Fünf
Dienstag, 8. Oktober
Selbst wenn Daniel eingewilligt hätte, einen kostspieligen Einkauf zu finanzieren, hätte ich gar nicht genug Zeit, um bis zum heutigen Abend neue Kleidung zusammenzustellen. Es mochte zwar mittlerweile mehr Läden geben, die Kleidung von der Stange anboten, doch die war immer von billiger Qualität – Hemdblusen, bunte Röcke, vielleicht sogar Sommerkleider aus Nesselstoff, doch gewiss keine Kleider, die einem Abendessen im Delmonico’s angemessen wären. Dafür bräuchte ich Sids kleine, jüdische Schneiderin und mehrere Anproben, damit das Kleid sitzt wie angegossen. Ich öffnete die Tür des Kleiderschranks und betrachtete meine dürftige Sammlung. Ich hatte einst etwas schicke Kleidung besessen – eine Auswahl aus den aussortierten Stücken von Sid und Gus, und nach meiner Rückkehr aus Paris sogar einige modische Kleider, doch das war alles einem Feuer zum Opfer gefallen.
Jetzt würde ich definitiv wie die ärmliche Verwandte aussehen, wenn wir uns mit Big Bill und seiner Ehefrau trafen.
„Mach dir keine Sorgen darum, Molly“, sagte Daniel, als ich ihm eine Tasse Kaffee einschenkte. Ich war früh aufgestanden, um ihn mit einem guten Frühstück auf den Weg zu schicken. Ich mochte wütend auf ihn sein, doch ich war immer noch eine pflichtbewusste Ehefrau! „Du wirst bestimmt wundervoll aussehen, ganz egal, was du anziehst.“
Das zeigt nur, wie unaufmerksam Männer sein können. Frauen bemerken jedes kleinste Detail an der Kleidung einer anderen Frau.
„Ist Mrs. McCormick ebenfalls Irin?“, fragte ich. „Kommt sie auch aus der alten Heimat?“
Daniel gluckste. „Ganz im Gegenteil. McCormick hat gut geheiratet. Sie ist die Tochter eines Eisenbahnmagnaten. Sie wuchs reich auf und brachte viel Geld in die Ehe mit.“
„Oh nein. Das ist ja noch schlimmer“, sagte ich. „Sie wird die neuste Mode tragen und mit Schmuck überhäuft sein. Das ist eine schreckliche Idee, Daniel. Warum gehst du nicht allein?“
Er wirkte besorgt. „Das kann ich nicht tun, Molly. Der ganze Plan ist, dass seine Frau dich kennen und mögen lernt.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Wir bewegen uns jetzt im Feld der Politik, ob es uns gefällt oder nicht. Ich fürchte, Ehefrauen werden auf dem Präsentierteller sitzen. Und bevor du mir wieder sagst, dass du nichts zum Anziehen hast: Ich bin mir sicher, dass wir dem Komitee etwas Geld abschwatzen können, um dir angemessene Kleidung zu besorgen.“
„Aber nicht für heute Abend“, sagte ich.
Er legte einen Arm um mich. „Kein Problem“, sagte er. „Sie werden dein herrliches, rotes Haar und die wunderschönen, grünen Augen sehen und bezaubert sein. Du wirst schon sehen.“
„Du bist ein Schwätzer, Daniel Sullivan“, sagte ich und schob ihn von mir, lachte aber dabei. „Und du solltest die Koffer vom Dachboden holen, wenn du von mir erwartest, innerhalb von zwei Tagen all unser Hab und Gut zusammenzupacken.“
Als er fort war, ging ich nach oben und machte mich daran, all meine Kleidung aus dem Schrank zu holen und beiseite zu legen, um sie später einzupacken. Während ich die dürftige Kleiderauswahl betrachtete, erinnerte ich mich wehmütig an die Kleider, die dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Ich besaß noch Sids aussortiertes Abendkleid, ein prächtiges, violettes Kleidungsstück, um das Bridie mich beneidete. Ich hatte es zu einer Theaterpremiere getragen, doch es war ein wenig zu auffällig für einen ersten Eindruck beim Abendessen. Es führte nichts umhin – ich würde meinen Stolz hinunterschlucken und schauen müssen, ob ich mir von meinen Nachbarinnen ein Kleid leihen könnte.
Während ich das dachte, wurde mir bewusst, welch ein Einschnitt es sein würde, sie nicht mehr auf der anderen Straßenseite zu haben. Ich hatte mich daran gewöhnt, auf einen Kaffee bei ihnen vorbeizugehen, sie zu bitten, auf Liam aufzupassen, während ich irgendetwas erledigte, oder eingeladen zu werden, um faszinierende Gäste kennenzulernen, vom Stückeschreiber bis zur Suffragette. Ich wusste, dass sie nicht aus der Welt waren, doch diese unmittelbare Nähe würde verlorengehen. Ob es mir gefiel oder nicht, es stand ein neues Kapitel in meinem Leben an.
Ich packte weiter, bis ich hörte, dass Liam sich regte, und ging dann in sein Zimmer. Er lag in der Krippe, aus der er eigentlich herausgewachsen war, und unterhielt sich mit seinem Bären. Wir hatten darüber gesprochen, ihm ein größeres Bett zu besorgen, das dann aber aufgeschoben, weil das Zimmer so klein war. Jetzt würden wir ein großes Kinderzimmer bekommen, mit sämtlichem Spielzeug, das er sich nur wünschen konnte. Und mit einem Kindermädchen, das ihn anzuhimmeln schien. Warum beschwerte ich mich trotzdem noch? Er richtete sich auf, als er mich bemerkte. „Hoch, Mama?“ Er streckte mir seine dicken Ärmchen entgegen.
Als ich ihn aus der Krippe hob, fiel mir auf, wie schwer er geworden war. Er war jetzt drei Jahre alt und kein Kleinkind mehr, sondern ein kleiner Junge. Die Krippe würde bald leer herumstehen, da kein weiteres Kind auf dem Weg war. Ein Anflug von Trauer überkam mich, weil ich es seit meiner Fehlgeburt vor achtzehn Monaten nicht geschafft hatte, erneut schwanger zu werden. Mein Bild einer Familie bestand aus einer großen, lauten Gruppe von Menschen, die ein Haus mit Necken und Gelächter erfüllte. Würde meine Familie immer nur aus Liam und Bridie bestehen – die bereits eine junge Dame war, mit ihrem eigenen Kopf, und ein gutes Leben vor sich hatte?
Ich schob diese Gedanken beiseite und klopfte an Bridies Tür, als ich daran vorbeikam. „Es ist Zeit, aufzustehen, Liebes“, rief ich.
