Kapitel 1
„Alles Gute zum Jubiläum, Carrie Winter!“
„Bitte was?“ Ich starre auf mein Handy und habe das Gefühl, meine Augen springen mir aus dem Kopf. Einen Moment lang denke ich, ich hätte eine Reise oder einen Preis gewonnen. Dass es um irgendetwas anderes geht, nur nicht um das, was ich insgeheim bereits ahne.
„Da der Mord an Mark Black bald genau drei Monate her ist, haben wir Sie für ein Exklusivinterview ausgewählt …“
Ich lege sofort auf und werfe mein Handy quer durch den Raum. Es prallt gegen die Wand und rutscht dramatisch, fast wie in Zeitlupe, zu Boden. Ich schlinge meine Arme um meinen Körper, als könnte ich mich so schützen vor dem, der mich angerufen hat, wer auch immer es gewesen ist.
Diese Anrufe. Ich halte es nicht mehr aus. Echt nicht.
Zu allem Überfluss läuft auf Dateline schon wieder unsere Folge „Back from the Black.“ Das muss mindestens das dritte Mal in den letzten zwei Monaten sein. Die Leute scheinen gar nicht genug von den Verheerungen zu bekommen, die Mark Black in The Estates angerichtet hat, unserer exklusiven Wohnanlage in der sicheren und idyllischen Ortschaft Armonk, New York.
Verstehen Sie mich nicht falsch, von Keith Morrison und seiner Stimme, die so sanft ist wie geschmolzene Butter, kriege ich auch nicht genug. Aber im Gegensatz zu den anderen muss ich mir die Geschichte nicht noch ein drittes Mal anhören.
Denn ich habe sie selbst erlebt.
Und obwohl Mark Black aus The Estates endgültig vertrieben wurde, wird er für immer mietfrei in meinem Kopf wohnen.
Ich versuche, die Gedanken an meinen verstorbenen psychotischen Nachbarn zu verdrängen. Ich gehe in die Küche und beginne, die Zutaten für den weltbesten Pot Roast im Schmortopf zu schichten. Ich habe das Rezept in den letzten zwei Jahren immer weiter verfeinert. Mein Mann Bennett und mein Stiefsohn TJ sind geradezu besessen davon. Das Gericht, die ganze Zeit und Energie, die ich dafür aufwende, ist mir eine Herzensangelegenheit. Alles, um mich von den letzten drei Monaten abzulenken.
„Morgen, Carrie.“
Ich schaue zu meinem Stiefsohn auf. Er hat sich herausgeputzt und ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Das gleiche dichte, dunkle Haar. Die gleichen durchdringenden blauen Augen. Heute ist „Bring dein Kind mit zur Arbeit“-Tag in Bennetts Anwaltskanzlei. Mit neunzehn ist TJ wahrscheinlich etwas zu alt, um an Bennetts Schreibtisch zu sitzen und sich mit Buntstiften zu beschäftigen oder auf dem iPad zu daddeln, während sein Vater sich wichtigen juristischen Angelegenheiten widmet, aber TJ hat großes Interesse daran bekundet, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und selbst Anwalt zu werden. Er hat sich für Kurse am Westchester Community College eingeschrieben, was ein klarer Schritt in die richtige Richtung ist. Überglücklich über diese Entwicklung hat Bennett geschworen, seinen Sohn auf jedem Schritt seines Weges zu unterstützen.
Es ist viel passiert, seit TJ, der entfremdete Sohn meines Mannes, plötzlich vor unserer Haustür aufgetaucht ist. Es war unser erster Hochzeitstag und statt Blumen stand er vor der Tür, ein Kind, von dessen Existenz ich nichts wusste.
„Sieh dich an“, sage ich, lasse meinen Schmorbraten Schmorbraten sein und gehe auf TJ zu. Ich richte seine Krawatte und klopfe ihm dann auf die Brust. Mein Herz zieht sich vor Zuneigung für meinen Stiefsohn zusammen. „Perfekt.“ Ich strahle vor Stolz. Ich kenne TJ noch nicht lange, aber ich habe mich mit Leib und Seele in die Rolle der liebevollen, fördernden Stiefmutter gestürzt. Die Rolle steht mir echt gut.
„Bist du aufgeregt?“, frage ich. „Nervös? Immerhin ist es dein erster Tag im Büro.“
„Ein bisschen von beidem.“ TJ tritt von einem Fuß auf den anderen, die Nervosität ist ihm anzusehen.
„Ich bin sicher, du kriegst das super hin. Und wenn du merkst, dass Jura nichts für dich ist, kannst du immer noch auf die Kochschule gehen.“ Ich zwinkere ihm spielerisch zu.
TJ lacht über meinen vermeintlichen Witz, aber ich meine es todernst. Mein Stiefsohn ist ein phänomenaler Koch. Er hat mich damals mit in Ahornsirup karamellisiertem Speck und den fluffigsten Rühreiern aller Zeiten gepackt. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass TJ mir einen Tag, nachdem er unser Leben auf den Kopf gestellt hatte, das Frühstück zubereitete.
Ich denke an diesen Moment zurück und erinnere mich, wie riesig mir das TJ-Problem damals erschien. Katastrophal. Sogar unüberwindbar. TJ tauchte auf und weniger als vierundzwanzig Stunden später wurde die siebzehnjährige Sofia Swanson mit dem Gesicht nach unten im Gemeinschaftspool treibend gefunden. Zwei Tage später wurde Lila Lockwood ertrunken im Bach entdeckt. Dann verschwand Sienna und weiter ging es Schlag auf Schlag.
Bämm. Bämm. Bämm.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass es niemals aufhören wird. Als würde ich nur darauf warten, dass der nächste Tiefschlag kommt.
Mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Hätte Mark Black seinen Willen bekommen, wäre ich jetzt genauso tot wie Sofia und Lila. Viel hat nicht gefehlt. Ich fahre mit den Fingern über die Narbe in meinem Gesicht, eine bleibende Erinnerung an eine Vergangenheit, die ich nie vergessen werde.
Mein Atem beschleunigt sich – der Beginn einer Panikattacke. Es ist schwer, nicht ängstlich zu sein, wenn man eine Vergangenheit wie wir hat. Gerade, als ich anfange zu hyperventilieren, spüre ich, wie mich die muskulösen Arme meines Mannes von hinten umschlingen und mich vor den schrecklichen, ungebetenen Erinnerungen schützen. „Ich wünschte, heute wäre ‚Bring dein Kind und deine Frau mit zur Arbeit‘-Tag“, sagt Bennett, küsst mich in den Nacken und verwandelt mein Herzklopfen sofort in ein Flattern. In Momenten wie diesen frage ich mich unweigerlich, wie lange diese Phase des Verliebtseins wohl noch andauern wird. Auch nach zwei Jahren reicht Bennetts bloße Berührung aus, um mir das Gefühl zu geben, gleich zu platzen. Ich atme langsam und tief durch, um meinen Puls zu beruhigen, während ich den beruhigenden Duft meines Mannes einatme.
„Nehmt euch ein Zimmer“, stöhnt TJ und verdreht die Augen.
Ich setze ein breites Grinsen auf. Trotz des holprigen Starts werden wir allmählich zu einer richtigen Familie.
Das Bimmeln meines Handys, das immer noch auf dem Boden liegt, reißt mich zurück in die Gegenwart. Ich hebe es rasch auf und finde eine SMS von meiner besten Freundin und Nachbarin Marnie Black.
Marnie: Wird das heute noch was?
Ich muss lächeln. Es ist noch früh – noch nicht mal sieben Uhr morgens. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen und der Himmel ist noch dunkelblau von der vorigen Nacht. Aber Marnie mag es nicht, wenn man sie warten lässt.
Ich: Sorry, ich verabschiede mich gerade von Bennett und TJ.
Mit den Fingern auf den Bildschirm tippend, warte ich auf eine Antwort.
Marnie: TJ? Verschone mich …
Ich verdrehe die Augen. Ich kann meinen Stiefsohn nicht mal erwähnen, ohne dass Marnie wieder loslegt. Sie will mir auch nicht sagen, warum. Ich habe sie immer wieder gefragt. Oh Gott, wie oft habe ich sie gefragt.
Warum magst du TJ nicht?
Was ist los?
Hat er dir was getan?
Meine Fragen beantwortet sie in der Regel mit einem ausweichenden Grunzen und einem schnellen Themenwechsel.
Ich lege mein Handy auf den Tisch und muss daran denken, wie seltsam es ist, dass TJ genauso empfindet – schon wenn ich Marnie nur erwähne, bekommt mein Stiefsohn die Krise.
Tja nun, denke ich bei mir und schnaube leise. Damit hat sich für mich das leidige Marnie/TJ-Thema für heute erledigt. Während TJ damit beschäftigt ist, seinem Vater bei der Arbeit auf Schritt und Tritt zu folgen, werde ich den Tag mit meiner besten Freundin verbringen, und da das Abendessen im Slow Cooker brutzelt, habe ich nichts als Zeit.
Ein Lächeln huscht über mein Gesicht, als ich über meine Pläne für den Tag mit Marnie nachdenke: gute, alte Nachbarschaftsüberwachung.
