Leseprobe Die einzige Zeugin | Ein atemloser Psychothriller in dem jedes Geheimnis seinen Preis hat

Prolog

Einmal falsch abgebogen und schon kannte sie sich nicht mehr aus. Zu Fuß unterwegs fühlte sie sich unsicher, als sie sich nun in einer heruntergekommenen Gegend Londons in einer kleinen Straße wiederfand und sie musste dringend auf Toilette.

Zu ihrer Linken befand sich ein schäbiger Pub, dessen Fassade im typischen viktorianischen Baustil grüne Kacheln zierten. Sie könnte schnell hineinhuschen, die Toilette aufsuchen und im Handumdrehen wäre sie wieder draußen. Die Tür war von Werbezetteln übersät und ein Teppich aus Müll zierte die abgenutzten roten Stufen. Normalerweise würde sie einen solchen Ort meiden.

Die schwere, mit Messing verzierte Tür schützte sie noch einen Moment lang, doch dann stieß sie sie auf und der aufdringliche, beißende Gestank von abgestandenem Bier stieg ihr in die Nase. Sie wich zurück und zögerte, den Pub zu betreten. Doch ihr raste nicht wegen des Gestanks das Herz: ein kalter Schauer überkam sie wie eine böse Vorahnung. Jane war nicht abergläubisch, doch einen Moment lang wurde sie es beinahe doch. Sie überlegte, ob sie sich einen anderen Ort suchen sollte, doch sie musste dringend und das übertrumpfte ihr schlechtes Gefühl.

Es war schwer zu sagen, ob der braune Teppich farblich so gehörte oder ob er einfach nur schmutzig war. Jane rümpfte die Nase und trat zögerlich in den Raum. Er war spärlich beleuchtet und ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Eine unnatürliche Stille lag in der Luft und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie hätte sich umdrehen und gehen sollen, doch sie blieb. Gedanklich ging sie durch, was alles an dieser Entscheidung falsch sein könnte. Flüchtig erkannte sie einen Aspekt nach dem anderen, doch bevor sie auch nur einen davon genauer durchdenken konnte, verblassten sie alle wie der Beschlag auf einer Windschutzscheibe.

Sie ging an der Bar vorbei und erstarrte plötzlich, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Mit voller Wucht. Oh. Gott. Sie traute ihren Augen kaum.

Ein Mann in Weste mit blutigen Fäusten, zerzaustem Haar, Bart und Schultertattoo kniete über einem schwerverletzten, blutüberströmten jungen Mann. Er sah zu ihr auf. Mit tiefblauen, funkelnden Augen, die sie nie vergessen würde, lächelte er sie überrascht an. Es dauerte einen Moment, bis er sie erkannte.

Ihr rauschte das Blut in den Ohren. Ihre Gedanken rasten und sie suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Lage.

Ihr stieß etwas Verdorbenes auf. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Ihr Kopf zog nach und eine Flut an Erinnerungen überwältigte sie, bis sie schließlich erstarrte. Sie kannte diesen Mann. Wie unwahrscheinlich war es gewesen, dass sie hier ausgerechnet ihm begegnete! Ihn nach all den Jahren wieder sah. Das konnte nichts Gutes heißen. Vielleicht sollte sie gehen, sich einfach umdrehen und gehen, als wäre sie nie hier gewesen. Mit ihm zu reden wäre zwecklos. Es war bereits schlimm genug, dass er sie erkannt hatte. Ein Gespräch mit ihm würde alles nur noch verschlimmern. Für sie. Sie hatte gehofft, diesen Mann nie wieder zu sehen. O Gott. Sie hegte die scharf stechende Befürchtung, dass diese Begegnung ihr schönes Leben zerstören könnte. Kein Grund zu verweilen. Sie musste hier weg. Sie würde die Begegnung genauso verdrängen wie ihre Vergangenheit. Das konnte sie. Das musste sie. Als sie schließlich ihre Glieder wieder spüren konnte und sich abwandte, hielt er sie mit einer Hand auf der Schulter auf. Sie vernahm eine harte Stimme, die sie nie mehr hatte hören wollen: „Janey.“

Sie wich zurück, weg von ihm.

Mein Gott, dachte sie, das passiert gerade wirklich. Sie spürte panische Angst in sich aufkommen und als immer mehr verdrängte Erinnerungen unerbittlich auf sie einschlugen, begann sie zu zittern.

Sie hatte längst aufgehört, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern, an ihn.

Sie hatte ihn erwischt.

Er würde nicht vergessen, dass sie es war. Erneut, genau wie beim letzten Mal, war sie die Zeugin.

