Leseprobe Die falsche Tochter | Der düstere Psychothriller voller Geheimnisse und Abgründe

Kapitel eins

Gegenwart – Sonntag, 30. Juni 2024, 15:30 Uhr – Siobhan

Siobhan Martin fuhr ihren Wagen rückwärts in die einzige Parklücke, die sie auf dem Parkplatz des Wrexham Maelor Krankenhauses finden konnte. Dabei atmete sie ein, als würde das ihrem Auto mehr Platz verschaffen. Ihre Außenspiegel streiften um Haaresbreite an den Spiegeln der umstehenden Fahrzeuge vorbei. Sie erlaubte sich ein erleichtertes Seufzen, als sie den Motor abstellte.

Ohne die Klimaanlage füllte sich das Auto unter der gnadenlos durch die Windschutzscheibe brennenden Sonne mit einer lähmenden Hitze. Sie öffnete die Fahrertür und atmete erneut tief ein, um sich aus dem engen Spalt zu quetschen. Es schien, als wären sämtliche Parkplätze in den letzten Jahren immer kleiner geworden, während immer größere Autos gebaut wurden. Sie war da keine Ausnahme – ihr eigener SUV war viel zu groß für eine Person. Aber sie brauchte ihn, um das Futter und die Einstreu zu transportieren, die sie für den Kleinbauernhof brauchte, den sie gemeinsam mit ihrer Mum betrieb.

Ihre Mum, die gerade im Krankenhaus lag, weil sie sich beim Ausrutschen im Hühnergehege die Hüfte gebrochen hatte. Die Hitzewelle hatte den Boden so trocken und steinhart werden lassen, dass Siobhan die Hüfte ihrer Mum zersplittern hören konnte, als die Frau zu Boden ging.

Hektisch hatte Siobhan den Notruf gewählt und ihre Mum mit zwei großen Schirmen und einem dazwischen gespannten Leintuch vor der erbarmungslosen Sonne abgeschirmt. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hatte ihre Mum einen Schock erlitten und war stark dehydriert. Denn Siobhan war angewiesen worden, ihr nichts zu trinken zu geben, bis die Erstuntersuchung in der Notaufnahme abgeschlossen war, für den Fall, dass die Frau direkt operiert werden müsste. Sobald man ihr ein Bett zugewiesen hatte, um auf die Operation am nächsten Morgen zu warten, hatte man sie an eine Infusion angeschlossen. Das letzte Mal, als Siobhan ihre Mum gesehen hatte, war sie bloß noch ein fragiler Schatten ihrer selbst gewesen.

Siobhan schloss die Fahrertür, verriegelte sie, warf sich den Träger ihrer Handtasche über die Schulter und machte sich auf den Weg zum Haupteingang des Krankenhauses. Das leichte Kleid, in das sie eine Stunde zuvor nach dem Duschen geschlüpft war, klebte bereits an ihr, weil der Schweiß in Strömen über ihre Haut floss – nicht nur wegen des Wetters, sondern auch vor Panik und Angst, die durch ihre Adern bebten. Die vergangene schlaflose Nacht trug zusätzlich zu ihrer Empfindlichkeit bei.

Als Immobilienmaklerin war es nicht immer einfach, von zu Hause aus zu arbeiten, aber sie hatte es geschafft, sich ihre Arbeitszeit für ein paar Tage flexibel einzuteilen. Schließlich wollte sie ihre Urlaubstage nicht alle aufgebraucht haben, bis ihre Mum sie zu Hause brauchte. Es war ja nicht so, dass sie in einem großen Unternehmen arbeitete, wo es Leute gab, die für sie einspringen konnten. Und ihr Chef war nicht gerade der Verständnisvollste. Dieses Wochenende hätte sie eigentlich arbeiten sollen. Den ganzen Samstag und den halben Sonntag. Ivan Brown war der Typ Mensch, der von seinen Mitarbeitern erwartete, sich irgendwie ins Büro zu kämpfen – egal, wie hoch die Schneedecke war oder ob ihr Auto eine Panne hatte. Während Covid hatte er sie zwar beurlaubt, sie aber trotzdem gebeten, jeden Tag ins Büro zu fahren und sich um die Post zu kümmern. Wobei „gebeten“ nicht ganz korrekt war. Er hatte es eher verlangt, mit einem gewissen Grad an Aggressivität. Was hätte sie da tun sollen? Ihren Job verlieren?

Siobhan hatte über einen Jobwechsel nachgedacht, sich verschiedene Optionen angesehen, aber wenn sie nicht in die Stadt ziehen wollte, gab es nicht viele freie Stellen auf ihrem Arbeitsgebiet, auf die sie sich bewerben konnte. Alle Immobilienmakler kannten sich untereinander. Ihre Bewerbung würde kaum ein Geheimnis bleiben. So funktionierte es in Wales. Abgesehen davon hatte Tracy Hartridge von Hartridge und Carlton angedeutet, dass Sean Carlton bald in den Ruhestand gehen würde. Sie hatte außerdem durchklingen lassen, dass sie jemanden einstellen wollte, der jünger und dynamischer war. Jemanden, der das Unternehmen vielleicht übernehmen könnte, wenn sie selbst in den Ruhestand gehen wollte. Eine Exit-Strategie. Das war eine attraktive Chance für Siobhan. Noch ein Jahr, dann war die Möglichkeit greifbar. Tracy war eine nette Frau. Eine gute Frau. Ihre Kunden kamen immer wieder zu ihr zurück, ihre Mitarbeiter blieben. Immer ein gutes Zeichen.

Bis es so weit war, musste Siobhan allerdings einen Weg finden, um über die Runden zu kommen. In der Regel war ihre Mum diejenige, die sich um die Tiere auf ihrem kleinen Bauernhof kümmerte. Drei Zwergziegen, zwei Esel, zweiundvierzig Hühner, sechs Katzen und ein Hund. Bald würden es wieder mehr Hunde sein. Sie warteten darauf, dass neue Hunde im Tierheim ankamen. Welche, die zu ihrer Lebensweise passten.

Als Siobhan geboren wurde, war ihre Mum fünfunddreißig gewesen. Jetzt, mit sechsundsechzig, führte sie bereits seit einigen Jahren ein ruhiges Leben auf ihrem Kleinbauernhof. Ihre Mum hielt sich gerne aus dem Rampenlicht heraus und verbrachte ihre Zeit lieber in der Gesellschaft von Tieren als in der von Menschen.

Zwei der zweiundvierzig Hühner waren Hähne. Keiner von beiden mochte Siobhan. Um ehrlich zu sein, war sie auch kein Fan von ihnen. Der riesige Buff Orpington beobachtete sie immer mit einem mörderischen Blick. Siobhan wusste nicht, warum sie überhaupt Hähne hielten. Ihre Mum meinte, das diene der Abschreckung von Füchsen.

Siobhan war sich da nicht so sicher.

Ihre Mum besserte sich ihr Einkommen auf, indem sie täglich frische Eier an den örtlichen Tante-Emma-Laden lieferte oder auch am Straßenrand verkaufte, mit einer Ehrenkasse – für ehrliche Kundinnen und Kunden. Letztere Methode brachte allerdings eher Verluste ein, denn viele Leute hatten es nicht so mit der Ehre. Immer wieder mussten sie feststellen, dass jemand sowohl die Eier als auch den Inhalt der Kasse mitgenommen hatte.

Ihre Mum blieb hartnäckig. Der Tante-Emma-Laden nahm ihr täglich zwei Dutzend Eier ab und verkaufte meistens auch alle, aber wenn sie aus irgendeinem Grund weniger verkauften und sich die Eier anhäuften, hatte ihre Mum einen Überschuss. Für den Straßenrand.