Ein neuer Nachbar zieht in die Estates. Jemand war offenbar verrückt genug, ein Haus zu kaufen, aus dem ein Mädchen verschwunden ist, das später tot im Bach nebenan gefunden wurde. Und Marnie und ich wollen unbedingt herausfinden, wie verrückt derjenige wohl ist.
Wie aufs Stichwort kommt eine weitere SMS von Marnie.
Marnie: Sind sie weg? Bist du endlich so weit?
Ich: Aber hallo!
Ich blicke aus dem Fenster auf das „Verkauft“-Schild, das stolz im weitläufigen Vorgarten der Lockwoods steht. Ich war nicht gerade traurig, als sie weggezogen sind, aber ich bin gespannt darauf, unseren neuen Nachbarn kennenzulernen.
Vielleicht ist es nur das Wissen um die abscheulichen Verbrechen, die unser ehemaliger Nachbar Mark Black direkt vor unserer Nase begangen hat, das mich ein bisschen nervös macht. Da zeigt sich mal wieder: man kann niemandem wirklich kennen.
Kapitel 2
Von ihrem Schlafzimmerfenster aus hat Marnie eine perfekte Sicht auf das Haus, in dem die Lockwoods gewohnt haben, das Haus, das sie mit ihrer Tochter geteilt haben, bevor Mark Black ihrem kurzen Leben ein so grausames Ende bereitet hat.
Und nach zwei Monaten der Antizipation und der Spekulation und all den anderen -tionen zieht endlich der neue Nachbar in eben dieses Haus ein.
Nachdem TJ und Bennett sich mit Lunchpaketen und Thermoskannen heißen Kaffees in den Porsche gezwängt haben, gehe ich über die Straße, wo Marnie schon ungeduldig auf mich wartet.
„Ich habe Mimosas gemacht“, verkündet sie und drückt mir, noch bevor ich mir die Schuhe ausgezogen habe, ein zierliches Glas Champagner mit Orangensaft in die Hand. Ich lehne gegen den Türrahmen und versuche unbeholfen, mit einer Hand meine Sneaker aufzuschnüren, während ich mit der anderen das Glas balanciere. Nach der ganzen Arbeit brauche ich vielleicht tatsächlich einen Drink.
„Wie war's gestern Abend?“, frage ich, während ich mich weiter mit einem Doppelknoten abmühe.
„Öde“, sagt Marnie und verdreht die Augen. „Buchklub war bei Florence. Sie kommt immer mit den miesesten Büchern um die Ecke. Wie viele historische Romane kann ein Mensch lesen?“
„Kommt wohl auf den Menschen an. Aber wäre ich Gastgeberin, würden wir Verity lesen.“ Ich setze ein schiefes Lächeln auf.
„Ja“, stimmt sie zu. „Aber du weißt ja, wie sehr unsere Nachbarinnen Penisse hassen.“
Ich kichere über Marnies Unverblümtheit. Ich bin heilfroh, dass ich aus dem Buchklub ausgetreten bin.
Ich erwarte, dass sie mitlacht, aber stattdessen tippt Marnie mit dem Fuß auf den Boden, ihre ernste Miene bildet einen krassen Gegensatz zu so heiteren Themen wie Penissen und Schampus.
„Oje, was ist los?“, frage ich.
„Hast du sie gesehen?“
„Wen gesehen?“ Ich runzele die Stirn. Nicht zum ersten Mal in unserer langjährigen Freundschaft habe ich keine Ahnung, worauf Marnie hinauswill. Nur, dass es für diejenige, auf die sie einen Brast hat, nicht gut ausgehen wird, das ist mal klar.
Sie verdreht die Augen, als müsste ich es eigentlich wissen. „Nikki Lang. Ihr Hund hat eben auf meinen Rasen gekackt.“
Ich schaue aus dem Fenster und suche nach Hundehaufen, aber alles, was ich sehe, ist ein samtiger grüner Teppich. „Hat sie ihn weggemacht?“
Marnie mustert mich von oben bis unten, als hätte ich den Verstand verloren. „Ja, aber darum geht's doch nicht.“
„Na ja, du weißt doch, was man sagt: Wenn man muss, dann muss man.“ Ich versuche, etwas Leichtigkeit in unser Gespräch zu bringen, aber ihre genervte Miene heitert sich kaum auf.
„Nicht auf meinem Rasen.“ Marnie verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich habe ihr schon per E-Mail eine Verwarnung geschickt. Und ab dieser Woche ist sie aus dem Buchklub raus.“
Welch schrecklicher Verlust für die arme Nikki, denke ich. Ich trete näher an Marnie heran. „Du hast getan, was getan werden musste“, sage ich und versuche, ihre Ernsthaftigkeit angesichts dieses groben Verstoßes zu spiegeln.
Ihre Miene entspannt sich. „Ich dachte, du würdest mir beipflichten. Das ist das Tolle an uns, Carrie. Wir halten immer zusammen.“
„So und nicht anders soll es sein.“ Und das meine ich ernst – denn es würde mir nicht gut bekommen, wenn es anders wäre.
Ein helles Glitzern auf ihrer Brust erregt meine Aufmerksamkeit. „Du trägst wieder die Halskette, wie ich sehe.“ Seit Marks Tod habe ich sie noch nie getragen gesehen – die Halskette mit dem schwebenden Diamanten an einem dünnen Goldband.
Marnie streicht mit den Fingern über das Schmuckstück an ihrem Hals. Sie atmet gleichmäßig aus, als sie meine Bemerkung hört. „Sie erinnert mich daran, wie viel ich überwunden habe.“
Ich nicke mitfühlend, obwohl sie mich an die Halskette erinnert, die ich einst in meinem Nachttisch versteckt hatte – diejenige, die Andrea Winter, Bennetts Ex und TJs Mutter, gehört hatte. Die Halskette, die ich blutverschmiert auf der Treppe im Haus der toten Frau gefunden hatte. Eben diese Kette, die Andrea von ihrem Mörder geschenkt worden war, liegt jetzt in einem Beweismittelkarton auf dem Polizeirevier von Armonk.
Wie ein makabrer Scherz hat Mark Black seiner Frau und seiner Geliebten die exakt gleiche Halskette gekauft.
Ich bin etwas aus der Fassung, sie wieder zu sehen, aber ein leises Lächeln umspielt meine Lippen. Ich bin froh, dass meine beste Freundin versucht, das alles hinter sich zu lassen.
Außerdem haben wir viel Wichtigeres zu tun.
„Also …?“, frage ich, in der Hoffnung, dass Marnie den Köder schluckt.
„Den ganzen Morgen standen Umzugswagen vorm Haus. Vom neuen Eigentümer noch keine Spur.“
„Verdammt.“ Wir – entschuldigen Sie den Ausdruck – sterben beide vor Neugier, wer in das Haus einzieht.
Marnie zupft mich am Arm. „Komm, lass uns mal nachsehen.“ Sie führt mich die gewundene Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer. Marnie hat mir mal erzählt, dass sie ihre beste Arbeit im Schlafzimmer verrichtet. Wenn man bedenkt, dass Mark Black mit jeder siebzehnjährigen Frau geschlafen hat, die einen Puls und eine Adresse in The Estates hatte, wage ich zu behaupten, dass ihre beste Arbeit nichts mit ihrem Ehemann zu tun hatte.
Wie zum Beweis tauscht Marnie schnell den Mimosa in meiner Hand gegen ein Fernglas. Ich drehe es in meinen Händen – die Linsen sind solide, frei von Kratzern und es gibt eine schicke Entfernungsmessfunktion. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieses Fernglas mehr gekostet hat als mein Auto. Das also hat Marnie mit ihrer „besten Arbeit“ gemeint. Man wird wohl kaum Präsidentin der Eigentümergemeinschaft, wenn man nicht jedes Detail über die Leute weiß, die in der Siedlung leben.
Wie es der Zufall wollte, fanden die jährlichen Wahlen eine Woche nach Mark Blacks Tod statt. Der Zeitpunkt hätte für Marnie nicht besser sein können. Allein die Sympathiestimmen reichten aus, um ihr den Sieg zu bescheren und Ryan Altman, den ehemaligen Präsidenten, aus dem Amt zu verdrängen. Altman hatte keine Chance, nicht nachdem zwei Teenager ermordet worden waren und ein sadistischer, soziopathischer Serienmörder unter seiner sogenannten Aufsicht in unserer Wohnanlage Amok gelaufen war. Nicht, dass das seine Schuld gewesen wäre, aber den Bewohnern von The Estates geht es nur um den Schein, und offenbar waren sie der Meinung, dass es besser aussehen würde, wenn die Siedlung eine andere Richtung einschlug.
Ungeachtet der Tatsache, dass der sadistische, soziopathische Serienmörder Marnies Ehemann war, war man sich einig, dass so etwas unter Marnies Führung nicht wieder passieren würde, da sie eine Frau ist, die keinen Bullshit duldet. Man denke nur an ihre Empörung über Nikki Langs ekelhaften Hundekot-Verstoß. Falls Nikki ihre E-Mails gecheckt hat, wird sie meiner Einschätzung bezüglich Marnies Charakter vermutlich zustimmen.
„Oh, oh, oh“, rufe ich und lasse vor Aufregung fast das Fernglas fallen.
„Was ist los?“, fragt Marnie und schnappt sich das Teil, um selbst nachzusehen.
