meine Hübsche‘. Wahrscheinlich, weil ich eben nichts davon bin. Ich frage mich, ob er solche Worte für sie aufgehoben hat. Eine betrogene Ehefrau hört nie auf, sich zu hinterfragen, so wie eine besorgte Mutter nie aufhört, sich zu sorgen. Während ihm einige helle Haarsträhnen ins Gesicht fallen, betrachte ich ihn im Licht des späten Nachmittags. Regungslos steht er da, die Füße schulterbreit auseinander, und ich sehe ihm an, wie er im Kopf schon Pläne macht, wie er dieses Haus wieder mit Leben füllen wird. Es wirkt verlassen, als wäre es in einen Dornröschenschlaf gefallen. Ich habe das Gefühl, hier schlummern Geister, die nur darauf warten, uns einen Schrecken einzujagen.

Als Matts entschlossener Ausdruck kurz ins Wanken gerät, flackert etwas wie Reue über sein Gesicht – doch es ist sofort wieder verschwunden. Ich verrate mich selbst, indem ich mich versteife und mich räuspere. Denkt er gerade an sie? So wie ich?

„Wolltest du nicht Tee machen?“, sagt Matt und pfeift leise, doch diesmal lächelt er ehrlich, nicht bloß mir zuliebe.

„Kommt sofort!“, rufe ich fröhlich und klammere mich an die Hoffnung, dass es uns als Familie gut gehen wird.

Doch als ich das Licht zum Kellergeschoss einschalte und die Betontreppe zur Küche hinuntergehe, höre ich ein Knarren, das mich nervös macht. Es erklingt erneut und die Schatten um mich herum werden dichter, während die Lichter nacheinander erlöschen und mich in völlige Dunkelheit tauchen. Mit gespannten Ohren horche ich in die Stille, bilde mir ein, Matts Stimme zu hören, wie er hinter mir flüstert. Dringlich. Den Namen seiner Geliebten.
Und dann spüre ich eine feste Hand in meinem Rücken. Sie stößt mich ohne Vorwarnung die restlichen Stufen hinunter.

Kapitel 3: Rachel

Damals

Drinks vor dem Abendessen im Salon sollen jetzt offenbar zur Routine werden. Eine weitere von Adies Bemühungen, sich anzupassen. Er behauptet, kein Problem mit seiner Herkunft zu haben, aber als einziger Schwarzer unter unseren überwiegend weißen Bekannten versucht er ständig, sich zu beweisen. Zwar hat er unglaublich hart für seine heutige Position gearbeitet, doch sein eigentliches Glück war, eine Mutter zu haben, die ihn mit eiserner Entschlossenheit gefördert hat und, wie sie es ausdrückt, ihm ‚den Hintern versohlt hätte‘, wenn er nach all ihren Opfern keinen Erfolg gehabt hätte.

Ich liebe Jonty und war sofort dafür, dass sie nach dem Tod ihres Mannes Abel bei uns einzieht. Adie jedoch war strikt dagegen, was mich ehrlich gesagt etwas schockiert hat. Ich ging davon aus, dass er seine Mutter genauso vergöttert wie ich meine. Doch bei den beiden scheint vieles nicht so zu sein, wie ich es kenne. In letzter Zeit beobachte ich, dass sie einen höflichen Abstand wahren, den keiner von beiden überbrückt. Seit Adies Vater gestorben ist, wird es immer schlimmer. Ich weiß, dass es für Außenstehende schwer ist, komplexe Familiendynamiken zu verstehen, und ich sollte mich in meiner eigenen erweiterten Familie nicht wie eine Außenseiterin fühlen. Aber weil ich von Natur aus Einzelgängerin bin, fühle ich mich bei großen Familienfeiern nie wirklich wohl. Und Adie scheint in letzter Zeit ähnliche Rückzugsmechanismen entwickelt zu haben. Das hat dazu geführt, dass seine drei älteren Schwestern ihn einen ‚Snob‘ nennen und behaupten, er halte sich für etwas Besseres, was ihn, so vermute ich, insgeheim sogar entzückt. Er scheint entschlossen, sich von ihnen und seinen nigerianischen Wurzeln zu distanzieren.

Dasselbe Spiel bei unseren Kindern: Er pusht sie ständig, in der Schule die Besten zu sein, als hätten sie nicht schon genug Druck. Er spricht es nicht aus, aber ich weiß, dass er ihnen vermitteln will, sie müssten sich besonders anstrengen, weil sie gemischter Herkunft sind. Ich warne ihn immer wieder, dass er ihnen ihre Kindheit nicht rauben und ihnen nicht seine eigenen Ängste einpflanzen soll. Dann schaut er mich an, als hätte ich ihn beleidigt. Habe ich aber nicht, wollte ich auch nicht. Doch als Alleinerbin einer bekannten, wohlhabenden Londoner Familie, die im Beauty- und Kosmetiksektor Millionen gemacht hat, stehe ich in seinen Augen auf keinem argumentativen Fundament. Und muss mich mit dem begnügen, was ich offenbar wirklich beitragen kann: noch mehr Kinder!