Siobhan hatte den Morgen damit verbracht, mit Beau, ihrem schwarzen Labrador, um fünf Uhr einen Spaziergang am Fluss zu machen, bevor die Hitze zu drückend wurde. Anschließend hatte sie ihn und die sechs Katzen gefüttert und die Eier vom Vortag eingesammelt, die wegen des Unfalls ihrer Mum liegen geblieben waren.

Die Futterautomaten, die sie verwendeten, um Ratten fernzuhalten, mussten mit Legepellets und einer Maismischung aufgefüllt werden – ein Futtervorrat für etwa fünf Tage, wodurch Siobhan immerhin eine tägliche Aufgabe weniger hatte. Sie hatte die Ställe, die Tränken, die Ziegenburg und den Eselstall sauber gemacht – all jene Aufgaben, die ihre Mum aufgrund ihres Unfalls nicht mehr zu Ende bringen konnte. Für Siobhan war es eine willkommene Ablenkung.

Zur Mittagszeit stand Siobhan die Hitze zu Kopf und sie war erschöpft gewesen. Und nein, sie hatte es nicht geschafft, von zu Hause aus zu arbeiten. Es war einfach viel zu viel zu tun gewesen und sie hatte viel zu viel im Kopf gehabt, um sich konzentrieren zu können. Beim Ausmisten brauchte sie keine Konzentration.

Durch den Besuch bei ihrer Mum würde Siobhan ihre Arbeitszeit später am Abend nachholen müssen. Vielleicht würde sie sich dabei sogar ein Glas Wein gönnen, schließlich war Wochenende.

Sie betrat das kühl klimatisierte Foyer des Krankenhauses, bahnte sich ihren Weg durch die langen Flure und nutzte die Treppe, um eine Etage nach oben zu gehen. Statt den Aufzug zu nehmen, von dem sie wusste, dass es darin schrecklich stickig sein würde.

Langsam wurde ihr klar, wie viel harte Arbeit ihre Mum in die Haltung der geretteten Tiere stecke. Alle davon waren mehr oder weniger zufällig in ihr Leben getreten. Ihre Mum konnte einfach nicht anders, als verlorene Seelen zu retten. Am Anfang hatten sie ein halbes Dutzend Hühner gerettet und dann einfach nicht mehr damit aufgehört, sodass die Herde immer weiterwuchs. Die Esel hatten zuvor einem alten Mann gehört, um dessen Tiere sich nach seinem Tod niemand kümmern konnte.

Zusätzlich betrieb ihre Mum eine Suppenküche für Obdachlose, die sie selbst ins Leben gerufen hatte. Sie wies niemals einen Obdachlosen ab. In ihrem eingezäunten Kleingarten baute sie viele unterschiedliche Lebensmittel an – und statt Profit daraus zu schlagen, nutzte sie das meiste davon zur Versorgung von Bedürftigen. Siobhan hatte das Bedürfnis ihrer Mum, sich um Obdachlose zu kümmern, nie infrage gestellt.

Sie musste nie für sich selbst kochen. Nicht dass sie es nicht gekonnt hätte, aber ihre Mum hatte das Abendessen immer schon vorbereitet, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Der Gefrierschrank war bis oben hin voll mit jedem Gericht, das man sich wünschen konnte. Allesamt Mahlzeiten für zwei. Am Vortag hatte sie Spaghetti Bolognese gegessen, und heute Abend würde sie die zweite Portion essen. Statt des Sonntagsbratens, den ihre Mum normalerweise kochen würde. Die nächsten zwei Tage würde es Fischpastete geben.

Allerdings wollte sie den Gefrierschrank nicht leer essen. Denn ihre Mum würde mit der neuen Hüfte, die ihr heute eingesetzt werden sollte, noch einige Zeit nicht in der Küche stehen können. So, wie sie ihre Mum kannte, würde sie trotzdem darauf bestehen, zu kochen. Eine gute Frau lässt sich nicht unterkriegen.

Als sie am frühen Morgen im Krankenhaus angerufen hatte, in der Erwartung, sie besuchen zu können, hatte die Stationsschwester ihr geraten, mit dem Besuch bis zum Nachmittag zu warten.

Sie hatte sich nichts dabei gedacht.

Bis sie durch die Türen in die Hitze der orthopädischen Station trat. Die Klimaanlage war anscheinend ausgeschaltet. Und das Bett, in dem sie ihre Mum am Tag zuvor das letzte Mal gesehen hatte, war leer.

Ihr Herz hämmerte.

Nicht nur leer, sondern abgezogen.

Kapitel zwei

Gegenwart – Sonntag, 30. Juni 2024, 16 Uhr – Siobhan

Das ungute Gefühl ließ auch nicht nach, als die Krankenschwester am Empfang sie leise darüber informierte, dass man ihre Mum in ein Nebenzimmer gebracht hatte.

„Warum?“

Die sanfte Stimme der Krankenschwester dämpfte ihre Besorgnis ein wenig. „Es tut mir leid, Mrs …“

„Miss. Martin. Siobhan Martin.“

„Siobhan.“ Die Krankenschwester trat hinter dem Empfangstresen hervor und manövrierte sich umständlich um den Medikamentenwagen herum, um sich neben sie zu stellen, mit sanften Gesichtszügen, aber in ihren Augen flackerte etwas auf, das Siobhan nicht so recht deuten konnte. Besorgnis? Mitleid?

„Sie sind gerade bei ihr und machen es ihr bequem.“ Sie deutete mit dem Kinn in Richtung eines geschlossenen Zimmers am Ende der langen Reihe von Behandlungsbuchten.

Ein Anflug von Sorge ließ Siobhans Magen verkrampfen. „Warum? Was ist denn los? Kann ich sie sehen?“

„Ja, natürlich. Lassen Sie mich nachsehen, ob sie schon bereit sind. Mr Carmichael macht gerade seine Runde, er würde Sie gerne sehen.“

„Mich? Er will mich sehen?“

War das der normale Ablauf? Siobhan konnte sich nicht daran erinnern, dass sie oder ihre Mum jemals eine Arztpraxis besucht hatten, geschweige denn ein Krankenhaus. Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas ablief.

„Möchten Sie in seinem Büro auf ihn warten? Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee bringen? Tee?“

„Ich …“

Die Hitze der Station überflutete sie, und Siobhan presste ihre Finger auf ihre Lippen, um die Panik zu unterdrücken, die in ihr aufzusteigen und sie zu überwältigen drohte.

„Wasser, wenn Sie welches haben, bitte.“

Sie ließ sich von der Krankenschwester in einen winzigen, mit Geräten und Papierkram vollgestopften Raum führen, in dem ein kleiner Computerbildschirm fast von den Aktenstapeln um ihn herum verschluckt wurde.

Sie sank auf einen Plastikstuhl und ließ sich von der Ruhe des Raumes einlullen. Es war nicht still, aber die Geräusche und das hektische Treiben der Station waren gedämpft und verschmolzen zu einem weißen Rauschen, bei dem sie gut nachdenken konnte.

War das normal? Beim oberflächlichen Umsehen hatte sie keine anderen Besucher bemerkt, die woanders hingeführt wurden. Sie alle hockten auf den Kanten der unbequemen Stühle neben den Betten, die sich in Buchten über die gesamte Länge des Korridors aneinanderreihten.

Siobhan sah durch das große Fenster den Korridor, wo die Krankenschwestern von Bett zu Bett eilten, von Bucht zu Bucht, gestresst und unterbesetzt.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als ein hochgewachsener, majestätisch aussehender Gentleman aus dem Zimmer trat, auf das die Krankenschwester vorhin gedeutet hatte. Sie wollte aufspringen, über den Flur zu ihm hinunterstürmen und verlangen, dass er ihr sofort sagte, was los war. Aber etwas an seinem Auftreten hielt sie davon ab.