Nachdem die beiden ordentlich gefrühstückt hatten – Porridge mit braunem Zocker und Toast mit Bratenfett – reichte ich Bridie ihre Schultasche.
„Ich fürchte, du wirst heute Abend auf Liam aufpassen müssen“, sagte ich. „Papa und ich werden zum Essen ausgehen – wir lernen seinen neuen Boss kennen.“
Bridie nickte feierlich. An der Haustür drehte sie sich noch einmal zu mir um. „Es wird sich alles verändern, nicht wahr?“, fragte sie. „Ich weiß, dass ich die beiden Damen besuchen kann, wann immer ich will, aber es wird nicht mehr das Gleiche sein.“
„Ich fürchte, da hast du recht“, sagte ich. „Ich bin auch nicht begeistert davon, aber wir müssen das Beste daraus machen; Papa zuliebe.“
„Was wird aus unserem Haus werden?“, fragte Bridie, als wäre ihr der Gedanke gerade erst gekommen. „Wirst du es verkaufen?“
„Himmel, nein“, sagte ich. „Ich habe dieses kleine Haus mit meinen eigenen Mitteln gekauft, bevor ich Daniel geheiratet habe. Und ich mag es. Ich schätze, wir werden es vermieten müssen, bis Daniel mit der Politik fertig ist.“ Ich fragte mich, ob oder wann das sein würde.
Am späteren Vormittag, zu einer Zeit, zu der Sid und Gus endlich wach waren und bereit, Besuch zu empfangen, nahm ich Liam mit auf die andere Straßenseite. Er musste sich nicht bitten lassen, rannte auf seinen stämmigen Beinchen vor mir her und rief so laut er konnte: „Tante Sid, Tante Gus!“
Gus öffnete die Tür, noch ehe ich klopfen konnte. „Du liebe Güte“, sagte sie. „Ich glaubte, wir würden von einer ganzen Armee angegriffen. Wer hat denn da so eine kräftige Stimme?“
Liam grinste, war aber plötzlich schüchtern.
„Kommt herein. Wir haben frische Brötchen von der Bäckerei und Sid hat Kaffee gemacht“, sagte sie.
Wieder rannte Liam voraus in die Küche. Gus lächelte liebevoll und schaute ihm hinterher.
„Hast du Frieden mit Daniel geschlossen?“, fragte sie. „Oder liegt seine verstümmelte Leiche in deinem Haus, mit tausend Stichwunden?“
Ich musste lachen. „Du weiß gar nicht, wie kurz davor ich stand“, sagte ich. „Und ich bin immer noch nicht begeistert, Gus. Wusstest du, dass wir jetzt einen Aufpasser haben, der über uns wacht … für unsere Sicherheit? Hast du so etwas schon mal gehört?“
„Dann muss ich wohl froh sein, dass ihr auszieht“, entgegnete Gus. „Sid würde es bestimmt nicht gefallen, wenn sich draußen zu jeder Tag- und Nachtzeit große, bullige Iren herumdrücken.“
„Mir gefällt das auch nicht“, sagte ich. „Ich habe Daniel gesagt, dass ich gehen werde, wohin ich will und wann ich es will.“
„So ist’s richtig. Sag ihm deine Meinung, Molly.“
Wir gingen in die Küche, wo Sid mit einer Tasse Kaffee in der Hand in der New York American las. „Hearsts Zeitung ist wirklich ein reißerisches Schundblatt“, sagte sie. „Hört euch das an: Mann zeugt vierundzwanzig Kinder mit verschiedenen Frauen, prahlt mit seiner Fruchtbarkeit!“
„Das sollte eher heißen: er täuschte die Frauen“, merkte Gus an. „Er muss schrecklich attraktiv sein.“
„Im Artikel heißt es, er habe vor Gericht seinen schicken Schnurrbart gezwirbelt.“
Wir glucksten.
„Und warum war er vor Gericht?“, fragte ich.
„Ein Ehemann verklagt ihn wegen Entfremdung, weil der Schuft seine Ehefrau verführt hat. Der Schurke behauptete dann, er könne jede Frau haben, weil er begehrenswerter sei als jeder Ehemann.“
„Faszinierend“, sagte Sid. „Aber Molly ist es vermutlich lieber, wenn Hearst weiterhin solchen Unfug veröffentlich, statt Daniel zu attackieren.“
„Heilige Mutter Gottes“, rief ich, als dieser Gedanke bei mir ankam. „Du meinst doch nicht, dass er so etwas tun würde, oder?“
„Garantiert. Er wird einen Gegenkandidaten aufstellen und alles ausgraben, womit er Daniel schlecht dastehen lassen kann. Du musst darauf vorbereitet sein, Molly.“
Mein Herz schlug schneller. Ich war so plötzlich mit Daniels politischer Kandidatur überrascht worden, dass mir die ganzen Folgen davon noch gar nicht bewusst waren. Daniel hatte ein vorbildliches Leben geführt. Das wusste ich. Doch während ich so darüber nachdachte, wurde mir bewusst, dass man durchaus Negatives über ihn sagen könnte – er war im Gefängnis gewesen, wenn auch zu Unrecht. Er war einst mit der Tochter eines reichen Mannes verlobt gewesen. Er war mit dem ehemaligen Police Commissioner aneinandergeraten … alles kleine Angelegenheiten, die von einer korrupten Zeitung allerdings bestens verdreht werden konnten. Und wie sieht es bei mir aus?, fragte ich mich. Was würden sie über mich in die Öffentlichkeit zerren? Würde ans Licht kommen, dass ich einst geflohen war, um zu überleben? Dass ich in Irland in einen Gefängnisausbruch verwickelt war und dass meine Brüder im Zusammenhang mit der Irish Republican Brotherhood standen und gestorben waren? Plötzlich kam es mir so vor, als könnte mein ganzes Leben zusammenbrechen.
„Mach dir keine Sorgen, Molly“, sagte Gus sanft. „Ihr zwei habt gewiss tadellose Leben geführt und sie könnten höchstens titeln: ‚Ehefrau des Kandidaten ließ heute Morgen den Toast anbrennen.‛“
Ich versuchte zu lächeln, doch so einfach war das nicht. Liam war der Meinung, man habe ihn lange genug ignoriert, und zupfte an Gus’ Rock. „Tante Gus, Liam will Keks!“
„Natürlich, kleiner Mann“, sagte Gus und hob ihn hoch. „Aber wie wäre es stattdessen mit einem frischen Brötchen und reichlich Butter?“
Sie setzte ihn auf den hohen Hocker, der in ihrer Küche sein Stammplatz war, schnitt ein Brötchen auf und strich Butter und Marmelade darauf, ehe sie es ihm gab. Er machte sich gleich darüber her. Ich setzte mich ebenfalls.