Mit steinerner Miene reicht mir Adie einen Gin Tonic, der so sehr klirrt, dass ich sofort weiß: zu viel Eis. Wie immer achtet er auf meinen Alkoholkonsum. Nur ein Schuss Gin, nicht zwei. Denn wir wollen ja nicht zu den Zeiten zurück, in denen ich ein Problem hatte, oder? Als sich meine Hand fester um das Glas schließt, senke ich die Stimme und frage: „Wie war dein Tag?“

„Meetings, eins nach dem anderen, den ganzen Tag lang“, seufzt er müde, lässt sich auf ein pastellblaues Chesterfield-Sofa sinken und schlägt die langen Beine übereinander. Groß, dunkel, attraktiv. Mein Mann macht Eindruck mit seinem trainierten Körper, dem gepflegten Business-Bart und seinen ausdrucksstarken haselnussbraunen Augen, die er hinter Designerbrillen versteckt.

„Du Ärmster“, sage ich mitfühlend und nippe an meinem Drink, nur um festzustellen, dass tatsächlich kaum Gin darin ist. Ich erhebe mich und gehe zu einer der beiden französischen Türen, die auf kleine schmiedeeiserne Balkone mit Blick auf Stamford Meadows hinausführen. Der Salon liegt im ersten Stock und wird vom Tageslicht durchflutet, dank der hohen Decken. Das Haus wurde von den Vorbesitzern, Mr. und Mrs. Ellis, in einem tadellosen Zustand gehalten. Leider fiel ihre Tochter nach einem schlimmen Unfall ins Koma. Um näher am Addenbrooke's Hospital in Cambridge zu sein, wo Gabriella liegt, wollten die Ellises schnell verkaufen und waren offen für Angebote. Als wir den Vertrag unterschrieben, hatte ich das Gefühl, wir würden vom Unglück anderer profitieren. Ein Gedanke, den Adie, ganz der Geschäftsmann, nie mit mir geteilt hat. Vielleicht ist das auch der Grund, dass sich Rutland Terrace nie wirklich wie ein Zuhause angefühlt hat, und ich mich einfach stetig mehr zurück nach Scotgate sehne.

Ich erstarre, beginne unkontrolliert zu zittern, obwohl der Abend warm ist, denn ich höre ein Adie-typisches Knarzen hinter mir. Als er fragt: „Was ist los, Rachel?“, zucke ich innerlich zusammen. Wann habe ich angefangen, mich vor meinem sanften Riesen von einem Ehemann zu fürchten?

Ich drehe mich zu ihm um, bevor er mich berühren kann. „Nichts“, murmele ich, und fühle einen Stich des schlechten Gewissens, wie leicht mir diese selbstschützende Lüge über die Lippen kommt. Er fixiert mich mit einem unergründlichen Blick, als wolle er meine Gedanken lesen. Aber ich bin nicht bereit, jedes Stück von mir preiszugeben. Der Frust spiegelt sich wohl in meinem Gesicht.

Er runzelt skeptisch die Stirn. „Bist du sicher?“

Er hebt mein Kinn an, und in mir flammt Wut auf. Die Bewegung löst einen kalten Schmerz in mir aus. Nach allem, was er getan hat, wie kann er es wagen, mich ohne Erlaubnis zu berühren? Ich blicke ihn scharf an und schlage seine Hand weg. „Ich hab's doch gesagt, oder?“, fahre ich ihn an.

„Ja, ständig“, entgegnet er missmutig und zuckt die Schultern.

Meine Stirn legt sich in tiefe Falten. Ich seufze. „Fangen wir nicht wieder damit an.“ In meinem Kopf beginnt es zu blitzen, eine Migräne kündigt sich an.

Er hebt protestierend die Arme. „Ich fange gar nichts an. Ich wollte nur wissen, wie's dir geht.“

„Und das willst du täglich mehrfach wissen“, entgegne ich sarkastisch.

„Dann haben wir wohl ein ernstes Problem, wenn ich meine Frau nicht mal fragen darf, wie es ihr geht.“

Seine Worte treffen mich wie ein Stromschlag, lassen mir eiskalte Angst den Rücken hinaufkriechen. „Ja, haben wir!“, zische ich. „Nämlich einen untreuen Ehemann!“

Sein Gesicht friert ein und sofort frage ich mich: Bin ich zu weit gegangen? Wird er wieder die Hand gegen mich erheben, wie damals, als ich von seiner Affäre erfuhr?

Draußen wird der Himmel langsam dunkler und Erschöpfung senkt sich in Adies Augen. Mit ungläubiger Stimme fleht er: „Bitte, Rachel, fang nicht wieder damit an. Ich versuch's doch. Gott weiß, wie sehr ich mich bemühe.“

„Du bemühst dich?“ Ich lache verächtlich und schreie ungehalten los: „Was ist mit mir? Nach allem, was du mir angetan hast? Was ist mit mir?“

Danach erinnere ich mich an nur noch an Schmerz und Angst. Denn der Boden kommt mir entgegen, und ich verliere das Bewusstsein.

Kapitel 4: Lucy

Heute

Niemand hat mich die Treppe hinuntergestoßen. Matt stand auch weder hinter mir, noch hat er den Namen seiner Geliebten geflüstert. Ich bin einfach in Panik geraten, als das Licht ausging und habe mir im Dunkeln die wildesten Dinge eingebildet. So bin ich nun mal … überempfindlich gegenüber meiner eigenen Stimmung und von meiner viel zu leicht zu beeinflussenden überaktiven Fantasie. Ich kann nicht mal einen Horrorfilm schauen, ohne dass ich wochenlang Albträume hab. Peinlicherweise bin ich ganz allein die Stufen runtergestolpert, ohne jede Hilfe. Wie Matt sagt: Ich war schon immer tollpatschig. Wenn sich jemand beim Feuermachen verbrennt oder durch eine defekte Steckdose einen Stromschlag bekommt, dann garantiert ich. Trotzdem macht Matts Fürsorge fast alles wieder gut, sogar das aufgeschürfte Knie und die zerkratzte Hand.