Nach ein paar Sekunden senkt sie es wieder und verzieht enttäuscht den Mund. „Das ist einer der Umzugshelfer, Carrie.“
Ich nehme ihr das Fernglas ab. „Nein, glaube ich nicht.“ Ich deute Richtung Haus, wo die Sonne von den silbernen Metalldächern der beiden großen Umzugswagen reflektiert wird, die gerade wegfahren. „Entweder haben sie einen ihrer Mitarbeiter zurückgelassen, oder das ist unser neuer Nachbar.“
Ich bin sprachlos. Selbst aus dreißig Metern Entfernung ist dieser Typ ein echter Blickfang. Er hat ganz sicher keinen dieser Dad-Bodys, an die ich mich hier gewöhnt habe, wie unser früherer Nachbar Steven Lockwood. Sein Rasenmäher hatte eine permanente Delle von dem Bierbauch, den er auf ihm abstützte, wenn er jeden Samstag um Punkt vierzehn Uhr sein Grundstück pflegte. Der Neue sitzt mit lecker freiem Oberkörper auf seiner Veranda und trinkt ein Bier. Schweißperlen tropfen von seiner Brust. Er sieht aus, als wäre er einer Budweiser-Werbung entsprungen. Marnie versucht, sich das Fernglas zu schnappen, aber ich bin noch nicht fertig. Dieser Typ ist heiß, und das nicht nur von der Anstrengung, Möbel und Kisten in sein siebenhundertfünfzig Quadratmeter großes Haus zu schleppen.
Ich lasse den Blick in tiefere Regionen sinken – nein, nein, nicht, was sie denken – um seine linke Hand zu untersuchen. An einem bestimmten Finger fehlt auffällig ein Ring. Was soll ich sagen? Ich bin eine überzeugte Befürworterin von Nachbarschaftsüberwachung, besonders wenn es darum geht, einen Nachbarn im Auge zu behalten, der so aussieht. Als frisch gekürte Präsidentin der Eigentümergemeinschaft und städtische Tratschtante sollte ausgerechnet Marnie wohl meinen Wunsch nachvollziehen können, meinen Finger am Puls von The Estates zu haben. Aber ich muss nicht aufblicken, um zu wissen, dass sie mich mit einem recht sparsamen Blick bedenkt, statt meine umsichtigen Überlegungen zu würdigen. Widerwillig reiche ich ihr das Fernglas.
Marnie spielt mit dem Zoom, um besser sehen zu können. „Heilige Scheiße, Carrie. Ist das ein Witz? Hast du einen Stripper für meinen Geburtstag engagiert?“
Ich kichere bei dem Gedanken. „Ähm, sorry, aber nein. Dein Geburtstag war vor zwei Monaten.“
Einen Monat, nachdem ich aus Versehen deinen Mann getötet habe.
Bereue ich, was passiert ist? Nicht im Geringsten. Dieser Mann war ein sadistischer, soziopathischer Serienmörder. Und nur, damit das klar ist: es war Notwehr. Er hätte mich umgebracht, wenn nicht meine Schlafzimmertür aus den Angeln geflogen und auf ihn gefallen wäre.
Marnie schmollt kurz, bevor sich ihre Mundwinkel wieder nach oben ziehen. Ihre Gedanken sind weit weg von ihrem toten Ehemann. Muss ein herrlicher Ort sein. Ich bin neidisch. „Nun, wer auch immer er ist, er ist absolut scheißenocheins perfekt.“
Sie hat nicht Unrecht. Er ist absolut scheißenocheins perfekt – zumindest körperlich. Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob da noch was anderes ist. Etwas, das ich nicht sehen kann. Ich meine, wie hat es ihn in unsere berüchtigte Siedlung verschlagen? Normalerweise neigen Menschen dazu, Tragödien aus dem Weg zu gehen, statt sich kopfüber hineinzustürzen.
Als mein Blick auf den Fremden auf der anderen Straßenseite fällt, wünsche ich mir daher insgeheim, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Ein Bierbauch. Eine schlechte Perücke. Besser noch, eine dritte Brustwarze. Etwas, das uns davor warnt, was er hier treibt. Wozu er fähig sein könnte.
Aber nein, an ihm ist nichts, das auch nur im Entferntesten unschön wäre. Er hat einen perfekten Körper, perfektes dunkles, dichtes Haar und zwei perfekte Brustwarzen.
Ich atme tief durch und krieche aus dem Kaninchenbau, den Mark Black gegraben hat. Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne scheint hell und taucht unsere Wohnsiedlung in warmes Licht. Der Himmel ist strahlend blau, keine Wolke ist zu sehen. Aus den Eichenwäldern ertönt ein Chor von Blauhähern, die in ihren Nestern zwitschern. Es ist ganz sicher kein Wetter, das Untergangsstimmung verbreitet.
Ich bin mir sicher, dass es hier nichts Unheimliches zu sehen gibt. Der neueste Bewohner von The Estates ist wahrscheinlich ein ganz normaler, durchschnittlicher, wenn auch ungewöhnlich gut aussehender Typ.
Das Schlimmste liegt hinter uns.
Alles wird gut.
„Wir sollten rübergehen“, schlage ich vor, denn wir können hier nicht den ganzen Tag herumsitzen und ihn anstarren. Was, wenn er selbst ein Fernglas hat und uns beim Spionieren erwischt? Wie gruselig. Außerdem ist jetzt der ideale Zeitpunkt, um diesen Typen kennenzulernen. Sich ein Beispiel an Marnie Black nehmend, wird mein inneres Klatschmaul nicht ruhen, bis ich ihm gebe, was es verlangt: diesen unheimlich attraktiven Fremden kennenzulernen.
„Komm schon“, sage ich und finde immer mehr Gefallen an meiner Idee. „Lass uns rübergehen und uns vorstellen. Heiße ihn in der Nachbarschaft willkommen. Du bist jetzt schließlich die Präsidentin der Eigentümergemeinschaft.“
„Ja, ja, ja“, quiekt Marnie, animiert durch ihr ausgiebig gestreicheltes Ego. „Lass uns das machen.“ Sie wirft das Fernglas aufs Bett, als würde es nicht mehr kosten als ein verdammtes Auto, und rennt zur Tür, bevor sie sich noch einmal zu mir umdreht. Ihr pechschwarzes Haar schneidet wie eine Peitsche durch die Luft. „Kommst du jetzt oder was, Carrie?“
Ich erinnere sie nicht daran, dass es meine Idee war, rüberzugehen. Es ist besser, nett zu sein, als Recht zu haben, habe ich mir in letzter Zeit oft gesagt. Mein Mantra für 2025. Angesichts dessen, was wir durchgemacht haben, sollte mein Mantra allerdings eher lauten: Traue niemals deinem Nachbarn.
„Komme“, rufe ich.
Wir brauchen ganze drei Minuten, um über die Straße zu gehen. Man kann es nicht mal als Gehen bezeichnen, es ist eher eine Art schnelles, flottes Joggen, bei dem ich versuche, mit Marnie Schritt zu halten, damit wir zusammen vor seiner Tür auftauchen und unseren neuen Nachbarn in der Siedlung willkommen heißen können. In unserer fast zweijährigen Freundschaft habe ich sie noch nie so schnell laufen sehen. Wenn ich darüber nachdenke, habe ich sie überhaupt noch nie laufen sehen. Ich stolpere über einen losen Schnürsenkel und vermeide gerade so einen unwürdigen Sturz auf die Straße, während ich versuche, den Abstand zwischen uns zu verringern.
Spoiler-Alarm: Wir kommen nicht zusammen an der Haustür an. Marnie wartet nicht mal, bis ich aufgeholt habe, bevor sie mit der Vorstellungsrunde beginnt.
Ich bin ein paar Schritte hinter ihr und sehe zu, wie sie ihm ihre frisch manikürten Finger entgegenstreckt, ihm die Hand schüttelt und sie einen Moment zu lang festhält. Falls ich nicht doch über meine Schnürsenkel gestolpert bin, mir den Kopf gestoßen und eine Gehirnerschütterung erlitten habe, dann sehe ich ungläubig dabei zu, wie sie unverhohlen mit ihm flirtet.
Es ist schlimm, das zu sagen, aber ein Teil von mir dachte, dass Marnie nach allem, was mit Mark passiert ist, innerlich womöglich tot ist. Augenscheinlich nicht – sie ist quicklebendig, sobald sie die Witterung von frischem Testosteron aufnimmt.
„Ja, ich bin die Marnie Black“, höre ich sie sagen, während ich schnaufe und keuche wie nach einem Marathonlauf. Ich weiß nicht, wie Bennett das macht. Er läuft zehn Meilen, als würde er gemütlich die Einfahrt hinuntergehen, um die Post zu holen, aber ich schaffe kaum zehn Meter.
„Carrie Winter“, stelle ich mich atemlos vor, als ich endlich an der Haustür ankomme.
„Damian Brown“, entgegnet der Mann mit einem Funkeln in seinen mahagonifarbenen Augen. Ich lege meine Hand in seine und vergesse für einen Moment meinen Mann. Ich bin mir nicht sicher, ob es an dem Mann oder an meinem kleinen Dauerlauf liegt, aber mein Herz schlägt unverschämt laut in meinen Ohren.