Kapitel 1

Zehn Jahre später

Im obersten Stockwerk des Hauses saß Jane im Büro, völlig vertieft in die Arbeit an ihren Illustrationen. Unter dem Schreibtisch wärmte Jasper ihr die Füße.

Jane erschreckte sich, als der Jack Russell plötzlich aufsprang und die Ohren spitzte. Sie hörte selbst genauer hin und tatsächlich schien gerade ein Auto in der Einfahrt zu parken. Jasper bellte und rannte dann kläffend die Treppe hinab.

Patrick war da. Jane warf einen Blick auf die Uhr. Gott, er war ganz schön früh zu Hause und sie hatte völlig die Zeit vergessen.

Sie stand auf und streckte sich, dankbar für die Ausrede, nicht mehr an ihrem aktuellen Auftrag an Kinderbuchillustrationen weiterzuarbeiten. Ihr Blick fiel auf die vielen Schneekugeln, die sie auf ihren Reisen gesammelt hatten, und sie lächelte. Chronologisch nach ihren Urlauben geordnet bewahrte Jane sie im Regal vor ihrem Schreibtisch auf. Im Regal darunter stand eine Reihe an Büchern, die sie im Laufe der Jahre illustriert hatte.

Mit knirschenden Schritten überquerte Patrick den Schotter der Einfahrt. Jane eilte ins Bad, trug Lippenstift auf und löste ihren praktischen Pferdeschwanz. Sie kämmte ihr Haar und seufzte, als es sich ihr einfach nicht fügen wollte und an mehreren Stellen abstand. Sie sah ein wenig zerstreut aus, doch sie schnappte sich ein T-Shirt vom Stapel frisch gewaschener Kleidung auf ihrem Bett, zog es an und machte das Beste daraus.

In Patricks Abwesenheit trug Jane gerne bequeme Outfits und machte es sich ohne BH in Jogginghosen gemütlich – oder auch mal in Shorts, wenn wie zurzeit gerade eine Hitzewelle herrschte. Er sollte sie nicht in so einem Zustand sehen. Er war Drummer und in seiner Arbeit als Studiomusiker blieb er oft längere Zeit weg: dieses Mal waren es sechs Wochen gewesen. Sie gab etwas Mundspülung in ein Glas, gurgelte und warf dann ihrem Spiegelbild ein Lächeln zu.

Wie sie Patrick kannte, würde sein erster Gedanke nicht ihrem Aussehen gelten. Jane spürte ein vorfreudiges Kribbeln im Bauch und kicherte. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war noch genauso stark wie früher, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt.

Jane hörte, wie Patrick im Flur mit Jasper spielte, bevor er nach ihr rief. Sie lehnte sich über das Treppengeländer und sah, wie er Jasper den Bauch kitzelte, bevor der Kleine losrannte, um seinen Ball zu holen. Jetzt, wo sein Spielkamerad zurück war, war die Welt in seinen Augen wieder in Ordnung.

Jane beobachtete ihren Mann vom Treppenabsatz aus. Patrick war unverändert, noch immer derselbe Mann, den sie vor zwanzig Jahren auf einer Party kennengelernt hatte. Damals war sie zweiundzwanzig gewesen, er achtundzwanzig. Sie hatte Patrick kennengelernt, als sie mit Suzanna, ihrer Verlegerin, eine Literaturveranstaltung besuchte. Er kam als Suzannas Begleitung. Patrick und Suzanna waren damals bereits seit Jahren befreundet. Die beiden kannten einander noch aus der Uni. Sie gaben ein hinreißendes Paar ab. Zum Glück stand Suzanna nicht auf Männer, auch wenn man das der Körpersprache der beiden zusammen nicht angesehen hätte. Patrick war muskulös und groß und sah nach einem Europäer aus, vielleicht nach einem Italiener. Tatsächlich sei er voll und ganz Brite, hatte er ihr erklärt. „In meiner Familie ist leider niemand vom Festland“, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihn darauf angesprochen hatte. Janes Tochter, die ihrem Vater Patrick optisch so ähnelte, hatte sämtliche Gene von ihm. Jane sah in der neunzehnjährigen Lizzie mit ihren dunklen Haaren und der olivfarbenen Haut, dem Teint ihres Vaters, kaum Ähnlichkeiten zu sich selbst. Ihre hellgrauen Augen hatte Lizzie wohl sowohl dank der grauen Augen ihres Vaters und Janes hellblauer Augen. Groß, mit endlos langen Beinen und Haaren, die ihr immer in atemberaubend schönen Wellen über den Rücken fielen. Was sie allerdings von Jane hatte, war ihre extravagante Art zu reden und durch Gestikulieren mit ihren Händen ihre Position klarzumachen.