„Eigentlich bin ich hier, weil ich um einen Gefallen bitten muss“, sagte ich. „Ich habe Daniel gesagt, dass ich keine Kleider besitze, die für die Ehefrau eines Sheriffs angemessen wären, und er will mir ermöglichen, ein paar Sachen anfertigen zu lassen. Allerdings …“ Ich hielt inne und atmete tief durch, ehe ich fortfuhr: „… habe ich jetzt erfahren, dass ich heute Abend mit Big Bill und seiner Ehefrau speisen werde, ausgerechnet im Delmonico’s, und ich habe nichts, was dafür angemessen wäre. Also wollte ich fragen …“
„Schau dich gern in unseren Kleiderschränken um“, sagte Sid. „Ich glaube zwar nicht, dass ich allzu viel besitze, was dem Delmonico’s gerecht wird – ich bezweifle, dass man dort Haremshosen zu schätzen weiß – aber Gus besitzt noch Kleider aus ihrem früheren Leben als Teil der Bostoner Elite, nicht wahr, Liebste?“
„Oh, absolut“, sagte Gus. „Komm mit mir nach oben und probiere ein paar an.“
„Es tut mir wirklich leid, das tun zu müssen“, sagte ich, während ich errötete, „aber ich darf Big Bills Ehefrau nicht in irgendeinem zusammengewürfelten Outfit gegenübertreten. Daniel erklärte mir, dass sie im Gegensatz zu ihrem Ehemann nicht aus den irischen Sümpfen stammt, sondern aus einer reichen Familie.“
„Stimmt“, sagte Sid. „Ich habe mal etwas über sie gelesen. Ihr Vater hat sein Geld mit Eisenbahnen gemacht, nicht wahr? Ich glaube, sie ist Big Bills zweite Ehefrau und brachte viel Geld mit, als er es dringend brauchte.“
„Jetzt versteht ihr, warum ich einigermaßen anständig aussehen muss, oder?“, fragte ich. Ich stieg die Treppe hinauf und Gus folgte mir. Wir gingen an den Schlafzimmern im ersten Stock vorüber und weiter in den zweiten Stock, wo ein zusätzlicher Kleiderschrank mit den Kleidern stand, die Gus nicht mehr trug.
„Ich fürchte, manche von denen sind mittlerweile hoffnungslos aus der Mode gekommen, Molly“, sagte Gus, während sie die Tür öffnete. „Dieses rosarote Teil habe ich seit meiner Zeit als Debütantin nicht mehr getragen. Es ist viel zu mädchenhaft für dich. Ich weiß nicht, warum ich es immer noch aufhebe, aber vielleicht wäre es mit einigen Änderungen etwas für Bridie. Aber …“ Sie hielt inne und griff nach einem anderen Kleid. „… das hier könnte genau richtig sein.“ Sie holte ein geschmeidiges, einfach geschnittenes Kleid in einem blassen Malventon heraus. „Das musste ich tragen, als wir um meine Großmutter trauerten“, sagte sie. „Violett und Malve galten als angemessene Trauerfarben für eine junge Frau. Du hast immer noch die Figur einer jungen Frau, Molly. Es sollte dir passen. Zieh es mal an.“
Es machte mich verlegen, mich vor Gus zu entkleiden, doch mit ihrer Hilfe schlüpfte ich in das malvenfarbene Kleid. Sie schloss die Knopfleiste im Rücken. Es war etwas eng am Busen, doch insgesamt war das Ergebnis zufriedenstellend. Es sah klassisch und nach guter Qualität aus; genau richtig für eine Ehefrau, die sich nicht in den Mittelpunkt drängen wollte.
„Du siehst umwerfend aus“, sagte Gus. „Sehr elegant. Ich habe irgendwo noch eine violette Feder, die du dir ins Haar stecken kannst. Sie werden begeistert sein, Molly.“
„Eigentlich will ich niemanden begeistern“, sagte ich. „Es würde mir reichen, wenn sie mich nicht für bettelarm halten.“
Gus lachte. „Jetzt schau dir noch die anderen Sachen an. Falls dir irgendetwas ins Auge fällt, nimm es mit. Ich bezweifle, dass ich diese Kleider jemals wieder brauchen werde.“
Sie bestand darauf, jedes einzelne Kleid herauszuholen und mich diejenigen anprobieren zu lassen, die sie für passend hielt. Ich verließ das Haus schwer beschämt, aber mit zwei Ballkleidern und einem Teekleid. Ich wusste, dass sie nicht mehr der neusten Mode entsprachen, doch sie sahen nach guter Qualität aus, und das war es, was zählte.
Sechs
Ich bin sonst keine Person, die sich allzu große Sorgen um ihr Aussehen macht. Ich bin ganz sicher nie in eine Konkurrenz mit anderen Frauen eingetreten, wenn es um Kleidung ging – da ich nie die nötigen Mittel dafür hatte. Doch ich muss gestehen, dass ich wirklich nervös wurde, als es an der Zeit war, mich für das Abendessen im Delmonico’s anzuziehen. Nur die Reichen und Schönen gingen dort essen. Und ich würde den prüfenden Blicken aller Anwesenden ausgesetzt sein, sobald ich das Restaurant betrat. Ich würde mich gut an Daniels Arm festhalten müssen, denn ich wollte auf keinen Fall beim heruntergehen der Stufen zum Restaurant stürzen.
Ich hatte Bridie gebeten, mir beim Ankleiden zu helfen. Sie schloss gerade die unter Seide versteckte Knopfleiste, die über den gesamten Rücken des Kleides verlief. In Momenten wie diesen verstand ich, warum Frauen, die solche Kleider regelmäßig trugen, ein Dienstmädchen brauchten. Kein Ehemann war geduldig genug dafür! Als Bridie den obersten Knopf geschlossen hatte, drehte ich mich um und betrachtete mich im Spiegel. Das Kleid ließ mich tatsächlich groß und gertenschlank wirken – sehr vorteilhaft, fand ich.
„Du siehst richtig aufgedonnert aus“, sagte Bridie.
Ich starrte sie an. „Wo hast du denn diesen Ausdruck her?“
„Helen Balmont sagt das ständig“, erklärte sie ernst. „Ich lerne alle möglichen neuen, feinen Wörter. Du hättest hören müssen, was Ruth Depew in der Pause gesagt hat …“
„Du liebe Güte“, sagte ich. „Ich hoffe, wir tun das Richtige, indem wir dich an diese Schule schicken.“ Dann wünschte ich, ich hätte gar nichts gesagt. Bridie öffnete sich zum ersten Mal bezüglich der anderen Mädchen in der Schule, und ich wollte gern mehr hören.