Marnie kichert wie blöde, Tränen laufen ihr über das Gesicht. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was Sache ist, und lache dann leise mit. Ich schätze, das ist schon ein bisschen lustig: Mr. Brown und Mrs. Black. Es ist, als wären wir inmitten all der Absurdität in ein Dr.-Seuss-Buch geraten.
Nein, das ist nicht ganz richtig. Eher in ein Dr.-Seuss-Buch, aber mit Stephen King als Ghostwriter.
„Ich muss dir was gestehen“, sagt Damian, als Marnie sich beruhigt hat. „Mein Nachname ist eigentlich Mankiewicz.“
Ich werfe Marnie einen verwirrten Blick zu – das muss doch ein Witz sein –, aber sie sieht mich nicht an. Sie starrt weiter Damian an, als wäre er Dave Chapelle.
„Verwandt mit dem Dateline-Reporter?“, wage ich zu fragen.
„Leider nicht.“
„Süß und witzig“, sagt Marnie und wickelt eine Strähne ihres glatten Haares um einen Finger. Ich glaube, ich habe sie noch nie so laut über etwas lachen hören, das nicht im Entferntesten witzig war. Aber ich muss trotzdem lächeln, weil meine Freundin ganz offensichtlich flirtet. Schön für sie. Sie hat in den letzten Monaten so viel durchgemacht. Wenn es einen heißen neuen Nachbarn braucht, um sie wieder flott zu kriegen, werde ich ihr das nicht neiden.
Damian errötet bei Marnies Kompliment, obwohl das auch an der Hitze liegen könnte. Es ist ungewöhnlich warm heute, und die Luftfeuchtigkeit liegt schwer wie eine dicke Decke über uns. Sogar die Bäume schwitzen. Mein Blick wandert über Damians durchtrainierten Oberkörper und bleibt an seinem Bizeps hängen. Dazu hat er eben jede Menge Möbel geschleppt … ja, schon ziemlich heiß hier draußen.
„Kann ich euch was zu trinken anbieten?“ Damian deutet ins Innere des Hauses. Ich war schon einmal in diesem Haus – es ist ein anderes Modell, etwas kleiner als unseres –, aber es fühlt sich anders an. Es ist anders. Ich denke an meinen ehemaligen Nachbarn, den ich dachte, gut zu kennen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft wir gemeinsam zu Abend gegessen haben, wie oft wir zusammen Urlaub gemacht haben …
Vielleicht ist es das, was mich so wurmt. Wir kennen diesen Mann überhaupt nicht. Er ist ein Fremder, wenn auch einer mit durchtrainiertem Oberkörper.
Ich erlaube mir nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Damian Mankiewicz könnte alles Mögliche sein. Es bereitet mir Sorgen, wie leicht Marnie seinem Charme erliegt. Mach mal halblang, Mädchen!
Und dann ist da noch die Tatsache, dass ich mir nicht sicher bin, was Bennett davon halten würde, wenn ich mich im Haus dieses fremden Mannes aufhielte. Wahrscheinlich das Gleiche wie ich, wenn die Rollen vertauscht wären und die neue Nachbarin eine halbnackte, umwerfend schöne Frau wäre. „Ähm …“, murmele ich zögernd.
Wie sich herausstellt, muss ich mir keine Gedanken machen, denn die Entscheidung wurde mir offenbar abgenommen. Marnie ist schon halb durch die Tür. Angesichts des Tempos, in dem sich die Dinge entwickeln, kann ich nicht sagen, dass ich überrascht bin.
Ich überlege rasch, was ich tun soll. Ich kann sie doch nicht allein da reingehen lassen, oder? Wir sind zusammen gekommen, also sollten wir auch zusammen gehen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde, besonders nach der Sache mit Mark.
Ich spüre die kühle Brise, die aus Damians Haus weht. Mein Blick huscht auf die leere Straße, wo die Sonne den Asphalt förmlich schmelzen lässt. Ich setze einen Fuß über die Schwelle. Vielleicht spinne ich auch nur rum. Damian wird schon in Ordnung sein.
Alles wird in Ordnung sein.
Kapitel 3
Bennett und TJ sollten in den nächsten Stunden bei der Arbeit sein, also wird mein Mann nichts davon erfahren … Ich schiebe alle Schuldgefühle, die mein Gewissen mir einredet, beiseite. Ich versuche nur, eine gute Freundin zu sein und die nächsten sechs Stunden auf etwas anderes als die Paprika in meinem Garten zu starren. Und Marnie zu beschützen. Ich bin nur hier, um Marnie zu beschützen.
Ich trete ein und ziehe meine Schuhe an der Tür aus.
Ein flüchtiger Blick auf die Möbel und Kisten verrät mir, dass Damian Mankiewicz keine Kinder hat. Das Fehlen eines Rings an seinem Finger bestätigt, dass er wahrscheinlich auch keine Frau hat. Ich wäre niemals so anmaßend, danach zu fragen.
„Bist du ganz allein in diesem großen alten Haus?“ Marnie klimpert mit den Wimpern, und ich kann fast sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitet. Sie ist praktisch schon eingezogen. Ich schätze, sie ist einsamer, als ich dachte.
„Ja“, sagt er und senkt kurz den Blick. „Ich bin seit kurzem Witwer.“
Seit kurzem? Ich schaue mir Damians Ringfinger noch einmal genauer an. Nicht die geringste Spur eines zuvor getragenen Rings, obwohl er wie eine Bronzestatue gebaut ist.
„Sag bloß!“, kreischt Marnie und schlägt Damian auf die Brust, offenbar vergessend (aber wie könnte man das vergessen?), dass er kein Hemd trägt. Autsch. Ihr Cocktailring hinterlässt einen großen Abdruck auf seiner Brust. Sogar Marnie trägt einen Ring! Kurz nach Marks Tod begann Marnie, den riesigen Klunker an ihrer linken Hand anstelle ihres Eherings zu tragen. Sie sagte, sie fühle sich ohne ihn nackt. Der Ring ist wunderschön – ein großer runder Saphir, eingefasst von Diamanten –, aber für den Alltag etwas zu wuchtig, vor allem, wenn man damit Leute schlägt.
„Ich bin auch Witwe.“ Sie macht eine Pause, offensichtlich um die Wirkung zu verstärken, bevor sie hinzufügt: „Ich weiß, was du denkst – sie ist zu jung, um Witwe zu sein, aber ich schwöre, es ist wahr. Da haben wir ja was gemeinsam.“
Damian zuckt sichtlich zurück. Seine Augen weiten sich, und er macht einen raschen Schritt rückwärts, um etwas Abstand zwischen sich und Marnie zu bringen. Das ist wahrscheinlich gerade nicht, was er denkt. Ich stelle mir eher vor, dass er denkt: „Wo bin ich hier nur reingeraten?“
„Sieht aus, als hätten wir so einiges gemeinsam“, fügt sie mit geröteten Wangen hinzu.
Ich muss beinahe laut lachen. Ganz bestimmt will der Typ unbedingt mit der Witwe von gegenüber, die er gerade erst kennengelernt hat, den Verlust seiner Frau noch einmal durchkauen. Von wegen.
Damian räuspert sich. „Ja, ich hole dann mal die Drinks. Sucht euch doch schon mal einen Platz, Ladys. Ihr könnt ruhig ein paar Kisten aus dem Weg räumen. Ich habe noch nicht angefangen auszupacken.“
„Ich kann dir dabei helfen!“, ruft sie Damian hinterher, der Richtung Küche verschwindet.
„Marnie!“ Ich schlage ihr auf die Hand. „Du benimmst dich wie ein dreizehnjähriger Junge, der gerade Pornos entdeckt hat.“
„Zu viel?“, fragt sie und schaltet die Kamera ihres Handys an, um im Selfie-Modus ihr Spiegelbild zu checken. Sie glättet mit einer Hand ihr pechschwarzes Haar, greift dann in ihre Tasche, holt einen blutroten Lippenstift heraus und zieht ihn über ihren Mund. Sie saugt die Lippen ein und schmatzt ein paarmal.
Roter Lippenstift? Es ist neun Uhr morgens und draußen sind acht Millionen Grad. Ich verdrehe die Augen. „Ja, viel zu viel.“
Marnie dreht sich mit einem Schmollmund zu mir und schnaubt: „Du hast deinen Mann ja auch nicht verloren, Carrie.“
Autsch. Verstanden. Flirte weiter.
„Marnie, ich wollte nur sagen …“
Marnie hebt abweisend die Hand, um meine Erklärung abzuwinken, und wischt sich dann mit einem Finger unter dem Auge, als würde sie eine Träne wegwischen. Ich schätze, der Verlust von Mark hat sie härter getroffen, als ich ihr zugetraut hätte. Und jetzt fühle ich mich mies.
Aber ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen könnte. Also belasse ich es dabei und eine unangenehme Stille legt sich über uns. Es kommt mir wie Stunden vor, aber wahrscheinlich sind es nur Minuten, bis Damian mit drei Bier und einem Hemd zurückkommt. Ach, schade. Er reicht uns jeweils ein Bier und stellt einen Karton als provisorischen Tisch auf.
„Auf gute Nachbarschaft“, sagt er und hebt die Flasche.