Müdigkeit zeichnete tiefe Linien um seine stahlgrauen Augen. Das leichte Hängen seiner Schultern war ein Hinweis auf die Erschöpfung, die er empfinden musste. Er war kein junger Mann mehr, und Siobhan konnte nicht anders, als sich zu fragen, warum er so lange in einem Job blieb, der einen so hohen Tribut von ihm gefordert hatte. Auf sie wirkte er definitiv über dem normalen Rentenalter.

Covid hatte so viele erfahrene Mediziner beseitigt, indem es sie entweder daran sterben ließ, langfristig einschränkte oder schlicht zum Aufgeben zwang, weil ihnen die Augen für eine völlig neue Welt des Schreckens geöffnet wurden.

Ihre Mum war nicht wegen Covid hier, sondern wegen eines Unfalls. Siobhan war überrascht, wie leicht die Hüfte ihrer sonst so gesunden Mum brechen konnte. Sie hatte den Moment immer wieder in ihren Gedanken durchgespielt. Das knackende Geräusch würde sie wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen.

Siobhan erhob sich, als der Mann in die Tür trat. Sie hielt den Atem an, während er innehielt, die Hand auf der Türklinke, weil eine Krankenschwester in einer dunkelblauen Uniform ihn abfing. Möglicherweise die Oberschwester. Siobhan interessierte das nicht wirklich. Sie wollte ihn sehen. Sie wollte Antworten.

Der eher grimmige Zug um seinen Mund hätte Warnung genug sein sollen, als der Arzt in den kleinen Raum trat und der Schwester, die ihm folgte, Platz machte, um ihn bei dem Gespräch zu unterstützen. Aber Siobhan hielt an dem bisschen Hoffnung fest, das sie noch in sich hatte.

Wie schlimm konnte es sein? Würde sie sich Hilfe organisieren müssen, bis ihre Mum wieder auf den Beinen war? Sie würde von zu Hause aus arbeiten müssen. Das war nicht so einfach, wenn sie Termine mit Kunden vereinbaren oder potenziellen Käufern Häuser zeigen musste.

Nichts anderes als ihre Mum war wichtig. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an den Anblick ihrer Mum, schwach und bleich, als sie in der prallen Sonne im Dreck lag. Ihr Herz bebte. Sie riss die Augen auf, als der Arzt zu sprechen begann.

„Miss Martin. Ich bin Mr Carmichael. Bitte nehmen Sie Platz.“

In diesem engen, geschlossenen Raum mit zwei anderen Menschen war es für Siobhan eine Erleichterung, zurück in den Plastikstuhl zu sinken. Mr Carmichael setzte sich auf die Kante eines anderen Stuhls, während die Schwester mit dem Rücken zur Tür stand, die Hände in die Taille gestemmt.

Siobhan war noch nie in einem Krankenhaus gewesen, sie hatte ja kaum jemals eine Arztpraxis von innen gesehen. Der Mann vor ihr strahlte eine Selbstsicherheit aus, die in diesem kleinen Raum fast überwältigend wirkte. Er lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne. Sein Blick war so direkt, dass sie sich gezwungen fühlte, irgendetwas zu sagen.

„Geht es meiner Mum gut?“

„Miss Martin, als ihre Mutter in der Notaufnahme ankam, wurde uns gesagt, sie hätte sich bei einem Sturz die Hüfte gebrochen.“

Siobhan nickte, obwohl sie das Gefühl hatte, einen wichtigen Teil der Unterhaltung verpasst zu haben. „Ja.“

„Waren Sie dabei?“

„Ja.“

„Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Stürzt Ihre Mutter häufiger?“

„Nein.“ Sie schüttelte ihren Kopf, völlig ratlos, worauf er mit dem Gespräch hinauswollte. Dabei fiel ihr die Frau auf, an der Tür stehend, jetzt mit unter der Brust verschränkten Armen. Eingeschlossen. Unbehaglich.

„Meine Mum ist wirklich sehr zäh. Robust.“ Ihrer Mum gefiel diese Beschreibung vielleicht nicht, aber es stimmte. Sie schleppte täglich kleine Stroh- und Heuballen und fünfundzwanzig-Kilo-Säcke Futter durch die Gegend, als wäre das nichts. Sie mochte klein sein, aber sie war stark und muskulös.

Siobhan rutschte unruhig in ihrem Stuhl herum. Was zum Teufel war hier los?

„Stimmt etwas nicht?“

Mr Carmichael stieß einen langen Atemzug aus, fast ein innerer Seufzer. „Miss Martin …“

„Siobhan.“ Kaum jemand sprach sie mit ihrem Nachnamen an.

„Siobhan.“ Er zog bedauernd die Augenbrauen zusammen. „Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Zustand Ihrer Mutter komplizierter ist, als wir zunächst angenommen haben.“

Sie holte Luft, um eine Frage zu stellen, aber er hob einen Finger und unterbrach damit ihren Gedanken.

„Meiner Meinung nach war die Hüfte Ihrer Mutter in dem Moment, als sie auf dem Boden aufschlug, bereits gebrochen. Ich denke, die Ursache für den Bruch war nicht einfach der Sturz, sondern etwas, das davor geschah.“

Siobhans Herz setzte einen Schlag aus. „Was meinen Sie damit?“ Aber tief in ihrem Herzen hatte sie bereits gewusst, dass etwas nicht stimmte. Es waren diese Gedanken, die sie die ganze Nacht wachgehalten hatten. Das knackende Geräusch des Brechens, als sie einen Futtersack hochhob, und dann der Sturz. Nicht umgekehrt. Sie hatte gedacht, sie hätte es sich nur eingebildet. Schweiß brach auf ihrer Stirn aus, eine erwartungsvolle Übelkeit machte sich in ihrem Magen breit.

„Als wir mit der Operation Ihrer Mutter begannen, entdeckten wir etwas viel Schlimmeres als einen einfachen Bruch in der Hüfte und haben deswegen entschieden, die Operation abzubrechen. Leider hat sich Ihre Mutter die Verletzung zugezogen, weil ihr Zustand bereits sehr ernst ist. Wir haben Proben genommen, deren Ergebnisse wir noch abwarten, aber … bis dahin können wir weiter nichts tun. Wir brauchen die Ergebnisse von weiteren Untersuchungen für eine viel detailliertere Analyse, bevor wir weitermachen. Zur Sicherheit.“ Er hielt inne, Mitgefühl funkelte in seinen stählernen Augen. „Wir untersuchen, ob es sich um einen sekundären Krebs handelt. Wir führen momentan Tests durch. Um so herauszufinden, ob und wo sich der primäre Krebs vielleicht befindet.“

Krebs?

Krebs!

Siobhan legte eine Hand an ihre Stirn. Ihr schwirrte der Kopf von der Flut an Informationen und dem angstbedingten Adrenalinrausch.

Ihre Mum hatte Krebs? Krebs, der ihr den Hüftknochen gebrochen hatte? War das nicht der härteste Knochen im menschlichen Körper?

Siobhan machte einen tiefen Atemzug, der ihr sofort in der Brust stecken blieb. Ein brennender Schmerz machte sich breit. „Ich verstehe nicht ganz. Krebs. Meine Mum hat Krebs?“ Sie konnte die Information kaum verarbeiten. Das Wort kratzte wie Sand auf ihrer Zunge. Krebs.

„Es scheint leider so.“ Mr Carmichael nickte. Das Mitgefühl in seinen Augen schien sich aufzulösen und professioneller Entschlossenheit zu weichen. „Wir führen Tests durch, um herauszufinden, ob es einen primären Krebs gibt, da Knochenkrebs an sich recht selten ist. Wir ziehen die Möglichkeit in Betracht, dass er von der Lunge ausgeht. Der Zusammenhang mag dürftig erscheinen, aber Knochenbrüche sind bei metastasierendem Lungenkrebs keine Seltenheit.“

Lunge!

„Sie hat nie geraucht.“ Zumindest nicht, soweit sie wusste.