„Hier, Liebes“, sagt Matt und drückt mir eine Tasse Tee in die unverletzte Hand. „Extra süß, gegen den Schock.“

„Danke“, murmele ich benommen, noch immer etwas zittrig.

„Trink schon.“

Ich nehme ein paar große Schlucke von dem milchigen, lauwarmen Tee und lasse meinen Blick durch die riesige, fensterlose Küche mit den Steinwänden schweifen. Casper jault ungeduldig und scharrt wie verrückt an etwas hinter dem großen amerikanischen Kühlschrank, weshalb ich bete, dass wir keine Mäuse habe. Er fühlt sich bereits sichtlich zu Hause. Im Gegensatz dazu sind die Kinder auffallend still und schauen mit großen Augen um sich. Zugegeben, die schiere Größe des Hauses verursacht auch bei mir ein mulmiges Gefühl. Ich habe keine Ahnung, wie man diesen einschüchternden cremefarbenen AGA-Herd überhaupt bedient, und kann mir kaum vorstellen, jemals schicke Cocktails an dieser Kücheninsel aus schwarzem Beton zu trinken. Haben wir uns übernommen? Gehören wir überhaupt hierher? Matt scheint das jedenfalls zu glauben.

Während ich mich frage, aus wessen Tasse ich da gerade trinke – mit dem Goldrand und dem zartem Bone-China-Gefühl gehört sie ganz sicher nicht zur Familie Dawson – lehnt sich Matt zu mir und flüstert so, dass die Kinder es nicht hören können: „Tut mir leid wegen dem, was ich vorhin gesagt habe. Dass du abnehmen müsstest. Du bist perfekt, so wie du bist. Wirklich.“

In dem Moment möchte ich am liebsten einen Freuden-Salto durch die Küche schlagen und rufen: Mein Mann liebt mich! Aber die zynische Seite in mir, die ich erst nach Matts Affäre kennengelernt habe, sträubt sich bei dem Wort richtig. Nicht schön. Nicht perfekt. Nicht sexy, wie seine Affäre bestimmt war. Ich vermute, sie war all das, was ich nicht bin. Warum sonst hätte mein Mann mich betrogen?

Als Sophie zu wimmern beginnt und sich in ihren Gurten windet, strecke ich meine müden Glieder und stehe auf. Ich weiß, Matt wird sie nicht hochnehmen, es sei denn, er muss. Unsere Jüngste kann zwar problemlos selbst laufen, aber sie lässt sich gern tragen und ich trage sie auch gerne. Ich kann kaum glauben, dass sie schon fast zweieinhalb ist. Bevor ich den Buggy mit den Flamingos – knallpink, Sophies Lieblingsfarbe – erreichen kann, ist Jack schon dabei, ihre Gurte zu öffnen.

Ich schenke unserem Sohn ein dankbares Lächeln, wuschele ihm durch die sandfarbenen Haare und sage beruhigend: „Schon gut, Jack. Ich nehme sie.“

Jack ist sehr beschützend, wenn es um seine kleine Schwester geht. Er liebt sie über alles.

„Sie war die ganze Zeit so brav, jetzt hat sie bestimmt Hunger“, sage ich mehr zu mir selbst, während ich sie an mich drücke und ihren warmen kleinen Körper spüre, ihren typischen Kleinkindgeruch nach Banane und Milch einatme. Als ich gerade in der Tasche am Buggy nach dem Käse, den Crackern und den Weintrauben suche, die ich für ihr Mittagessen eingepackt habe, zieht sie an meinem Shirt und murmelt in meinen Hals: „Mama, ich will Milch.“

Ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass Matt uns missbilligend anstarrt. Ein kurzer Blick auf Jacks besorgtes Gesicht bestätigt das. Trotzdem zucke ich zusammen, als ich höre, wie Matt vorwurfsvoll sagt: „Wir haben doch darüber gesprochen, Lucy.“

„Ich weiß“, sage ich betont locker und werfe ihm einen ‚nicht jetzt-Blick‘ zu. „Aber versuch das mal unserer süßen Sophie zu erklären.“

„Sie ist fast drei. Das ist viel zu alt zum Stillen“, meint Matt und rümpft angewidert die Nase.

Sophie weint jetzt richtig, ihre leisen Schluchzer gehen mir durch Mark und Bein. Sie klammert sich an mich wie ein Äffchen, während ich mich über den staubigen Boden schleppe und mich an den alten Eichen-Esstisch setze. Wieder so ein Möbelstück, das wir offenbar mit dem Haus geerbt haben. Mein Herz hämmert in der Brust, als ich meine geschwollene, von blauen Äderchen durchzogene Brust freilege. Es ist unmöglich, es beiden recht zu machen, meinem Mann und meinem Kind, aber bei mir kommen die Kinder zuerst.

„Die Ärztin sagt, das ist vollkommen normal und natürlich. Und gesünder als Kuhmilch“, erkläre ich ruhig, ohne ihn anzuschauen. Ich will nicht sehen, was sich in seinen Augen spiegelt. Ich nehme vieles mit Humor, auch meine unzähligen kleinen Missgeschicke. Aber Matt kann es nicht ertragen, bloßgestellt zu werden. Und seit wir ein behindertes Kind haben, kommt es mir vor, dass er, trotz all seiner guten Seiten, tief in sich Scham empfindet und sich dafür selbst verachtet. Obwohl Matt ein wunderbarer Vater für Jack ist, warte ich noch immer darauf, dass er seine Tochter liebt. Ich weiß, dass er es kann und deswegen bleibe ich geduldig mit ihm.

