Leseprobe Der Verlobte | Ein packender Psychothriller mit Spannung bis zur letzten Seite

Prolog

Zwei Jahre zuvor

Die Worte kullerten in Annas Kopf umher wie Murmeln, die auf eine harte Oberfläche fielen, hüpften und rollten, unfähig, eine sinnvolle Reihenfolge zu bilden. Sie runzelte die Stirn und sah die Ärztin an, eine junge Frau, wahrscheinlich wie sie selbst Anfang dreißig. Ihr glänzendes dunkles Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden. Einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht und umrahmten ihre besorgten braunen Augen.

„Nein“, sagte Anna mit einem verzweifelten Zittern in der Stimme. „Das kann nicht sein.“ Sie strich sich das blonde Haar hinter die Ohren, einmal, zweimal, dann dreimal – eine zwanghafte Angewohnheit, die immer dann auftrat, wenn sie gestresst war. Und jetzt war sie gestresster als je zuvor in ihrem Leben.

Sie waren in einem kleinen Büro zusammengepfercht, dem einzigen freien Raum für ein ruhiges Gespräch. Anna kauerte auf einem abgenutzten Stuhl, dessen hellblaues Polster mit Kaffeeflecken übersät war. Die Ärztin saß ihr gegenüber in einem schwarzen Bürostuhl, wippte nervös hin und her und umklammerte das Stethoskop, das um ihren Hals hing. Es war stickig und heiß, Annas Hände waren feucht. Sie verschränkte sie fest in ihrem Schoß, als würde sie versuchen, sich selbst Halt zu geben.

„Es tut mir so leid“, sagte die Ärztin, beugte sich vor und legte tröstend eine Hand auf Annas Schulter. Die Berührung war warm. Anna blinzelte und spannte sich an. Das ist real. Es passiert wirklich. Ihr Brustkorb zog sich zusammen, ihr Atem wurde flach und sie fühlte sich leicht benommen.

„Gibt es jemanden, der Sie abholen kann? Es ist besser, nicht allein zu sein, wenn man so unter Schock steht. Und Sie sollten nicht selbst fahren.“

Die Worte drangen nicht zu ihr durch. Annas Gedanken hingen noch immer an dem, was die Ärztin als Erstes gesagt hatte: Tot. Ihr Mann, Ollie, war tot.

„Ich … verstehe nicht … Es war doch nur ein Routineeingriff. So wurde es mir gesagt. Sehr schnell. Wie kann er …?“

Es war unmöglich, das Wort auszusprechen, geschweige denn zu glauben, dass es wahr war. Ihr liebenswerter, alberner Ehemann, der sie noch vor zwei Tagen mit ihrem aktuellen Prominentenschwarm aufgezogen hatte. Wie war es möglich, dass er nicht mehr am Leben war? Sie hatten Pläne geschmiedet, wollten reisen, ein eigenes Haus kaufen, eine Familie gründen. Die nächsten fünf Jahre waren bereits verplant.

Und jetzt konnte sie nicht über diesen Moment hinausblicken, hatte keine Ahnung, wie sie ohne ihn existieren sollte.

Sie fing den Blick der Ärztin auf, brachte ein schwaches Lächeln zustande, schüttelte den Kopf, zitterte am ganzen Körper. „Ich habe Sie falsch verstanden, nicht wahr? Das ist nur mein Kopf, der aus allem eine Katastrophe macht.“

Die Ärztin starrte sie an, die Lippen aufeinandergepresst. „Es tut mir so leid, Mrs McKenzie, aber ich glaube, Sie haben mich richtig verstanden. Und ich weiß, es ist schwer zu verdauen, aber Ihr Mann ist leider während der Operation verstorben.“

Die Worte bohrten sich in Annas Herz, ein emotionaler Hammerschlag, der sie aufschluchzen ließ. Und als sie einmal angefangen hatte, brach der Schmerz aus ihr heraus wie Wasser aus einem gebrochenen Damm. Eine unaufhaltsame Traurigkeit erschütterte ihren Körper und schnürte ihr das Herz zu. Anna verbarg das Gesicht in ihren Händen, weil es ihr furchtbar peinlich war, vor einer Fremden zusammenzubrechen.

„Aber wie?“, fragte sie, als sie endlich wieder zu Atem gekommen war, und wischte sich mit ein paar Taschentüchern, die die Ärztin ihr hinhielt, über das tränenverschmierte Gesicht. „Wie konnte das passieren?“

Die Ärztin sah zu Boden. „Ich lasse den Chirurgen kommen, damit er Ihnen die Einzelheiten erklären kann. Er wird nicht lange brauchen.“ Sie streichelte Anna sanft über die Schulter. „So etwas kommt leider vor. Eine Operation birgt immer ein Risiko – das erklären wir, bevor der Patient sein Einverständnis gibt. Niemand ist schuld.“

Annas Kiefer spannte sich an und eine Welle von Wut verdrängte ihre Traurigkeit. „Ich verstehe nicht, wie Sie das sagen können. Dass er überhaupt die zweite Operation brauchte, war doch jemandes Schuld, nicht wahr?“ Die Worte brachen scharf und spitz heraus, sie suchten ein Ziel, auf das sie die Schuld abladen konnte. „Wäre die erste Operation richtig durchgeführt worden, hätte er die zweite nicht gebraucht.“ Sie hielt inne, schluckte, zwang sich, weiterzusprechen. „Und er wäre noch am Leben.“

Die Ärztin rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, dann stand sie auf. Ihr Gesichtsausdruck war leer geworden, als hätte sie ihr Mitgefühl weggesperrt. „Wie ich schon sagte, ich werde den Chirurgen holen, damit er Ihnen die Einzelheiten erklärt.“ Sie spielte mit dem Stethoskop. „Ich verstehe, dass es ein schrecklicher Schock ist. Kann ich Ihnen etwas bringen lassen? Wie wäre es mit einem heißen Getränk? Oder soll ich jemanden für Sie anrufen?“

Anna schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin – ohne etwas zu sehen außer Ollies Gesicht. Er lachte. Er lachte immer und brachte auch sie zum Lachen. Er machte sich keine Sorgen, ließ sich vom Leben nicht unterkriegen und sah in jeder Situation das Positive. Genau die Art von Mensch, die sie an ihrer Seite brauchte. Mit zitternden Händen strich sie sich die Haare abermals hinter die Ohren. Plötzlich fröstelte sie – ihr war kalt geworden. Wie sollte sie jemals ohne ihn zurechtkommen?

Es war nicht fair. Er hatte es nicht verdient, zu sterben. Niemand hatte erwartet, dass er sterben würde. Warum zum Teufel war er dann tot?

Sie schloss die Augen. Dann schlang sie die Arme um die Brust, krallte die Finger in die Rippen und wiegte sich vor und zurück. Ein Schluchzer entrang sich ihrer Kehle, und sie konnte nichts tun, um ihn zu unterdrücken.

Ihre Welt war zerbrochen. Sie war zerbrochen.

Und jemand musste für das bezahlen, was er getan hatte.

Kapitel 1

Jetzt

Annas Herz machte einen Sprung, als sie eine Änderung in Theo Heatons Facebook-Profil bemerkte. Single, stand da. Gestern hatte es noch nichts über seinen Beziehungsstatus ausgesagt, und so war es auch in den letzten zwei Jahren gewesen, in denen sie ihm gefolgt war. Soweit sie wusste, war er verheiratet, auch wenn er das nicht gerne in seinem Profil erwähnte. Wenn sie darüber nachdachte – hatte sie jemals ein Bild von ihm mit seiner Frau gesehen? Sie erinnerte sich an keines. In seinen Beiträgen gab er nicht viel über sich preis, und jetzt fiel ihr auf, dass sie außerhalb seines Arbeitslebens kaum etwas über ihn wusste. Sie vergrößerte sein neues Profilbild auf dem Display ihres Smartphones und musterte das Gesicht, das sie so gut kannte, ohne den Mann jemals getroffen zu haben.

Silbernes Haar, kurz geschnitten und am Oberkopf gestylt, um ihm ein wenig Höhe zu verleihen. Verspielt, dachte sie. Sie stellte sich vor, wie sich sein Haar kräuseln würde, wenn er es jemals länger wachsen lassen würde. Sein Kinn war kantig und glatt rasiert, die Haut gebräunt und nahezu makellos. Er war zweiundfünfzig, aber er sah mindestens zehn Jahre jünger aus. Durchdringend blaue Augen mit einem marineblauen Ring um den Rand. Dunkle Augenbrauen. Eine gerade Nase, vielleicht etwas zu groß, aber an ihm wirkte sie edel. Tatsächlich fasste dieses Wort sein Erscheinungsbild perfekt zusammen. Vornehm, vertrauenswürdig – obwohl der Hauch eines Lächelns seine Mundwinkel umspielte und Fältchen zeigte, die einen Sinn für Humor erahnen ließen. Sie betrachtete seine Lippen und fragte sich, wie diese trotz allem, was sie über ihn wusste, so sanft aussehen konnten.

Sie suchte im Hintergrund nach Hinweisen und sah, dass er sich in einem Jachthafen befand. Hinter ihm waren Reihen von Booten auf Pontons vertäut. Hmm, war das die Burg von Caernarfon im Hintergrund? Ja, unverkennbar. War eines der Boote seins?

Er hatte eindeutig Geld, das konnte man an den Orten erkennen, an denen er sich aufhielt. An den gut aussehenden Leuten, mit denen er verkehrte, seinen jährlichen Skireisen nach Amerika, seinen Urlauben in der Karibik, der Art, wie er sich kleidete. Der schwarze Mantel, den er auf dem Foto trug, war ein Barbour, wenn sie sich nicht irrte. Er stand ihm gut. Aber er gehörte ohnehin zu den Männern, die nie schäbig oder ungepflegt aussahen – wenn man seinem Social-Media-Feed Glauben schenken konnte. Er strahlte immer und man sah ihm an, dass er frisch roch, allein schon durch die Bilder. Sauber, glänzend, makellos.

Etwa vier Monate nach Ollies Tod hatte sie begonnen, Theo auf Facebook und Instagram zu folgen. Er schien Facebook für berufsbezogene Beiträge und Instagram für seine privaten Aktivitäten zu nutzen, also behielt sie beides stets im Blick. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie wie betäubt gewesen; Namen und Gesichter waren in ihrer Trauer verschwommen. Aber als sich ihr Geist ein wenig geklärt hatte, verstand sie plötzlich: Theo Heaton war der Chirurg, der ihren Seelenverwandten getötet hatte. Was auch immer in diesem Operationssaal schiefgelaufen war, er war dafür verantwortlich, auch wenn die interne Untersuchung etwas anderes ergeben hatte.

Also hatte sie angefangen, ihm in den sozialen Medien zu folgen, und zwar aus keinem anderen logischen Grund als dem, dass es ihr das Gefühl gab, irgendetwas zu tun. Auch wenn kein Ergebnis greifbar war, linderte es das überwältigende Gefühl der Hilflosigkeit, das sie täglich überkam. Sie sah sich seine Bilder an und projizierte ihren Hass auf ihn, in der Hoffnung, dass ihre negative Energie sich irgendwie auf sein Leben übertragen und es zerstören würde. Natürlich hatte sie keine Ahnung, ob das in irgendeiner Weise funktionierte, aber sie fühlte sich dadurch eine Zeit lang besser.

Für jemanden, den sie noch nie getroffen hatte, wusste sie eine Menge über Theo Heaton in seiner Eigenschaft als Chirurg.

Sie besaß quasi ein enzyklopädisches Wissen über seinen Werdegang als Arzt. Sie konnte seinen Lebenslauf so exakt herunterbeten, als wäre es ihr eigener. Sie wusste, wo er in der Vergangenheit gearbeitet hatte, hatte nach anderen Fällen gesucht, in denen seine Patienten gestorben waren, nach einem Muster von Fahrlässigkeit oder Inkompetenz, nach allem, was seine Karriere hätte ruinieren können. Aber sie hatte nichts gefunden. Sie wusste, dass er eine private chirurgische Klinik betrieb, aber auch dort schien es kein Fehlverhalten gegeben zu haben. Es war ärgerlich, aber es hatte den Anschein, dass seine Nachlässigkeit bei Ollie eine Ausnahme gewesen war, so wie es seine Kollegen und Chefs gesagt hatten. Das machte es irgendwie noch schlimmer.

Warum musste ausgerechnet Ollie sterben?

In ihrem Eifer, jegliche berufliche Verfehlungen aufzudecken, hatte sie nicht daran gedacht, sein Privatleben zu durchleuchten. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass es hilfreich sein könnte, seine Social-Media-Feeds bis zu den Monaten vor der Operation zu durchforsten – bis heute, als sie herausgefunden hatte, dass er Single war. Sie hatte ihn angesehen und gehasst für das, was er getan hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte. Außer den offiziellen Weg einzuschlagen – und der hatte zu nichts geführt.

Jetzt sah sie eine Möglichkeit, mehr über den Mann selbst zu erfahren und sich ihm zu nähern. Das musste ihr nächster Schritt sein, denn es war die einzige Chance, die ihr blieb. Könnte ich mit ihm ausgehen? Das wäre der einfachste Weg, um eine Schwachstelle zu finden und ihn zu verletzen. Jeder hatte Geheimnisse, von denen er nicht wollte, dass sie publik wurden. Details, die sie gegen ihn verwenden könnte, um seinen Ruf zu schädigen, ihn zu demütigen, ihm finanziellen Schaden zuzufügen. Informationen, die ihn auf irgendeine Weise zerstören könnten, wenn sie ans Licht kämen.

Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird – so sagt man doch, oder? Nun, zwei Jahre waren lang genug, um die Wut in ihrem Herzen zu einem eiskalten Block erstarren zu lassen. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, dass er für seine Taten bezahlen würde. Aber nun bot sich ihr eine Gelegenheit, und ihr Bauchgefühl sagte ihr, sie solle diese mit beiden Händen ergreifen. Ihr Herz schlug jetzt in gleichmäßigem Galopp, und in ihrer Brust stieg die Erregung. Das war sie, die Chance, auf die sie gewartet hatte. Ist das wirklich möglich?

***

Sie richtete die Handykamera auf sich selbst und lachte unzufrieden, als sie ihr Bild sah. Müde und glanzlos. Dunkle Schatten unter den haselnussbraunen Augen, die von Traurigkeit gezeichnet waren, die Mundwinkel nach unten gezogen, die Augenbrauen ungepflegt, die Haut fahl, das Haar schlaff und leblos. Sie war nicht die Art von Frau, für die sich ein Mann wie Theo interessierte, aber sie hatte sich seit Ollies Tod auch nicht mehr um ihr Äußeres gekümmert.

Ihr Haar war ungewaschen, nur noch die untere Hälfte violett und die Spitzen splissig und strohig. Sie hatte es am Tag vor Ollies Beerdigung schneiden und färben lassen, um für ihn gut auszusehen, wenn sie seinen Sarg zum Krematorium begleitete. Nur für den Fall, dass er dort war und zusah. Violett war seine Lieblingsfarbe, aber jetzt sah sie verwahrlost aus.

Sie fuhr sich durch den verwachsenen Schnitt, ihr Haar war voller Knoten. Sie wusste nicht mehr, wann sie es das letzte Mal gebürstet hatte, und band es oben auf dem Kopf zu einem Dutt zusammen, damit es ihr nicht ins Gesicht fiel. Das war die Gefahr, wenn man von zu Hause aus arbeitete. Niemand, vor dem man sich hätte schämen müssen, musste jemals sehen, in welchem Zustand man sich befand. Und wenn sie einkaufen ging, setzte sie sich eine Baseballkappe auf. Damit fühlte sie sich unsichtbar – so wie sie es mochte.

Auf ihrem grauen Sweatshirt waren da Flecken zu sehen, wo sie Kaffee verschüttet hatte und ihr Spiegelei-Sandwich heruntergetropft war. Der Kragen war unförmig und ausgefranst. Sie sah aus wie eine Obdachlose, die weder die Möglichkeit noch das Geld hatte, sich und ihre Kleidung sauber zu halten. Sie seufzte, schaltete die Kamera aus und betrachtete erneut Theos Bild, während ihre Gedanken abschweiften.

Seit Ollies Tod hatte sie sich zurückgezogen und Einladungen zu gesellschaftlichen Anlässen immer in letzter Minute mit hoffentlich plausiblen Ausreden abgesagt. Sie hatte nur zugesagt, damit ihre Freunde sich nicht um sie sorgten. Wenn sie so darüber nachdachte, würde sie nicht sagen, dass sie jetzt noch enge Freunde hatte. Seit Ollis Beerdigung vor über zwei Jahren hatte sie sie nicht mehr persönlich getroffen. Die Nähe war eine Illusion, die durch die sozialen Medien und Nachrichten erzeugt wurde.

Das Leben ihrer Freunde war weitergegangen. Aus Partnern wurden Ehemänner, einige bekamen Kinder. Auslandsreisen, Umzüge, berufliche Veränderungen, neue Qualifikationen, Beförderungen. All das hatte sie verfolgt, ohne daran teilzuhaben. Nur eine interessierte Beobachterin. Nur ihr Leben war nicht weitergegangen, sie war festgenagelt von Trauer und Wut über die erdrückende Ungerechtigkeit des Lebens. Mit einunddreißig Jahren war sie zu jung, um Witwe zu sein. Zu jung, um all ihre Träume zerplatzen zu lassen.

Sie blinzelte die Tränen weg, die so salzig waren, dass ihre Augen brannten, und fragte sich, ob sie jemals diesen Punkt hinter sich lassen würde. Konnte sie akzeptieren, dass das Baby, das sie sich in ihren Armen vorgestellt hatte – das mit Ollies Lächeln und seinen abstehenden Ohren – nur in ihrer Vorstellung lebendig sein konnte? Diese Reisen in weit entfernte Länder konnten nur in ihrer Fantasie stattfinden. In den nächsten Kapiteln ihres Lebens würde Ollie niemals auftauchen. Manchmal war es unerträglich, und sie heulte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Aber das wusste niemand, weil sie alle von sich fernhielt, sogar ihre Eltern. Ihre Standardantwort war: „Mir geht es gut. Alles ist in Ordnung.“ Aber das war es nicht.

Ollie war der Vernünftige gewesen, die praktische Hälfte ihrer Partnerschaft. Derjenige, der sie davor bewahrt hatte, in Panik zu geraten, wenn etwas schiefging wie der undichte Wasserhahn in der Küche, die kaputte Waschmaschine oder die Heizung, die sich weigerte, anzuspringen. Er hatte ihr Halt gegeben, alles möglich erscheinen lassen, das Leben zu einem Abenteuer gemacht, das sie kaum erwarten konnte zu erleben. Ohne ihn existierte sie in einem dunklen Tunnel, in dem es nur eine Richtung gab, und egal wie viele Schritte sie machte, sie kam dem Licht nie näher. Es gab sogar Zeiten, in denen es gar kein Licht gab.

Sie schüttelte die dunklen Gedanken ab, bevor sie die Oberhand gewannen. Sie waren ihre ständigen Begleiter, aber jetzt konnte sie ihre Zeit nicht mit den Erinnerungen verbringen. Sie hatte Dinge zu erledigen, Pläne zu schmieden, denn Theos Single-Dasein hatte ihr eine einmalige Gelegenheit eröffnet, und die musste sie nutzen. Eine Chance, sich von der Wut zu befreien, die ätzend und alles verzehrend in ihr kochte.

Dies war ihre Chance, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, die Waage der Gerechtigkeit ein wenig auszugleichen. Vielleicht würden dann die Albträume und die aufdringlichen Gedanken, die sie immer wieder grundlos in Tränen ausbrechen ließen, damit aufhören, sie zu verfolgen. Vielleicht könnte sie dann wieder anfangen zu leben, anstatt in diesem endlosen Sumpf aus Kummer und Schmerz zu existieren.

Sie scrollte in ihrer Fotogalerie zurück zu der Zeit, in der sie glücklich gewesen war, und fand ein Bild, das Ollie von ihr mit einer neuen Kollektion von Schals gemacht hatte, als sie ihren Etsy-Shop eröffnet hatte. Gott sei Dank hatte sie sich dort etablieren können, bevor sie auf sich allein gestellt war.

Auf dem Bild grinste sie, ihre Augen funkelten, ihr Haar war kurz und glänzend, mit einem langen Pony, den sie hinter ein Ohr geklemmt hatte. Sie trug große baumelnde Ohrringe, die sie aus Seidenresten hergestellt und zu Schlaufen gedreht hatte. Das war ein Punkt in ihrem Leben, an dem sie das Gefühl gehabt hatte, dass sich alles zu einem guten Ganzen fügen würde.

Sie hatten gerade ein Haus mit drei Schlafzimmern gefunden, in dem sie einen anständigen Arbeitsbereich und Platz für ein Kinderzimmer gehabt hätten. Ollie war in dem Medienunternehmen, für das er arbeitete, befördert worden, und sie hatte große Pläne gehabt, ihr Online-Geschäft auszubauen. Diese Zukunft war ihr mit Ollies Tod genommen worden. Sie musste das Kaufangebot für das Haus zurückziehen und in ihrer Mietwohnung bleiben, unfähig, darüber zu entscheiden, was sie nach seinem Tod tun sollte. Den Großteil der Versicherungssumme, die sie nach seinem Tod erhalten hatte, hatte sie in eine langfristige Anlage investiert. Es schien die sicherste Option zu sein, alles beim Alten zu belassen. Das Leben war abrupt zum Stillstand gekommen.

Sie betrachtete das Bild von sich und stieß einen langen Seufzer aus. Einst war sie attraktiv gewesen. Sie hatte die Blicke auf sich gezogen, das wusste sie, und sie war so voller Selbstvertrauen gewesen, dass sie geglaubt hatte, nichts könne schiefgehen. Ha, wie naiv. Sieh nur, was in einem kleinen Augenblick passieren kann.

Ich könnte wieder so aussehen, dachte sie, und ein Schwall von Ideen wehte durch ihren Kopf wie Herbstlaub, das vom Wind herumgewirbelt wurde. Ich könnte Männer dazu bringen, sich für mich zu interessieren, wenn ich es nur wollte. Männer wie Theo.

Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie beschloss, dass dies die beste Idee war, die sie seit Langem hatte. Dass Theo jetzt wieder Single war, war genau die Chance, auf die sie gewartet hatte. Und eine Herausforderung, die ihrem Leben eine neue Richtung geben würde.

Sie schaute aus dem Fenster und machte sich eine Liste mit den Dingen, die sie erledigen musste. Zuerst würde sie sich die Haare machen lassen, dann die Nägel und die Augenbrauen. Natürlich auch die Wimpern. Die Brille wegschmeißen und wieder zu Kontaktlinsen wechseln. Sie betrachtete ihr Gesicht noch einmal auf dem Handy. Hmm, vielleicht sollte sie sich die Lippen ein wenig aufspritzen lassen. Sie musste glamourös sein, denn ein so gepflegter Mann wie Theo würde eine Frau wollen, die genauso auf sich achtete, wie er es tat. Und Kleidung. Sie brauchte eine komplett neue Garderobe. Sie lachte, jetzt aufgeregt. Es gab einiges einzukaufen.

Sie hatte ihn in den letzten zwei Jahren intensiv verfolgt und kannte seinen Stil, wusste, welche Marken er gerne trug. Das gab ihr ein paar Anhaltspunkte, was sie für sich selbst besorgen musste. Es ist alles möglich, sagte sie sich, und die Aufregung stieg.

Sie machte sich Notizen und begann mit einer Liste von Dingen, die sie für ihr Umstyling organisieren und kaufen musste. Eine Stunde später lehnte sie sich lächelnd auf dem Sofa zurück. Das würde nicht billig werden, aber sie hatte einen Teil des Versicherungsgeldes für unvorhergesehene Ereignisse auf einem Tagesgeldkonto deponiert. Wenn sie es als eine Investition in ihre Zukunft, in ihre geistige Gesundheit und in ihren Seelenfrieden betrachtete, war der Preis es wert. Ja, das könnte der Weg sein, endlich alles hinter sich zu lassen, die Dämonen auszutreiben und weiterzugehen.

„Er wird nicht wissen, wie ihm geschieht“, murmelte sie vor sich hin und durchstöberte die Mode-Websites, um sich Kleidungsstücke für ihren neuen Look auszusuchen. Sie konnte fast hören, wie Ollie über ihre Auswahl lachte, und das spornte sie an. Die Frau, zu der sie sich machen würde, würde nicht diejenige sein, die er kannte. Und in diesem einen Augenblick kamen die Erinnerungen zurück. Die Nacht, in der sich ihr Leben verändert hatte.

Kapitel 2

Damals

Ollie prostete ihr mit seinem Champagnerglas zu. Seine grauen Augen funkelten im Kerzenlicht. Er hatte sein hellbraunes Haar zu einem Dutt gebunden, und sein ordentlich gestutzter Bart war eine Nuance dunkler als sein Haar. Sie saßen in einer abgeschiedenen Ecke bei ihrem Lieblingsitaliener. Es war, als gäbe es nur sie beide auf der Welt.

„Auf uns“, sagte er. „Alles Liebe zum Jahrestag, mein Schatz. Ich kann kaum glauben, dass es schon drei Jahre sind, aber das waren die besten drei Jahre.“

Sie strahlte ihn an, verliebter in diesen Mann als je zuvor. Er war alles, was sie sich jemals gewünscht hatte, mehr als sie jemals zu hoffen gewagt hätte. Jeden Tag wachte sie aufs Neue erstaunt darüber auf, dass dies ihr Leben war. „Auf uns“, wiederholte sie. „Es war … wunderbar. Und ich liebe es, Mrs McKenzie zu sein.“

Er trank einen Schluck Champagner, schüttelte den Kopf und grinste. „Ich bin so ein Glückspilz.“ Dann nahm er ihre Hand, strich mit seinem Daumen über ihre Handfläche und ließ ein Kribbeln ihren Arm hinauflaufen. „Weißt du, ich bin so gespannt, wie unsere Kinder aussehen werden.“

Sie lachte. „Immer mit der Ruhe, Tiger. Lass uns erst den Nachtisch genießen. Und dann ist da ja auch noch der Umzug. Ich möchte, dass wir im neuen Haus erst richtig angekommen sind und alles seinen Platz gefunden hat, bevor wir über Kinder nachdenken. Sonst geht es uns wie meinen Eltern und wir leben für immer in einem halbfertigen Haus.“

Er zog eine Grimasse, ließ ihre Hand los und rieb sich den Bauch, die Augen vor Schmerz zusammengekniffen.