Mr Carmichael schüttelte den Kopf. „Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie keinen Krebs bekommen kann. Alles ist möglich.“ Ein zynisches Lächeln schlich um seine Lippen. „Das Leben ist nicht immer fair. Ich habe mit der Zeit festgestellt, dass Krebs keine Gründe braucht und keiner Logik folgt. Manchmal erkranken die gesündesten Menschen daran. Ihre Mutter könnte eine von ihnen sein.“

„Wie?“

„Hat sie in letzter Zeit irgendwelche Anzeichen von … Krankheit gezeigt?“

Müdigkeit. Gewichtsverlust. Mangel an Energie … und Interesse.

Siobhans Brust zog sich zusammen. Es hätte ihr auffallen müssen. Sie hätte es merken müssen. Ihre Mum hatte zuletzt rasch Gewicht verloren, nachdem sie immer eher mollig und kräftig gewesen war.

Siobhan wollte ihr Gesicht in ihren Händen vergraben, aber stattdessen starrte sie Mr Carmichael an, während ihre Gedanken darum kreisten, wie ausgemergelt ihre Mum in letzter Zeit ausgesehen hatte. Und sie hatte nichts unternommen. Nichts gesagt. „Ja.“ Das Wort fiel ihr von den Lippen. Ihre Schultern sackten zusammen, teils aus Erleichterung, teils aus Scham.

„Ohne die Untersuchungsergebnisse kann ich es nicht mit Sicherheit sagen, aber es ist möglich, dass das, was wir gefunden haben, von woanders in ihre Knochen metastasiert hat und ihre Hüfte deshalb so einfach gebrochen ist. Das ist das wahrscheinlichste Szenario. Bis wir die Ergebnisse der Bluttests und Scans haben, wissen wir es aber nicht mit Sicherheit.“

Siobhan stieß ein leises Stöhnen aus.

„Es tut mir leid.“ Er griff nach ihr, legte eine kühle Hand auf das brennende Fleisch ihres Oberarms.

Bei dieser kleinen Sympathiebekundung füllten sich ihre Augen mit Tränen, und die nächsten Worte musste sie mühsam herauswürgen.

„Haben Sie sie gerichtet? Ihre Hüfte? Haben Sie es geschafft, sie in Ordnung zu bringen?“

Mr Carmichael lehnte sich nach vorne und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid. Aber wie gesagt, sobald wir erkannt haben, womit wir es zu tun haben, wussten wir, dass es die beste Entscheidung ist, die Operation sofort abzubrechen und ihr eine bessere Heilungschance zu verschaffen, indem wir zuerst herausfinden, was genau dahintersteckt. Im Moment ist ihre Mutter gut versorgt. Wir können ihre Hüfte nicht in Ordnung bringen, bis wir herausgefunden haben, wie stark ihre Knochen bereits beschädigt sind. Sobald wir wissen, welche Maßnahmen die Besten für Ihre Mutter sind, machen wir weiter. Aber ich muss Sie warnen: Sie hat etwas, das wir postoperatives Delirium nennen, das teilweise durch die starke Dehydratation nach dem Sturz verursacht wurde. Ihr Körper verweigert die Flüssigkeitsaufnahme trotz eines intravenösen Tropfs. Wir tun alles, was wir können, um ihr zu helfen, aber ich denke, es wäre sinnvoll, wenn Sie sich auf das Schlimmste vorbereiten.“

Das Schlimmste?

Was könnte schlimmer sein als das hier?

Was könnte schlimmer sein, als in diesem Raum eingepfercht zu sein und diesem Arzt zuzuhören?

Der Tod.

Der Tod könnte schlimmer sein.

Kapitel drei

Gegenwart – Sonntag, 30. Juni 2024, 20:55 Uhr – Siobhan

Das leise Seufzen des Atems ihrer Mum war das einzige Geräusch in dem dunkler werdenden Raum.

Siobhan hatte bereits stundenlang an ihrem Bett gesessen, bevor das Licht zu schwinden begann. Sie erntete respektvolle Blicke von den Krankenschwestern, die kamen und gingen, immer wieder, um den Katheter ihrer Mum zu wechseln oder ihren Blutdruck zu messen.

In all der Zeit hatte ihre Mum kein einziges Mal die Augen geöffnet, ihre kühlen Finger reagierten kein einziges Mal auf die sanfte Umklammerung ihrer Tochter.

Schlaf war bestimmt das Beste für die verletzte Frau, aber Siobhan wollte, dass sie wusste, dass sie da war. Dass sie ihre Anwesenheit bemerkte.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.

Sie musste bald gehen. Das Pflegepersonal hatte ihr Kaffee und Wasser gebracht, aber die Packung Sandwiches, die aussahen, als wären sie aus dünnem Plastikbrot gemacht, hatte sie abgelehnt. Langsam bereute sie das, aber sie musste auf jeden Fall nach Hause, um all die Tiere zu füttern und für die Nacht in ihre Ställe zu bringen. Dann konnte sie sich selbst etwas zu essen besorgen. Sich frisch machen und später wiederkommen.

Mr Carmichael hatte gesagt, sie solle so lang bleiben, wie sie wollte. Sie würden ihr einen bequemen Sessel organisieren.

Sie schaute sich im dämmrigen Licht um. Mochte sein, dass jeder etwas anderes unter „bequem“ verstand, aber der einzige Stuhl in diesem Raum war aus Kunststoff. Auf Hygiene ausgelegt, nicht auf Komfort.

Sie konnte sich ja selbst eine Decke und ein Kissen mitnehmen. Ein Buch, einen Snack und eine Kanne mit richtigem Kaffee für später in der Nacht, wenn sie wach bleiben wollte.

Siobhan zog ihre Finger weg und fühlte einen leichten Widerstand in der Hand ihrer Mum. Real? Oder nur eingebildet? Ihr verzweifeltes Bedürfnis nach Bestätigung. Nach einem Zeichen von Bewusstsein.

Mit angehaltenem Atem lehnte sie sich näher heran, stand auf, damit sie sich über ihre Mum beugen und ihre Gesichtszüge studieren konnte. Mit schlaffem Mund lag sie da, ihre fahle Haut hing in Falten um ihr Kinn. Etwas, das Siobhan nie bemerkt hatte. Nie auch nur in Betracht gezogen. Ihre Mum war nicht alt. Sie hatte nie anders gewirkt als robust. Gesund.

Jetzt nicht mehr.

Ihre zerschrammten Augenlider flackerten.

„Mum?“

Siobhan berührte den kühlen Arm, der auf dem weißen Laken lag, und streichelte ihn sanft.

Die Augen ihrer Mum öffneten sich.

„Wer sind Sie?“ Das steife Murmeln kam über blasse, trockene Lippen.

„Mum, ich bin’s. Siobhan.“

Sie drückte den Arm sanft, besorgt, als ihre Mum blinzelte. Leere Augen starrten sie an.

„Siobhan? Ich kenne keine Siobhan.“

„Mum … Mum, ich bin es.“ Siobhan drückte den Arm ihrer Mum noch einmal sanft. Eine Aufforderung an die Frau, sie zu erkennen. Ihre Mum beruhigte sich. Ihr Blick schärfte sich, als wäre ein Licht in ihrem Kopf angegangen.

Die Tür schwang auf und das Licht aus dem Korridor flutete den Raum. Ihre Mum kniff die Augen gegen die plötzliche Helligkeit zusammen und drehte ihren Kopf zur Seite. Siobhan drehte sich um, um zu sehen, wer der Eindringling war.