Doch es ist offensichtlich, dass ihn das laute, gierige Nuckeln an meiner Brust reizt. Im nächsten Moment rückt er seinen Stuhl zurück und faucht: „Und was ist, wenn du wieder Vollzeit arbeiten gehst? Sophie muss dann in die Kita, da kannst du sie nicht mehr stillen.“

„Wer redet denn davon, dass ich wieder voll arbeiten gehen, oder Sophie plötzlich in die Kita soll?“, frage ich fassungslos.

„Du vergisst wohl, dass du einen Blumenladen hast und Kerry das nicht ewig allein stemmen kann“, fährt Matt mich an, während er aufsteht und nervös durch den Raum tigert. Als Casper an ihm hochspringt und ihn beinahe umreißt, flucht er leise, entschuldigt sich aber sofort.

Es stimmt, dass ich wegen Sophies Diagnose deutlich länger im Mutterschutz geblieben bin als geplant. Aber auch wenn ich entspannt bin, lasse ich mich nicht herumschubsen, schließlich habe ich den Laden ganz allein aufgebaut. Ohne Matts Hilfe. Deshalb presse ich die Lippen aufeinander und kontere: „Und weil es mein Laden ist und er sonst niemandem gehört, werde ich entscheiden, wann ich wieder voll einsteige.“

„Na hoffentlich gibt's den Laden dann überhaupt noch“, knurrt Matt und verengt die Augen. „Das letzte Mal, als ich geschaut habe, hat er kaum noch Gewinn gemacht.“

„Und was soll das jetzt heißen?“, fauche ich. Ich bin wütend, dass er sich ohne mein Wissen in meine Geschäftsangelegenheiten eingemischt hat. Ich habe keine Geheimnisse vor Matt. Aber es wäre schön gewesen, wenn er mich vorher gefragt hätte.

„Was das heißen soll?“, zischt er durch die Zähne. „Dass wir einen riesigen Kredit auf dieses Haus aufgenommen haben und jeden Cent brauchen, den wir kriegen können. Vor allem, wenn wir hier noch was renovieren wollen. Hast du mal drüber nachgedacht?“

„Und du?“, entgegne ich scharf, während ich meine milchverschmierte Bluse wieder zuknöpfe und Sophie auf meinem Schoß klopfe, als wäre sie noch ein Baby. „Denn wenn ich mich recht erinnere, warst du derjenige, der dieses Haus unbedingt wollte. Und ich habe bis heute keine Ahnung, warum eigentlich.“

Kapitel 5: Rachel

Damals

„Wohin gehst du, Rachel?“, fragt Adie, während er von dem Buch aufblickt, das er angeblich liest. ‚Who Moved My Cheese?‘ von Dr. Spencer Johnson. Wie immer, wenn er mich beobachtet, hat er diesen intensiven, katzenhaften Blick.

Überrascht von der Frage antworte ich: „Es ist zehn. Ich gehe ins Bett.“ Ich hätte genauso gut sagen können: Kennst du mich denn gar nicht?, denn ich gehe jeden Abend zur gleichen Zeit schlafen, ausnahmslos. Aber das wäre sinnlos gewesen. Offensichtlich kennen wir uns nicht. Nicht mehr. Das letzte Mal, dass ich meinen Mann wirklich wiedererkannte, ist drei Jahre her. Seitdem lebe ich mit einem Fremden, der ihm nur vage ähnelt.

Er seufzt und blinzelt langsam, während er das Buch in seinem Schoß ablegt. „Es tut mir leid wegen vorhin. Ich schätze, wir haben beide die Beherrschung verloren.“

Meine Finger wandern zu meiner schmerzenden Wange, doch ich sage nichts. Draußen ist das Licht längst verloschen, die französischen Türen sind verriegelt. Die Geräusche von Stamford bei Nacht werden von den schweren Vorhängen gedämpft – Hundebesitzer auf dem letzten Rundgang, das Brummen langsamer Autos, die Stimmen von Pärchen auf dem Heimweg von den Bars und Restaurants der Stadt. Für viele ist es ein gewöhnlicher Abend. Doch hinter der Tür von 13 Rutland Terrace wartet nur Herzschmerz.

„Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist“, bemerkt Adie mit einem viel milderen Ton, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Sicher, dass ich dich nicht zu einem letzten Drink überreden kann?“

Ich nehme meine Gedanken von eben zurück. Adie kennt mich doch. Ein letzter Drink wäre das Einzige, das mich überzeugen könnte, etwas länger bei ihm zu bleiben. Mein Blick wandert zur goldenen, verspiegelten Hausbar. Dort schimmern verschiedene Flaschen in Blau, Bernstein und Grün, edles Kristallglas. Ich zwinge mir ein fröhliches Lächeln aufs Gesicht und antworte: „Nein, danke“, und täusche ein müdes Gähnen vor.

Während er sich selbst einschenkt, sieht er mich herausfordernd an und murmelt: „Weise Entscheidung.“ Mein Blick wechselt zwischen ihm und der Whiskykaraffe. Die Farbe des bernsteinfarbenen Alkohols passt exakt zu seinen Augen. „Hast du etwas von den Anwälten gehört?“, fragt er beiläufig, gerade als ich den Raum verlassen will.