Sie runzelte die Stirn. „Hast du wieder Bauchschmerzen?“

Er stöhnte und verzerrte das Gesicht. „Verdammt, es fühlt sich an, als würden sich meine Eingeweide verknoten.“ Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und er wurde plötzlich blass im Gesicht.

Den ganzen Tag über hatte er schon Bauchkrämpfe gehabt. Sie schienen sich beruhigt zu haben, nachdem er ein paar Tabletten gegen Sodbrennen genommen hatte, bevor sie losgegangen waren. Aber jetzt sah sie ihm an, dass er wirklich litt. Doch diesmal war es anders. Irgendetwas stimmte nicht.

Er stöhnte erneut und krümmte sich, beide Hände gegen den Bauch gepresst. Sie sprang auf und eilte zu ihm, unsicher, wie sie ihm helfen sollte.

„Es wird schlimmer“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Panik ließ ihr Herz rasen. Es war ihre Aufgabe, sich um ihn zu kümmern und zu überlegen, was zu tun war. Doch noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt.

„Sollen wir nach Hause gehen?“ Sie hielt nach einer Servicekraft Ausschau. „Ich rufe ein Taxi.“

Er stöhnte noch einmal, und sie winkte hektisch, um auf sich aufmerksam zu machen. Glücklicherweise bemerkte eine Kellnerin sie und brachte eilig die Rechnung, nachdem Anna ihr die Situation erklärt hatte.

Als sie schließlich bezahlt und ein Taxi organisiert hatte, sah Ollie noch schlechter aus. Er klagte, ihm sei zu heiß, und er schwitzte stark. Vor Schmerzen krümmte er sich und konnte kaum gehen. Es gab nur ein Ziel – und das war nicht ihr Zuhause.

„Können Sie uns bitte ins Krankenhaus bringen?“, fragte Anna den Taxifahrer, verzweifelt hoffend auf medizinische Hilfe. „So schnell Sie können.“

***

Zum Glück war es mitten in der Woche und das Krankenhaus nicht voller Betrunkener, die sich am Wochenende prügelten. Die Krankenschwester in der Notaufnahme sah auf den ersten Blick, dass Ollie starke Schmerzen hatte. Anna fühlte sich unerträglich hilflos. Seine Hand zu halten und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde, war alles, was sie tun konnte, während sie darauf warteten, in den Behandlungsraum gerufen zu werden.

Es dauerte länger, als ihr lieb war, doch die Untersuchung und Tests ergaben, dass der Blinddarm entzündet war und Ollie operiert werden musste. Inzwischen war es früh am Morgen, und Anna war müde. Ihre Augen waren trocken und wund, jedes Blinzeln schmerzte. Sie sah zu, wie er in den OP geschoben wurde, und sagte ihm ein letztes Mal, dass sie ihn liebte, bevor er durch die Flügeltür und den Korridor hinunter verschwand. Jetzt konnte sie nur noch warten und sich immer wieder Mut zureden, dass es sich um einen Routineeingriff handelte und ihr Mann in guten Händen war. Es würde alles gut werden. Ganz bestimmt.

Was als wundervoller, romantischer Abend begonnen hatte, war zu einem beängstigenden Strudel aus Schmerzen, Blutuntersuchungen und besorgten Ärzten geworden. Es war schrecklich, den Menschen, den sie liebte, leiden zu sehen. All das hatte sie schockiert, nervös und völlig erschöpft zurückgelassen.

Bis jetzt hätte Anna gesagt, dass sie ein gutes Leben hatte: Sie hatte liebevolle Eltern, einen Bruder und eine Schwester, denen sie immer noch nahestand. Das Familienbudget reichte aus, um jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub zu fahren. In der Schule hatte sie einen tollen Freundeskreis gefunden und während des Modedesign-Studiums an der Uni hatte sie neue Freundschaften geschlossen. Noch nie hatte sie mit einem medizinischen Notfall zu tun gehabt und sich mit dem Gedanken an den Tod beschäftigen müssen. Das war absolutes Neuland für sie. Sie war völlig verängstigt und konnte nicht stillsitzen. Unruhig lief sie auf und ab, während sie auf Neuigkeiten wartete.

„Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, fragte eine Krankenschwester, die den Kopf in das leere Wartezimmer steckte. Es war fast vier Uhr morgens und alle anderen waren längst gegangen. Sie musterte Annas Gesicht, legte den Kopf leicht schief und blickte sie besorgt an. „Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Ich weiß, das war ein furchtbarer Schock für Sie. Aber der Chirurg, der heute Nacht Dienst hat, hat diese Operation schon Hunderte Male durchgeführt.“ Sie schenkte Anna ein beruhigendes Lächeln. „Wirklich, es gibt keinen Grund zur Sorge.“

Ein paar Minuten später kam sie mit einem Tee zurück. Obwohl der Pappbecher fast zu heiß war, um ihn zu halten, drückte Anna ihn an ihre Brust, weil sie sich kalt und leer fühlte.

„Sie können ruhig nach Hause gehen, wenn Sie möchten. Wir rufen Sie an, sobald Ihr Mann aus dem OP kommt. Hier können Sie im Moment nicht viel tun, und er wird direkt auf die Station gebracht, sodass Sie ihn auch nicht sehen können. Wahrscheinlich müssen Sie bis zur Besuchszeit morgen Nachmittag warten.“

Anna schüttelte den Kopf – sie konnte unmöglich gehen. Sie wollte ihm so nah wie möglich sein, bis sie wusste, dass es ihm gut ging, er die Operation überstanden hatte und wirklich kein Grund mehr zur Sorge bestand.

Zwei Stunden später wurde sie sanft geweckt. Die Krankenschwester lächelte sie an, als Anna die Augen öffnete.

„Ich habe gerade erfahren, dass Ihr Mann aufgewacht ist und auf die Station gebracht werden kann.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es keinen Grund zur Sorge gibt.“

Anna wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Schließlich tat sie beides. Die Krankenschwester setzte sich neben sie und streichelte ihr beruhigend den Rücken. Steif und mit schmerzenden Gliedern vom langen Sitzen auf dem harten Plastikstuhl stemmte Anna sich schließlich hoch, bereit, nach Hause zu gehen, jetzt, da Ollie in Sicherheit war.

Wenn sie jetzt zurückblickte, fragte sie sich, wie das Leben ihnen so einen Schlag versetzen konnte. Aber so ist das eben, oder? Man denkt, man hat alles im Griff, glaubt, auf der Gewinnerseite zu stehen – und plötzlich zieht ein Sturm auf. Ein Sturm, der alle Karten, mit denen man sein Leben sorgfältig aufgebaut hat, in sich zusammenfallen lässt.

Kapitel 3

Jetzt

Anna fühlte sich schon viel besser als noch vor zehn Tagen, als ihr zum ersten Mal der Gedanke kam, sich mit Theo zu verabreden. Sie hatte sich angewöhnt, den Kopf hin- und herzudrehen, nur um ihr seidiges Haar im Nacken zu spüren, und während der Arbeit drehte sie oft eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Ihre Augenbrauen waren jetzt gepflegt und in Form gezupft, und eine Gesichtsbehandlung hatte ihr Hautbild deutlich verbessert. Sie trank viel Wasser und bei ihrem Wocheneinkauf hatte sie einen ganzen Berg Gemüse und gesunde Zutaten gekauft und sich sogar ein Kochbuch gegönnt.

Wenn sie sich ein Ziel setzte, dann mit voller Hingabe – alles oder nichts. Sie war geradezu besessen davon, aus sich eine Frau zu machen, mit der Theo ausgehen wollen würde. Ihr ganzes Leben drehte sich inzwischen nur noch darum, aber es fühlte sich gut an, endlich wieder etwas zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Es hatte sie aus dem Sumpf der Verzweiflung gezogen, in dem sie sich zuvor gesuhlt hatte. Heute Morgen hatte sie sich sogar dabei ertappt, unter der Dusche zu singen – etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte.

Natürlich würde es nicht schnell gehen; sie wusste, dass echte Veränderungen Zeit brauchten, wenn sie überzeugend sein sollten. Aber sie war mit den bisherigen Ergebnissen zufrieden. Jeder kleine Fortschritt war ein Schritt in die richtige Richtung. Sie sah auf die Uhr, stand von ihrem Schreibtisch auf und streckte sich. Es war erstaunlich, dass das „Projekt Theo“ ihre Produktivität mehr als verdoppelt hatte. Ihr Blick fiel auf den Stapel Pakete, die sie zur Post bringen wollte. Zum ersten Mal seit Ollies Tod verspürte sie ein warmes Gefühl der Zufriedenheit, weil sie wirklich gute Arbeit geleistet hatte.

Es war fast Zeit für ihren Termin beim Optiker, um sich wegen Kontaktlinsen beraten zu lassen, ein wichtiger Teil ihres Makeovers. Bevor sie Ollie kennengelernt hatte, hatte sie bereits welche getragen. Das war jetzt über sieben Jahre her. Doch dann hatte sie keine Lust mehr auf den ganzen Aufwand, und Ollie fand, dass sie mit einer Brille hübsch aussah. Also trug sie die Linsen nicht mehr.

Jetzt war sie seltsam aufgeregt, ihnen noch einmal eine Chance zu geben. Sie war überzeugt, dass sich die Investition lohnen würde. Ollie hatte immer gesagt, es seien ihre Augen gewesen, die ihn zu ihr hingezogen hatten: groß und rund in ihrem fein geschnittenen Gesicht. Wenn sie also wirklich entschlossen war, den Mann zu erobern, war es nur logisch, ihr schönstes Merkmal besonders zu betonen.

Seit Ollies Tod hatte sie so viel Gewicht verloren, dass ihre Wangenknochen wieder stärker hervortraten und sie die Figur ihrer frühen Zwanziger zurückerlangt hatte. Zwar hatte sie schon befürchtet, etwas zu dünn geworden zu sein, aber als sie sich die Fotos von Theos Frau ansah, glaubte sie, dass genau das seinem Geschmack entsprach. Außerdem konnte sie jetzt Outfits tragen, die sie früher, als sie noch mehr gewogen hatte, nicht in Betracht gezogen hätte. Es war aufregend, ihre neuen Kleider anzuziehen, und sie konnte es kaum erwarten, dass noch mehr ihrer Bestellungen eintrafen.

Sie betrachtete sich im großen Flurspiegel und war zufrieden mit der grauen Skinny-Jeans und dem cremefarbenen Kaschmirpullover, die sie trug. Schlicht, aber elegant. Und kein bisschen Hüftspeck wölbte sich über den Hosenbund. Jedes Unglück hat auch sein Gutes, dachte sie, griff nach ihren Schlüsseln und verließ das Haus. Leise vor sich hin summend machte sie sich zu Fuß auf den Weg in die Stadt. Früher wäre sie mit dem Auto gefahren, obwohl es gar nicht so weit war. Jetzt versuchte sie, im Rahmen ihres neuen Fitnessprogramms überallhin zu laufen, um wieder Muskeln an ihren dünnen Beinen zu bekommen.

In der Stadt hatte sie noch andere Aufgaben zu erledigen. Unter anderem wollte sie sich das Fitnessstudio ansehen, in dem Theo dreimal pro Woche trainierte. Er postete immer montags, mittwochs und freitags Bilder aus dem Gym, und das schon die ganze Zeit, seit sie seine Social-Media-Kanäle beobachtete. Es gab also keinen Grund, anzunehmen, dass sich daran etwas geändert hätte.

***

Nachdem sie beim Optiker fertig war, machte sie sich auf den Weg zum Fitnessstudio. Dieses befand sich in einem umgebauten Ladenlokal, in dem früher einmal ein Aldi gewesen war, bevor er in größere Räumlichkeiten umzog. Die Fassade bestand aus getöntem Glas, aber sie konnte die Schatten der Leute auf den Laufbändern erkennen. Ein Anflug von Nervosität durchfuhr sie. Dann hängte sie sich ihre gefälschte Dior-Tasche über die Schulter und ging hinein.

Der Empfangsbereich war zwar klein, wirkte aber elegant mit dem geschwungenen Empfangstresen direkt gegenüber. Die Empfangsdame, eine junge Frau Anfang zwanzig mit wasserstoffblondem Haar, blickte auf, als sie die Tür hörte, und schenkte ihr ein breites Grinsen. Ihre Zähne waren so strahlend weiß, dass ihr Lächeln sie verunsicherte.