An jenem ersten Tag brannte sie so vor Verlangen nach Patrick, dass sie meinte, zwischen den Beinen in Flammen zu stehen. Sein Lächeln war noch immer unschlagbar. Breit und einladend. Gerade nahm Patrick eilig zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen schlang er die Arme um sie und drückte sie fest an sich. „Hey, Schatz, ich habe dich vermisst“, hauchte er. Seine Lippen trafen auf ihre. Sanft und liebevoll gab er ihr einen warmen Kuss. Patrick schmeckte nach kaltem Kaffee und roch nach einem langen Tag. Er küsste ihren Hals und ihr Haar.

„Du hast eine Dusche nötig“, verkündete sie und schob ihn sanft von sich.

„Stimmt. Lust mitzukommen?“

***

Später warteten sie auf ihre Deliveroo-Bestellung. Patrick summte in der Dusche und heißer Dampf entwich aus dem Badezimmer in das anliegende Schlafzimmer, in dem Jane es sich gerade nach dem Sex auf dem Bett bequem machte. Als er schließlich mit seinem Handtuch das Schlafzimmer betrat und sich abtrocknete, fragte er: „Wie läuft es mit dem Illustrieren? Als ich das letzte Mal gefragt habe, meintest du, du wärst fast fertig.“

„Fast, ja, und ich werde früher fertig als geplant. Ich bin richtig zufrieden. Ich denke, Suzanna wird die Bilder lieben – und die Autorin natürlich auch. Ich bin so richtig im Flow. Es ist so ein Glück, dass ich meine Arbeit liebe.“ Und das tat sie wirklich. „Dieses Glück haben wir wohl beide.“ Patrick durchquerte mit dem Handtuch um die Hüften den Raum. Jane beobachtete ihn und staunte, dass sie bei seinem Anblick noch immer Schmetterlinge im Bauch hatte. Sie lächelte ihn an, denn sie wusste, wie sehr er seine Musik liebte. Sie beide hatten wirklich Glück mit ihrer Arbeit. Von so vielen hörte sie immer wieder, dass sie ihre Arbeit hassten. Einen anderen Job zu haben, konnte sie sich gar nicht vorstellen.

„Super, dann hast du noch Zeit für die üblichen letzten Änderungen.“

„Ja.“ Sie stand auf und zog wieder Shorts und T-Shirt an. Es war wirklich schön, wie Patrick Interesse zeigte und sich Zeit nahm, um ihren Job zu verstehen. Jane und Patrick waren beide so, glichen sich in der Hinsicht wie ein Ei dem anderen.

„Worum geht es in der Geschichte?“

Sie sah ihm dabei zu, wie er sich die Haare mit einem Handtuch trocknete, und ein angenehm warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus.

„Um einen wütenden, aber liebenswerten Bären. Er ist wütend, weil ihm ein Dorn in der Pfote steckt, der sich entzündet hat. Er ist mit einem kleinen Mädchen befreundet, das ihm ab und zu Honig in den Wald bringt, und sie bringt eines Tages die Pinzette ihrer Mutter mit und zieht den Dorn. Die Lineart ist komplett fertig, jetzt bin ich nur noch am Kolorieren.“

„Das wird wie immer fantastisch“, antwortete er und grinste, „und wenn du dann fertig bist, können wir ja vielleicht mal Urlaub machen. Wo würdest du gern hin?“

Sie dachte daran, ihn ganz für sich allein zu haben, ohne Unterbrechungen durch Patricks oder Janes Agenturen, nicht einmal durch ihre geliebte Tochter. Das hatten sie beide nötig. Außerdem war Lizzie mittlerweile erwachsen und Jane und Patrick mussten nicht immer da sein. Lizzie war für ihre Semesterferien diesen Sommer nach Hause gekommen und hatte selbst genug vor.

„Etwas Warmes, wo wir entspannen können, ohne Kinder, mit blauem Wasser und weißem Strand.“ Er hatte recht. Sie waren schon ewig nicht mehr weggefahren. Einen Urlaub konnten sie gut gebrauchen.

„Wir sollten irgendwo in die Tropen, ähnlich wie St. Barts, da ist das Wetter das ganze Jahr über perfekt“, schlug er vor. „Ja! Das machen wir. Ich kümmere mich darum, lass dich überraschen.“ Er packte sie an den Schultern und schnipste kurz an ihrem BH-Träger. „Überleg mal, wie viel Zeit wir für uns haben werden.“ Er widmete sich ihrem Hals, als wollte er sie vernaschen. Gott, wie gut es sich anfühlte, ihn wieder daheim zu haben.