Ich halte inne, schlucke hart und murmele: „Nein.“

Er verzieht das Gesicht. „Ich hätte gedacht, die hätten deine Erbschaft inzwischen geregelt. Es ist fast ein Jahr her, dass deine Eltern gestorben sind.“ Als das Buch von seinem Schoß auf den Boden fällt, die Seiten weit aufgeklappt, macht er keine Anstalten, es aufzuheben. Wie so vieles in Adies Leben, das Buch, das Haus, die Autos, die Kinder, die Ehefrau, ist es nur zur Schau.

„So lange ist das noch nicht“, erwidere ich und verziehe das Gesicht bei seiner Wortwahl.

Für mich fühlt es sich an, als sei es erst gestern gewesen, dass meine Eltern bei einem Hubschrauberabsturz über den Niagarafällen ums Leben gekommen sind. Nachdem sie sechs Monate zuvor ihre Firmenanteile verkauft hatten, wollten sie ihren Ruhestand mit Reisen feiern und starben tragischerweise auf der ersten Etappe ihrer Weltreise. Da ich im Reichtum aufgewachsen bin, habe ich nie dieselbe Gier danach entwickelt wie andere. Und obwohl ich jetzt über zehn Millionen Pfund besitze, weiß ich leider bereits genau, wie viel Schaden Geld anrichten kann. Freunde kommen und gehen. Niemand ist wirklich vertrauenswürdig. Seit ich sechzehn bin, jagen Männer meinem Vermögen hinterher, nicht mir.

„Als mein Vater vor vier Jahren gestorben ist, hat das mit dem Nachlass bei weitem nicht so lange gedauert“, sagt Adie zynisch und sieht mich mit einem Blick an, als hätte ich keine Ahnung von der Welt.

Er irrt sich. Ich bin vielleicht nicht mehr die toughe Journalistin von früher, die unter falschem Namen ein unabhängiges Leben in der Stadt führt, um ihre wahre Identität zu verbergen. Aber als einzige Tochter meiner außergewöhnlich erfolgreichen Eltern kenne ich mich mit Vermögensverwaltung besser aus als die meisten.

„Das kannst du nicht vergleichen“, erinnere ich ihn. „Abel hatte nichts zu vererben.“

Daraufhin hebt Adie eine Augenbraue und verzieht das Gesicht, als hätte ich ihn beleidigt. „Ich vergaß, dass ich mich mal wieder dafür entschuldigen muss, kein Multimillionärssohn zu sein.“

„Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du ganz genau“, entweicht mir entsetzt.

„Ach ja?“ Er klingt bitter.

Ich senke die Stimme. „Es tut mir leid, Adie.“ Innerlich krümme ich mich vor Scham. Ich hätte seinen Stolz kaum stärker verletzen können. Das war wirklich nicht meine Absicht. Ich bin keine solche Frau.

„Du hast dich verändert, Rachel. Früher hast du gesagt, Geld bedeutet dir nichts.“

„Tut es auch nicht!“, keuche ich. „Nie.“

„Ich bin mir da nicht so sicher“, sagt er, richtet sich auf und tritt, ohne hinzusehen, auf das Buch. Dann steckt er die Hände in die Taschen und fragt mit Nachdruck: „Erinnerst du dich, als du mir gesagt hast, ich sei der einzige Mann, der dich je deinetwegen geliebt hat und nicht wegen deines Geldes?“

Mit brennenden Augen nicke ich traurig. Ich forme stumm ein „Ja“. Aber ein Teil von mir weiß, dass das gerade Gaslighting ist. Als wir uns damals kennenlernten, hatte Adie keine Ahnung, wer ich wirklich war, oder dass ich eines Tages das Beiersdorf-Vermögen erben würde. Sobald er davon erfuhr, machte er mir einen Heiratsantrag. Ich war so unendlich verliebt, dass ich mir einredete, es sei reiner Zufall. Adie war doch nicht wie die anderen Männer, die mich nur des Geldes wegen wollten. Als mir klar wurde, dass ich mich geirrt hatte, war es zu spät. Seitdem hat sich vieles verändert. Zehn Millionen Dinge hatten sich geändert.

Ich weiß nicht, wie lange ich noch verbergen kann, dass das Erbe bereits vor über drei Monaten ausgezahlt wurde. Wenn er erfährt, dass ich ihn in dieser Angelegenheit angelogen, und das Geld längst reinvestiert habe, in Treuhandfonds für die Kinder, kann ich nicht absehen, was er tun wird. Ohne mein Vermögen werden Adies Schulden, von denen er glaubt, ich wüsste nicht, nicht beglichen. Und den verschwenderischen Lebensstil, den er für sich beansprucht, kann er sich nicht einmal mit seinem eindrucksvollen Londoner Gehalt leisten, zumal sein Job durch Vorwürfe sexueller Belästigung auf der Kippe steht. Auch davon weiß ich offiziell nichts, aber mein Geld verschafft mir nun einmal gewisse Informationen.

Hinzu kommt mein Verdacht, dass er schon wieder eine Affäre hat. Dass er dieses Mal plant, mich zu verlassen, und zwar mit den Kindern. Denn der Spruch ‚einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker‘ dürfte ihm im Sorgerechtsstreit gute Dienste leisten.

Und damit bleibt nur eine erschreckende Wahrheit:

Adie würde alles tun, um an mein Geld zu kommen.

Und so, wie es angelegt ist, bekommt er nur etwas davon, wenn ich tot bin.