Wieder wandern meine Gedanken zu meinem ehemaligen Nachbarn. Eine neue Welle der Angst überkommt mich, ein Unbehagen, das ich nicht abschütteln kann. Mit zitternden Händen und schwitzigen Handflächen schaffe ich es irgendwie, meine Flasche an seine zu heben. „Auf gute Nachbarschaft.“
Wir stoßen mit unseren Bierflaschen an und Damian setzt sich auf einen der vielen Kartons, die in seinem Wohnzimmer stehen. Für einen Single hat er eine Menge Kartons. Aber es ist auch ein riesiges Haus, vor allem für einen Single. Mein Blick fällt auf einen mittelgroßen Karton, der in einer Ecke des Raumes steht. „NICHT ÖFFNEN“ steht mit Filzstift oben drauf und auf die Seiten geschrieben. Es würde mich nicht wundern, wenn es auch auf der Unterseite stünde. Der Karton sticht heraus wie ein rotes Tuch. Er ist der Einzige, der mottenzerfressen und beschriftet ist. Die anderen Kartons sehen brandneu aus und sind ordentlich mit Klebeband verschlossen.
„Also, was hat dich hierher verschlagen?“, frage ich, unfähig, die Unruhe abzuschütteln, die ich verspüre, seitdem das Haus verkauft wurde.
„Ach, du weißt schon, dies und das“, winkt Damian ab. Ich folge seiner Hand und erwarte, dies und das im Raum zu entdecken, aber alles, was ich sehe, sind weiße Wände und eine Unmenge Kartons. Der Raum sieht aus wie eine Stadt aus Pappkartons.
„Ich weiß, was du meinst“, sagt Marnie mit einem Kichern. Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. Sie weiß, was er meint? Marnie Black stand auf der Warteliste, sobald The Estates in den Vorverkauf ging. Dies und das hätten nicht gereicht, um sie hierher zu bringen. Dass The Estates als eine der exklusivsten Wohnanlagen in ganz Westchester County angepriesen wurde, hatte schon mehr damit zu tun.
Aber Marnie Black musste auf die harte Tour erfahren, dass das Leben in dieser Siedlung nicht so toll ist, wie es scheint. Wir alle mussten das.
Die Immobilienpreise sind in den Keller gegangen, aber The Estates ist weiterhin eine der angesagtesten Wohnanlagen im County, zumindest was die Aufmerksamkeit in der Presse angeht. Drei Monate nach den schrecklichen Ereignissen, die unsere kleine Stadt und unsere noch kleinere Siedlung erschüttert haben, campieren immer noch Tag und Nacht Reporter vor unseren Toren. Ich weigere mich, Interviews zu geben oder auch nur einen Moment meiner Zeit oder Energie darauf zu verschwenden, die Vergangenheit in der Öffentlichkeit aufzuwärmen. Marnie hingegen hat jetzt einen Agenten und spielt mit dem Gedanken, einen Blog oder einen Podcast zu starten. Ehrlich gesagt bin ich mir ziemlich sicher, dass sie, vor die Wahl gestellt, den ganzen Rummel nicht tauschen würde, um Mark zurückzubekommen. Nach ihrem heutigen Auftritt zu urteilen, braucht sie jedoch definitiv männliche Gesellschaft. Vielleicht, ganz vielleicht, auch trauernde. Abgesehen davon genießt Marnie ihre fünfzehn Minuten Prominenz in vollen Zügen.
Prominenz. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, ob das unseren neuen Nachbarn hierher gebracht hat. Vielleicht glaubt er, dass er irgendwie von der ganzen Medienaufmerksamkeit profitieren kann – eine Schauspielkarriere starten oder vielleicht Arbeit als Unterwäschemodel bekommen. Meine Gedanken schweifen zurück zu seinen schweißnassen Bauchmuskeln, die in der Sonne glänzten. Damian könnte definitiv als Unterwäschemodel arbeiten. Die Logik lässt keine andere Erklärung zu. Man müsste in einer Blase leben, um noch nichts von The Estates gehört zu haben. Man müsste ein bisschen verrückt sein, um nach allem, was passiert ist, hier leben zu wollen.
Andererseits muss man wohl auch ein bisschen verrückt sein, um nach allem, was passiert ist, hierzubleiben.
Und doch sind wir hier.
Aber ich muss ihn fragen. Ich muss es wissen. „Hast du nicht gehört, was hier passiert ist? Von der Familie, die vor dir hier gewohnt hat?“
Es folgt ein Moment unangenehmer Stille, während wir uns gleichzeitig im Raum umsehen, dessen offener Grundriss und polierte Holzböden in krassem Gegensatz zu den unaussprechlichen Schrecken stehen, die die früheren Eigentümer durchzustehen hatten. Nun, zwei von ihnen haben es durchgestanden. Lila Lockwood hatte nicht so viel Glück.
Damian runzelt die Stirn und schaut verwirrt drein. Ist es möglich, dass er wirklich nichts darüber weiß? Vielleicht ist er aus einem anderen Bundesstaat hierher gezogen. Schaut nicht Dateline. Liest keine verdammte Zeitung. Kann ja sein, denke ich.
„Klar habe ich davon gehört, Carrie. Es war überall in den Nachrichten. Eine schreckliche Tragödie, wirklich. Aber das Haus war so verdammt billig. Du würdest tot umfallen, wenn ich dir sagte, wie viel ich dafür bezahlt habe.“ Er beugt sich näher zu mir heran, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. „Willst du es wissen?“
Jeder Muskel in meinem Körper versteift sich, als Damians dunkle Augen sich in meine bohren und er auf eine Antwort wartet. Irgendwie schaffe ich es, den Kopf zu schütteln. Damians Schnäppchen ist nichts, worüber man sich freuen kann. Es wird sicherlich nicht helfen, den Wertverlust unserer Immobilien auszugleichen. Und außerdem, nein, ich will nicht tot umfallen; ich bin dem Tod schon einmal von der Schippe gesprungen. Einmal reicht, danke.
„So eine einmalige Gelegenheit konnte ich unmöglich ausschlagen“, fährt er vor. „Und es ist ja nicht so, als wäre hier im Haus jemand ermordet worden.“
Das stimmt, ganz so war es nicht. Lila wurde im Bach hinter dem Haus ermordet. Aber trotzdem würde ich dieses Haus nicht kaufen. Nicht einmal für Geld würde ich hier wohnen wollen. Ich kann kaum ertragen, nebenan zu wohnen.
„Außerdem“, fügt er hinzu und macht eine Pause, um einen tiefen Schluck Bier zu nehmen. „Schlimme Dinge passieren überall. Und …“
Und? Ich ziehe die Augenbrauen hoch und warte auf die Fortsetzung. Vielleicht gab es in der letzten Siedlung, in der er gewohnt hat, ja auch einen Serienmörder und einen Doppelmord.
„Der Blitz schlägt nie zweimal an derselben Stelle ein.“
Damian zwinkert.
Kapitel 4
Ich denke über Damians seltsam prophetische Worte nach. Ich hoffe, dass er recht hat, denn es fühlt sich an, als wäre mir gerade ein Blitz ins Kreuz gefahren. Ich bin ziemlich sprachlos.
Zum Glück scheint Marnie sich nicht beirren zu lassen. „Was machst du beruflich?“, fragt sie und spielt mit ihren Haaren.
Ich starre Damian an, aus unerklärlichen Gründen fürchte ich mich davor, was er sagen wird. Wenn er so etwas sagt wie ach, du weißt schon, dies und das, werde ich unser Haus verkaufen. Denn das könnte so ziemlich alles bedeuten, und angesichts dessen, was wir hier erlebt haben, brauche ich ein bisschen mehr Transparenz von dem Typen, der nebenan wohnt. Dem Typen, in dessen Haus ich jetzt gerade sitze.
Damian nimmt noch einen Schluck Bier und lächelt breit. Seine braunen Augen verengen sich an den Rändern, und auf seinen Wangen bilden sich tiefe Grübchen. Vorhin konnte ich es nicht genau sagen, aber jetzt sehe ich es. Eddie Cibrian – genauso sieht er aus. Der Schauspieler, der seine Frau verlassen hat, nachdem er sich während der Dreharbeiten zu einem Hallmark-Film in LeAnn Rimes verliebt hatte. Die Ähnlichkeit ist so verblüffend, dass er sein Doppelgänger sein könnte. Meine Wangen röten sich, obwohl ich es für mich behalte.
„Ich flippe Häuser“, sagt er beiläufig.
Ich öffne meine Fäuste und atme tief durch. An House Flipping – also Häuser kaufen, renovieren und wiederverkaufen – ist nichts Verwerfliches, es sei denn, man vergräbt Leichen unter dem frisch gegossenen Fundament. Das macht er wahrscheinlich nicht.
„Klingt spannend“, schalte ich mich wieder ins Gespräch ein. „Machst du eine dieser Fix & Flip-Reality-Shows?“ Das meine ich nur halb im Scherz. Er sollte in einer solchen Show auftreten. Vor meinem inneren Auge sehe ich Damian mit freiem Oberkörper und einem Vorschlaghammer in der Hand vor einer unberührten Trockenbauwand, die nur darauf wartet, eingerissen zu werden.
Ich erröte bei dem Gedanken. Was zum Teufel ist los mit mir? Ich muss raus aus diesem Haus und auf andere Gedanken kommen. Ich versuche, mir Bennett in seiner Unterwäsche vorzustellen, aber irgendwie muss ich dabei an Damian in seiner Unterwäsche denken. Schon wieder. Ich fächele mir mit einer freien Hand Luft zu. Meine Güte, es fühlt sich an, als hätte jemand die Heizung auf vierzig Grad gestellt.