Mr Carmichael betrat den Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. „Entschuldigen Sie bitte. Ich musste mich um einen Notfall kümmern und bin noch nicht dazu gekommen, nach Ihnen oder Ihrer Mutter zu sehen.“

Siobhan sah ihm dabei zu, wie er sich vorbeugte, um eine kleine Lampe über dem Bett anzuknipsen, deren Schein die Gesichtszüge ihrer Mum von oben in Schatten warf, die die tiefen Mulden ihrer eingefallenen Wangen und die Verletzungen unter ihren Augen betonten wie eine unheilvolle Todesmaske.

Er warf einen prüfenden Blick auf ihre Mum und lehnte sich dann mit dem Rücken an die Wand. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, vermutlich wegen der vielen Stunden, die er bereits gearbeitet hatte.

Er atmete tief ein, bevor er zu sprechen begann. „Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sich meine Vermutungen über den Zustand Ihrer Mutter bestätigt haben. Die Schwester wird gleich hier sein, Ihnen alle Informationen geben, die Sie brauchen und Ihre Fragen beantworten.“

Wollte er damit andeuten, dass er ihre Fragen jetzt nicht beantworten wollte?

Er stieß sich von der Wand ab. Sein Gesicht wirkte ausgemergelt, und Siobhan fragte sich, wie oft er solche Nachrichten im Laufe seiner Karriere bereits überbracht hatte.

Sie empfand Mitleid für ihn, denn es war gerade viel einfacher, sich über den Arzt Gedanken zu machen, als sich mit ihrer eigenen Verzweiflung und der Diagnose ihrer Mum auseinanderzusetzen.

Am liebsten wäre Siobhan über dem gebrechlichen Körper ihrer Mum zusammengebrochen. Sie hielt sich zurück. Aus Respekt vor ihrer Mum und tiefer Entschlossenheit, die Frau nicht zu zerstören, indem sie sie mit ihrer eigenen Panik belastete. Panik, sie zu verlieren.

Bestimmt war es das Beste, wenn ihre Mum nie etwas von der Diagnose erfuhr. War das möglich? Konnte man sie friedlich und ohne Angst einschlafen lassen?

„Was …?“ Sie hatte Mühe, Worte zu finden. „Wie ist ihre Prognose? Wie lang …?“ Sie blickte auf den schlappen Körper ihrer Mum, die Augen eben noch offen, jetzt schon wieder geschlossen, das Gesicht schlaff. War es unhöflich, ihren Zustand zu besprechen, während sie da lag? Was, wenn sie alles hören konnte?

Mr Carmichael hatte wohl denselben Gedanken, denn er öffnete die Tür und trat in den Korridor. Dabei bedeutete er ihr mit einer Handgeste, ihm zu folgen.

Siobhan hatte nicht bemerkt, wie stark sie zitterte, bis sie ihre eiskalten Finger gegen ihre Lippen presste.

„Es tut mir leid. Ich sollte mich klar ausdrücken. Wir haben die Ergebnisse der Blutuntersuchungen bekommen, und sie sehen nicht gut aus. Wir müssen leider davon ausgehen, dass sich Ihre Mutter bei dem Sturz Verletzungen an einer oder beiden Nieren zugezogen hat.“

Sie nickte. Konnte es noch schlimmer werden?

Siobhan dachte wieder an ihre Mum, wie sie auf dem harten Boden gelegen hatte, teilweise auf der Seite. Als Siobhan versucht hatte, sie umzudrehen, hatte ihre Mum vor Schmerz aufgeschrien. Das Einzige, was Siobhan tun konnte, war, ins Haus zu rennen, den Krankenwagen zu rufen, ein Kissen für den Kopf ihrer Mum zu holen und die zwei Schirme mitzunehmen, die für Schatten sorgen sollten.

Es hatte fünfundvierzig Minuten gedauert, bis der Krankenwagen eintraf, und wahrscheinlich weitere fünfundvierzig, bis sie entschieden, dass sie stabil genug für den Transport war.

„Das in Kombination mit der Dehydratation, die sie erlitten hat …“

„Weil es zu lange gedauert hat, bis der Krankenwagen da war?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt. Es wird wohl eine Kombination verschiedener Faktoren sein. Die Verletzung der Nieren, die Hitze, der Schaden an ihrer Hüfte, der Schock. Leider ergibt das in Summe eine sehr kranke Patientin. Wir werden unser Bestes tun, es ihr so bequem wie möglich zu machen, aber es hängt jetzt alles davon ab, ob ihr Körper genug hat.“

„Genug?“

„Sie gibt vielleicht einfach auf.“

Siobhan schüttelte entschlossen den Kopf. „Meine Mum ist eine Kämpferin.“

Der Arzt schenkte ihr ein bitteres Lächeln. „Selbst die stärksten Menschen erliegen manchmal den Elementen, die sich gegen sie verschwören.“

Siobhan legte die Stirn in Falten. „Wie lang …?“ Sie wollte nicht wirklich fragen.

Mr Carmichael schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht. Wenn wir es schaffen, ihre Blutwerte zu stabilisieren, könnte sie noch eine Weile haben, andernfalls …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Andernfalls was?“

Ein schrilles Geräusch durchdrang die Stille des Flurs und ließ Siobhan zusammenzucken. Der Arzt hob wie automatisiert die Hand und sah auf seinen Piepser. Die Müdigkeit grub sich noch tiefer in seine Gesichtszüge. „Sieht aus, als würde ich noch eine ganze Weile nicht nach Hause kommen.“

Er streckte die Hand aus und drückte sanft ihren Ellbogen. „Ich werde sehen, was ich tun kann, um es ihr so angenehm wie möglich zu machen.“

Siobhan sah der Rückseite des weißen Kittels zu, wie sie sich den leeren Korridor entlang entfernte und ihre Brust zog sich zusammen bei dem Gedanken, dass ihre Mum sie verlassen könnte.

Oh Gott, was sollte sie nur tun? Wie sollte sie damit fertig werden?

Sie liebte diese Frau so sehr, sie hatte bisher nicht einen einzigen Gedanken an die Sterblichkeit ihrer Mum verschwendet.

Ihre Mum war immer eine so starke Frau gewesen, sie wusste immer, was zu tun war. So selbstständig. Sie ist mit Siobhan während der letzten drei Jahrzehnte durch ganz England gezogen, bis sie vor vier Jahren schließlich ihren kleinen Bauernhof in Wales fanden. Ihr Für-immer-Zuhause, wie ihre Mum es nannte.

Nun war es vielleicht wirklich für immer. Zumindest für ihre Mum.

Sie presste ihre Augen fest zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Dabei atmete sie tief ein und anschließend langsam aus, bevor sie bereit war, ihrer Mum gegenüberzutreten.

Sie schlüpfte durch die Tür und bemerkte diesmal sofort den konzentrierten Blick in den Augen ihrer Mutter, die auf sie gerichtet waren.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und trat dicht an das Bett heran. „Hallo, Mum.“

Verwirrung glitt über das blasse Gesicht der Frau und sie zog die Hand weg, die Siobhan berühren wollte. „Wer sind Sie?“

Was hatte der Arzt gesagt? Ihre Mutter hatte eine Art Delirium. Postoperativ.

„Ich bin’s. Siobhan. Deine Tochter.“

Die papierartige Haut auf der Stirn ihrer Mutter zuckte zu einem zweifelnden Gesichtsausdruck zusammen. Sie legte ihren Kopf bequem auf dem raschelnden medizinischen Kissen ab und stöhnte vor Schmerzen, während sie ihre Körperhaltung veränderte. Als sich ihre Blicke trafen, erkannte Siobhan Verlegenheit in den Augen ihrer Mum. Etwas, das sie noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.

„Ich habe keine Tochter. Ich kann keine Kinder bekommen.“

Ein Hauch Ungläubigkeit lag in der Luft, als Siobhan ein Lachen ausstieß.

„Ich bin deine Tochter.“

„Nein. Das bist du nicht!“

Der bissige Tonfall ihrer Mum ließ Siobhan ihren Kopf zurückwerfen, als hätte man ihr einen Kinnhaken verpasst. Was zum Teufel?