Kapitel 6: Lucy

Heute

Die stählernen Stahlkappenstiefel der bulligen Möbelpacker scheppern die drei Etagen hinauf und wieder hinunter. Das Rumpeln hallt durch alle angrenzenden Räume, während wir bei Fisch und Pommes sitzen, serviert auf Papier, am Eichenholztisch in der Küche. Der Raum erinnert eher an eine Gefängniszelle. Matt hat das Essen von „Model Fish Bar“ geholt, und wir essen wie früher, als wir gerade zusammengekommen waren und kein Geld hatten, nur einander. Und damals war das genug gewesen. Ich war genug gewesen.

Ich frage mich, was er wohl tun würde, wenn ich ihm zum Spaß eine Pommes zuwerfe. Würde er laut loslachen wie der alte Matt es getan hatte, vor seiner Affäre? Wenn ich eine kleine Essensschlacht beginne? Ein Blick auf seinen mürrischen Gesichtsausdruck belehrt mich eines Besseren. Er wird erst zufrieden sein, wenn die Arbeiter gegangen sind und das Haus nicht mehr im Chaos versinkt. Es macht ihn wahnsinnig, dass unsere Möbel grob behandelt werden, überall Kartons stehen. Casper sabbert am Tisch und bettelt, und ich blicke absichtlich weg, als Jack ihm die Hälfte seiner frittierten Wurst zusteckt. Ich sehe, wie Matt die Augen verdreht. Aus irgendeinem Grund muss ich mir das Lachen verkneifen. Irgendwas wallt in mir hoch. Ich frage mich, ob ich gerade eine Panikattacke bekomme.

Als die Arbeiter schwere Möbelstücke an ihren Platz wuchten, hallt ein donnerartiger Lärm durch das Haus. „Um Himmels willen, wie schwer kann das denn sein?“, explodiert Matt, als ein lautes Krachen und ein Schmerzensschrei zu hören sind. Er steht auf, um nachzusehen.

In seiner Abwesenheit tausche ich mit den Kindern ein verschwörerisches Lächeln, und mein friedliebender Sohn will sofort wissen: „Ist Papa sauer?“

„Natürlich nicht“, verteidige ich Matt automatisch, klaue ein paar seiner letzten Pommes, weil meine schon alle sind, und versichere Jack mit einem Zwinkern: „Zumindest nicht auf dich.“

Auch wenn das der Wahrheit entspricht, mache ich mir zunehmend Sorgen um Matts unberechenbares Temperament, vor allem, wenn die Kinder dabei sind. Alles kann einen seiner Wutausbrüche auslösen. Ein unbedachter Kommentar von einer meiner Freundinnen, eine verstopfte Toilette oder ein vermeintlicher Seitenhieb auf der Arbeit. In der Paartherapie habe ich meine Bedenken geäußert, und Matt hat zähneknirschend eingestanden, dass er manchmal Schwierigkeiten hat, sich zu beherrschen. Das wurde endgültig bestätigt, als die Therapeutin ihm zu einem Kurs in Aggressionsbewältigung riet. Er brüllte daraufhin in voller Lautstärke: „Was qualifiziert Sie eigentlich dazu zu entscheiden, dass ich ein Problem habe?“ Als sie ihm erklärte, dass ihr Masterabschluss in Psychotherapie durchaus ausreiche, um sich eine professionelle Meinung zu bilden, stürmte er davon. Stunden später kehrte er mit einem entschuldigenden Lächeln, einem Tankstellen-Blumenstrauß und einer angeknabberten Dairy Milk Schokolade zurück.

Ich höre Matt oben mit dem Vorarbeiter diskutieren. Lee heißt er. Ich erinnere mich an seinen frechen Grinser, und daran, dass er mich aus den Augenwinkeln musterte, als Matt gerade nicht hinsah. Statt mich beleidigt zu fühlen, war ich absurd geschmeichelt. Matt hat mich seit Jahren nicht mehr so angesehen, ja wortwörtlich seit Jahren. Ich hab's noch drauf, erinnere ich mich selbst, trotz Matts offensichtlichem Desinteresse an meinem kurvigen Körper.

Matt hält sich für einen herausragenden Kommunikator, es steht sogar in seinem regelmäßig aktualisierten Lebenslauf, doch das stimmt einfach nicht. In seiner Branche bringen Jobwechsel meist Gehaltssprünge, deshalb wechselt er alle paar Jahre. Zugegeben, der letzte Wechsel zu JCB hatte andere Gründe: Um unsere Ehe zu retten, musste er seinen alten Job aufgeben, nachdem er die Affäre mit einer Kollegin zugegeben hatte. Im neuen Job als Senior Global Buyer muss er zwar häufiger reisen, aber immerhin ist sie dort nicht mehr.

Ich verziehe das Gesicht, als ich Matt oben laut meckern höre: „Sie hören mir nicht zu.“ Lee murmelt darauf beschwichtigend: „Wir wissen, was wir tun, Sir“, dann das Geräusch von sich schnell entfernenden Schritten, vermutlich ein Fluchtversuch vor meinem Mann. Armer Matt. Er will andere inspirieren, hört aber einfach nie zu. Schuld daran ist seine Mutter Shirley. Kein Wunder, dass er denkt, die Welt dreht sich um ihn. Deshalb hat er auch keine echten Freunde. Und mag meine nicht. Er nennt sie ‚oberflächlich‘, weil sie auf soziale Medien, Soaps und Reality-TV stehen, aber in Wirklichkeit meint er damit auch mich.

„Wann können wir wieder nach Hause?“, mault Jack vom kalten Steinboden aus, wo er mit Casper ringt. Die zwei sind unzertrennlich, sie teilen sich auch das Bett, sehr zu meinem Leidwesen. Sophie ist im Buggy eingeschlafen, die kleinen Fäuste über den Kopf gestreckt. Die Reste geronnener Muttermilch kleben in ihren Mundwinkeln, und ihre runden Schultern heben und senken sich sanft bei jedem Atemzug.