Ich werfe eine logistische Frage ein, um das Gespräch in eine weniger aufreizende Richtung zu lenken. „Wo war denn das letzte Haus, das du geflippt hast?“
„Habe gerade erst eins in Yonkers verkauft.“
Die Erleichterung, die ich gerade noch verspürt habe, versiegt augenblicklich und wird durch ein Gefühl ersetzt, das Angst ähnelt. Das Lächeln verschwindet aus meinem Gesicht und ich erstarre. Yonkers.
Sofort fühle ich mich in TJs Elternhaus zurückversetzt. An den Ort, an dem seine Mutter brutal die Treppe hinuntergestoßen wurde und starb. Vor meinem inneren Auge sehe ich die abblätternde Farbe und die zerbrochenen Fensterscheiben. Meine Nase füllt sich mit dem unverkennbaren Geruch des Todes.
Das Haus von Andrea Winter wurde vor Monaten zwangsversteigert, was TJ zu uns führte. Ich weiß nicht mehr, ob ich gehört habe, dass es an den Meistbietenden verkauft wurde oder nicht. Könnte Damian der Meistbietende gewesen sein? Das ist zwar weit hergeholt, aber irgendetwas lässt mich nicht so einfach von dem Gedanken ablassen.
Wahrscheinlich bin ich nur paranoid. In Yonkers gibt es ca. achtzigtausend Wohnhäuser. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es gerade dieses Haus ist? Achtzigtausend zu eins? Das ist unmöglich.
Trotz seines lässigen Lächelns kann ich es nicht recht erklären – irgendetwas an Damian Mankiewicz' plötzlichem Auftauchen heute Morgen verunsichert mich zutiefst.
Ich werfe einen Blick auf Marnie und erwarte, dass meine Freundin mit derselben beunruhigenden Möglichkeit ringt, aber TJ und Andrea Winter sind ihr gerade völlig egal. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, Damians Worte zu verschlingen, als hätte sie gerade eine Fastenzeit hinter sich.
„Yonkers, hm?“ Meine Stimme klingt wie ein Rasseln. Ich habe so viele Fragen. Weißt du, wem das Haus vorher gehörte? Kannst du mir die Adresse geben, damit ich sie mit der von Andrea Winter abgleichen kann? Ich öffne den Mund, aber die Worte kommen nicht heraus. Vielleicht hat das alles absolut nichts zu bedeuten. Ein Zufall – genau wie der Zufall, dass TJ just in dem Moment auftauchte, als bei uns in der Siedlung die Hölle losbrach. Ich möchte meinen neuen Nachbarn nicht gleich beim ersten Treffen vor den Kopf stoßen.
Außerdem habe ich anscheinend die Fähigkeit zu sprechen verloren.
„Hast du das auch mit diesem Haus vor?“, fragt Marnie. „Erst renovieren, dann weiter zum nächsten?“ Sie schiebt die Unterlippe vor wie ein enttäuschtes Kind. Mir schwant, dass ich sie am Ausschnitt ihrer Bluse gewaltsam aus dem Haus zerren muss, um sie hier wieder rauszukriegen. Und das wird doppelt schwierig, weil sie sich an Damians Bein festklammern und sich weigern wird, loszulassen.
„Nee“, sagt er und ein breites Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus. Seine Augen kräuseln sich wieder sanft in den Winkeln. „Ich denke, ich bleibe hier. Mal sehen, welche Scherereien mich hier so erwarten.“ Erneutes Zwinkern.
Mein Körper verkrampft sich. Ich schaue nach unten und stelle fest, dass meine Hände zittern. Scherereien? Als ich wieder aufschaue, trifft mein Blick den von Damian. Er hat meine zitternden Hände auch bemerkt.
Damian lacht. „War nur Spaß. Ich schwöre, ich bin ein ziemlich langweiliger Typ.“
Hoffen wir's.
Ich zwinge mich zu einem versöhnlichen Kichern, obwohl sich mir der Magen umdreht. Ich versuche, meine aufkommenden Bedenken abzuwehren und genieße mein eiskaltes Bier, während wir uns über Belanglosigkeiten unterhalten, die nichts mit serienmordenden Ehemännern und toten siebzehnjährigen Mädchen zu tun haben.
Bevor ich etwas dagegen tun kann, wird aus einem Drink zwei, dann drei, wie so oft, wenn Marnie dabei ist. Ich vertrage Alkohol nicht so gut wie meine Freundin, weswegen sich bei mir ein Kribbeln in den Fingern und Zehen einstellt. Und seit wann können sich strahlend weiße Wände drehen?
Ich weiß nicht, wie lange wir schon bei Damian sind, nur dass es zu lange ist. Mir fällt ein, dass ich mich den ganzen Tag nicht um das Abendessen gekümmert habe. Im Slow Cooker ist sicher alles in Ordnung, aber hin und wieder ein bisschen Rütteln verhindert, dass der Braten am Boden zu stark anbrutzelt. Ich sollte wirklich los. Wie gerufen beginnt mein Handy in meiner Tasche zu vibrieren. Als ich einen Blick darauf werfe, lächelt mir Bennetts Konterfei auf dem Display entgegen. Aber ich bin sicher, dass er gerade nicht lächelt. Wahrscheinlich runzelt er die Stirn – blickt vielleicht sogar finster drein – und überlegt, ob er sich ins Auto setzen, die zwanzigminütige Fahrt auf zehn verkürzen und nachsehen soll, ob alles in Ordnung ist.
Seit Mark Black all diese schrecklichen Verbrechen begangen hat, ist hier in den letzten Monaten wieder weitgehend Normalität eingekehrt. Mark ist zwar physisch nicht mehr da und wird auch nicht zurückkommen, aber die psychischen und emotionalen Schäden, die er angerichtet hat, sind etwas schwieriger zu bewältigen. Wenn ich auch nur, Gott behüte, eine Minute nicht zu erreichen bin, denkt Bennett sofort, ich sei entführt und in einen Kofferraum gesteckt worden oder mir sei sonst etwas Schlimmes zugestoßen. Früher war das nicht so. Ich frage mich, ob das jetzt in allen Haushalten in unserer Nachbarschaft so ist oder nur bei uns. Es ist ein bisschen übertrieben. Ich verstehe, dass er sich Sorgen macht, aber ich wette, wenn ich ihn ließe, würde Bennett mich wie einen Hund chippen lassen.
Aber bei meinem Mann ist wieder die alte Routine eingekehrt, er geht ins Büro und macht sein Ding – kilometerlange Läufe, eidesstattliche Erklärungen und Mandantentermine. Ich weiß gar nicht, wie er bei all der Zeit, die er damit verbringt, mich zu kontrollieren, noch Arbeit erledigen kann. Ich schätze, es gibt Schlimmeres, als einen Ehemann zu haben, der sich zu viele Sorgen macht.
Ich könnte z. B. einen toten, sadistischen, soziopathischen Serienmörder zum Ehemann haben, so wie Marnie.
Ich entschuldige mich und gehe hinaus, um Bennetts Anruf anzunehmen. Mein Blick schweift zu unserem weitläufigen Grundstück nebenan, dessen Rasen in leuchtendem Smaragdgrün erstrahlt. Trotz der Hitze des Tages sieht er tipptopp aus.
Bennett hingegen, wage ich zu behaupten, ist im Moment alles andere als gut beieinander. Ehrlich gesagt bin ich fast geschockt, dass mein Mann nicht wild gestikulierend auf dem Rasen vor dem Haus auf und ab läuft.
Meine Stimme zittert. „Hallo?“
„Carrie? Kannst du mich hören?“
Ich kann ihn hören, aber nicht gut. Im Hintergrund sind Geräusche zu hören – Männer- und Frauenstimmen, die von etwas übertönt werden, das wie Live-Musik klingt. Da der Rücksitz des Porsche kaum genug Platz für ein Kleinkind bietet, vermute ich, dass sie wohl nicht im Auto auf dem Weg nach Hause sind.
Und Bennett klingt auch gar nicht aufgebracht. Im Gegenteil, die Leichtigkeit in seiner Stimme lässt vermuten, dass er keine Ahnung hat und sich keine Gedanken darüber macht, was ich heute getrieben habe.
„Wo bist du?“
„Wir sind bei McAlisters. Alle im Büro haben TJ richtig ins Herz geschlossen. Wir trinken einen und essen eine Kleinigkeit. Soll ich dir was mitbringen?“
Ich spüre einen Stich von etwas Unbekanntem und Unerwünschtem. Ich kann fast meinen Schmorbraten riechen, der zu Hause im Slow Cooker mariniert, begleitet von buttrigen Kartoffeln und Karotten, die ich persönlich im örtlichen Farmer's Market besorgt habe. Ich habe Stunden gebraucht, um die perfekte Würzmischung für den Schmorbraten anzusetzen. Ich habe unseren Rosmarinstrauch nach den schönsten und duftendsten Zweigen abgesucht. Ich habe den Schmorbraten über Nacht ziehen lassen, damit die Aromen voll zur Geltung kommen.
Es ist das Lieblingsgericht von Bennett und TJ. Ich habe es extra für sie gekocht.