„So schlimm ist es nicht“, antwortete Bridie. „In bin bloß in einigen Fächern weit hinterher, und ich glaube nicht, dass ich je zu diesen Mädchen passen werde. Margaret Wilson erzählte, dass sie jeden Sommer ihres Lebens in Newport verbracht habe und wie sterbenslangweilig es dort sei. Julia Cooper stimmte ihr zu und sagte, dass im kommenden Sommer alle an die Riviera fahren würden. Ihr Bruder ist in Harvard und ihre ältere Schwester ist Debütantin. Die Mädchen reden nur darüber, wie viel sie für ihre Kleider ausgeben werden, wenn sie debütieren und an den Bällen der anderen teilnehmen.“
„Aber doch bestimmt nicht alle von ihnen, oder?“, fragte ich.
„Nicht alle, nein. Judy Lowenstein macht einfach ihre Arbeit. Sie ist die Beste in Latein, und Margaret nennt sie Streberin. Ich weiß, dass sie jeden Sommer in die Catskill Mountains fährt, aber die anderen Mädchen schneiden sie. Vielleicht, weil sie jüdisch ist, aber es könnte auch daran liegen, dass ihr Vater nur ein Arzt ist. Ist das nicht schrecklich?“
Ich nickte. „Ja. Man sollte meinen, dass die Menschen nach New York kommen, um sich von Vorurteilen zu befreien. Die Iren haben weiß Gott genug gelitten, wie auch die Chinesen und jetzt die Juden. Und warum sollte man überhaupt etwas gegen sie haben? Ich habe mehr Respekt für einen Arzt als für einen Mann, der sein Geld damit verdient, Gebäude zu vermieten oder Bestechungsgelder anzunehmen“, fügte ich mit finsteren Gedanken an Tammany Hall hinzu.
„Ich schätze, es liegt daran, dass sie keine Christen sind“, sagte Bridie. „Das ist noch so eine Sache. Ich habe darauf geachtet, nicht zu erwähnen, dass ich katholisch bin. Julia sagt, Katholiken seien Papisten und könnten niemals echte Amerikaner werden, weil sie die Regierung stürzen würden, wenn der Papst es ihnen befielt. Blanche sagte, das sei nicht wahr. Ich glaube, sie ist katholisch, denn sie trägt manchmal ein Kruzifix, aber die anderen Mädchen lassen sie in Ruhe, weil ihr Vater sehr reich ist. Ich möchte ihr trotzdem nicht erzählen, dass ich katholisch bin, weil sie die hochnäsigste von allen ist.“ All diese Informationen kamen nur so aus ihr herausgesprudelt. Bridie wusste offensichtlich schon viel über das Leben dieser Schülerinnen.
Ich schüttelte den Kopf. „Wir geben dieser Schule dieses Jahr eine Chance, und dann denken wir noch einmal darüber nach. Sid und Gus sind offensichtlich fest entschlossen, dich auf die Vassar zu bringen, aber es muss doch auch Schulen geben, die keine Brutstätte für Aufgeblasenheit sind.“
Die Uhr unten schlug Viertel vor, was mich zur Eile gemahnte.
„Hilf mir bitte, diese Feder in meinem Haar zu befestigen“, sagte ich, während ich sie Bridie reichte. Nach mehreren Versuchen und reichlich Gekicher gelang es uns. Ich nahm mir Tuch und Handschuhe und ging nach unten. Daniel kam aus dem Wohnzimmer und sah in seiner Abendgarderobe sehr adrett aus. Das Strahlen, das in seine Augen trat, als er mich anschaute, machte mit Mut.
„Sehr hübsch, Mrs. Sullivan“, sagte er. „Brechen wir auf?“
Ich drehte mich zu Bridie um. „Dein Abendessen ist im Topf. Sorg dafür, dass Liam sich benimmt und zu einer vernünftigen Zeit ins Bett geht. Und falls du irgendwelche Probleme haben solltest: Die Damen auf der anderen Straßenseite sind zu Hause.“
Sie nickte und winkte uns, als wir auf die Straße hinaustraten.
Finn erwartete uns zusammen mit einem bulligen Kerl, der auch ein Boxer hätte sein können.
„Das ist Jack“, sagte Finn. „Er wird sich von jetzt an um Sie kümmern. Hast du uns ein Taxi gerufen, Jack?“
„Ja, Sir“, antwortete Jack mit einem irischen Akzent, der intensiver war als mein eigener. „Es wartet am Ende der Gasse.“
Auf dem Kopfsteinpflaster nahm ich Daniels Arm, da ich mich in meinen eleganten Abendschuhen nicht allzu sicher bewegte. Als ich sah, dass am Ende des Patchin Place ein Automobil wartete, warf ich Daniel einen überraschten Blick zu. Die vorderen Sitze waren offen und ein Fahrer saß hinter dem Lenkrad. Die hintere Sitzreihe war jedoch überdacht, rundum geschlossen und mit Türen versehen, sodass ein privates Abteil entstand.
„Das ist das Neuste“, sagte Finn. „Ein Mann hat einen motorisierten Droschkenservice ins Leben gerufen. Er nennt die Wagen Taxis. Was die Zukunft wohl noch bringen mag?“
Man half mir, hinten einzusteigen, und dann fuhren wir langsam und gesetzt die 5th Avenue entlang, bis wir das Restaurant an der Ecke 44th Street erreichten. Von außen kannte ich es natürlich. Ich hatte es sogar einmal betreten, als ich im Rahmen meiner Detektivarbeit jemandem gefolgt war. Doch ich hatte noch nie an einem der Tische gesessen und gespeist. Das Restaurant lag genau an der Ecke und wahr ein wahrhafter Palast, mit einem Säulenvorbau wie bei einem römischen Tempel, der sich von der abgerundeten Fassade absetzte. Unser Taxi hielt direkt vor diesen Säulen an und augenblicklich standen zwei Lakaien bereit. Ihre Uniformen waren mit so vielen Bändern verziert, dass sie wie Generäle aussahen … mindestens. Sie öffneten mir die Tür und Finn sprang vom Vordersitz, um mir dabei zu helfen, würdevoll auszusteigen, was ich zu schätzen wusste. Daniel bot mir seinen Arm an, dann wurden die gläsernen Türen für uns geöffnet und wir folgten Finn in den hell erleuchteten Innenraum.