Jane schlang ihm die Arme um den Hals und drängte sich dicht an ihn. „Ich kann es kaum erwarten. Keine Arbeit. Eine ganze Woche lang keine Verpflichtungen.“

„Eine Woche? Wie wäre es mit zwei Wochen. Für eine Woche ist es zu weit.“

Sie rümpfte die Nase. „Zehn Tage. Du weißt doch, dass ich mich ungern von Jasper trenne. Und jetzt, wo Lizzie zu Hause ist, will ich ein bisschen Zeit mit ihr verbringen, du etwa nicht?“

„Doch, das weißt du doch, aber du weißt auch, dass sie vorhat, auf Festivals zu gehen und so.“ Er gab einen dramatischen Seufzer von sich. „Na gut, zehn Tage.“ Er streichelte ihr über die Wange und beim Anblick der Sehnsucht in seinen Augen hätte sie weinen können vor Verlangen. Gott, sie hatte solch ein Glück gehabt, dass sie diesen Mann gefunden hatte. Dem war sie sich bewusst. Sie sah ihn in keinem Moment als selbstverständlich an. So weit würde es nie kommen. Er grinste. „Komm, wir setzen noch einen drauf. Lass uns richtig auf den Putz hauen. Für die letzte Tour wurde ich richtig gut bezahlt. Lass uns First Class fliegen.“

„Echt?“ Sie wich zurück, überrascht von seinem extravagantem Vorschlag. „Können wir uns das leisten? Vielleicht wäre Business Class besser.“ Er wollte sie verwöhnen, das wusste sie. Das wollte er ständig. Sie war die Vernünftige; diejenige, die ihn bremste. Business Class reichte. Als er mit seinem Finger über den Pulspunkt an ihrem Nacken fuhr, spürte sie vor Vorfreude ein Kribbeln im Bauch und lächelte.

„Wir können uns First Class leisten, weißt du.“

„Ja, aber das ist so extravagant. Business Class tut es genauso.“ Manchmal beunruhigte Patricks impulsive Art sie. Er machte sich oft darüber lustig, dass Jane zu verhalten sei und das Leben einfach leben müsse. Doch sie konnte nicht anders. Sie war von Natur aus vorsichtig. Es wurde für sie nie zur Selbstverständlichkeit, was die beiden alles hatten. Sie hatte zu viel Angst davor, alles zu verlieren. Jederzeit war sie sich bewusst, wie schnell sich das Leben ändern konnte. Sie war glücklich, sehr glücklich. Darum sah sie keinen Sinn darin, Geld aus dem Fenster zu werfen, nur weil sie es konnten.

Patrick lächelte und schüttelte den Kopf. „Wenn du meinst.“ Er hob ihren Kopf mit dem Finger an und sah ihr in die Augen. „Verdammt, Jane Carmichael, ich liebe dich so sehr.“

***

Am nächsten Morgen saßen die beiden in der Küche beim Frühstück. Jasper fing erneut an, unaufhörlich zu bellen.

„Was ist bloß los mit ihm?“, wunderte sich Patrick, während er sich eine Scheibe Toast schmierte. „Hier, schau dir mal diese Hotels an, was meinst du? Gefällt dir eins davon?“

Jane zuckte mit den Schultern. „Such du eins aus. Überrasche mich. Wir haben eine Familie von Eichhörnchen, die Jasper in den Wahnsinn treibt, darum bellt er ständig. Aber ich glaube, der Postbote ist auch gerade gekommen.“ Sie hatte eine Autotür zufallen gehört und jetzt schepperte der Briefkasten. „Ich hasse es, wenn er die Eichhörnchen jagt. Sie können ganz schön bösartig sein.“

„Tja, da lässt sich nicht viel machen. Wir müssen ihn einfach im Auge behalten, bis sie abziehen. Wie spät ist Lizzie nach Hause gekommen? Ich habe sie nicht heimkommen hören?“

Jane seufzte. „Glückspilz, ich schon. Gegen zwei. Jasper ist aufgewacht, aber er hat sich schnell wieder beruhigt. Du lagst komplett flach und hast lauthals einen Wald abgesägt.“

„Echt? Tut mir leid, ich war komplett gerädert. Es ist einfach nicht leicht, mit Jungs auf Tour zu gehen, die zwanzig Jahre jünger sind als ich. Sie wollen nie schlafen gehen.“ Er nahm einen Bissen von seinem Toast. „Wollen ständig feiern gehen, während ich es nicht erwarten kann, heimzukommen. In meinem eigenen Bett neben dir zu liegen ist der Schatz am Ende des Regenbogens.“

„Wie kitschig“, erwiderte sie schmunzelnd, während sie sich selbst eine Scheibe Toast schmierte. „Hast du denn gar nicht gefeiert?“ Sie wusste, dass er das nicht tun würde.