Wie der Schmorbraten, der im Slow Cooker köchelt, beginnt es auch in mir zu simmern. Ich bin echt begeistert, dass ich all die Zeit und Energie investiert habe, nur damit die beiden jetzt auswärts essen.
Ich gebe ein genervtes Schnauben von mir. Abendessen ohne mich? Seit wann bin ich das fünfte Rad am Wagen in meiner eigenen Familie? Bennett hat mich nicht mal gefragt, ob ich mitkommen möchte.
Ich blicke auf mein Haus mit seinen griechischen Säulen und malerischen Fensterläden und kämpfe gegen die Wut an, die in mir brodelt. Es hat keinen Sinn, jetzt nach Hause zu gehen.
Nicht allein.
Kapitel 5
Ich schlüpfe wieder durch die Tür ins Nachbarhaus und folge dem schallenden Gelächter ins Wohnzimmer. Dort finde ich Marnie vor, die sich die Seite haltend über eine Kiste beugt.
„Ähm. Was habe ich verpasst?“
Marnie fährt theatralisch hoch. Ihr Haar weht durch die Luft, als würde sie einen Werbespot drehen, komplett mit Ventilator, der ihr ins Gesicht bläst. Ich möchte ihr sagen, dass sie es übertreibt, aber ich wage es nicht.
„Damian hat mir gerade von den ganzen kranken Hausfrauen in seiner alten Nachbarschaft erzählt“, haucht sie in Marilyn-Monroe-Manier „Sag es ihr, Damian.“ Marnie legt eine Hand auf Damians Oberarm und lässt sie dort unangenehm lange liegen. Ich warte unbehaglich darauf, dass sie sie wegzieht, aber sie tut es nicht, und Damian zuckt nicht mal mit der Wimper oder deutet an, dass ihre Hand ihn stört. Die beiden sind sich schon sehr vertraut geworden. Ich schaue auf die Uhr meines Handys. Wie lange war ich weg?
Damians Wangen werden rot. „Es war ein bisschen beängstigend, als es passierte, aber jetzt ist es eher lächerlich, finde ich.“
Meine Augen weiten sich. Was weiß der Typ schon von beängstigend?
Mein Schweigen spornt ihn zu weiteren Erklärungen an: „Sagen wir mal, ich hatte einen kleinen Fanklub. Ich bin morgens aufgewacht und auf meiner Veranda lagen mehrere Damen-Tangas. Man hätte meinen können, ich wäre auf einer Mötley-Crüe-Reunion-Tour.“ Er kichert vor sich hin, scheinbar in Erinnerungen versunken.
Ich blinzele skeptisch und ziehe dann eine Augenbraue hoch. „Wo kommst du her, Damian Mankiewicz?“ Wenn Frauen Unterwäsche auf seiner Veranda zurückließen, warum zum Teufel ist er nicht geblieben? Das ist doch sicher der Traum eines jeden heterosexuellen Mannes. Na ja, vielleicht nicht, solange er verheiratet war, aber jetzt …
Damians Lachen unterbricht meine Gedanken, und Grübchen bilden sich auf seinen Wangen. „Nun, wie du dir vielleicht vorstellen kannst, war ich bei den Ehemännern in meiner alten Nachbarschaft nicht sonderlich beliebt. Dann kam dieses Haus zum Schnäppchenpreis auf den Markt, und ich konnte nicht widerstehen. Manchmal braucht man im Leben einen Neuanfang.“
Ich nicke verständnisvoll, frage mich aber, ob dies wirklich der beste Ort für einen Neuanfang ist.
Wenn man bedenkt, wie Marnie ihn empfangen hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass Damian unter den Ehemännern hier sonderlich beliebt sein wird. Man kann einen drauf lassen, dass eines Morgens ihre gesamte Garderobe auf ihn warten wird. Sicher steht doch in den Vorschriften irgendwas über das Verteilen von Unterwäsche auf der Veranda.
Aber das ist nicht meine Sorge. Ich denke immer noch an das herausragende Essen, das ich mühsam vorbereitet habe und das mein Mann und mein Stiefsohn verschmähen. Ich mag Schmorbraten nicht mal, verdammt! Sollen Bennett und TJ halt mit ihrem lauwarmen Bier und McAlisters Fischstäbchen im Bierteig glücklich werden.
Ich hingegen werde eine spontane Dinnerparty schmeißen.
„Habt ihr schon Pläne fürs Abendessen?“
„Lieferdienst“, antwortet Damian mit einem verlegenen Grinsen. „Der Kühlschrank ist leer, und selbst wenn was da wäre, bin ich nicht besonders optimistisch, heute noch Töpfe und Pfannen zu finden, geschweige denn Teller und Besteck. Ich hätte die Kisten vor dem Umzug wohl besser beschriften sollen. Es ging alles so schnell.“ Er kratzt sich am Kopf. „Ja, das Auspacken wird wohl eine Weile dauern.“
Nun, für das Beschriften EINER der Kisten hast du aber Zeit gefunden, geht mir durch den Kopf, doch ich sage nichts.
Stattdessen wende ich mich an Marnie. „Und du?“
„Lass mich mal in meinem Kalender nachsehen.“ Sie zieht ihr Handy aus der Tasche und gibt vor, durch ihre Termine zu scrollen. Ich weiß, dass sie nur so tut, weil ich ihren Kalender besser kenne als sie selbst. Abgesehen von ihren sporadischen Medienauftritten und den monatlichen Treffen der Eigentümergemeinschaft, hat das Mädchen weniger zu tun als ich. Wir beide wissen das, aber Damian vermutlich nicht.
Marnie tippt hektisch auf den Bildschirm. Für einen ungeübten Betrachter sieht es so aus, als würde sie Dinge verschieben, um sich Zeit zu verschaffen. Ich wette, sie spielt Candy Crush. Entweder das oder sie aktualisiert schon mal ihren Facebook-Status auf „In einer Beziehung.“
„Ich habe ein paar Dinge verschoben“, erklärt sie.
Ja, bunte Bonbons. Ich unterdrücke den Drang, mit den Augen zu rollen, als sie sich zu mir umdreht, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Vielleicht bin ich zu streng mit ihr. Ich verspüre einen Anflug von schlechtem Gewissen. Marnie hat nach allem, was sie durchgemacht hat, ein bisschen Glück verdient. Vielleicht kann Damian Mankiewicz ihr das geben. Hoffen wir nur, dass unser neuer Nachbar keine Schatzkammer voller Jagdtrophäen oder einen menschlichen Schädel in dieser ominös beschrifteten Kiste hat.
Fahr zur Hölle, Mark Black.
„Prima“, verkünde ich mit einem breiten Grinsen. „Ich würde mich freuen, wenn ihr beide vorbeikommt.“
„Kann ich was mitbringen?“, fragt Damian und wirft einen Blick auf die Berge von Kisten, die sein Wohnzimmer füllen. Ein bestimmter Karton zieht erneut meine Aufmerksamkeit auf sich. Damians Blick begegnet meinem auf dem „NICHT ÖFFNEN“-Schriftzug. Oder vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich blinzele schnell und schaue weg.
Jemand sollte ihm sagen, dass „hier nicht reinschauen“ nur danach schreit, genau dort reinzuschauen.
„Nur dich selbst.“
„Ich bringe den Wein mit“, bietet Marnie an.
„Perfekt, danke. Ich brauche nur etwa eine Stunde, um alles vorzubereiten. Ich mache mich wohl besser auf den Weg.“
Zu meiner Überraschung schließt sich Marnie mir ohne Widerrede an. „Ich gehe auch, Carrie. Ich muss nach Hause, um mich frisch zu machen.“
Als ich mich zum Gehen wende, werfe ich noch einen verstohlenen Blick auf unseren neuen Nachbarn. Gern geschehen, Damians Bein.
„So gegen sechs“, sage ich und gehe schnell zur Haustür. „Bis dann.“
Es gibt einiges vorzubereiten.
Kapitel 6
Ich gehe nicht nach Hause, um mich um das Abendessen zu kümmern.
Der Schmorbraten hat den ganzen Tag vor sich hin geschmurgelt – neun Stunden lang, bis er butterzart ist. Ich muss ihn nur noch auf die Teller löffeln, und voilà, das Abendessen ist serviert. Marnie bringt den Wein mit. Damian bringt sich selbst mit. Wir haben alles, was wir für einen perfekten Abend brauchen.
Wenn da nur nicht dieses unangenehme Kribbeln im Nacken wäre.
Marnie und ich verabschieden uns vor meinem Haus, sie will in einer Stunde wiederkommen. Die Sonne geht bereits unter und taucht den Himmel in rosa und violette Farbtöne, doch die Temperatur ist noch nicht gesunken. Oder vielleicht sind es meine Nerven, die mir das Gefühl geben, ich stünde in Flammen.
Sobald ich sicher bin, dass Marnie in ihrem Haus gegenüber ist, setze ich eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille auf und schlüpfe in meinen BMW. Anstatt wie üblich rechts aus der Einfahrt in Richtung Eingangstor zu fahren, fahre ich weiter in die Siedlung hinein, zu einem wenig frequentierten Dienstboteneingang, der im hinteren Bereich des Geländes versteckt liegt. Da Paparazzi Tag und Nacht vor dem Tor campieren, als würden sie darauf warten, dass Taylor Swift bei einem Spiel der Chiefs erscheint, hoffe ich, dass ich durch den Hintereingang unbemerkt davonkomme. Und mit der Kappe bin ich, wenn ich so sagen darf, tatsächlich kaum wiederzuerkennen. Aber plötzlich kommen mir Zweifel. Vielleicht hätte ich die verspiegelte Ray-Ban weglassen sollen, wenn ich keine Aufmerksamkeit erregen will.