Das Erste, was mir entgegenschlug, war der Krach. Es gab so viele Tische und an jedem saßen Menschen, die dem Klang nach ihren Spaß hatten. Ich schaute mich um und betrachtete die Seidentapeten, die dekorativen Stoffbehänge, die Kronleuchter an der hohen Decke. Es war beinahe zu viel für meine Sinne.
„Haben Sie reserviert, Sir?“ Ein Oberkellner mit einem beeindruckenden Schnurrbart im italienischen Stil erschien aus dem Nichts. Ehe wir antworten konnten, dröhnte eine Stimme: „Daniel, mein Junge, hier drüben!“
Ich blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und sah einen Mann, der aufgestanden war und wild winkte, ohne sich darum zu scheren, dass ihn die anderen Gäste an den Nachbartischen missmutig anschauten. Als wir auf ihn zugingen, erkannte ich, wie er sich den Spitznamen Big Bill verdient hatte. Er war ein Riese – nicht dick, aber kräftig gebaut – mit einem runden, geröteten Gesicht und grauem Haar. Seine Gesichtszüge wirkten unverkennbar irisch und erinnerten mich an die Jungs, mit denen ich mich in der Heimat hatte herumschlagen müssen – große, massige Rüpel, die mir beim Tanzen auf Dorffesten auf die Füße getreten waren und versucht hatten, mich hinter dem Pfarrsaal zu küssen. Ich vermutete, dass Big Bill auch einst so ein Junge gewesen war. Während wir an den Tischen vorbeiliefen, fragte ich mich, ob er als junger Mann aus Irland hergekommen war oder hier das Licht der Welt erblickt hatte; ein Kind, das der Hungersnot entkommen war.
„Willkommen, willkommen!“, rief Big Bill, als wir näherkamen. „Danke fürs Herbringen, Finn. Daniel – sehr adrett!“ Er streckte meinem Ehemann eine fleischige Hand entgegen und schüttelte die seine übereifrig, dann drehte er sich zu mir um und musterte mich mit abschätzendem Blick. „Das ist also die kleine Gattin, Daniel. Was für eine Schönheit! Sie haben gut gewählt, wie ich sehe. Ein echtes irisches Mädchen.“ Er streckte mir beide Hände entgegen. „Mrs. Sullivan, wie schön, Sie kennenzulernen. Willkommen, willkommen.“ Er ergriff meine Hände und drückte sie so fest, dass ich glaubte, mir würden die Finger abfallen. Dann zog er einen Stuhl für mich nach hinten.
„Bitte setzen Sie sich. Parken Sie das alte Gerippe.“
„Billy, das ist doch geschmacklos. Mrs. Sullivan ist bestimmt schockiert“, meldete sich jemand mit leiser Stimme von der anderen Seite des Tisches. Big Bill war in seiner Präsenz so übermächtig gewesen, dass ich seine Frau erst jetzt bemerkte. Ich hatte erwartet, dass sich die Tochter eines Eisenbahnmagnaten mit Pelz und Juwelen schmücken würde, doch man konnte Mrs. McCormicks Auftreten nur als schlicht bezeichnen. Sie war eine dünne, recht knochige Frau mit hellbraunem Haar, das sich aufgewickelt auf ihrem Kopf türmte. Sie trug ein graues Seidenkleid mit einem einfachen, recht hohen Ausschnitt und ein Kreuz aus Perlen und Rubinen an einer schweren, goldenen Halskette. Ihr Gesicht war blass und ausgewaschen und ihre großen Augen richteten sich jetzt mit einem einigermaßen bestürzten Blick auf mich.
„Ich versichere Ihnen, dass ich nicht so leicht zu schockieren bin, Mrs. McCormick“, sagte ich und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das sie erwiderte. Dieses Lächeln veränderte sie stark – sie wirkte plötzlich jünger; beinahe mädchenhaft.
„Ich bin Lucy McCormick, Mrs. Sullivan. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Billy redet ununterbrochen davon, wie beeindruckt er von Ihrem Daniel ist.“ Sie streckte ihre mit einem grauen Handschuh bewehrte Hand aus und ich ergriff sie.
Wir setzten uns und Finn blieb etwas unbeholfen neben Big Bill stehen. „Ich sollte Sie dann wohl alleinlassen, Sir“, sagte er. „Soll ich später zurückkommen, um Mr. und Mrs. Sullivan nach Hause zu begleiten?“
„Um Himmels willen, Finn“, sagte Big Bill. „Du gehörst im Grunde zur Familie. Schnapp dir einen Stuhl. Ich lasse dir ein zusätzliches Gedeck bringen.“
„Wenn Sie wirklich meinen …“ Finn zögerte immer noch. „Ich möchte nicht bei einer privaten Unterhaltung stören.“
„Gütiger Himmel, Junge“, sagte Bill. „Wenn ich eine private Unterhaltung führen wollte, würde ich das gewiss nicht mit halb New York als Publikum machen. Außerdem hatten wir schon unsere kleine Unterhaltung, nicht wahr? Ich glaube, Daniel versteht, wohin der Weg geht. Jetzt setz dich, um Gottes willen, setz dich.“
Bill McCormick schnippte mit den Fingern und ein Kellner kam herbeigeeilt. „Bringen Sie ein zusätzliches Gedeck für diesen Gentleman“, befahl er, „und etwas zu trinken für alle. Wir sollten mit Champagner einsteigen, da wir etwas zu feiern haben“, sagte er. „Und zwei Dutzend Austern.“
„Oh, keine Austern, Billy“, sagte seine Frau. „Das ist Arme-Leute-Essen.“
„Mag sein. Aber sie sind verdammt lecker, wenn du mich fragst. Das gleiche gilt für Hummer. Sie servieren hier einen köstlichen Hummer mit einer Spezialsoße. Vielleicht bestelle ich den als Fischgang, dann wirst du schon sehen.“
Der Champagner traf beeindruckend schnell ein. Der Korken knallte und fünf Gläser wurden gefüllt. Big Bill hob das seine. „Lasst uns anstoßen“, sagte er. „Auf den siegessichersten Kandidaten, den Tammany je aufgestellt hat, und auf Verzweiflung und Untergang für Mr. Hearst und seine Kumpane, die keine Chance mehr haben, jetzt da wir den jungen Daniel an Bord haben.“
Die Austern wurden gebracht. Ich hatte nie Geschmack an den Muscheln gefunden, aß aber pflichtbewusst ein paar. Das schien Big Bill gar nicht zu bemerken, der die anderen verschlang, indem er sie sich eine nach der anderen in den Mund kippte und in einer mühelosen Bewegung schluckte. Es wurde mehr Champagner geordert und Bill bestellte die übrigen Gänge, ohne sich dafür zu interessieren, was wir essen wollten. Das Restaurant schien ein Treffpunkt reicher und berühmter Persönlichkeiten zu sein. Mehrere Frauen, von denen ich eine aus der Gesellschaftskolumne einer Damenzeitschrift zu erkennen glaubte, liefen von Tisch zu Tisch und begrüßten überschwänglich ihre Freundinnen. Ein Mann trat mit seiner Ehefrau an unseren Tisch heran und die Männer erhoben sich aus Höflichkeit.