„Nein. Überhaupt nicht. Ich habe vergessen, wie viel Energie man in ihrem Alter noch hat. Ehrlich gesagt fühle ich mich neben ihnen verdammt alt, Jane. Ich habe nicht mehr so viel Energie wie früher.“

Jasper rannte mit der Post ins Haus.

„Der Postbote ist heute früh dran, hm? Sonst kommt er normalerweise erst nach zehn“, kommentierte Patrick. „Jasper, komm, aus. Ich dachte, er hätte damit aufgehört, die Post zu klauen.“ Jasper ignorierte ihn und lief mit der Post zurück in den Flur.

„Manchmal macht er es noch“, antwortete sie. Sie fragte sich, wohin Jasper die Post dieses Mal verschleppt hatte. Manchmal brachte er sie wieder zur Haustür, manchmal ins Wohnzimmer. Sie war sich sicher, dass er spielen wollte und die Post absichtlich klaute.

„Hey“, wandte Jane sich an Patrick und vergaß Jasper dabei wieder. Sie wollte Patrick ihre Insel zeigen und wie viel Arbeit sie in seiner Abwesenheit in sie gesteckt hatte. „Lust, zur Insel rauszufahren? Ich habe sie in den letzten sechs Wochen schön hergerichtet. Das Wetter war die ganze Zeit über fantastisch und ich habe mich richtig ins Zeug gelegt. Ich glaube, ich habe es ein bisschen übertrieben, aber jetzt ist es wunderbar. Und heute ist so ein schöner Tag.“ Draußen waren fünfundzwanzig Grad und das schon um 9 Uhr morgens. Es wurde bereits für mehrere Wochen tropisches Wetter vorhergesagt. Jane kühlte ihr Gesicht an der Orangensaftpackung. Sonst stand im August meistens Dauerregen an. Daran erinnerte sie sich noch aus der Zeit, in der das Lizzies Sommerferien betroffen hatte. Zunächst waren dieses Jahr alle begeistert von der Hitze gewesen, doch je länger sich die Zeit ohne Abkühlung zog, desto mehr wurde die Freude zur Qual. Die erdrückende Hitze im Haus machte Jane zu schaffen, insbesondere nachts.

Seit sie und Patrick vor zwei Jahren hierher gezogen waren, hatte Jane viel Zeit auf der Insel verbracht. Sie lag hinter ihrem Haus in dem See, der das gesamte Grundstück umgab. Immer wieder mühte sie sich, das dichte Gestrüpp auf der Insel zu bändigen. Sie wollte sich dort einen erholsamen Rückzugsort in der Natur aufbauen. Einen Ort, an dem sie in Ruhe zeichnen konnte. Sie und Patrick wohnten in einem von drei Häusern, die sich am Rande des Balcombe Lake, nördlich des Ardingly Reservoirs in Sussex, sichelförmig um den See reihten. Sie hatte die Insel nach dem Einzug direkt für sich beansprucht. Die Bewohner der anderen Häuser hatten zwar Zugang zu der Insel, nutzten sie aber nicht und schienen keine Einwände dagegen zu haben, dass Jane fröhlich vor sich hin schuftete und mit der Insel machte, was sie wollte. Aus Höflichkeit hatte sie den Nachbarn angeboten, dass sie natürlich vorbeikommen und Zeit auf der Insel verbringen konnten. Zum Glück schien daran kein Interesse zu bestehen und sie bestand auch nicht weiter darauf.

Jetzt schnappte sich Jane die Schlüssel vom Haken neben der Abstellkammer. „Ich mache das Boot startklar. Kümmere du dich noch um eine Thermoskanne Kaffee und komm nach. Jasper liebt die Insel. Komm, Jasper, wir gehen schon mal los, Süßer.“

Draußen angekommen erhaschte sie einen Blick auf einen Reiher, der sich am Ufer der Insel bewegte. Aufgeschreckt von ihr und Jasper hob er ab und flog anmutig am blauen Himmel fort. Als Jasper erkannte, wohin es ging, rannte er voraus und sprang ins Boot, wo er darauf wartete, dass sie ihn einholte. Am Ufer angekommen, löste Jane die Klampen von einem Pfosten und schob den drei Meter langen Clinker gerade ins Wasser, als Patrick mit der Thermoskanne dazustieß.