Außerdem kennt die Presse mittlerweile mein Auto.
Ich hoffe, dass niemand da ist, aber das ist leider nicht der Fall. Ein einsamer Wolf mit einer Kamera entdeckt meinen BMW und schon geht das Blitzlichtgewitter los. Na toll. Meine verstörte Miene wird zweifellos auf der Titelseite der morgigen Ausgabe des Westchester Sentinel zu sehen sein, denn Carrie Winter verlässt The Estates, und das ist eine RIESIGE Neuigkeit. Ich bedecke mein Gesicht und fahre schnell vorbei. Eine offene Hand schlägt gegen die Fahrertür – das Letzte, was ich sehe, bevor meine Wohnsiedlung im Rückspiegel verschwindet.
Genervt schnaube ich leise vor mich hin. Sich an meinem Auto vergreifen? Ernsthaft? Ich kann nicht fassen, wie aggressiv diese Leute sind, wie verdammte Geier, die es kaum abwarten können, dass ihr Opfer tot ist, bevor sie sich darauf stürzen. Man sollte meinen, sie hätten aus dem Schicksal der armen Reporterin vom Westchester Sentinel, Jessica Jones (ein weiteres Opfer von Mark Black), gelernt und würden sich etwas zurückhalten. Man weiß wirklich nicht, wozu Menschen fähig sind, wenn sie in die Enge getrieben werden.
Es ist fast so, als würden sie mich herausfordern, es ihnen zu zeigen.
Seit „Back from the Black” zum ersten Mal bei Dateline ausgestrahlt wurde, ist es hier nur noch schlimmer geworden. Reporter rufen sogar regelmäßig an und legen einfach auf, natürlich von unbekannten Nummern. Ich weiß nicht, woher sie meine überhaupt haben. Sie steht nicht im Telefonbuch, verdammt! Ich umklammere das Lenkrad noch fester. Was bringt es, für eine Geheimnummer zu zahlen, wenn die Leute trotzdem an sie rankommen können?
Zuerst habe ich die Anrufe als falsch verbunden oder Streiche abgetan – Reporter, die ein Interview wollten. Aber dann, als das schwere Atmen begann, fühlte es sich etwas persönlicher an. Ich habe meine Nummer schon zweimal geändert und überlege ernsthaft, sie ein drittes Mal zu ändern. Ich trete das Gaspedal durch. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass die sensationslüsternen Zeitungen und Klatschmagazine irgendwann das Interesse verlieren, denn das müssen sie doch. Ich meine, es ist nur eine Frage der Zeit, bis irgendwo anders etwas Unvorstellbares passiert. Irgendwo anders. Hoffentlich eher früher als später.
Es dauert ein paar Minuten, bis sich mein Herzschlag von der Begegnung beruhigt hat. Die Spuren der verschwitzten Hand verschleiern meine periphere Sicht wie ein heimtückischer Nebel. Ernsthaft, was ist los mit den Leuten? Ich bin versucht, das Auto waschen zu lassen oder den Vorfall der Polizei zu melden, aber dafür habe ich keine Zeit – schließlich kommt um sechs Besuch.
Wofür ich jedoch Zeit habe, ist eine malerische zwanzigminütige Fahrt über den Taconic, über den Saw Mill River Parkway nach Yonkers, New York.
Ich bin wieder mal auf dem Weg zu Andrea Winters ehemaligem Wohnsitz.
Ich habe allerdings nicht vor, in ihr Haus einzubrechen, wie ich es beim letzten Mal getan habe, als ich durch diesen Teil der Stadt gefahren bin. Obwohl ich noch von meiner vorigen Wut erhitzt bin, durchläuft mich ein Schauer, als ich mich an dieses Abenteuer erinnere. Damals habe ich entdeckt, dass Marnies verstorbener Ehemann Mark ein schmutziges kleines Geheimnis hatte.
Allein beim Gedanken an Mark Black bildet sich ein Schweißfilm, der sich von meiner Stirn bis hinunter ins Kreuz zieht. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken, als wäre ich in ein Eisbecken getaucht worden. Ich versuche verzweifelt, ihn aus meinem Kopf zu verdrängen. Du kommst nicht vorwärts, wenn du ständig zurückschaust, Carrie, sage ich mir. Aber das ist leichter gesagt als getan – vor allem, wenn es um Mark Black geht.
Er ist keiner, den man so schnell vergisst.
Und zu Andrea Winters Haus zu fahren, macht alles bloß noch schlimmer.
Wenn ich es nur einfach sein lassen könnte. Als ich in Yonkers an einer Ampel halte, suche ich auf meinem Handy schnell nach Andrea Winters Haus. Hat Damian Andreas Haus renoviert und weiterverkauft? Zumindest sollte ich herausfinden können, ob er der Käufer ist (und dann in die Wohnsiedlung ihres Ex gezogen ist). Leider gibt es keine Angaben zum Käufer, nur dass er wahrscheinlich bar bezahlt hat, da Hypotheken öffentlich einsehbar sind. Ich starte schnell eine weitere Suche – diesmal nach der Urkunde –, aber dort steht, dass das Haus über eine Treuhandgesellschaft gekauft wurde. Das ist alles nicht sehr hilfreich. Und auch ein bisschen verdächtig. Warum sollte der neue Eigentümer solche Anstrengungen unternehmen, seine Identität zu verbergen?
Jetzt brauche ich erst recht Gewissheit, dass meine Vermutungen über Damian Mankiewicz nicht stimmen. Ich trete das Gaspedal noch weiter durch und fahre die hübsche, von Bäumen gesäumte Straße von Andrea Winter entlang, um mich selbst zu überzeugen.
Ich halte vor ihrem Haus und mir bleibt vor Schreck der Mund offen stehen. Als ich das letzte Mal hier war, war das Haus völlig heruntergekommen. Dickes „Vorsicht“-Band war über die ramponierte Tür geklebt und flatterte auf dem mit Zigarettenkippen übersäten Rasen im Vorgarten im Wind.
Davon ist jetzt keine Spur mehr.
Die flackernden Flammen verwandeln sich in loderndes Feuer, als ich das entdecke, was ich am wenigsten erwartet habe: ein „ZU VERKAUFEN“-Schild, das stolz auf dem grünsten Rasen steht, den ich je gesehen habe. Der Vorgarten sieht aus, als wäre er mit einem weichen Teppich aus brandneuem Rasen bedeckt. Das Haus ist makellos, kein Fitzelchen abblätternde Farbe ist zu sehen. Stattdessen ist es frisch gestrichen und die Fassade erstrahlt in einem hübschen, zarten Gelbton, ein krasser Gegensatz zu dem urinfleckigen Äußeren, an das ich mich erinnere. Wer auch immer das gemacht hat, hat wirklich ganze Arbeit geleistet, diesen perfekten Butterblumenton hinzubekommen.
Anstelle des armseligen Hauses, in dem TJs Mutter ermordet wurde, steht nun ein charmanter Bungalow.
Ein lautes Hupen lässt mich aufschrecken und ich merke, dass ich mitten auf der Straße stehen geblieben bin. Ich winke entschuldigend mit der Hand, trete aufs Gaspedal und fahre an den Straßenrand, obwohl ich schon genug gesehen habe. Ich habe keinen Zweifel, dass das Innere noch spektakulärer ist als das Äußere. Ich wette, jemand hat sogar das schmutzige Geschirr in der Spüle gespült, den Stapel unbezahlter Rechnungen geschreddert und die Blutflecken von der Treppe entfernt.
Wurde das Haus renoviert und verkauft?
Mein Herz schlägt unkontrolliert schnell in meiner Brust. Was macht es denn, wenn Damian Mankiewicz dieses Haus verkauft hat? Er hat ja gesagt, dass er damit seinen Lebensunterhalt verdient. Er flippt Häuser. Warum sollte Andrea Winters Haus anders sein als jedes andere?
Vielleicht, weil sie darin ermordet wurde? Vielleicht, weil das bedeuten würde, dass er jetzt mit zwei Häusern in Verbindung gebracht wird, in denen Frauen ermordet wurden? Eins könnte man noch leicht abtun. Aber ZWEI?
Ich bin nicht besonders gut in Mathe, aber selbst ich weiß, dass das ein unglaublicher Zufall wäre, wie eine unmöglich absurde Statistik. Während ich versuche, das alles zu begreifen, starre ich mit offenem Mund weiter auf das Haus und kann meinen Blick nicht abwenden.
Wenn es kein Zufall ist, könnte das bedeuten, dass Damian viel mehr über unsere Vergangenheit weiß, als mir lieb ist, zumal wir praktisch nichts über ihn wissen.
Ich atme tief ein, umklammere das Lenkrad und werfe einen letzten Blick auf das Haus, bevor ich den Wagen wieder auf die Straße steuere.
Meine unzähligen Fragen müssen warten. Ich kann nicht länger hier rumsitzen, nicht wenn Damian und Marnie in zwanzig Minuten zum Abendessen kommen.