„Oh, hallo“, sagte Anna überschwänglich. „Ich wollte mich nur nach einer Mitgliedschaft erkundigen. Kann ich auch nur einzelne Stunden nehmen oder muss ich ein Abonnement abschließen?“ Sie lachte nervös. „Ich habe keine Ahnung, wie das hier funktioniert.“

„Das ist ganz dir überlassen. Natürlich ist es günstiger, wenn du Mitglied bist. Dann kannst du das Studio jeden Tag nutzen, wenn du willst. Du kannst aber auch einzelne Stunden buchen. Die meisten machen das am Anfang so, um erst einmal reinzukommen und herauszufinden, welche Kurse ihnen gefallen. Wenn sie dann ihren Rhythmus gefunden haben, steigen sie auf eine Mitgliedschaft um.“

Anna umklammerte ihre Tasche und kämpfte gegen den Drang an, einfach wieder hinauszurennen. Aber wenn Theo regelmäßig hier war, musste auch sie hier sein. Gab es einen besseren Ort, um jemanden zu treffen? Sie räusperte sich. „Okay, das klingt super.“

Die Empfangsdame grinste. „Ich kann dir gern eine Führung anbieten, wenn du möchtest.“

Anna schenkte ihr ein nervöses Lächeln. „Fantastisch.“

Sie wartete, während die Empfangsdame telefonierte. Ein paar Minuten später trat ein junger Mann in grauen Shorts und einem weißen T-Shirt schwungvoll an die Rezeption. Er hatte sein Haar so streng zurückgekämmt, dass er jede Menge Haargel benutzt haben musste. Er roch jedoch wunderbar – spritzig und frisch –, und sein Duft zog sie förmlich hinter sich her, während er ihr alles zeigte.

Es war eine beeindruckende Einrichtung mit hochmodernen Geräten und einem breiten Kursangebot, das von klassischem Krafttraining über Yoga, CrossFit und Spinning bis hin zu Zumba reichte. Außerdem gab es einige Behandlungsräume, in denen man verschiedene Massagen buchen konnte, sowie einen hauseigenen Physiotherapeuten, der auf Sportverletzungen spezialisiert war. Das hier war offensichtlich sehr professionell.

Anna hörte zu, nickte und nahm ein Prospekt über alle angebotenen Kurse mit, das sie zu Hause in Ruhe studieren wollte. Sie beschloss, sich für ein paar Kurse anzumelden. So konnte sie sich mit allem vertraut machen und sicherstellen, dass sie zur richtigen Zeit dort war, um Theo „zufällig“ zu begegnen.

Aber jetzt noch nicht. Sie war noch nicht so weit. Ihre Kontaktlinsen würden noch ein paar Wochen brauchen, bis sie fertig waren, und sie musste noch einige Schönheitsbehandlungen buchen.

Als Nächstes wollte sie in der Schminkabteilung der Drogerie die Straße runter vorbeischauen. Sie hatte ihre Schminktasche wegwerfen müssen, weil alles eingetrocknet war und sich für den gewünschten Look nicht mehr eignete. Sie vermutete, dass Theo eher der Typ Mann war, der auf Smokey Eyes, lange Wimpern und etwas Dramatisches stand, während sie selbst eher dezentes und neutrales Make-up bevorzugte. Es würde ein bisschen Übung brauchen, um das hinzubekommen. Aber genau das würde Spaß machen.

Sie hatte sich von einer Visagistin beraten lassen, die ihr auch gezeigt hatte, wie sie sich selbst schminken konnte, und Anna eine Liste mit Produkten gegeben hatte, die sie kaufen sollte. Gemeinsam hatten sie den richtigen Look gefunden. Auf lange Sicht würde es sich auszahlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Annas Philosophie war: Wenn man etwas macht, dann richtig. Keine halben Sachen. Voller Einsatz, nichts weniger.

***

Während sie an ihrem Makeover arbeitete, überwachte sie Theos Social-Media-Feed, um zu sehen, was er so trieb, und um sicherzustellen, dass er sich nicht schon eine neue Freundin geangelt hatte. Das war das Erste, was sie tat, nachdem sie wieder zu Hause war. Sie runzelte die Stirn, als sie seinen letzten Post sah: ein Bild von einem kahlen Zimmer, ohne Möbel und mit einer Bildunterschrift, die einfach nur lautete:

Neuanfang

Hmm, interessant, er ist also aus dem Haus der Familie ausgezogen. Offenbar wohnte er nicht mehr im Boat House am Rande der Menai Strait – jenem traumhaften Anwesen direkt am Wasser, in dem er und seine Frau die Kinder großgezogen hatten. Anna war in den Monaten nach Ollies Tod ein paar Mal dort gewesen und hatte sich mit ihrem Fernglas in den Büschen am Rande des Grundstücks versteckt. Einmal wäre sie fast erwischt worden. Das hatte sie so erschreckt, dass sie sich danach nicht mehr in die Nähe des Hauses getraut hatte.

Warum war er wohl ausgezogen?

Das Boat House stand nicht zum Verkauf. Sie wusste das, weil sie ständig die neuen Immobilienanzeigen durchforstete – genau für diesen Fall. Aber wenn er und seine Frau sich getrennt hatten, wofür sein Single-Status sprach, zog normalerweise derjenige aus, der die Beziehung beenden wollte. Das deutete darauf hin, dass er es gewesen war. Hat er eine Affäre? Ihr Herz sank. Vielleicht war ihr Plan, mit ihm auszugehen, schon zum Scheitern verurteilt, noch bevor sie begonnen hatte, ihn überhaupt in die Tat umzusetzen. Vielleicht hatte er längst eine andere. Vielleicht war er gerade bei ihr eingezogen.

Sie betrachtete noch einmal das Foto von seiner neuen Wohnung und versuchte herauszufinden, wo das sein könnte. Moment, im Hintergrund konnte sie vage die Umrisse von Bergen erkennen. Ach ja, diesen Ausblick kannte sie. Das musste irgendwo in dem neuen Wohngebiet in Bangor sein, in der Nähe des Krankenhauses. Sehr schön. Inzwischen tauchten die ersten Kommentare unter seinem Beitrag auf. Leute wünschten ihm Glück. Wahrscheinlich würde sie seinen Feed weiterhin verfolgen müssen, um zu sehen, ob ihm jemand Küsschen zuwarf oder Herzchen hinterließ.

Eine Google-Suche führte sie zu einer Liste lokaler Immobilienmakler. Nachdem sie zwanzig Minuten lang nach Mietobjekten in der Gegend gesucht hatte, wurde sie fündig: Es gab tatsächlich ein Haus in diesem Wohngebiet, das bereits vermietet war. Sie machte einen kleinen Luftsprung vor Freude. Die Bilder zeigten ein Zimmer, das mit dem auf seinem Foto identisch war. Sie lächelte zufrieden. Jetzt, da sie wusste, wo er wohnte, war es an der Zeit, sich das Ganze einmal aus der Nähe anzusehen – nur um sicherzugehen, dass er nicht mit einer anderen Frau zusammengezogen war. Das Letzte, was sie brauchte, war, ihre Zeit zu verschwenden. Denn wenn dieser Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, musste sie wohl von vorn anfangen und sich einen anderen Weg überlegen, um an ihn heranzukommen.

Aufregung prickelte in ihren Adern, als sie ihre Überwachungstasche hervorkramte – die Tasche, die sie gepackt hatte, als sie vor mehr als anderthalb Jahren zum Boat House gefahren war, um ihn auszuspionieren. Darin befanden sich ein Fernglas, ein kleines Notizbuch, Snacks und eine Wasserflasche. Mit allem Nötigen ausgerüstet zu sein, gab ihr das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun und ihrem Ziel Schritt für Schritt näher zu kommen. Das hatte sie durch die harten Zeiten getragen, doch jetzt begann eine neue Phase. Der Sieg rückte näher; sie spürte es, und das entfachte ein Feuer in ihrem Herzen.

Kapitel 4

Damals

Am Tag nach Ollies Blinddarmoperation besuchte sie ihn im Krankenhaus, beladen mit einer Tragetasche mit Kleidung, Hausschuhen, Handy-Ladegerät und Toilettenartikeln. In einer weiteren Tasche hatte sie Bücher, Rätselhefte und allen möglichen Krimskrams dabei, den er vielleicht noch brauchen könnte. Man hatte ihr nicht gesagt, wie lange er im Krankenhaus bleiben musste, aber sie hoffte, es wären nur ein paar Tage – gerade so lange, bis sicher war, dass er sich gut erholte. Sie hatte schon so lange keine Nacht mehr ohne ihn an ihrer Seite verbracht und es hatte sich seltsam angefühlt, ganz allein in der Wohnung zu sein. Als ob ein Stück von ihr fehlte.

Aus irgendeinem Grund war sie nervös, als sie durch die Flure ging. Bis gestern war sie noch nie in einem Krankenhaus gewesen. Ihre Familie war immer gesund gewesen, und sie konnte sich nicht erinnern, dass jemals einer von ihnen stationär behandelt werden musste, was heutzutage eher ungewöhnlich zu sein schien. Sogar ihre Großeltern waren alle kerngesund. Sie sei mit guten Genen gesegnet, hatten ihre Eltern immer gesagt, und sie war dankbar dafür. Hoffentlich war dieser Vorfall eine Ausnahme und sie konnten das Ganze bald hinter sich lassen. Allein der Geruch nach Desinfektionsmittel drehte ihr den Magen um.

Auf der Station herrschte reges Treiben: Besucher, Ärzte und Pflegekräfte liefen geschäftig umher, und das Summen von Gesprächen erfüllte die Luft. Während sie an der zentralen Rezeption wartete, sah sie sich um und warf einen Blick in die vier Bereiche, aus denen die Station offenbar bestand. Jeder war mit mehreren Betten belegt, doch keines der Gesichter gehörte ihrem Mann. Sie würde warten müssen, bis sie jemanden am Empfang fragen konnte, in welchem Zimmer er lag.

Schließlich beendete die Krankenschwester ihr Gespräch und legte den Hörer auf. Sie blickte zu Anna auf. „Kann ich Ihnen helfen?“ Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihrem runden Gesicht aus. Anna erklärte, dass sie nach ihrem Mann suche. Die Krankenschwester blickte auf ihren Bildschirm, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. „Ich muss erst einmal nachfragen, was los ist“, sagte sie, stand vom Schreibtisch auf und sah sich suchend um.

Anna stand da und umklammerte die Henkel der prall gefüllten Tragetaschen etwas fester, während sich ein flaues Gefühl in ihrer Brust ausbreitete. Die Reaktion der Krankenschwester hatte ihr nicht gefallen. Sie hatte überrascht gewirkt, aber nicht im positiven Sinne. Eigentlich sollte es doch ein Leichtes sein, ihr zu sagen, in welchem Bett er lag.

Einige Minuten später kam die Krankenschwester zurück, gefolgt von einer Ärztin. Sie war eine kleine asiatische Frau mit einem langen dunklen Zopf, der von grauen Strähnen durchsetzt war und ihr über den Rücken fiel. Um ihren Hals hing das obligatorische Stethoskop. Sie schenkte Anna ein kurzes Lächeln. „Hallo, ich bin Dr. Chandra, es gab eine … Komplikation bei Ihrem Mann.“ Ihr Blick schweifte durch den Empfangsbereich, der immer noch voller Besucher war, die auf Neuigkeiten über ihre Angehörigen warteten. „Warum gehen wir nicht in den Besprechungsraum? Dort ist es etwas ruhiger, und ich kann Ihnen erklären, was passiert ist.“

Eine Komplikation? Was für eine Komplikation? Annas Herz begann zu rasen und eine plötzliche Hitze schoss durch ihren Körper.

Sie folgte der Ärztin den Korridor entlang in einen kleinen Raum neben dem Eingang zur Station, der mit einem niedrigen Tisch und sechs bequemen Stühlen ausgestattet war. Die Ärztin zog einen Stuhl hervor und deutete auf einen anderen gegenüber. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Anna setzte sich, stellte ihre Taschen neben sich, strich ihre Jeans glatt und schob sich die Haare hinter die Ohren. Die Ärztin lächelte sie mitfühlend an. „Also … wir haben Ihren Mann beobachtet und festgestellt, dass etwas nicht ganz in Ordnung war. Er hatte nach dem Aufwachen einige Beschwerden, deshalb haben wir ihn zu einer Untersuchung runtergeschickt, um das Operationsgebiet zu kontrollieren – und dabei haben wir ein Problem entdeckt.“

Sie wirkte unbehaglich und zögerte.

In Annas Kopf spielte sich ein Horrorszenario ab, das sie sich nicht vorstellen wollte. Sie blinzelte, um die furchtbaren Bilder zu vertreiben. „Geht es ihm gut?“

Die Ärztin befeuchtete sich die Lippen. „Es sieht so aus, als wäre ein Tupfer im Operationsgebiet vergessen worden“, sagte sie schließlich.

Anna riss die Augen auf und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. „Ein Tupfer? In ihm vergessen?“

Die Ärztin sah auf ihre Hände hinunter und murmelte: „Wir vermuten, dass sich außerdem noch ein weiteres medizinisches Gerät darin befindet.“

„Oh, mein Gott.“ Anna hatte das Gefühl, als wäre ihr Gehirn plötzlich unter Strom gesetzt worden. Ihre Gedanken überschlugen sich, sie kam kaum hinterher. „Und was bedeutet das für die Gesundheit meines Mannes? Sie müssen da schon etwas genauer werden.“ Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte die Frau geschüttelt, in der Hoffnung, dass ihr endlich die erlösenden Worte herausrutschen würden. Worte, die Anna versichern würden, dass alles in Ordnung war. „Was ist los?“

Sie starrte die Ärztin an und spürte, wie Zorn in ihr hochkochte und sich ihr ganzer Körper anspannte. Dann wandte sie den Blick ab und sagte sich, dass die Ärztin nichts dafürkonnte und nur die Überbringerin der Nachricht war. Wut würde ihr jetzt auch nicht weiterhelfen. Aber was sie gerade gehört hatte, war ein Schock. Nein, es war schlimmer als das – es war entsetzlich. Sie holte tief Luft und versuchte verzweifelt, sich zu beruhigen.