Sobald er im Boot saß, stellte Jane den Motor an und sie überquerten sanft den ruhigen See. Jasper hockte an der Seite neben Patrick und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Das Boot schlug leichte Wellen und Jane fragte sich, ob der Reiher sie alle wohl beobachtete. Vielleicht wartete er ab, dass sie wieder nach Hause gingen, um dann zur Insel zurückzukehren. Jane war wunschlos glücklich mit dem Haus und der Umgebung. Sie drehte sich um und beobachtete, wie sie sich immer weiter vom Haus entfernten. Es war ein kleines Wunder gewesen, dass sie das Haus damals gefunden hatten. Jane richtete ihren Blick auf und blinzelte gegen die Helligkeit an. Dieses Leben war ein wahrhaftiges Glück und das teilte sie dem Universum auch oft so mit. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, man solle sich für alles, was man habe, dankbar zeigen. Im Gegenzug bekäme man dann mehr davon.

Mit der Hand an der Pinne saß sie am Heck. So über das Wasser zu gleiten, hatte etwas Magisches an sich. Sie liebte es. Via dem Ufer zur Rechten der Insel gelangte man zu einer Kleinstadt, Landstraßen, Bauernhöfen, Schulen und Geschäften. Riesige, dicht bewachsene Bäume schirmten all das vom See ab. Hinter ihnen, verborgen am hinteren Ende des Grundstücks, befanden sich die sichelförmig angeordneten Häuser. Das Grundstück hatte einst einem reichen Kaufmann gehört, der im neunzehnten Jahrhundert in der Nähe des Sees eine imposante Villa gebaut hatte, die später in Verfall geriet und mittlerweile abgerissen war. Das Grundstück wurde verkauft und von örtlichen Bauunternehmern gekauft, die es unter den drei Sichel-Häusern aufteilten. Ihres hatte die beste Aussicht auf den See. Als sie und Patrick einzogen, bauten sie als allererstes neben dem Haus ein Tonstudio für Patrick an, und dort verbrachte er nun die meiste Zeit.

In dem ersten Haus, das man bei der Fahrt über das Grundstück erreichte, wohnten Pauline und Tony. Ihr Haus lag ganz unten am See und Penny und Gordon mit ihren zwei kleinen Mädchen wohnten zu ihrer Rechten. Seit sie in Mumbles, Südwales, in der Nähe von Pennys Familie, einen Caravan gekauft hatten, verbrachten sie so gut wie immer dort die Ferien.

Als Patrick und Jane sich dem Ufer näherten, stoppte sie sanft ab.

„Da sind wir schon. Pass auf, dass du nicht über die losen Steine am Ufer stolperst“, warnte sie und stellte den Motor ab. Jasper sprang aus dem Boot und rannte auf direktem Wege in die Büsche, wo er fröhlich die Tiere anbellte, die sich vor ihm versteckten.

Sie folgten Jasper zu dem gemütlichen Plätzchen, das Jane mit hölzernen Liegestühlen und Kissen ausgestattet hatte, die sie in einer wasserdichten Gartenkiste aufbewahrte. Darin befanden sich auch Plastikgläser und -becher, Wasserflaschen, eine Taschenlampe, Tee, Kaffee, Milchpulver, Batterien, ein Seil für Notfälle und ein kleiner Campingkocher samt kleinem Kesselchen zum Wasserkochen für Heißgetränke, falls sie mal vergessen sollte, eine Thermoskanne mitzunehmen.

„Jane, das ist fantastisch“, lobte Patrick sie, während er überrascht die verwandelte Insel bestaunte. „Das hast du doch nicht alles selbst gemacht, oder?“

„Könnte ich jetzt behaupten. Aber nein. Ralph hat geholfen. Er war mir eine große Hilfe.“ Ralph wohnte in einem der anderen drei Häuser am See und er und Lizzie hatten sich nach dem Einzug schnell angefreundet. Die beiden studierten mittlerweile an derselben Uni in York und Ralph verbrachte eine Menge Zeit bei ihnen zu Hause.

Nachdem Jane die Kissen ausgepackt hatte, machte Patrick es sich auf einem der Liegestühle bequem.

Sie schenkte zwei Tassen Kaffee ein und reichte ihm eine.

„Ist es nicht schön hier? Verstehst du, warum ich so gerne zum Zeichnen hierherkomme? Es ist so friedlich.“ Am meisten liebte sie, wie ruhig es war. Eine überwältigende Stille, in der sie zur Ruhe kam und sich glücklich fühlte. Es war etwas Besonderes, insbesondere da sie gar so weit von der Hauptstraße entfernt wohnten. Hier konnte sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen und die Figuren für ihre Bücher zum Leben erwecken.