Siobhan griff nach dem Rufknopf, der auf dem Bett lag.

Plötzlich griff ihre Mum nach Siobhans Hand. Ihre Fingernägel gruben sich tief in Siobhans Haut, mit einer bösartigen Absicht, die sie ihrer Mum niemals zugetraut hätte.

Die Augen der Frau verengten sich zu Schlitzen, als sie mit der anderen Hand nach oben griff, Siobhans langes Haar packte und ihr Gesicht zu sich hinunterzog.

„Du blödes kleines Miststück.“

Siobhan schnappte nach Luft. Solche Worte hatte sie aus dem Mund ihrer Mum noch nie gehört. Nur, als der Sanitäter versucht hatte, sie zu bewegen, und das war bei der Hitze und den Schmerzen verständlich gewesen. Aber ihre Mum war nicht so. Ihre sanfte, liebe, fürsorgliche Mum.

„Du verdienst kein Baby. Wie konntest du überhaupt zulassen, dass er dich so behandelt? Wie konntest du das arme Baby nur weinen und schreien lassen, während er …?“

Ihre Mum schüttelte Siobhans Haar aus ihrer Hand, ein Hauch von Hass huschte über ihr Gesicht.

Der Schock packte Siobhan, sie machte einen hastigen Schritt vom Bett weg, kaum in der Lage, ihre eigene Mutter wiederzuerkennen. Sie drückte sich gegen die geschlossene Tür und starrte die gebrechliche alte Frau in dem Bett an.

Wo kam das auf einmal her?

Der wütende Blick in den Augen ihrer Mum versetzte ihr einen Stich in die Seele.

Diese Frau war nicht ihre Mutter, oder?

Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihr.

Siobhan hob ihre Hand und presste sie gegen ihre Brust, in der ihr Herz wild hämmerte. Oh Gott. Was sollte sie nur tun?

Der hasserfüllte Blick war immer noch da, und als Siobhan sich bewegte, fletschte die Frau im Bett ihre Zähne.

Siobhan tastete nach dem Türgriff und stolperte rückwärts aus dem Zimmer, um aus dem Krankenhaus zu fliehen. Voller Angst.

Kapitel vier

Fünfzig Jahre zuvor – 1974 – Grace

Ich hebe meine Hand und streichle mit zittrigen Fingern die glühenden Striemen an meiner Wange.

Ich hasse meine Mutter!

Ist eine Mutter nicht die eine Person im Leben, auf die man sich verlassen können sollte? Auf Liebe, auf Leben, auf Schutz?

Nicht meine Mutter.

Sie ist eine bösartige Schlampe aus der Hölle.

Ich weiß, Sie sind geschockt, dass der unschuldige Verstand eines elfjährigen Kindes überhaupt solche Gedanken formulieren kann. Aber mein Verstand ist nicht so unschuldig.

Jetzt nicht mehr.

Nicht, seit ihr letzter Liebhaber aufgetaucht ist.

Kev, so nennt sie ihn. Diesmal ist es ein Automechaniker, den sie eines Nachts in einem Pub aufgerissen hat.

Schmieriger Kevin, der Widerling, so nenne ich ihn.

Dadurch habe ich mir den Schlag ins Gesicht eingebrockt.

Nein, eigentlich stimmt das nicht so ganz. Es war, weil ich ihr sagte, dass „Onkel Kevin“ (so soll ich ihn laut ihr nennen), „der Widerling“, mich bat, mich auf seinen Schoß zu setzen. Da war sie gerade in der Nachtschicht in der örtlichen Nervenheilanstalt arbeiten. Oder im Irrenhaus, wie sie es nennt.

Mutter ist eine Pflegerin. Sie kümmert sich um arme, gequälte Seelen, sagt sie.

Es fällt mir sehr schwer, das zu glauben. Nicht das mit den armen, gequälten Seelen. Sondern dass sie sich um sie kümmert.

Sie hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie um irgendeine Seele gekümmert. Um niemanden außer sich selbst. Außer natürlich, wenn es um Geld geht.

Ich hab ihr also erzählt, dass er seine Hand an der Innenseite meines Oberschenkels nach oben gleiten ließ und versuchte, seine Finger unter den Gummizug meines Höschens zu schieben. Sie hat sich hartnäckig geweigert, mir zu glauben. Als ob ich mir so was ausdenken könnte. Das ist nicht die Art von Dingen, über die Kinder Bescheid wissen. Nicht, wenn sie es nicht selbst erlebt haben.

„Grace, du abscheuliches Kind“, speit sie mir entgegen, die Augen voller Krokodilstränen. „Gehässig. Genau das bist du. Du würdest alles tun, um zu verhindern, dass ich eine Beziehung führe, nicht wahr?“

Es ist nicht ihre Beziehung, um die ich mir Sorgen mache. Es ist viel mehr die Beziehung, die Kevin gerne mit mir hätte, die mich beschäftigt.

Ich zucke mit den Schultern. „Er ist ein schmuddeliger alter Mann. Ein Perverser.“

„Wo hast du das denn aufgeschnappt? Du bist eine verlogene kleine Schlampe“, spuckt sie mir entgegen.

Sie hat überhaupt nicht gewusst, dass Kevin letzte Nacht mit mir in unserem Haus war. Sie ist offensichtlich total schockiert. Ihre Gefühle sollten sich nicht negativ auf mich auswirken. Das tun sie aber immer.

Solange ich mich erinnern kann, lässt sie mich alleine, während sie in der Nachtschicht arbeitet.

Meine erste Erinnerung ist, als ich etwa vier war. Vielleicht fünf. In Wahrheit kann ich es zeitlich nicht genau einordnen – ich weiß aber, dass ich damals gerade erst mit der Schule angefangen hatte. Bis dahin hat sie mich nachts wohl unter Drogen gesetzt. Damit ich nicht aufwache und merke, dass ich allein bin. Damals wusste ich nichts davon. Heute bin ich mir sicher, dass sie mir irgendwelche Medikamente untergejubelt hat, die sie den alten Leuten bei der Arbeit geklaut hatte.

Das ist nicht so ungewöhnlich.

„Schlechte Eltern“ nannte man das damals.

„Missbrauch“ nennt man es heute, glaube ich. Oder Vernachlässigung. Ich habe die Lehrer in der Schule darüber reden gehört. Wie man es auch nennt: Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn man sein Kind allein lässt und es versehentlich das Haus in Brand setzt. Wie der kleine Gregory Charles letzten Sommer. Sein Gesicht ist immer noch faltig an den Stellen, wo das Feuer seine Haut geschmolzen hat, und eines seiner Augen hängt runter auf seine Wange. Es heißt, dass er sich nie vollständig davon erholen wird.

Seitdem achte ich sehr darauf, das Gas nicht anzumachen, wenn ich allein bin. Ich hatte vorher nie Angst davor, allein zu sein. Bis ich anfing, die Zeitung zu lesen, die Mutter nach der Arbeit mit nach Hause brachte. Ich habe jede einzelne Seite gelesen, das Wissen in mich aufgesaugt, wollte unbedingt mehr über die Welt und ihre Gefahren wissen.

Wie das Kind in den Nachrichten, das sich beim Sturz über die dunkle Treppe das Genick gebrochen hat. Oder das Kind, das sich einen Finger aufgeschlitzt hat, als es sich selbst ein Sandwich mit altem Brot und ranziger Butter machen wollte – dem einzigen, was ihm der Vater da gelassen hatte, während er arbeiten war. Sie alle fallen in denselben Schmelztiegel. Solange mir nichts Derartiges passiert, ist sie sicher vor den „Obrigkeiten“, wie sie sie nennt.

Wie auch immer – niemand wusste das mit den Drogen. Niemand hat gefragt. Niemand hat sich dafür interessiert.