„O’Brien! Wie schön, Sie zu sehen.“ Big Bill schien jeden auf die gleiche, herzliche Art zu begrüßen. „Mrs. O’Brien, Sie sehen zauberhaft aus! Ein Bild von Schönheit.“
„Ist das der neue Protegé?“ O’Brien klang nicht ansatzweise so freundlich wie Big Bill. Er sah elegant aus und trug einen teuren Anzug, der sich maßgeschneidert an seine schlanke Figur schmiegte. Sein Haar wurde dünner, hatte aber immer noch eine kräftige, rote Farbe, und er trug einen schmalen, gepflegten Schnurrbart.
„Genau. Daniel Sullivan, das ist Sean O’Brien, Herz und Seele von Tammany Hall.“ Daniel gab dem Mann die Hand. „Und das hier ist die wunderschöne Mrs. Sullivan.“ Als Mr. O’Brien auch meine Hand schüttelte, fiel mir auf, wie zart und gepflegt die seine war; keine raue Hafenarbeiter-Hand wie bei Finn oder Big Bill. Spürte ich deshalb diese Spannung zwischen ihnen, auch wenn die Worte der beiden Männer heiter und freundlich klangen?
„Eine Freude, Sie beide kennenzulernen. Daniel, wir sehen uns bald bei Tammany. Ich werde Ihren Werdegang aufmerksam verfolgen.“ Es entstand eine leicht unangenehme Pause. Mr. O’Brien schien sich zu fragen, ob Big Bill ihn an den Tisch einladen würde. Als deutlich wurde, dass es dazu nicht kommen würde, sprach Mr. O’Brien ruhig weiter: „Nun denn, ich sollte Sie nicht von Ihrem Abendessen abhalten.“ Er verbeugte sich leicht. „War mir eine Freude.“
„Lassen Sie uns irgendwann diese Woche etwas trinken gehen.“ Big Bills herzlicher Ton war zurück, doch Mr. O’Brien wirkte immer noch steif, als er sich entfernte.
„Ich habe ihn nicht bei der politischen Versammlung gesehen. War er dort?“, fragte Daniel. „Ist er eng mit Tammany verbunden?“
Big Bill senkte die Stimme ein wenig. „Er sieht sich als meine Nummer Zwei. Er war ein wenig enttäuscht, als ich das Amt des Sheriffs nicht ihm angeboten habe, und hat mich das auch spüren lassen. Ich vermute, er ist heute Abend hier, um einen Blick auf Sie zu werfen. Aber er ist in seiner aktuellen Position besser aufgehoben.“ Big Bill wechselte einen wissenden Blick mit Finn. „Ich habe meine Gründe, und entweder findet er sich damit ab oder er verzieht sich!“
Er stürzte sich in eine politische Diskussion mit Daniel und Finn. Ich drehte mich zu seiner Frau. Sie hob die Augenbrauen. „Ist die Politik nicht schrecklich langweilig, Mrs. Sullivan?“
„Sie ist mir recht fremd“, sagte ich. „Ich habe bisher keine Erfahrung in diesem Bereich gesammelt.“
„Ich würde mich an Ihrer Stelle auch fernhalten“, sagte sie. „Es ist mir unbegreiflich, wie sich diese Männer stundenlang über Strategien unterhalten können. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass Billy nicht der Bürgermeister wird, sonst findet das kein Ende mehr. Dann wird er sich als Nächstes den Posten des Gouverneurs und schließlich das Präsidentenamt vornehmen, Sie werden sehen. Der Mann ist vom Ehrgeiz ergriffen. Wenn ich daran denke, dass er einst so arm wie eine Kirchenmaus war und sich als Deckarbeiter auf Küstendampfern verdingte – dann sparte er genug, um ein Boot zu bergen und zu reparieren, das auf Grund gelaufen war. Von diesem Punkt an hat er sich aufgebaut, was er heute hat. Man muss ihn dafür bewundern, doch seine Energie ist manchmal überwältigend.“
„Was ist mit Ihnen?“, fragte ich. „Sie kommen aus anderen Kreisen, hörte ich.“
Sie seufzte erschöpft. „Ganz eindeutig. Meine jungen Jahre verbrachte ich an einer Klosterschule, die Sommer in unserem Haus auf Long Island. Ich habe mich wohl in Billy verliebt, weil er so anders als die Jungs war, mit denen ich sonst tanzte. Er versprach mir, mir den Lebensstil zu ermöglichen, den ich gewohnt war, und daran hat er sich eindeutig gehalten. Ich war recht begeistert von der Vorstellung, dass er eines Tages im Stadtrat sitzen könnte. Damals wusste ich sehr viel weniger über die Politik.“
„Sie haben Kinder, nehme ich an?“
Erneut ließ ihr Lächeln sie deutlich jünger wirken. Mir ging auf, dass sie vermutlich nicht älter als vierzig war. „Zwei. Ein Junge und ein Mädchen. Mein Sohn Cornelius ist aktuell Student an der Columbia. Sein Vater möchte, dass er gleich nach seinem Abschluss ins Geschäft einsteigt, damit er es eines Tages übernehmen kann, aber Cornelius will unbedingt nach Europa und in Paris leben. Er hat kein Interesse daran, sich an niedere Arbeiten fesseln zu lassen. Das hat zu großen Spannungen zwischen ihm und seinem Vater geführt. Billy legt all seine Hoffnungen in ihn, da der ältere Junge …“
Ich hob überrascht den Blick. „Er ist nicht Ihr ältester Sohn?“
„Nicht mein Sohn, Mrs. Sullivan. Ich bin seine zweite Ehefrau. Junior, Bills Sohn aus erster Ehe, war zu alt, als dass ich ihm nach unserer Hochzeit eine echte Mutter hätte sein können. Bill hatte die Hoffnung, dass er auch in die Politik gehen würde, doch leider ist er gelähmt und an einen Rollstuhl gefesselt.“
„Wie tragisch. War es ein Unfall?“
Sie schüttelte den Kopf, was ihre langen Perlenohrringe klimpern ließ. „Nein, eine zehrende Krankheit. Erblich. Seine Mutter starb an der gleichen Sache. Irgendwann wird er all seiner körperlichen Fähigkeiten beraubt sein. Er ist ein lieber, ruhiger junger Mann, der seine Gebrechlichkeit mit stoischem Gleichmut erträgt.“
Sie hielt inne und starrte auf das Glas in ihrer Hand.