„Ja, aber die Vorstellung, dass du hier allein hingehst, beunruhigt mich. Was, wenn du ins Wasser fällst?“

Jane lachte. „Stell dich nicht so an. Dann schwimme ich natürlich. Mach jetzt kein Drama daraus, Patrick. Das ist mein besonderer Ort und ich will bitte nicht an irgendwelche Horrorszenarien denken. Außerdem ist Ralph immer in der Nähe.“

„Er ist ein lieber Junge und es ist schön für Lizzie, dass sie sich so nahe stehen und auf dieselbe Uni gehen. Mir gefällt, dass er auf sie aufpasst. Ich denke nur ungern daran, dass sie dort oben Party macht, während wir keine Ahnung haben, was bei ihr abgeht.“

„Ja, aber sie ist doch vernünftig, Patrick. Sie ist nicht eine von den Rave-Partygirls, von denen man so hört. Es ist klasse, dass Lizzie so gut mit einem Jungen befreundet ist, da stimme ich dir zu.“

„Aber es ist schön, dass sie gerade daheim ist“, erwiderte er lächelnd.

„Klar. Wie auch immer, mach dir nicht so einen Kopf um sie. Ich liebe es hier. Am besten gefällt es mir, kein Handy dabei zu haben. Keiner stört mich und …“

Er sah sie entsetzt an und hob die Hand. „Okay, okay, ich lasse das mit den Horrorszenarien. Aber dein Handy nicht mitzunehmen ist verrückt. Nein, Jane, bitte, sei doch mal vernünftig. Ich weiß, dass du die Teile hasst, aber was, wenn ich – oder schlimmer noch Lizzie – dich erreichen muss. Oder das Boot nicht anspringt. Denk mal darüber nach.“

Darüber hatte sie bereits nachgedacht. Ausführlich. Und sie wusste ehrlich gesagt nicht, was sie dann tun würde. Das störte sie allerdings nicht. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit eines solchen Notfalls? Winzig, dachte sie sich und wog dagegen ab, was für ein Abstrich es für sie wäre, ihr Handy bei sich zu haben. Allein zu wissen, dass sie es bei sich hatte, wäre bereits störend für sie und dann würde sie es einschalten. Um einen Blick darauf zu werfen. Falls was wäre. Das hasste sie an Handys. „Okay, wenn es dich beruhigt, habe ich ein klassisches Nokia in der Kiste. Ohne Internet. Es ist ausgeschaltet und nur für Notfälle. Zufrieden?“

„Sehr“, erwiderte er lächelnd.

Sie verstand Patricks Sorge durchaus – ihr würde es genauso gehen. Und unterwegs konnte er solche Sorgen nicht gebrauchen.

Beruhigt über die Sicherheitsmaßnahme lehnte er sich zurück und schloss die Augen. „Lust auf ein bisschen Jazz zur Entspannung?“ Er öffnete iTunes auf seinem Handy und schon bald war die Idylle komplett.

Eine Zeit lang verweilten sie so auf der Insel und hörten schweigend Musik. Im Hintergrund war sanftes Plätschern am Ufer zu hören und gelegentlich bellte Jasper irgendwo tief im Gestrüpp. Es raschelte, während er durch die Gegend flitzte. Der Reiher kehrte schließlich zurück. Er landete lautlos am Ufer, elegant und majestätisch, und blickte in die Ferne. Jane freute sich, dass er zurückkam, obwohl sie noch auf der Insel saßen. Vielleicht ahnte er das aber auch gar nicht, weil die beiden so still waren. Abgesehen von der Musik. Vielleicht hörte er gern Jazz. Wer weiß. Sie hatte mal irgendwo gelesen oder im Radio gehört, dass Tieren Musik gefiele. Aber gut, das war eigentlich egal, oder? Der Reiher war jedenfalls da. Bei ihr und Patrick. Ob er sich genauso wohl fühlte wie sie? War dies seine Insel gewesen, bevor Jane aufgetaucht war, oder kam er erst, seit sie die Insel hergerichtet hatte? Sie würde es wohl nie erfahren. Der Reiher steckte den Kopf ins Wasser und als er wieder auftauchte, hatte er einen Fisch gefangen. Wie schön. Sie fand das schön.

Schnell wie eine Rakete schoss Jasper aus dem Gebüsch und kam in Windeseile auf den Reiher zu. Der war allerdings aufmerksam und hatte Jasper bereits vor Jane gehört. In aller Seelenruhe flog er mit seinem Fisch am Himmel davon, während Jasper ihm verärgert hinterher kläffte, weil er die Challenge verloren hatte. Dummerchen.

Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen. Jane und Patrick packten alles wieder ein und stiegen dann ins Boot. Jane ließ den Motor an und die beiden saßen stillschweigend an ihren Plätzen, während das Boot sie sicher zurück zum Ufer vor ihrem Haus brachte. Patrick saß neben ihr, den Arm um ihre Schultern, und es bedurfte keiner Worte. Es schien, als wüssten sie beide, dass ein Gespräch die magische innere Ruhe brechen würde, die sie auf der Insel getankt hatten.