Außer in der Schule, als sie wissen wollten, warum ich die ganze Zeit so müde war.

Danach hat sie aufgehört, mir die Medikamente zu geben. Sie packte meine Haare, wickelte sie einmal um ihre geschlossene Faust, zog mich an sich heran und erklärte mir, wenn ich in der Nacht aufwachte und ein Geräusch machte, würde sie mich am nächsten Tag grün und blau schlagen. Sie hat mir eingeprügelt, dass die Behörden kommen und mich wegbringen würden. In ein Heim mit anderen unartigen kleinen Kindern. Und das wollte ich doch nicht. Oder wollte ich das?

Rückblickend wäre es wohl das Beste gewesen. Ein Ergebnis für mich. Vielleicht wäre ich dann von den unglaublichsten Eltern adoptiert worden. Welche mit Geld, Luxusyachten und jeder Menge Liebe.

Von all diesen Dingen ist die Liebe das Wichtigste.

Ich sehne mich nach Liebe.

Nicht die Art, die der schmierige Kevin mir geben will.

Selbst im Alter von elf Jahren weiß ich, dass das falsch ist. Es ist keine Liebe. Es ist etwas Dunkles, Schmutziges. Das will ich nicht. Ich will seine ölbeschmierten Finger nicht in meiner Nähe.

Er hatte mich auf seinen Schoß gezogen, als ich an dem Sofa vorbeigehen wollte, auf dem er gerade saß. Irgendwie schaffte ich es, aufzuspringen. Dann stürmte ich die Treppe nach oben, wobei meine dünnen Beine Mühe hatten, mich schnell genug zu tragen. Ich stürzte ins Badezimmer, schlug die Tür hinter mir zu und schob den Riegel vor, damit er nicht an mich herankam. Egal, wie sehr er bettelte. Drohte. Schmeichelte. Seine Stimme war die ganze Zeit schroff, aber leise, sodass die Nachbarn ihn durch unsere papierdünnen Wände nicht hören konnten.

Wenn er nicht die Tür einschlug, hatte er keine Chance, mich zu erwischen. Und wenn er das getan hätte, hätte es jedem die Augen geöffnet. Jedem, der es erfahren hätte.

Aber nicht Mutter. Sie hätte sich vermutlich nicht einmal vor einer eingeschlagenen Tür für das interessiert, was ich sage, solange ihr lieber Kev an ihrer Seite geblieben wäre.

Vielleicht hatten die Nachbarn etwas dazu zu sagen. Tatsächlich waren sie der Hauptgrund, warum er abgehauen ist. Oder ich war es, weil ich Alarm schlug, indem ich schrie: „Geh weg! Lass mich in Ruhe!“ Ich schlug mit der Faust gegen die dünne Wand, so wie Mutter es macht, wenn die Musik der Nachbarn zu laut ist. Die Nachbarn hatten zurückgehämmert und geschrien: „Verdammt, was ist da drüben los? Seid leise, oder ich hetze euch die Schweine auf den Hals.“

Jetzt ist Kevin weg und wird hoffentlich nie zurückkommen.

Das ist meine Schuld. Sagt Mutter. Ich habe sie der Gesellschaft eines Erwachsenen beraubt. Eines Mannes, den sie liebte.

Sie hat ihn nie geliebt. Aber sie hat ihn ausgenutzt. Wenigstens hat er es geschafft, ein paar Heimwerkerarbeiten im Haus zu erledigen, bevor er sein wahres Ich zeigte. Das Böse in ihm.

Jetzt ist er weg. Nicht, weil sie ihm gesagt hat, dass er gehen soll – sie wäre trotz seiner Vorliebe für jüngere Mädchen bei ihm geblieben.

Nein, er ist gegangen, weil er fälschlicherweise dachte, sie würde ihn umbringen. Natürlich würde sie das nicht. Es war alles meine Schuld. Ich muss mit ihm geflirtet haben. Ihn angemacht haben, sagt Mutter.

Ich hab keine Ahnung, was „anmachen“ ist, aber ich kann es mir denken, und so spiele ich nicht. Nicht jetzt. Niemals. Ich spiele überhaupt nicht.

Ich weigere mich, ihren Blick zu erwidern, während ich meine brennende Wange mit meiner eiskalten Hand streichle. Was hätte ich auch davon? Sie wird mir nie glauben. Das hat sie noch nie. Ich bin nur ein Ärgernis. Sie wollte mich gar nicht. Daran erinnert sie mich nur allzu oft. Aber nie in der Öffentlichkeit. Jetzt, wo ich älter werde, fällt mir das auf. Sie ist anders, wenn wir in Gesellschaft sind.

Sie hat eine Maske, die sie aufsetzt, sobald eine andere Person in der Nähe ist. Ich frage mich, ob das dieselbe Maske ist, die sie bei der Arbeit benutzt. Verrutscht sie für einen Moment, wenn sie für die Pflege der alten Menschen verantwortlich ist? Kneift und tritt sie sie, wenn gerade niemand hinsieht? Zutrauen würde ich es ihr.

In der Stille zündet sie sich eine Zigarette an. Ich kann ihren Blick auf mir spüren, hasserfüllt und suchend. So etwas bin ich von ihr nicht gewohnt. Am liebsten würde ich mich zu einem kleinen Ball zusammenrollen, solange ihre Blicke über mich streifen. Sie taxiert mich. Als ob sie mich gerade zum ersten Mal gesehen hätte.

Ich frage mich, warum.

Dann bemerke ich ein Funkeln in ihren Augen. Es ist Eifersucht. Ich bin sicher. Sie kann es kaum verbergen. Aber warum ist sie eifersüchtig?

Liegt es daran, dass sie sich selbst nicht mehr als hübsch und jung betrachtet und ihr jetzt klar wird, dass ich erst am Anfang dieser Reise stehe? Dass Männer mich bald ansehen werden, mit meinen winzigen Brüsten, die gerade erst beginnen zu sprießen? Ich weiß das, weil sich die Jungs in der Schule gegenseitig in die Rippen stoßen, wenn sie die Brüste der Mädchen anschauen. Mit einem Wissen in den Augen, für das sie eigentlich noch viel zu jung sind.

Wenn sie nicht bei der Arbeit ist, steht sie oft stundenlang vor dem Spiegel, um die feinen Linien zu glätten, die sie in ihren Augenwinkeln zu sehen glaubt. Und die eine tiefere Linie, die sich zwischen ihren Augenbrauen gebildet hat. Das Alter ist dafür nicht verantwortlich. Unzufriedenheit ist es.

Der finstere Blick wird noch tiefer, während sie mich anstarrt.

Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich ein Teenager. Meine schlaksige Figur wird sich formen. Wird sie dann noch mehr Probleme haben, sich einen Freund zu angeln? Werden ihre Freunde immer ein Auge auf mich werfen?

Ich weiß nicht, wie alt sie war, als sie mich bekommen hat. Sie ist auf jeden Fall jünger als die meisten Eltern an meiner Schule. Sie sagt, ich habe ihr die Kindheit geraubt. Ich habe ihr Leben ruiniert. Sie könnte jetzt verheiratet sein, aber welcher Mann will die Last eines fremden Kindes auf sich nehmen?

Last. Ich kenne dieses Wort gut. Sie benutzt es oft.

Einmal habe ich behauptet, es sei nicht meine Schuld, dass sie ihre Beine nicht zusammenhalten kann. Ich hatte gehört, wie andere Eltern das über sie sagten, als sie ihr Kind von der Schule abholten. Während ich mich alleine auf den Heimweg machte.

Auch dafür habe ich eine Ohrfeige kassiert.

Sie kann mich gar nicht oft genug daran erinnern, dass sie nie Kinder wollte. Sie wünschte, sie wäre mich losgeworden, statt meine Geburt durchzuziehen. Das war die andere Sache, über die die Eltern an diesem Tag gesprochen haben, als sie hinter mir nach Hause gingen.