„Und Sie haben eine Tochter?“
Sie strahlte wieder. „Ja. Ein liebes und hübsches kleines Ding. Billy ist davon überzeugt, dass sie einmal gut heiraten wird. Er spricht schon von Reisen nach Europa, um sie mit einem Lord oder einem französischen Marquis zu verkuppeln. Er hatte schon immer große Träume, mein Billy.“
Sie verstummte, als der Hummer in einer cremigen, schaumigen Soße kam.
„Das ist er. Hummer Newburg, hier im Delmonico’s erfunden, wie sie behaupten“, sagte Bill. „Himmlisches Manna. Panis angelicus.“
„Billy, das grenzt an Blasphemie“, sagte Lucy, während sie tadelnd mit dem Finger wedelte, was Big Bill kichern ließ wie einen ungezogenen Schuljungen.
„Meine Frau leidet unter einer Überdosis Religion“, sagte Big Bill. „Zu viel Einfluss der Nonnen in jungem Alter. Mussten Sie auch unter Nonnen leiden, Mrs. Sullivan?“
„In der Tat“, sagte ich. „Aber meine waren von der irischen Sorte; sehr freigiebig im Umgang mit dem Stock.“
„Wie barbarisch“, sagte Lucy. „Meine Nonnen waren lieb und sanft; und recht weltfremd.“
Wir machten uns daran, unseren Hummer Newburg zu essen, und ich muss gestehen, dass er köstlich war. Es folgten die Steaks – größer als jedes Stück Fleisch, das ich je zu mir genommen hatte. Ich starrte meines erschrocken an. Wie sollte ich all das essen? Big Bill bestellte Rotwein. Ich wollte ablehnen, da mir bereits die beiden Gläser Champagner zu Kopf gestiegen waren, doch das ließ er sich nicht gefallen. „Man kann doch kein Steak essen, ohne einen guten Rotwein dazu“, sagte er und drückte mir das Glas in die Hand.
Wir hatten gerade erst mit dem Steak angefangen, als ein weiteres Paar an unseren Tisch herantrat. Die Frau trug ein sehr freizügiges Kleid, das ihren üppigen Busen und die schmale Taille betonte. An ihrem Hals funkelten Diamanten und sie hatte einen Fächer aus Straußenfedern bei sich. Als die beiden an unseren Tisch kamen, quiekte sie vor Freude.
„Schau an, wen wir hier haben“, sagte sie und kitzelte Big Bill mit dem Fächer am Hinterkopf. Er wirbelte überrascht herum. Die Frau kicherte und wedelte dann mit dem Fächer.
„Du böser Junge“, sagte sie. Sie machte eine lange, bedeutungsschwere Pause, dann sagte sie: „Du warst noch nicht in meiner neuen Show.“
„Ich bin zu beschäftigt fürs Theater, Gertie“, sagte er. „Hast du es noch nicht gehört? Ich kandidiere als Bürgermeister.“
„Oh, das habe ich durchaus gehört“, sagte sie. „Doch es heißt, Arbeit allein macht auch nicht glücklich, oder?“
„Aber sie macht Bill McCormick zu New Yorks nächstem Bürgermeister“, sagte er. „Wenn du uns jetzt entschuldigen würdest. Unsere Steaks werden kalt.“
Die Frau hakte sich bei ihrem Begleiter unter. „Komm, Teddy. Überlassen wir diese langweiligen Menschen ihrem Essen und gehen wir irgendwo hin, wo wir mehr Spaß haben können“, sagte sie.
Mir fiel auf, dass Big Bills Gesicht deutlich röter geworden war. Er nahm sein Weinglas und trank einen großen Schluck. „Abscheuliche Frau“, sagte er. „Diese Theaterleute haben einfach keinen Anstand. Ich weiß gar nicht, was sie hier zu suchen hat. Das ist kein Ort für sie.“
Es entstand ein betretenes Schweigen. Dann lachte er. „Na los, trinkt. Die Nacht ist noch jung.“
Ich schaute seine Frau an. Ihr Gesicht war in einem Ausdruck der Verachtung erstarrt.
Es war beinahe Mitternacht, als Finn uns nach Hause geleitete.
„Was halten Sie von Big Bill?“, fragte er mich, als er sich neben mir auf dem Rücksitz des Taxis niederließ. Ich sah, dass Jack ihm zunickte, sich dann umdrehte und die Straße hinunterlief. Hatte er die ganze Zeit draußen gewartet, um dafür zu sorgen, dass wir sicher ins Taxi kamen?
„Recht überwältigend“, sagte ich.
Finn lachte. „Ich weiß. Er hat mehr Energie als jeder andere Mensch, dem ich je begegnet bin. Und er kennt wenige Grenzen. Mrs. McCormick hingegen …“
„Scheint das genaue Gegenteil zu sein“, sagte ich. „Still, wohlerzogen und ganz entsetzt von seinen derben Witzen.“ Bill hatte einige davon erzählt, als es später geworden war und der Wein seine Wirkung entfaltet hatte. Seine Frau hatte ihn getadelt, doch das hatte ihn nur dazu angestachelt, noch schlüpfrigere Dinge von sich zu geben. Es hatte beinahe so gewirkt, als würde er sich so benehmen, um sie zu verletzen oder zu bestrafen. Was für eine seltsame Ehe, dachte ich mit einem Blick zu Daniel. Ich hatte das große Glück, einen Mann geheiratet zu haben, den ich aufrichtig bewundern konnte. Ich betete nur dafür, dass ihn die Politik nicht zu sehr verändern würde.
Sieben
Mittwoch, 9. Oktober
Am nächsten Tag ging es ernsthaft ans Packen. Zwei Tage, um mein ganzes Leben einzupacken! Du liebe Güte! Wir würden keine der Möbel mitnehmen, nur unsere Kleidung und persönlichen Gegenstände, doch das reichte schon aus, um mich beschäftigt zu halten. Liams Kleidung konnte ich noch nicht einpacken, da er sich jeder Zeit bekleckern und neue Sachen brauchen könnte. Ich packte den Inhalt meiner Kommode und meine Toilettensachen ein und machte dann mit Bridies Sachen weiter. Sie würde dasselbe Kleid an mehreren Schultagen anziehen können, entschied ich. Ihre Bücher waren eine andere Sache. Sie hatte so einige angehäuft, hauptsächlich von Sid und Gus. Ich fragte mich, ob es sich um Leihgaben handelte und es überhaupt in Ordnung war, sie in ein neues Haus mitzunehmen. Ich beschloss, auf die andere Straßenseite zu gehen, um nachzufragen.