Die Ärztin wirkte sichtlich verunsichert und hielt ihr Stethoskop fest umklammert, als wäre es ein Rettungsring, der sie in stürmischer See über Wasser hielt. Ihre Körpersprache verriet, wie unangenehm ihr das Gespräch war. „Er musste sofort operiert werden, um die Fremdkörper zu entfernen und das Operationsgebiet zu reinigen. Ihr Mann hat eingewilligt und ist jetzt unten im OP. Wir wussten, dass Sie zu Besuch kommen würden, und der leitende Chirurg hielt es für besser, Ihnen persönlich zu sagen, was passiert ist, anstatt Sie einfach anzurufen.“

„Noch eine Operation?“ Anna verlor völlig die Fassung und sprang auf, um etwas von der angestauten Nervosität loszuwerden. Sie lief im Kreis, die Hand an die Stirn gepresst, wo es bereits zu pochen begann. „Wie um alles in der Welt konnte das passieren? Ich dachte, heutzutage wird alles gezählt und doppelt kontrolliert. Ich habe erst vor Kurzem eine Dokumentation darüber gesehen.“

Die Ärztin seufzte und schüttelte den Kopf. „Ich kann mich nur entschuldigen. Ich kann wirklich nicht sagen, wie es dazu gekommen ist. Ich war nicht dabei, aber ich bin sicher, dass das untersucht wird. Alles, was ich sagen kann, ist, dass es im OP ziemlich hektisch zugehen kann, besonders bei Notfällen. Und wir waren in den letzten Wochen sehr unterbesetzt wegen der neuen Covid-Welle, die gerade im Umlauf ist.“

Anna atmete tief durch, unsicher, was sie denken sollte. Aber eines war ihr klar: Das hier war einfach falsch. So etwas durfte nicht passieren. Ein plötzlicher Gedanke ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen. Abrupt blieb sie stehen und sah der Ärztin in die Augen. „Er wird doch wieder gesund?“

Die Ärztin lächelte und nickte. „Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Das ist ein risikoarmer Eingriff. Er wird wieder ganz gesund. Zum Glück haben wir das Problem sehr schnell entdeckt und Ihr Mann bekommt vorsorglich Medikamente, um eine Infektion zu vermeiden.“

Anna fiel es schwer, klar zu denken und zu entscheiden, was sie jetzt tun sollte. Aber in Wirklichkeit konnte sie nichts tun. Wieder einmal war sie nur eine hilflose Zuschauerin und musste sich in Geduld üben. „Wann kann ich ihn sehen?“

„Wenn er aus dem OP kommt, wird er erst einmal im Aufwachraum bleiben, und es wird noch eine Weile dauern, bis er wieder auf die Station kommt. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie nach Hause gehen. Wir rufen Sie an, sobald er wieder auf der Station ist. Könnten Sie dann heute Abend während der Besuchszeit wiederkommen?“

Anna nickte. Das war kein Problem, da sie nicht weit vom Krankenhaus entfernt wohnte.

Die Ärztin erhob sich. „Es tut mir wirklich sehr leid, dass das geschehen ist. Aber trotz aller Sicherheitsvorkehrungen passieren leider manchmal Fehler.“

Ausgerechnet meinem Mann musste so etwas passieren, oder?

Anna sprach es nicht aus, sie dachte es nur, während sie die Zähne zusammenbiss. Sie hatte so viele Fragen, aber sie wollte die Antworten nicht hören und beschloss, später wiederzukommen. „Danke, dass Sie mir gesagt haben, was wirklich passiert ist.“ Sie sah das Mitgefühl in den Augen der Ärztin und wusste, dass diese sich schützend vor die Person gestellt hatte, die den Fehler gemacht hatte. „Sie hätten es beschönigen können, dann hätte ich nie die Wahrheit erfahren.“

Die Ärztin erwiderte ihren Blick. „Sie haben ein Recht darauf, es zu wissen. Und niemand will Ihnen etwas verheimlichen. So arbeiten wir hier nicht.“

Anna seufzte. „Dann komme ich später wieder.“

Sie wollte nach ihren Taschen greifen, doch die Ärztin legte ihr eine Hand auf den Arm und hielt sie auf. „Schon gut. Ich kann die Taschen nehmen und in seinen Nachttisch stellen, wenn Sie möchten.“

Anna reichte sie ihr. Sie zitterte am ganzen Körper, jetzt, da die Wut nachließ. Es war so ein Schock gewesen. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass es bei der Operation ein Problem geben könnte. Nicht, nachdem die Krankenschwester, mit der sie am Vorabend gesprochen hatte, so sehr betont hatte, wie kompetent der Chirurg sei und wie routiniert der Eingriff ablaufen würde. Aber vermutlich war nicht nur der Chirurg, sondern ein ganzes Team beteiligt. Es hatte keinen Sinn, darüber zu spekulieren, was schiefgelaufen war. Sie konnte nur hoffen, dass sie es wieder in Ordnung bringen konnten.

***

Der Nachmittag zog sich endlos hin, Minute um Minute, während sie ständig auf die Uhr sah. Die abendliche Besuchszeit war von sieben bis acht Uhr, und sie wollte sich gerade auf den Weg machen, als ihr Telefon klingelte. Sie kannte die Nummer nicht und zögerte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass es wahrscheinlich das Krankenhaus war.

„Hallo, spreche ich mit Mrs McKenzie?“ Eine Frauenstimme.

„Ja“, antwortete sie und suchte nach den Autoschlüsseln.

„Hier ist die Ogwen-Station im Krankenhaus. Wir wollten nur wissen, ob Sie heute Abend kommen.“

„Ja, ich bin schon auf dem Weg. Ist mein Mann aus dem OP zurück? Geht es ihm gut?“

Es entstand eine Pause und Anna fragte sich, ob das Gespräch abgebrochen war, als sich die Frau wieder meldete. „Der leitende Chirurg möchte mit Ihnen sprechen. Melden Sie sich bitte bei Ihrer Ankunft am Empfang, dann wird er Sie auf den neuesten Stand bringen.“

„Danke. Ich bin gleich da.“

Sie legte auf und fand es sehr nett, dass sich das Krankenhaus vergewisserte, ob sie ihren Mann besuchen würde. Vielleicht war er schon wach und hatte nach ihr gefragt. Sie lächelte vor sich hin, als sie losfuhr, und sang während der Fahrt zur Musik im Radio mit.

Als sie auf der Station ankam und ihren Namen nannte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Mitarbeiter warfen ihr entsetzte Blicke zu und eilten geschäftig in die entgegengesetzte Richtung, bis nur noch sie und eine Krankenschwester übrig waren, die am Empfang telefonierte.

Die Krankenschwester beendete ihr Telefonat und erwiderte Annas Blick. „Mrs McKenzie?“

Anna nickte. „Ja, ich möchte meinen Mann besuchen. Ich habe vorhin einen Anruf bekommen, dass er auf der Station ist. Ich muss nur wissen, in welchem Zimmer er liegt.“

Die Krankenschwester schenkte ihr ein knappes Lächeln. „Ich bin Julie Bennet, die Stationsleiterin hier. Der leitende Chirurg wollte mit Ihnen sprechen, aber ich fürchte, er verspätet sich.“ Sie trat hinter dem Schreibtisch hervor. „Leider ist heute Abend sehr viel los und der Besprechungsraum gerade belegt. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro. Dort ist es ruhiger, und Sie können dort auf den Arzt warten. Ich denke, er wird nicht lange brauchen.“

„Könnte ich zuerst meinen Mann sehen?“ Die Muskeln in Annas Nacken spannten sich an und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Das fühlte sich ganz und gar nicht richtig an.

Die Krankenschwester legte ihr eine Hand auf den Rücken und lotste sie sanft durch einen anderen Gang. „Hier entlang.“

Da Anna keine andere Wahl hatte, folgte sie der Aufforderung und fand sich wenig später allein im Schwesternzimmer wieder, wo sie auf den leitenden Chirurgen wartete. Um sich abzulenken, studierte sie die Poster an den Wänden und versuchte, sich die Warnzeichen für eine Sepsis sowie das Handlungsschema für Wiederbelebungsmaßnahmen einzuprägen.

Trotz der Zusicherung der Krankenschwester kam der leitende Chirurg nicht. Stattdessen erschien zuerst eine Assistenzärztin, um mit ihr zu sprechen. Das war der Moment, in dem ihre Welt aus den Fugen geriet – als sie erfuhr, dass ihr Mann tot war.

Dann kam Dr. Chukwu. Er war im OP gewesen, als Ollie gestorben war. Seine Stimme war tief und voll, mit einem leichten Akzent. Anna vermutete, dass er aus Nigeria stammte, denn während des Studiums hatte sie mit einigen nigerianischen Frauen zusammengewohnt. Er sah sie mit mitfühlenden braunen Augen an, seine Stimme war voller Bedauern, und er beantwortete ihre Fragen, so gut er konnte. Nur auf die wichtigste Frage hatte er keine Antwort: Warum ist mein Mann gestorben?

Sie bemerkte, dass er auswich und mehrmals den Blick von ihr abwandte.

Und das war der Moment, in dem Theo Heaton für sie wichtig wurde – als Dr. Chukwu erklärte, dass das der Name des leitenden Chirurgen war, der ihren Mann operiert hatte. Leider war er gerade bei einem anderen Patienten und konnte nicht selbst mit ihr sprechen. Deshalb war stattdessen Dr. Chukwu geschickt worden. Allein das machte sie wütend. Warum war der Tod ihres Mannes nicht wichtig genug für ihn, damit er persönlich mit ihr sprach? In diesem Moment hasste sie ihn aus tiefstem Herzen.

***

Später hatte es eine interne Untersuchung gegeben, aber obwohl Ollies Tod durch eine durchtrennte Arterie verursacht worden war, wurde Theo kein Fehlverhalten nachgewiesen. Oder irgendjemand anderem. Natürlich wurden Lehren daraus gezogen, die Abläufe verschärft und eine Entschuldigung ausgesprochen. Aber das war’s auch schon. Niemand wurde in irgendeiner Weise sanktioniert und es gab auch keine Disziplinarmaßnahmen. Nichts. Für den Mann, der Annas Leben zerstört hatte, hatte es keinerlei Konsequenzen gegeben. Sein eigenes Leben ging unbeirrt weiter und seine lukrative Privatklinik, die er neben seiner Tätigkeit im staatlichen Krankenhaus betrieb, brachte ihm ein Vermögen ein – finanziert durch das Leid anderer.

Der ursprüngliche Fehler sei nachvollziehbar gewesen, hieß es. Mildernde Umstände. Es habe einen Verkehrsunfall auf der A55 gegeben, einer Schnellstraße, die entlang der Küste verlief. Ein Lastwagen sei ins Schleudern geraten und quer über die Fahrbahn gerutscht, was eine Massenkarambolage verursacht habe. Zahlreiche Schwerverletzte haben in die Klinik gebracht und dringend versorgt werden müssen. Hinzu kam, dass das Personal bereits seit über zwölf Stunden am Stück gearbeitet habe, weil so viele Kollegen an Covid erkrankt seien.

Das Fazit lautete: eine unglückliche Verkettung von Ereignissen. Alle hätten in einer schwierigen Situation ihr Bestes gegeben.

Anna war damals außer sich vor Wut gewesen, und sie war es immer noch. Sie trug diese Wut in ihrem Herzen – ein schwelender Zorn, der ihren Geist vergiftet und sie zu jemandem gemacht hatte, der sie nie gewesen war: eine hasserfüllte Person, die auf Rache aus war. Denn das war der einzige Weg, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Warum sollte Theo ungeschoren davonkommen? Natürlich trug er die Schuld. Er hatte bei beiden Operationen die Verantwortung für den Operationssaal getragen und auf ganzer Linie versagt.

Ollies Tod war Theos Schuld. Daran gab es keinen Zweifel. Und es musste ihm etwas Schreckliches zustoßen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die einzige Frage, die Anna noch beantworten musste, war: Was?

Kapitel 5

Jetzt

Es war Ende Oktober, und endlich war Anna bereit. Sie wartete bis sieben Uhr. Zu dieser Zeit war es bereits dunkel, und er war vermutlich schon zu Hause. Die Nacht war kühl und ein kräftiger Wind jagte die Wolken über den Himmel. Ab und zu zeigte sich der Halbmond. Wenn sie den richtigen Moment erwischte, würde sie im Schutz völliger Dunkelheit stehen. Es war eine gute Nacht, um sich heimlich umzusehen.

Aufgeregt fuhr sie in die Siedlung und fand das Haus, das zur Vermietung stand. Das Schild des Maklers stand noch im Vorgarten. Es handelte sich um eine typische Doppelhaushälfte mit drei Schlafzimmern. Nichts Besonderes und auch nichts im Vergleich zu dem Haus, in dem er früher gewohnt hatte. Etwas Gravierendes musste passiert sein, dass er ausgezogen war, dachte sie. Das machte ihre Theorie über eine Affäre umso wahrscheinlicher. Sie parkte ein Stück die Straße hinunter, außerhalb des grellen Lichts der Straßenlaternen, und schaltete ihre Scheinwerfer aus. Sein Auto stand in der Einfahrt: ein metallic-blauer Porsche Carrera. Sehr schick.