„Das ist unser Zuhause“, seufze ich, mindestens genauso frustriert wie er. Müde reibe ich mir die Augen, erhebe mich ächzend und gehe zum Kühlschrank. Das grelle Licht im Inneren wirft Schatten durch die Küche. Casper und Jack spitzen sofort die Ohren. Casper hört eine sich öffnende Kühlschranktür kilometerweit und Jack hat gelernt, ihn darin zu bestärken.

„Ich hab Durst. Gibt's Cola?“, fragt Jack hoffnungsvoll.

„Leider nicht“, antworte ich abwesend, während Casper neben mir auftaucht und wie wild unter dem Gefrierschrank scharrt. „Leitungswasser muss erst mal reichen“, sage ich, woraufhin Jack das Gesicht verzieht. „Was ist, Casper? Was siehst du da?“

Er schnaubt frustriert, setzt sich und wedelt erwartungsvoll mit dem Schwanz. Natürlich will er, dass ich es für ihn raushole. Also knie ich mich auf den klebrigen Boden, in der Angst, meine Finger könnten auf etwas Weiches stoßen, eine tote Maus vielleicht. Gott bewahre, als ich plötzlich ein kleines, eckiges Metallstück ertaste.

„Was ist das, Mama?“, fragt Jack aufgeregt und ist sofort an meiner Seite. Wahrscheinlich hofft er auf ein Spielzeugauto oder ein verlorenes Lego.

„Ein Kühlschrankmagnet“, sage ich, während ich dicke Staub- und Spinnenweben-Schichten abwische. Zum Vorschein kommt ein Foto, das aussieht, als wäre es in einer Passbildkabine gemacht worden, von einer Familie, die unserer gleicht. Ein Paar Mitte dreißig mit zwei kleinen Kindern. Ein Mädchen und ein Junge.

Das Erste, was mir auffällt: Sie lächeln nicht.

Und der Blick der Frau, düster, gequält, sieht aus, als würde sie um Hilfe bitten.

Als Jack das Foto sieht, füllen sich seine grünen Augen mit Neugier. „Wer sind die?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich, während ich sanft mit dem Finger über das Gesicht der Frau streiche. „Aber ich glaube, das war die Familie, die vor uns hier gewohnt hat.“

Kapitel 7: Rachel

Damals

Meine Schwiegermutter taucht am nächsten Morgen auf. Draußen schüttet es wie aus Eimern, als ich auf ihr lautes Klopfen hin die Tür öffne. Sie begrüßt mich unter ihrem orangefarbenen Regenschirm mit einem breiten, knallrot geschminkten Lächeln. Diese Frau ist ein Monsun aus Farben, ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn, der im Sommer bevorzugt helle Leinenanzüge trägt und im Winter schwarze Rollkragenpullover mit gebügelten Hosen. Jontys heutiges Outfit ist feuerrot und Masai-blau. Sie ist groß und schlank, mit kurzen, grauen Afrohaaren und einem überdimensionalen Paar ihrer Markenzeichen: Papageien-Ohrringe. Ich habe sie noch nie ohne gesehen – nicht einmal bei der Beerdigung ihres Mannes Abel.

„Masoyi yarinya“, begrüßt mich Jonty wie gewohnt auf Hausa, bevor sie eintritt.

„Schön, dich zu sehen, Jonty. Willkommen in unserem neuen Zuhause“, rufe ich, ehrlich erfreut über ihren Besuch.

Kaum hat sie den tropfenden Schirm geschlossen, zieht sie mich in eine enge Umarmung. Danach haftet ihr unverkennbarer Duft an mir: Sheabutter, Bratöl und Gewürze. Ein beruhigendes Aroma. Eines, das ich mir für die Zeit aufbewahre, wenn sie nicht mehr da sein wird.

Ich beobachte, wie Jonty sich in der eindrucksvollen Eingangshalle umsieht. Ihre kaffeebraunen, klugen Augen nehmen alles in sich auf: die Kronleuchter aus Kristallglas, Stuckrosetten und Zierleisten, die hohen Decken und das prachtvolle Treppenhaus mit seinem verschnörkelten Geländer. Sie seufzt, als sie sich wieder zu mir umdreht.

„Gefällt es dir nicht?“, versuche ich zu scherzen.

Sie schürzt die Lippen und brummt: „Ich mochte das alte Haus lieber.“

Ich kaue nervös auf meiner Lippe, aus Angst, Adie könnte uns hören und denken, ich sei undankbar. Aber ich stimme leise zu: „Ich auch.“

„Dieses hier … das passt irgendwie nicht zu dir, Liebes. Scotgate war mehr dein Stil.“

„Du hast den Rest noch gar nicht gesehen“, wende ich sanft ein, um nicht illoyal gegenüber meinem Mann zu wirken. Aber es rührt mich, dass sie unser altes Haus genauso geliebt hat wie ich.

Jonty schaudert, als hätte sie gefroren, und murmelt anklagend: „Das hier fühlt sich eher wie ein Musterhaus als wie ein Zuhause an. Jetzt weiß ich, warum Adie es unbedingt wollte.“

Ich senke den Blick beschämt zu Boden, während ich neben dem Glaskonsolentisch stehe, auf dem ein üppiges Arrangement schneeweißer Lilien thront, das sich im Art-déco-Spiegel dahinter spiegelt. Ihre Worte klingen für mich wie eine Kritik an ihrem einzigen Sohn. Kennen Mütter ihre Söhne besser als deren Ehefrauen? Und wenn ja, welche Geheimnisse bewahrt Jonty vor mir?