„Der einzige Grund, warum diese Frau nicht abgetrieben hat, war die Sozialhilfe, die sie kassieren wollte. Eine Schande, dass sie nicht weiß, wer der Vater ist, den hätte sie auch noch um etwas Geld anpumpen können.“

Ich weiß nicht genau, wie ein Baby in eine Frau kommt. In der Schule habe ich gelernt, wie Pflanzen sich vermehren. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das bei Mädchen und Frauen funktionieren soll. Ich meine, woher kommt das Staubgefäß, das in den Stempel eingeführt wird?

Offensichtlich, laut den anderen Eltern, hat meine Mutter eine Menge Staubgefäße gesammelt. Und wenn man ein Staubgefäß in den Stempel steckt, kann man niemand anderem die Schuld geben, wenn man schwanger wird. „Angebumst“, das Wort haben sie verwendet.

Mit jedem Tag, der vergeht, weiß ich, wie sehr meine Mutter meine Anwesenheit verabscheut. Wenn ich Kinder habe, werde ich sie jeden Tag ihres Lebens wissen lassen, dass ich sie mit jeder Faser meines Seins liebe. Sie werden so sicher sein, dass ich sie gewollt habe, dass sie nicht auch nur einen einzigen Augenblick lang an meiner Liebe zu ihnen zweifeln werden.

Niemals.

Kapitel fünf

Gegenwart – Sonntag, 30. Juni 2024, 21:25 Uhr – Siobhan

Schmerz schnürte Siobhans Brust zusammen, bis sie kaum noch atmen konnte.

Die Krankenschwester mit dem Engelsgesicht und den vor Anstrengung geröteten Pausbacken hatte sich neben ihrer vielen Arbeit Zeit für Siobhan genommen. Um ihr zu erklären, dass ihre Mum an einem postoperativen Delirium litt und sie sich die ganze Sache nicht zu Herzen nehmen sollte.

Wie könnte sie das nicht?

Delirium hin oder her, ihre Mum hatte ihre Existenz geleugnet. Das konnte doch nicht sein. Erklärten alle Menschen im Delirium eiskalt, dass sie nie Kinder haben konnten?

Siobhan wusste es nicht.

Sie war noch nie zuvor in einer solchen Situation gewesen – oder hatte Freunde, die jemals in so einer Situation gewesen waren.

Ehrlich gesagt hatte sie überhaupt kaum Freunde.

Durch die vielen Umzüge in ihrer Kindheit und Jugend konnte sie niemals diese engen Bindungen schmieden, die andere durch das Aufwachsen mit anderen Kindern knüpften.

Siobhan verstand sich gut mit den anderen Frauen bei der Arbeit und mit einigen der Männer. Allerdings war ihr aufgefallen, dass verheiratete Männer ihr gegenüber immer ein wenig zurückhaltend waren … oder sie waren misstrauisch, weil ihre Frauen es auch waren.

Dazu hatten sie keinen Grund – außer, dass Siobhan attraktiv war. Sie war sich dessen bewusst und strahlte ein Selbstvertrauen aus, das ihr von ihrer Mum eingetrichtert worden war. Ihre Mum, die ihr fast täglich sagte, wie wunderschön sie war. Wie clever sie war. Wie sehr sie geliebt wurde.

Ihre Größe in Kombination mit ihren langen Beinen hielt sie selbst für ihr attraktivstes Merkmal. Wie ein Ex-Freund es einmal formuliert hatte: Sie reichten ihr direkt bis an den Hintern. Allerdings hatte sie auch schon einige Komplimente für ihre Augen bekommen.

Siobhan war nicht eingebildet, sie war sich selbst bewusst. Sie wusste, dass Männer sie begehrenswert fanden. Frauen auch. Nicht unbedingt in sexueller Hinsicht. Aber mit diesen unauffälligen Blicken von der Seite, die Frauen auf andere Frauen warfen, deren Schönheit sie bewunderten.

Sie trug nie viel Make-up, sondern nur einen Hauch getönter Feuchtigkeitscreme. Besonders zu dieser Jahreszeit. Sie hatte tausende Sommersprossen über ihre Wangenknochen und Nase verstreut, die darauf bestanden, sich zu vereinen, sobald die Sonne herauskam. Nicht wie ein Punkt-zu-Punkt-Zahlenbild, mehr wie eine Weltkarte, die über ihr gesamtes Gesicht verschmiert war. Es war sinnlos, zu versuchen, sie hinter einer Foundation zu verstecken. Denn sobald die Leute sie dann ohne Make-up sahen, waren sie geschockt.

So wie Arran. Man konnte ihn kaum ihren Ex nennen, dazu hätte er einmal ihr Freund sein müssen. So weit waren sie gar nicht erst gekommen, trotz ihres Irrglaubens, sie seien auf dem besten Weg hin zu einer langfristigen Beziehung.

„Was zum Teufel ist mit deiner Haut passiert?“, hatte er sie gefragt, als er das erste und letzte Mal in ihrem Bett aufgewacht war.

Sie war schon eine ganze Stunde lang wach gewesen, bevor Arran sich an diesem Morgen gerührt hatte. Sie hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob er sich in der Nacht zuvor gut amüsiert hatte. Damals hatte sie noch nicht viel Erfahrung in Sachen Sex gehabt. Teilweise, weil Siobhan und ihre Mum so oft umgezogen waren, dass sie kaum Gelegenheit gehabt hatte, eine Beziehung aufzubauen. Teilweise aber auch, weil ihre Mum dafür gesorgt hatte, dass sie gut über die Gefahren von ungeschütztem Sex aufgeklärt war. Damit hatte sie ihre Tochter ehrlich gesagt wahrscheinlich zu Tode erschreckt. Das Ergebnis war eine gewisse sexuelle Unsicherheit.

Absolute Selbstsicherheit hingegen hatte sie bezüglich ihres Aussehens.

Ihre Mum hatte sie in dem Glauben erzogen, jeder Mensch sei wunderschön.

Sie hatte in den Spiegel gestarrt, nachdem Arran gegangen war.

Ihre Haut war seidenglatt. Sie wusste das. Da war nicht ein Fleck oder Makel. Denn ihre Sommersprossen waren keine Makel. Sie sollte verdammt sein, wenn sie sich von irgendeinem verfluchten egoistischen, sexbesessenen Perfektionisten unterkriegen ließe. Auf gar keinen Fall.

Ihre Mum hatte sie eines Besseren belehrt. Ihr ein inneres Selbstvertrauen anerzogen.

Siobhan hatte ihn aus der Tür getreten, bevor er die Beleidigung überhaupt registriert hatte, die sie noch schnell ausgespuckt hatte – statt sie unter dem Ärger zu vergraben, den sie ihn sich aufsteigen ließ.

Seitdem zeigte sie ihre Sommersprossen voller Stolz.

Sie hatte die Haut einer Rothaarigen, aber ihr Haar war eher erdbeerblond als rot. Ihre Augen wie geschmolzenes Karamell, wie ihre Mum immer sagte.

Als sie klein war, hatte Siobhan einmal gefragt, wieso sie so anders aussah als ihre Mum. Die war eher klein und pummelig, mit so strahlend blauen Augen, dass andere Menschen sie regelmäßig darauf ansprachen.

„Das muss von der Seite deines Vaters kommen. Man sagt, rote Haare werden väterlicherseits vererbt.“

Nur, dass sie keine roten Haare hatte. Technisch gesehen. Und überhaupt: Wer war ihr Vater?

„Leider nur ein vorbeiziehendes Schiff. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt oder wie ich ihn erreichen könnte.“

Natürlich hatte ihre Mum ihr das alles erst erzählt, als sie bereits älter war.

Wusste sie wirklich nicht, wer er war?

Oder hatte sie gelogen?