Im Wohnzimmer brannte Licht, also war er zu Hause. Aber war noch jemand bei ihm? In seinem Profil stand zwar immer noch „Single“, doch er hatte kürzlich Fotos von sich mit verschiedenen Frauen gepostet. Es gab keine Hinweise darauf, um wen es sich handelte, nur belanglose Kommentare, die das Offensichtliche feststellten, wie „Die Nachmittagssonne in Llandudno genießen“ oder „Abendessen in meinem Lieblingsinder“. Dass plötzlich Frauen auf seinen Fotos auftauchten, war neu – er war also definitiv wieder auf Partnersuche. Hatte eine von ihnen ihn vielleicht schon für sich gewonnen?

Sie holte das Fernglas heraus, doch der Winkel war ungünstig und sie konnte nichts erkennen. Genervt stieß sie die Luft aus und ärgerte sich über sich selbst. Wie hatte sie bloß glauben können, dass das funktionieren würde? Sie konnte ja schlecht direkt vor seinem Haus parken und hineinstarren. Stattdessen konnte sie vorbeigehen, die Gegend auskundschaften und prüfen, ob es einen Zugang auf der Rückseite gab.

Zum Glück trug sie ihre Jogginghose und Turnschuhe, sodass sie so tun konnte, als würde sie joggen. Sie zog ihre Wasserflasche aus der Tasche – das würde sie noch glaubwürdiger wirken lassen – und stieg aus dem Auto aus. Als sie sich der Vorderseite seines Grundstücks näherte, bückte sie sich und tat so, als würde sie einen Schnürsenkel binden. Sie stand jetzt direkt gegenüber. Die Vorhänge waren offen und Licht fiel auf den Rasen vor dem Haus. Er war da. Sie konnte ihn sehen, eingerahmt vom Fenster im Erdgeschoss. Gerade hämmerte er etwas in die Wand, verschwand dann kurz und tauchte mit einem Bild wieder auf, das er aufhängte. Er trat zurück, um sein Werk zu begutachten, beugte sich vor und rückte es gerade.

Er musste sie draußen gespürt haben, denn er blickte zum Fenster, zog die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn. Anna stand auf, wobei sie darauf achtete, nicht in seine Richtung zu schauen, während sie die Straße hinaufjoggte. Puh, das war knapp. Ihr Herz klopfte wie wild. An der nächsten Kreuzung blieb sie schwer atmend stehen und rang nach Luft.

Als sie die Straße zurückblickte, stellte sie fest, dass es keine Möglichkeit gab, auf die Rückseite seines Hauses zu gelangen. Der Garten grenzte direkt an das Nachbarhaus dahinter, und auch rechts und links schlossen sich weitere Grundstücke an. Viel Potenzial zum Ausspionieren gab es hier also nicht. Und da das Wohngebiet relativ neu war, gab es auch weder große Bäume noch Büsche oder gar Gartenmauern, hinter denen man sich hätte verstecken können. Enttäuscht ließ sie die Schultern sinken. Sie musste sich etwas anderes einfallen lassen, um herauszufinden, was in seinem Leben vor sich ging.

Sie joggte die Straße zurück zu ihrem Auto und warf, als sie an seinem Haus vorbeikam, einen kurzen Blick hinüber. Allerdings hatte er inzwischen die Vorhänge zugezogen. Statt sich noch länger hier aufzuhalten, war es sinnvoller, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, mit ihm in Kontakt zu kommen. Immerhin wusste sie jetzt, wo er wohnte.

***

Auf dem Heimweg kaufte sie noch schnell ein – sie war fest entschlossen, ihre gesunde Ernährung beizubehalten. Bereits nach drei Wochen, seit sie damit angefangen hatte, spürte sie Veränderungen: Sie fühlte sich energiegeladener, schlief besser, und ihre Haut hatte eine gesündere Farbe bekommen. Das Projekt Theo tat ihr gut, und bald würde sie bereit sein, ihn zum ersten Mal zu treffen.

Zurück zu Hause bereitete sie sich das Abendessen zu und setzte sich dann an den Computer, um ein wenig zu recherchieren. Wenn sie ihm näherkommen wollte, musste sie mehr über Theo als Person wissen. Ihrer Meinung nach lag das Geheimnis erfolgreichen Datings darin, die eigenen Interessen an die des anderen anzupassen, sodass er glaubte, seine Seelenverwandte gefunden zu haben.

Zunächst war sie jedoch neugierig, was zwischen ihm und seiner Frau vorgefallen war. Er nutzte seinen Insta-Feed offenbar wie ein Online-Fotoalbum, wobei die Kommentare außer ihm selbst kaum jemandem etwas sagten. Das deutete darauf hin, dass er sein Privatleben gern für sich behielt. Vielleicht konnte sie stattdessen die Social-Media-Profile seiner Frau durchstöbern, um herauszufinden, ob sie diejenige war, die einen neuen Partner gefunden hatte. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Es war an der Zeit, ein wenig mehr über Mrs Emilia Heaton herauszufinden.

Google war ihr bester Freund und spuckte eine ganze Liste von Suchergebnissen aus. Sie überflog sie, um sich ein Bild von Theos Frau zu machen.

Die gebürtige Italienerin Emilia Heaton war Kinderärztin im Krankenhaus gewesen. Das war also ihre gemeinsame Basis: Sowohl sie als auch Theo arbeiteten im medizinischen Bereich, was zweifellos erklärte, wie sie sich kennengelernt hatten. Aber sie schien keine Social-Media-Profile zu haben, was seltsam war. Anna scrollte weiter durch die Suchergebnisse, bis sie auf etwas stieß, das sie stutzen ließ. Ein Zeitungsbericht von vor zwei Jahren mit der Schlagzeile:

Tragischer Unfall: Kinderärztin Emilia Heaton (49) ertrunken

Annas Augen weiteten sich. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie überflog den Rest des Artikels und las ihn dann noch einmal langsam, um sicherzugehen, dass sie sich nicht geirrt hatte.

Bei einem tragischen Unglück kam die Kinderärztin Emilia Heaton (49), Ehefrau des Chirurgen Theo Heaton und Mutter von Luna (29) und Gino (27), ums Leben. Heaton, die im örtlichen Krankenhaus tätig war, befand sich seit einiger Zeit im Krankenstand und sollte in der kommenden Woche ihre Arbeit wieder aufnehmen. Das Haus der Familie liegt am Ufer der Menai Strait; dort stürzte sie vermutlich vom Steg ins Wasser. Ihre Tochter bemerkte das Verschwinden und alarmierte die Behörden. Erst heute, fast eine Woche später, wurde ihre Leiche von örtlichen Fischern entdeckt.

Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, das Weinglas in der Hand, und war schockiert über das, was sie herausgefunden hatte. Theos Frau war nur wenige Wochen vor Ollie gestorben.

Das erklärte, warum Theo bei der Arbeit nicht ganz bei der Sache gewesen war – und was mit den „mildernden Umständen“ gemeint war. Trotzdem taute Annas Herz nicht auf. Es änderte nichts an ihrem Urteil. Er war schließlich derjenige, der bei der ersten Operation den Tupfer und das chirurgische Instrument in Ollies Körper zurückgelassen hatte. Er hatte die Chance gehabt, den Fehler zu beheben, doch er hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Eigentlich hätte er nach dem tragischen Tod seiner Frau gar nicht mehr arbeiten dürfen. Oder er hätte den Eingriff jemand anderem überlassen müssen, wenn er nicht in der richtigen Verfassung war. Dann wäre Ollie vielleicht noch am Leben.

Wut stieg in ihr auf. All die schrecklichen Erinnerungen kamen zurück und eine Welle von Gefühlen brach über sie herein und überwältigte sie, bis die Tränen flossen. Es war kein verzweifeltes Schluchzen wie früher, sondern eine leisere, zornigere Traurigkeit, die ihre eigene Stimme hatte, ihr eigenes klagendes Heulen.

Manchmal war es kaum zu ertragen, nur noch die Hälfte eines Ganzen zu sein, nur das halbe Leben zu führen, das ihr eigentlich zustand, alles allein zu erleben, anstatt es mit jemandem teilen zu können. Theo hatte ihr nicht nur Ollie genommen, sondern auch ihre Zukunft.

Das hätte nicht passieren dürfen. Daran gab es keinen Zweifel. Es. Hätte. Nicht. Passieren. Dürfen. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab, entschlossener denn je, sich zu rächen. Aber sie durfte nichts überstürzen. Ihr Plan würde Geduld erfordern, und es gab keine Garantie, dass er funktionieren würde.

Es war an der Zeit, tiefer zu graben und tatsächlich darüber nachzudenken, den Mann von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Doch selbst während sie sich in Tagträumen ausmalte, wie ihr erstes Treffen ablaufen und wie sie sich präsentieren würde, kehrte ein Gedanke immer wieder wie ein Bumerang in ihr Bewusstsein zurück: Wenn man an einem Gewässer lebt und mit den Gefahren vertraut ist – wie um alles in der Welt schafft man es dann, von einem Steg zu fallen und zu ertrinken?

Kapitel 6

Am nächsten Morgen hatte sie einen Termin in der Schönheitsklinik. Sie ließ sich die Lippen auffüllen und die Falten um Mund, Augen und Stirn mit Botox behandeln. Es fühlte sich seltsam und taub an, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich diese Prozedur noch einmal antun würde. Sie betrachtete sich im Spiegel und fand, dass sie tatsächlich jünger aussah und ihre Lippen üppiger wirkten, obwohl sie sich nur wenig Filler hatte injizieren lassen – aus Angst, es zu übertreiben.

Zu Hause angekommen, stellte sie fest, dass weitere ihrer neuen Kleidungsstücke eingetroffen waren. Sie verbrachte eine Weile damit, alles anzuprobieren, und überlegte, ob ihre Garderobe nun vollständig war oder ob es noch Lücken in ihrem Kleiderschrank gab. Dann schlüpfte sie in ihr neues Fitness-Outfit: schiefergraue Leggings und ein passendes Crop-Top. Noch vor ein paar Monaten hätte sie sich nicht getraut, das zu tragen. Aber jetzt war es ihr egal, denn es ging nicht darum, sie selbst zu sein. Es ging darum, eine Rolle zu spielen. Das war ein Unterschied.

Schlank genug war sie jedenfalls; das war in den letzten zwei Jahren, in denen sie sich in ein wandelndes Skelett verwandelt hatte, nie das Problem gewesen. Ihre neue Ernährung hatte jedoch dazu geführt, dass sie mehr aß und ein wenig zunahm, sodass sie jetzt relativ gesund aussah. Trotzdem waren ihre Rippen noch sichtbar und ihre Arme spindeldürr und ohne jegliche Form. Ein bisschen Zeit im Fitnessstudio würde ihr guttun, beschloss sie, auch wenn ihr Plan nicht aufgehen sollte.

Da es keinen besseren Zeitpunkt gab, behielt sie ihr Sportoutfit gleich an, zog eine pinkfarbene Fleecejacke darüber und schlüpfte in ihre neuen, strahlend weißen Turnschuhe. Sie betrachtete sich im Spiegel und lächelte über das Ergebnis. Nicht schlecht, fand sie. Was ihr Aussehen anging, war sie auf dem richtigen Weg. Sie machte ein Foto, lud es auf ihren neuen Insta-Account hoch, den sie unter ihrem Mädchennamen Anna Meadows erstellt hatte, und versah es mit einer Bildunterschrift:

Tag 1 im Fitnessstudio

Das Fitnessstudio war ruhig – es war Donnerstagnachmittag und die Feierabend-Menge war noch nicht eingetroffen; genau das, was sie sich für ihre erste Einheit gewünscht hatte. Ein junger Mann namens Gethin, wahrscheinlich Mitte zwanzig, begrüßte sie und erklärte, dass er die Einführung übernehmen würde. Er hatte beeindruckende Schultern und Bizeps, auf die selbst Popeye stolz gewesen wäre. Sie musste sich beherrschen, ihn nicht anzustarren, während er ihr alle Geräte zeigte und einen Trainingsplan für sie zusammenstellte. Außerdem machte er sie mit einer anderen Trainerin bekannt: einer jungen Frau namens Tanya, die ihr helfen würde, wenn Gethin einmal nicht da war.

„Du solltest langsam anfangen und die Wiederholungen nach und nach steigern“, sagte Gethin, während er die Beinpresse einstellte. „Dann können wir die Gewichte erhöhen. Aber sei nicht ungeduldig, sonst verletzt du dich am Ende nur und musst eine Weile aussetzen. Und ich kann dir jetzt schon sagen, dass es ein Albtraum ist, wieder anzufangen.“ Er verdrehte die Augen. „Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Ich war früher der absolute Meister darin, zu schnell zu viel zu wollen.“

Anna lachte. Sie lachte tatsächlich – zum ersten Mal seit zwei Jahren. Es fühlte sich so fremd an, dass sie sich fragte, was da gerade mit ihr passierte. Während sie ihre erste Übung an der Maschine zehnmal wiederholte, korrigierte Gethin ihre Technik. Als sie fertig war, rief er ein „Gut gemacht!“, gab ihr ein High Five und ermutigte sie, gleich noch eine Runde dranzuhängen. Das könnte wirklich Spaß machen, dachte Anna, nachdem sie ihre drei Sätze beendet hatte und zum nächsten Gerät wechselte.