Sobald sie wieder in der Küche ankamen, nahm das Leben wieder seinen gewohnten Lauf. Patrick ging nach oben, um sich umzuziehen, weil er wohl verschwitzt war, und Jane sammelte die Post ein, die Jasper diesmal im Wohnzimmer auf dem Sofa abgelegt hatte. Winzige Beißspuren zierten den braunen Umschlag, der an sie adressiert war.

Jane fuhr mit einem Finger unter der Lasche entlang und öffnete ihn. Sie überflog die Worte mehrmals und ihr fror das Blut in den Adern. Sie konzentrierte sich auf die Worte, die ihr besonders ins Auge fielen. Curtis Murk.

Unglaublich.

Der verdammte Curtis Murk.

Das konnte nicht wirklich passieren, nicht jetzt. Nein, das musste ein Fehler sein. Jemand musste etwas falsch gemacht haben. Man hatte ihr das versichert, das wusste sie genau. Sie war sich definitiv sicher, dass man ihr versichert hatte, dass das hier unmöglich sei. Was jetzt? Was, wenn es stimmte? Was sollte sie jetzt machen? Das war ihr Leben. Ihr schönes Leben. Ihr schöner Mann und ihre schöne Tochter. Was hatte das für sie zu bedeuten? Für sie alle? Da war er plötzlich, der verdammte Curtis Murk. Sie konnte es nicht ganz glauben und lehnte sich gegen das Sofa, um sich festzuhalten. Es war ein Schock. Ein verdammt großer Schock, genauer gesagt.

Erneut las sie den Brief. Es musste sich um einen Fehler handeln. Sie würde anrufen. Würde ihnen erklären, dass das hier nicht in Ordnung war; dass ein solcher Fehler gemein und unprofessionell war. Bevor sie solche Briefe verschickten, sollten sie erst mal ihre Behauptungen überprüfen. Unprofessionell war das. Verdammt unprofessionell.

Sie las den Brief noch einmal und ihre Hand zitterte dabei so sehr, dass sie das Papier mit beiden Händen halten musste. Es war vor zwei Wochen geschehen. Warum bekomme ich das erst jetzt?

Opferschutz

 

Sehr geehrte Mrs. Carmichael,

 

wie von Ihnen angefordert, informieren wir Sie über die vorzeitige Entlassung von Curtis Murk auf Bewährung. Er wurde am 20. Juli entlassen.

Im Rahmen des Bewährungsverfahrens wurde sorgfältig geprüft, dass durch ihn keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit besteht und er seine Strafe unter vorbildlichem Verhalten und Rehabilitationsmaßnahmen abgesessen hat.

Bei Fragen kontaktieren Sie uns bitte unter oben genannter Nummer …

Sie hätte das nie anfordern sollen. Was habe ich mir bitte dabei gedacht? Damals hatte sie Bescheid wissen wollen. Natürlich, das hätte jeder gewollt. Oder vielleicht auch nicht. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, so hieß es doch, oder? Oder bringt einen Unwissen nur in Gefahr? Sie wusste es nicht.

Im Rahmen des Bewährungsverfahrens wurde sorgfältig geprüft? Sorgfältig geprüft? Die Worte stießen ihr sauer auf. Wer leitete das Bewährungsverfahren, die Muppets? Wie konnten sie behaupten, er sei „keine Gefahr mehr für die öffentliche Sicherheit“?

Sie erstarrte gedanklich, als hätte Murk die Hand durch den Brief gestreckt und sie an der Kehle gepackt. Erinnerungen prasselten auf sie ein, eine nach der anderen, rasend, rasend schnell, als würde jemand eine Fernsehsendung vorspulen. Blut an ihren Händen. Ihre tränenden Augen. Eine Leiche. Weiße Wände. Rund um sie herum weiße Wände. Sie war in dem Weiß gefangen. Sie presste die Augen zu. Nein. Nein. NEIN! Ich kann nicht daran denken. DAS KANN ICH NICHT! Jane zitterte. Sie versuchte die aufsteigenden Erinnerungen zu unterdrücken und bekam am ganzen Körper Gänsehaut. Krampfhaft versuchte sie, die Flashbacks aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie machte einen Schritt rückwärts, verlor den Halt und plumpste auf den Hintern. Schwindelig las sie den Brief erneut.

Dann hörte sie, wie Patrick die Treppe heruntereilte und sie beim Namen rief. Jane knüllte den Brief zusammen und steckte ihn sich in ihre Shortstasche. Er durfte sie nicht so sehen, das konnte sie nicht zulassen. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen. Holte tief Luft. Er darf es nie erfahren. Niemals.