Sie schaut mich scharf an, als könne sie meine Gedanken lesen, und platzt heraus: „Wo steckt mein Sohn eigentlich? Warum ist er nicht hier, um mich zu begrüßen?“

Adie überrascht uns, indem er plötzlich oben auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock auftaucht und mit kühler Stimme verkündet: „Ich bin hier, Mutter.“ Wie ein Promi beim Bühnenauftritt streicht er mit einer Hand über das Eichenholzgeländer und schreitet dramatisch die Stufen hinab.

Jontys Blick springt sofort zu mir, als wollte sie mich um Hilfe bitten. Sie fürchtet, Adie habe ihre Kritik am Haus und an ihm selbst gehört. Um das zu überspielen, verengt sie die Augen und spottet: „Mutter! Ich hab dir schon hundertmal gesagt, du sollst mich nicht so nennen. Was ist falsch an Maami? Deinen Schwestern reicht das doch auch.“

Adie erwidert tadelnd: „Wir sind nicht in Nigeria. Außerdem gefällt mir Mutter besser.“ Er lächelt charmant und breitet die Arme aus, als er unten ankommt. Sie umarmen sich kurz, und ich bemerke, dass sich Jonty zuerst löst. Ich fühle Mitleid mit Adie, dem ein verletzter Ausdruck übers Gesicht huscht. Das ist nicht der Einstand, den ich mir gewünscht hatte.

„Na, was hältst du von meinem Haus?“, fragt Adie stolz und weist mit den Armen auf die klassische georgianische Architektur.

„Dein Haus?“ Jonty stößt das Kinn vor. „Du meinst wohl euer Haus, das von dir und Rachel?“

Adies Züge verfinstern sich. Er merkt, dass er seine wahren Gefühle zu 13 Rutland Terrace preisgegeben hat. Jonty ist die einzige Person in seiner Familie, die ihn sprachlos machen und verunsichern kann. Sie hatte schon immer diese Wirkung auf ihn. Vielleicht hasst er sie deshalb so sehr.

Ich wage es nicht, mich umzudrehen, um Jontys vorwurfsvollem Blick zu begegnen. Stattdessen rette ich die Situation mit einem raschen: „Sie liebt das Haus. Nicht wahr, Jonty?“ Dann hake ich mich bei ihr unter und führe sie energisch in die angrenzenden Räume, schiebe sie direkt in die Bibliothek, wo sie mich verärgert ansieht. Da sich Adie Zeit lässt, nutze ich die Gelegenheit, um ihr ins Ohr zu zischen: „Tu einfach so, als ob.“

„So wie du?“, schnauft sie schnippisch, nickt aber, als wolle sie mir einen Gefallen tun.

Für den Moment glaube ich, alles wird gut. Doch dann betritt mein Mann den Raum und fragt: „Wie lange hast du vor zu bleiben, Mutter?“

„Adie! Sie ist gerade erst angekommen“, sage ich fassungslos.

„Mach dir keine Sorgen, Rachel. Ich hör da gar nicht hin“, winkt Jonty ab, obwohl ich sehen kann, wie sehr seine Worte sie getroffen haben.

„Rachel gehts in letzter Zeit nicht gut, sie wird schnell müde“, erklärt Adie dann ausweichend, ohne mich anzusehen. Obwohl ich weiß, wie wenig er zur Ehrlichkeit neigt, macht mich seine Lüge gegenüber seiner Mutter wütend. Mit mir ist alles in Ordnung. Außer vielleicht, dass ich dringend eine Scheidung brauche.

Jonty greift sofort nach meiner Hand. „Stimmt das, Liebes?“

Ihre Augen sind voller echter Sorge, die arme Frau. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und witzle: „Dein Sohn übertreibt. Mir geht's gut, wirklich.“ Doch als Adie mich in diesem Moment ansieht, erkenne ich es: Für ihn bin ich der Feind.

„Was soll denn mit ihr sein?“, fragt Jonty nun streng und richtet ihren Blick auf ihren Sohn. „Ich weiß gar nicht mehr, wem ich glauben soll.“

„Du glaubst sowieso lieber anderen als mir, also bestimmt auch Rachel“, spottet Adie und geht demonstrativ zu einer der deckenhohen Bücherwände, greift sich ein Buch und beginnt darin zu blättern.

„Soll ich ein paar Tage bleiben, um nach dir zu sehen?“, bietet Jonty an, während sie ihren Sohn über die Schulter hinweg misstrauisch mustert, als könne man ihm diese Aufgabe nicht anvertrauen.

Anders als viele Schwiegertöchter würde ich mir nichts sehnlicher wünschen, als dass Jonty bei uns einzieht. Vielleicht würde ich mich dann endlich sicher fühlen. Aber Adie würde das hassen. Er würde alles daran setzen, mich weiter zu isolieren – sie und mich gleichermaßen. Also lehne ich dankend ab und erkläre, dass das nicht nötig sei. Als ich aufblicke, erkenne ich Adies triumphierendes Grinsen, als hätte er gerade einen Sieg errungen.

Ich bin inzwischen überzeugt, dass er vorhat, alle glauben zu lassen, ich sei nicht nur trockene Alkoholikerin, sondern auch psychisch labil und unfähig. Und der einzige Grund, den ich mir dafür vorstellen kann, ist:

Mein Geld.