Das Training, das Gethin für sie zusammengestellt hatte, deckte alle großen Muskelgruppen ab. Am Ende wusste sie, dass sie etwas getan hatte: Ihre Beine zitterten ein wenig, und ihre Arme fühlten sich an, als könnte sie kaum noch eine Dose Bohnen anheben. Aber sie strahlte noch, als sie um die Ecke zu den Umkleidekabinen bog – und prompt mit Theo zusammenstieß. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Sie war zu schockiert, um zu sprechen. Panik legte ihr Gehirn lahm. Sie sollten sich doch noch gar nicht begegnen. Ihr Zeitplan sah vor, dass sie erst drei Wochen lang ins Fitnessstudio gehen sollte, damit sie sich vor ihrem ersten Treffen in Form bringen konnte. Ihr Herz raste und ihr Verstand suchte fieberhaft nach einer Idee, was sie jetzt tun sollte. Ihr war heiß und sie war völlig verschwitzt. Die Haare klebten ihr an der Stirn, die Wangen glühten rot.

Ich bin noch nicht bereit.

„O Gott, es tut mir so leid“, sagte er und griff nach ihren Schultern, damit sie nicht gegen die Wand prallte. „Bist du okay?“

Sie blickte zu ihm auf. In seinen Augen lag nichts als Besorgnis. Und was für schöne Augen er hatte – noch eindrucksvoller als auf seinen Fotos. Das ist die Gelegenheit, auf die du gewartet hast. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und ließ ihre makellos weißen Zähne aufblitzen. „Schon gut“, sagte sie, „ist nichts passiert.“

Sie erwiderte seinen Blick, überzeugt davon, dass er sie nicht erkennen würde. Nach Ollies Tod hatten sie sich nie persönlich getroffen; Theo hatte einen seiner Lakaien geschickt, der ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachte. Wie feige war das bitte? Ein Funke der Wut flammte in ihrem Herzen auf, doch sie erstickte ihn sofort und hielt das Lächeln auf ihrem Gesicht. Reiß dich zusammen, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

„Ich bin so ein Tollpatsch“, sagte er. „Ehrlich, ich kann mich gar nicht genug entschuldigen.“

Seine Stimme war angenehm und warm. Eine Stimme, die einen beruhigte, wenn man gerade ein wenig aufgeregt war. Er musterte sie und hielt ihren Blick einen Moment länger fest, als ihr lieb war. Sie spürte, dass sie sein Interesse geweckt hatte. Theo hatte kräftige Hände und war zudem deutlich größer, als sie erwartet hatte. Als er sie losließ, fühlte es sich an, als hätte er unauslöschliche Handabdrücke auf ihrer Haut hinterlassen.

„Alles gut“, sagte sie. Ihre Wangen schmerzten schon, weil sie es nicht gewohnt war, so lange zu lächeln.

Endlich löste er seinen Blick von ihr und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr noch immer nachsah, als sie zu den Damenumkleiden ging, aber sie konnte sich nicht umdrehen, um sich zu vergewissern. Männer wie er liebten die Jagd. Sie musste cool bleiben, durfte nicht zu interessiert wirken. Außerdem war es sowieso noch zu früh.

Während sie duschte, dachte sie darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es eigentlich gut gewesen war, ihm so über den Weg zu laufen. Es war einfach so passiert und nichts war gespielt. Das war ein netter Bonus, dachte sie und zog die Jeans und den Pullover an, die sie mitgebracht hatte. Sie grinste zufrieden. Vielleicht war es doch einfacher, als sie geglaubt hatte. Aber es ist Donnerstag. Sie runzelte die Stirn. Donnerstags war er nie hier. Montag, Mittwoch und Freitag – das waren seine Tage. Dann korrigierte sie sich: Das waren die Tage, an denen er postete, was nicht zwangsläufig bedeutete, dass er auch tatsächlich hier war. Hmm, vielleicht musste sie ihren Zeitplan ändern, wenn sie ihm noch einmal „zufällig“ begegnen wollte.

***

Schließlich beschloss sie, jeden Tag zur selben Zeit ins Fitnessstudio zu gehen und zu hoffen, ihn am Ende ihres Trainings wiederzusehen – wenn ihre einfache Trainingsroutine ihr nicht mehr peinlich war. Falls das nicht klappte, konnte sie es immer noch zu einem späteren oder früheren Zeitpunkt versuchen. Es bestand keine Eile, denn es wäre ohnehin besser, wenn ihr Körper erst ein wenig definierter wäre, bevor sie ihre Charmeoffensive startete. Das Problem war nur, dass sie keine Ahnung hatte, wie die Arbeitszeiten eines Chirurgen aussahen. Deshalb blieb ihr vorerst nichts anderes übrig, als auf einen glücklichen Zufall zu hoffen.

Trotzdem, dachte sie, als sie sich müde, aber gut gelaunt auf den Heimweg machte, sie hatte den ersten Schritt getan. Sie hatte ihn getroffen, und sie war sich sicher, dass er sich nach diesem langen Blick an sie erinnern würde. Tatsächlich hätte sie kein besseres erstes Treffen arrangieren können.

„Danke, Ollie“, murmelte sie und blickte zum Himmel hinauf, überzeugt, dass er ihr bei diesem Projekt den Rücken stärken würde. Das hatte er schließlich immer getan, als er noch lebte. Wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum sein Tod sie so hart getroffen hatte. Er war der Vernünftige in ihrer Beziehung gewesen, der Organisierte, derjenige, der die schwierigen Entscheidungen traf. Nach seinem Tod war sie mit all dem allein. Das war ein Schock gewesen, denn sie war von Natur aus zerstreut. „Daran ist mein Künstlerhirn schuld“, hatte sie ihm so oft gesagt, wenn sie sich mal wieder ausgesperrt oder ihre Autoschlüssel verlegt hatte. Es war, als hätte sie erst wieder lernen müssen, ein kompetenter Mensch zu sein, jetzt, wo sie nicht mehr auf ihn zählen konnte.

Aber jedes Unglück hat auch sein Gutes, und da sie gezwungen war, allein durchs Leben zu gehen, hatte sie Wege gefunden, damit umzugehen. Das Projekt Theo war ein weiterer Schritt nach vorn und gab ihr einen neuen Lebenssinn. Sie war sicher, dass sie inzwischen besser zurechtkam. Vielleicht lag es daran, dass sie jetzt nach vorn blickte, anstatt in der Vergangenheit zu leben. Und daran, dass sie sich besser ernährte. Besser schlief. Was auch immer der Grund war – für sie war es ein Geschenk, vielleicht sogar von ihrem Mann, und sie beschloss, es zu genießen.

Hilft mir Ollie wirklich dabei? Sie hielt inne und dachte einen Moment lang über diese Frage nach. Würde er meinen Plan überhaupt gutheißen?

Als sie wieder in ihrer Wohnung ankam, begann sie, an sich zu zweifeln – ihre Bauchmuskeln zitterten jetzt wie Wackelpudding. Ollie war ein Verfechter der Gerechtigkeit gewesen. Er hatte Ungerechtigkeiten gehasst und sie während ihres Studiums zu vielen Demonstrationen und Kundgebungen mitgeschleppt. Sie hatte seine Prinzipien bewundert, seine Bereitschaft, offen und ehrlich zu seinen Werten zu stehen. Aber was würde er davon halten, dass sie einen Plan verfolgte, der im Kern unehrlich war: einen Mann zu umgarnen, nur um an Informationen zu gelangen, mit denen sie ihm irgendwie schaden konnte?

Sie versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln. Die Wahrheit war: Sie war ein hilfloses Fischlein. Theo dagegen war in einer ganz anderen Position: Er hatte Geld und Macht. Wie sollte sie ihm begreiflich machen, was er ihr angetan hatte? Ihre einzige Waffe war ihre Weiblichkeit. Sich selbst als Köder zu benutzen, war das Beste, was sie tun konnte. Und wenn sie ihr Bestes gab, würde Ollie das sicher verstehen.

Kapitel 7

Drei Wochen später hatte Anna die Gewichte erhöht und begann, sich zu verändern. Ihre Bauchmuskeln waren straffer geworden, ihre Beine hatten Kontur bekommen, ebenso wie Po und Arme. Sogar an den Schultern zeichnete sich eine kleine Wölbung ab. Mit so schnellen Ergebnissen hatte sie wirklich nicht gerechnet, aber sie hatte täglich trainiert, und Gethin hatte sie immer wieder angetrieben.

„Du bist meine Musterschülerin“, verkündete er, als Anna richtige Liegestütze schaffte – etwas, wovon sie zu Beginn nur hatte träumen können.

Sie lachte. „Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich habe auch zu Hause geübt.“ Sie hatte sich eine kleine Abendroutine zusammengestellt und festgestellt, dass es ihr gefiel und sie abends wunderbar zur Ruhe brachte.

Gethin gab ihr ein High Five. „Ich wünschte, alle meine Kunden würden das tun.“ Er warf einen Blick auf seine Uhr. „Perfektes Timing. Mein nächster Kunde steht schon an.“ Mit einer dramatischen Geste wischte er sich über die Stirn. „Kein Frieden für die Bösen, du weißt schon.“

Anna lachte wieder, schnappte sich ihr Handtuch und wischte sich das rote, verschwitzte Gesicht ab, bevor sie zu den Umkleiden ging.

Dort wusch sich Tanya, die andere Trainerin, gerade die Hände. „Hey, wie läuft’s bei dir? Ich habe dich da drin gesehen. Du hast ja richtig Gas gegeben!“

Anna lächelte, überrascht, dass Tanya das bemerkt hatte, obwohl sie gerade mit einer anderen Kundin beschäftigt gewesen war. „Ich weiß. Unglaublich, wie viel sich in so kurzer Zeit getan hat.“ Sie grinste. „Drei richtige Liegestütze!“

Tanya zeigte ihr den Daumen nach oben. „Super! Weiter so!“ Sie trocknete sich die Hände ab und setzte sich neben Anna auf die Bank. „Sag mal, hast du Lust, noch etwas trinken zu gehen, bevor du losmusst? Ich hab jetzt Pause und wir finden ja sonst nie Zeit für einen Plausch.“

Annas erste Reaktion war, Nein zu sagen, aber sie besann sich im letzten Moment und lächelte stattdessen. Sie mochte Tanya und hatte schon ein paar Trainingseinheiten bei ihr absolviert, wenn Gethin nicht da war. Sie könnte eine nützliche Informationsquelle sein. Vielleicht wusste sie, wann Theo normalerweise trainierte, denn Anna hatte ihn nicht mehr im Fitnessstudio gesehen. Fragen kostete ja nichts. Sie grinste. „Das wäre schön.“

***

Das Café im Fitnessstudio lag direkt neben dem Empfangsbereich und hatte Fenster zur Straße. Es gab alle möglichen gesunden Snacks und Getränke. Tanya holte zu den grünen Smoothies ein paar Energy Balls für sie beide.

Anna beäugte ihre skeptisch. „Was ist denn da drin?“

„Probier’s. Ich verrate es dir erst, wenn du gekostet hast.“

Das Ding sah zwar aus wie eine Mistkugel, aber Anna hielt lieber den Mund. Stattdessen biss sie ein winziges Stück ab – und war überrascht: Es schmeckte nach Schokolade, Erdnüssen und gesalzenem Karamell. Sie aß gleich noch einen Bissen. „O mein Gott, ist das lecker!“

Tanya lachte. „Ich weiß. Sieht eklig aus, schmeckt aber fantastisch. Das scheint das Motto bei den Snacks hier zu sein. Und glaub mir, ich hab sie alle probiert. Das ist rohe Schokolade, also ziemlich gesund. Gibt dir einen richtigen Energieschub nach dem Training.“ Sie lächelte Anna an und trank einen Schluck von ihrem grünen Smoothie. „Ich finde, du hast richtig große Fortschritte gemacht und wollte dich fragen …“ Sie zögerte und spielte verlegen mit ihrer Serviette. „Hättest du was dagegen, wenn ich dich als Beispiel für meine Weiterbildung nehme? Ich mache gerade einen Lehrgang und muss zeigen, wie ich das Gelernte in der Praxis umsetze. Ich weiß, eigentlich ist Gethin dein Trainer, aber wir haben ja auch schon ein paar Mal zusammen trainiert. Also zähle ich dich jetzt einfach mal zu meinen Erfolgen dazu.“

Anna überlegte einen Moment, sah aber keinen Grund abzulehnen. „Klar, kein Problem. Es macht mir nichts aus. Aber … könntest du vielleicht meinen Mädchennamen anstelle meines Ehenamens verwenden?“ Als sie sich im Fitnessstudio angemeldet hatte, musste sie einen Ausweis vorlegen. Allerdings hatte sie nur ihren Führerschein dabei, der noch auf ihren Ehenamen ausgestellt war. Im Nachhinein war das ein Fehler, wenn sie lieber inkognito bleiben wollte.

Tanya zuckte mit den Schultern. „Für mich macht das keinen Unterschied.“ Sie beugte sich ein Stück zu Anna. „Ich wittere da eine Geschichte.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und hob fragend eine Augenbraue.

Anna dachte einen Moment lang nach, dann entschied sie, dass Tanya eine nützliche Verbündete sein könnte – und ihr bestimmt eher zur Seite stehen würde, wenn sie ein bisschen mehr von der Wahrheit wüsste. Das hieß ja nicht, dass sie ihr alles erzählen musste, oder?

„Okay, ich bin Witwe.“ Sie seufzte und blickte auf ihr Getränk, während sie die unvermeidliche Welle von Emotionen durch sich hindurchziehen ließ. Das passierte immer, wenn sie Ollies Tod erwähnte. Aber sie hatte gelernt, die Welle zuzulassen und die Emotionen loszulassen. Dann konnte sie weiterreden, ohne zusammenzubrechen. „Ich kann dir versichern, es gibt keine Geschichte. Aber da ist eben dieser Kerl …“

Tanya schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. „Es tut mir wirklich leid, das zu hören. Das muss schwer gewesen sein, in so jungen Jahren. Aber ich freue mich, dass du nach vorn schaust.“ Sie beugte sich interessiert zu ihr. „Na los, erzähl mir mehr.“

„Als ich das erste Mal hier war, bin ich ihm zufällig begegnet. Also, wir sind buchstäblich ineinander gelaufen, und er war … süß. Ich dachte, er wäre an mir interessiert. Aber seitdem habe ich ihn hier nicht mehr gesehen.“ Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief Theos Profilbild auf. „Der hier. Kennst du ihn?“

„Aha, du hast also schon ein bisschen Detektivarbeit geleistet.“ Tanya griff nach ihrem Handy und betrachtete das Bild. „Wie hast du das denn geschafft? Ich bin beeindruckt.“

Verdammt. Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich selbst in die Ecke getrieben. Welchen plausiblen Grund konnte sie für Theos Profil auf ihrem Handy haben?

„Ich … ähm … Ich dachte, ich würde ihn aus dem Krankenhaus kennen. Als meine Mum operiert wurde. Sie hat sich an seinen Namen erinnert und dann habe ich ihn auf Facebook gefunden.“

Tanya musste ja nicht wissen, dass Annas Mutter mit ihrem Vater in Spanien lebte. Ihre Erklärung klang plausibel, und das war alles, was zählte. Sie aß den Rest ihres Energy Balls, um sich zu beruhigen, während Tanya das Bild studierte.

„Der gut aussehende Theo.“ Sie lachte rau. „Viele Frauen haben schon versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen – und sind gescheitert, das kann ich dir sagen.“

„Wirklich?“

„Na, schau ihn dir doch an. Wer würde da nicht schwach werden?“

„Er ist … Single?“

Tanya steckte sich den Rest ihres Energy Balls in den Mund. „Soll ich dich auf die Liste setzen?“

Anna lachte, sah dabei aber aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die vorbeigingen. Ihr Gesicht brannte und sie kam sich ziemlich dumm vor. Das war wirklich eine verrückte Idee gewesen. „Ich schätze, wenn er so gefragt ist, habe ich wohl kaum eine Chance.“

Tanya trank einen weiteren Schluck von ihrem Smoothie und schüttelte den Kopf. „Warum solltest du weniger Chancen haben als andere? Du bist wunderschön – und bald auch noch in Topform.“

Anna seufzte sehnsüchtig. „Ich hatte gehofft, ihm noch mal über den Weg zu laufen, aber ich habe ihn nicht mehr gesehen.“

„Das liegt daran, dass er verreist ist. Er ist mit seinen Kindern nach Sizilien gefahren, um die Großeltern zu besuchen.“

Annas Herz machte einen Sprung und sie nutzte die Gelegenheit, um mehr zu erfahren. „Oh, mit seinen Kindern.“ Sie gab sich ahnungslos und hoffte, auf diese Weise mehr in Erfahrung zu bringen.

„Sie sind erwachsen. Ich glaube, seine Tochter ist um die dreißig und der Sohn ein paar Jahre jünger. Er hängt sehr an ihnen.“

„Aha.“ Anna trank einen Schluck von ihrem Smoothie und musste sich zusammenreißen, um ihn nicht gleich wieder auszuspucken. Er war grün, bitter und hatte die Konsistenz von Schlamm. „Klingt, als würdest du ihn ziemlich gut kennen.“

Tanya zuckte mit den Schultern. „Ich kenne ihn, seit ich vor etwa drei Jahren hier angefangen habe. Wir waren sogar mal zusammen aus. Na ja, es war kein richtiges Date. Er brauchte eine Begleitung für ein Arbeitsessen und ich habe zugesagt. Das war nur ein paar Monate, nachdem seine Frau gestorben war. Er war emotional nicht besonders gut drauf, also bin ich mitgegangen, um ihn moralisch zu unterstützen.“

Anna witterte die Chance, ein paar Wissenslücken über Theo zu schließen. Vielleicht würde sie Antworten auf Fragen bekommen, die sie beschäftigten. „Seine Frau ist gestorben?“, fragte sie und tat so, als wüsste sie das nicht. „Ich hatte angenommen, dass seine Ehe in die Brüche gegangen ist.“ Es war eine unvermeidliche Lüge. Wie hätte sie sonst erklären sollen, dass sie Nachforschungen über Theo angestellt hatte, ohne wie eine Stalkerin zu wirken?

Tanya schürzte die Lippen. „Sie ist ertrunken, die arme Frau. Das Haus der Familie liegt an der Menai Strait. Wirklich traumhaft, aber na ja … Sie ist vom Steg gesprungen. So lautet zumindest die Theorie. Sie war wegen Burnout krankgeschrieben, und zwischen den beiden lief es nicht gut.“ Sie seufzte und trank ihren Smoothie aus. „Der Gerichtsmediziner hat Suizid festgestellt. Es gab einen Abschiedsbrief.“ Sie schaute Anna direkt an. „Die Polizei war zufrieden, dass es keine verdächtigen Umstände gab, falls du dich das gefragt hast. Denn ein Verbrechen musste ja zumindest in Betracht gezogen werden, nicht wahr?“

Anna schwieg und ließ die Informationen auf sich wirken. Die Geschichte klang ein wenig anders als in dem Zeitungsartikel. Sie fand, dass sie jetzt nicht weiter nachhaken sollte. Wahrscheinlich war es besser, Tanya nach und nach mehr zu entlocken, statt sie jetzt mit Fragen zu bombardieren. „Das ist wirklich traurig. Aber es scheint, als hätte er inzwischen einen Neuanfang gemacht.“

Tanya lachte. „Oh, er hat schon lange vor dem Tod seiner Frau einen Neuanfang gemacht. Ihre Beziehung war völlig zerrüttet. Sie hatten schon über Scheidung gesprochen, aber keiner von beiden wollte das Haus aufgeben.“

Irgendetwas an diesem Haus machte sie neugierig, aber es klang so, als wäre Theo ein ziemlicher Frauenheld.

„Oh, wenn man vom Teufel spricht“, sagte Tanya, blickte über Annas Schulter und winkte jemandem hinter ihr zu. „Theo, du bist zurück.“

Anna zuckte zusammen und riss erschrocken die Augen auf. Tanya kicherte amüsiert. Hastig drehte Anna sich um – und da stand er: braun gebrannt und entspannt, in einem weißen Hemd und grauen Chinos. Röte stieg ihr ins Gesicht und sie fühlte sich plötzlich unbeholfen, fast wie damals in der Schule.

„Theo, das ist Anna, unsere Vorzeigekundin.“

Er sah sie einen Moment lang an, dann lachte er. „Ich erinnere mich an dich. Wir sind doch letztens zusammengestoßen, oder?“

Sie sammelte sich und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Stimmt genau. Wenigstens weiß ich, wie du heißt, Theo.“ Es fühlte sich seltsam an, seinen Namen laut auszusprechen – als würde das die Verbindung zwischen ihnen greifbarer machen.

„Schön, dich richtig kennenzulernen.“ Er legte ihr seine Hand auf die Schulter, und ein Kribbeln durchfuhr ihren ganzen Körper.

„Warum setzt du dich nicht zu uns?“, fragte Tanya mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen.

Er schüttelte den Kopf. „Sorry, ich würde ja gerne, aber ich kann nicht bleiben. Ich war gerade auf der Suche nach Jez, aber der ist wohl nicht da. Ich muss gleich ins Krankenhaus.“ Sein Blick verweilte auf Anna. „Aber gern ein anderes Mal. Ich bin fast jeden Tag hier, aber das hängt von meinen Schichten ab. Die waren in letzter Zeit total chaotisch.“

Ein Mann kam herein und klopfte ihm auf den Rücken. „Theo, ich hab dich gesucht, Kumpel.“

Theo verabschiedete sich und verließ das Café, vertieft ins Gespräch mit dem Mann, der vermutlich Jez war.

„Hmm, ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen“, sagte Tanya mit einem Augenzwinkern.

„Ach, Quatsch“, wehrte Anna ab, hoffte jedoch insgeheim, dass Tanya recht hatte. Immerhin hatte er ihr in die Augen gesehen und sie sogar berührt. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Es war fast zehn Jahre her, dass sie sich mit einem Mann verabredet hatte, und sie fühlte sich völlig überfordert, als würde sie in Gewässern schwimmen, deren Grund sie nicht sehen konnte.

Tanya musste zurück an die Arbeit und ließ Anna mit dem Rest ihres „Schlamm“-Smoothies am Tisch zurück. Anna wartete, bis Tanya gegangen war, und ließ das Getränk auf dem Tisch stehen. Schon der Gedanke an den Geschmack jagte ihr einen unwillkürlichen Schauder über den Rücken. Das würde sie sich kein zweites Mal antun. Aber sie verließ das Café mit einem beschwingten Schritt – heute hatte sie Fortschritte bei ihrem Projekt Theo gemacht: Sie hatte nützliche Informationen gesammelt und Kontakte geknüpft. Das war doch ein Erfolg. Und jetzt wusste er, wer sie war.

***

Kaum hatte Anna zu Hause die Tür hinter sich geschlossen, überfiel sie die Traurigkeit wie aus dem Nichts. Es war seltsam, wie das manchmal einfach so passierte. Ollies Schuhe standen noch immer im Flur auf dem Schuhregal und seine Jacken hingen an den Haken darüber. Sie vergrub ihre Nase in den Stoffen, aber sein Geruch war längst verschwunden. Sie ließ die Schultern sinken und stand einen Moment lang da, überwältigt von einer tiefen Niedergeschlagenheit, die sie daran erinnerte, was sie verloren hatte.

Sie seufzte und ging ins Wohnzimmer. Zum ersten Mal fielen ihr der Staub und die verschmierten Fenster auf. Auf dem Kaminsims stand Ollies Foto neben einem Hochzeitsfoto und einem weiteren Bild, das sie an ihrem Hochzeitstag aufgenommen hatte – dem Tag, an dem er krank geworden war. Sie trat hinüber, nahm die Bilder nacheinander in die Hand, drückte sie an sich und küsste ihn. Die Leere in ihrem Herzen war noch genauso groß wie an dem Tag, an dem er gestorben war.

„Ich liebe dich, mein Schatz“, flüsterte sie und strich über sein Gesicht. „Ich tue das alles für dich, damit du endlich in Frieden ruhen kannst.“

Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es im Grunde genau darum ging. Es ging nicht nur darum, dass sie selbst loslassen konnte, sobald die Gerechtigkeit hergestellt war. Auch Ollie musste loslassen können. Wie sollte seine Seele zur Ruhe kommen, nachdem ihm das Leben auf so grausame Weise genommen worden war? Vielleicht fiel es ihr gerade deshalb so schwer, ihn gehen zu lassen. Sie wollte ihm diesen letzten Liebesdienst erweisen und irgendeine Form der Wiedergutmachung finden. Etwas, das die enttäuschende Reaktion des Krankenhauses aufwog, das beschlossen hatte, die Augen zu verschließen und so zu tun, als hätte niemand etwas falsch gemacht. Sie hatten den Vorfall einfach unter den Teppich gekehrt, als wäre sein Tod bedeutungslos. Sie hatte dem System nichts entgegensetzen können, hatte sie nicht davon überzeugen können, dass jemand zur Rechenschaft gezogen werden musste.

Der offizielle Beschwerdeweg war eine Sackgasse gewesen. Zwar hatten sich leitende Mitarbeiter ihre Geschichte angehört und großes Mitgefühl gezeigt, aber irgendwann hatten sie die Geduld mit ihr verloren und überhaupt nicht mehr reagiert.

Ich tue das für dich, Ollie.

An diesem Abend ging sie mit einem mulmigen Gefühl ins Bett, der Kopf voller Gedanken darüber, was sie über Theo erfahren hatte. Sie träumte sogar von ihm. Doch aus dem romantischen Traum wurde ein Albtraum: Jemand stieß sie von hinten und sie befand sich plötzlich in dunklem, wirbelndem Wasser. Die Strömung riss sie nach unten, während sie verzweifelt nach Luft rang.