Ich wusch Liam das klebrige Gesicht und war gerade auf dem Weg zur Haustür, als jemand klingelte. Ich öffnete und sah Gus vor mir stehen.
„Wir wollen dringend mehr über den fürchterlichen Big Bill hören“, sagte sie. „Komm doch auf einen Kaffee zu uns. Ich war gerade bei der Bäckerei im Greenwich Village und heute gab es Schokoladencroissants. Wer könnte da widerstehen?“
„Ich wollte gerade zu euch“, sagte ich. „Ich bin dabei, alles einzupacken, und wollte dir dein Kleid zurückgeben. Es kam übrigens sehr gut an; genau das Richtige für den Anlass.“
„Ach, du meine Güte, behalt es, meine Liebe“, sagte Gus. „Es erinnert mich nur an entsetzliche Trauermonate. Und falls ich wieder einmal Trauerfarben tragen muss, werde ich in Schwarz bestimmt umwerfend aussehen.“ Sie grinste. „Na ja, nicht so umwerfend wie Sid, natürlich. Schwarz ist einfach ihre Farbe.“ Während sie diesen Satz beendete, hob sie Liam hoch und steuerte auf die andere Straßenseite zu. Bald saßen wir in der Küche und tunkten Schokolandencroissants in Kaffee. Einfach himmlisch.
Zwischen den Bissen erzählte ich von den Ereignissen des vergangenen Abends – vom überwältigenden Big Bill und seiner stillen, zurückhaltenden Frau, sowie von dem Zwischenfall mit der Frau, die ihn mit ihrem Straußenfederfächer gekitzelt und ihn einen bösen Jungen genannt hatte.
„Big Bill hat also etwas für solche Damen übrig, ja?“, fragte Gus. „Das kam bei der religiösen Mrs. M. bestimmt nicht gut an.“
„Wenn Blicke töten könnten, wäre diese Frau keine drei Schritte weit gekommen“, sagte ich.
„Glaubst du, sie ist seine Mätresse?“ Gus drehte sich zu Sid.
Sid zuckte mit den Schultern. „Wer weiß. Solche Männer haben oft eine Affäre, nicht wahr? Macht zieht gewisse Frauen an. Aber man sollte meinen, er hätte die Beziehung aufgegeben, wenn er für ein Amt kandidiert. Die Zeitungen haben ihre wahre Freude mit solchen Dingen, und Politiker bauen ihren Wahlkampf gerne auf Gott, Heimat und Familie auf.“
„Ihren Worten nach schien er sie schon länger nicht mehr getroffen zu haben, das könnte also stimmen“, sagte ich.
„Aber die große Frage ist: Mochtest du ihn? Denn Daniel wird von jetzt an eng mit ihm verbunden sein.“
Ich hielt inne. „Er ist recht sympathisch. Sehr charmant. Ein wenig zu kokett. Aber vertrauen würde ich ihm nicht, und ich bin nicht begeistert davon, dass Daniel mit ihm zusammenarbeiten wird.“
„Interessant“, sagte Sid. „Ich würde sagen, du hast ein gutes Gespür für den Charakter eines Menschen, Molly. Hoffen wir, dass Daniel eine Distanz wahren kann.“
Ich nickte, aß mein Croissant auf und ging meinen Sohn holen. „Ich sollte zurückgehen. Ich muss für den Umzug am Donnerstag noch so viel packen. Ich wollte euch fragen, ob es euch etwas ausmacht, wenn wir Bridies Bücher mitnehmen. Sie scheint mittlerweile eine kleine Bibliothek aus Bänden zu haben, die ihr ihr geliehen habt.“
„Natürlich“, sagte Gus. „Sie wird ihre Bücher brauchen.“
„Dann ist es also schon Zeit zu packen?“, fragte Sid.
Ich nickte. „Ich weiß gar nicht, wie viel ich mitnehmen soll. Kann ich unsere Sommerkleidung zurücklassen, wenn wir nur für höchstens sechs Monate dort leben? Und was ist mit der Küche? Ich weiß, dass wir eine Köchin haben werden, aber soll ich Mehl, Zucker und Waschseife mitnehmen? Ich will nicht wie ärmliche Verwandtschaft wirken, wenn ich mit leeren Händen dort ankomme.“
„Ich würde sagen: Wenn es eine Köchin gibt, dann auch eine vollständig ausgerüstete Küche“, sagte Gus. „Und wenn die Köchin Mehl braucht, wird sie es kaufen gehen.“
Ich kaute nervös auf meiner Lippe herum. „Das ist noch so eine Sache“, sagte ich. „Ich weiß wirklich nicht, wie das funktionieren soll. Ich weiß, dass der Lohn der Bediensteten von unserem Gönner bezahlt wird, aber sollte ich der Köchin ein wöchentliches Budget für die Mahlzeiten geben? Was, wenn sie es gewohnt ist, ständig gehobene Küche und Wein zu servieren? Ich habe keinerlei Erfahrung mit solchen Dingen.“
„Ich würde ihr die Summe geben, die du üblicherweise ausgibst, und dann wird sie die Mahlzeiten damit planen müssen.“
„Ich will nicht, dass sie auf uns herabsieht“, sagte ich. „Aber ich habe keine Ahnung, wo im Augenblick das Geld herkommt. Daniel hat sich von seiner Stelle bei der Polizei zurückgezogen, ist aber noch nicht gewählt. Wie sollen wir so leben? Ich habe Daniel schon gefragt und er meinte nur, ich solle mir keine Sorgen machen.“
„Dann tu genau das“, sagte Sid. „Wenn die ganze Sache von Tammany finanziert wird, dann ist reichlich Geld vorhanden.“
„Hast du schon entschieden, was aus deinem Haus wird, während du fort bist?“, fragte Gus.
Ich schüttelte den Kopf. „Daniel meinte, seine Mutter würde vielleicht in den kältesten Wintermonaten dort einziehen wollen. Sie ist draußen in Westchester County ziemlich abgeschnitten.“
„Gute Idee“, sagte Gus. „Es ist besser, jemanden im Haus zu haben, damit man keine Kriminellen anlockt.“
„Aber für die Zwischenzeit hätten wir einen Vorschlag“, schaltete Sid sich ein. „Ryan hat einen neuen Freund, der in die Stadt kommt. Er wollte ihn in einem Hotel in der Nähe einquartieren, aber wenn du ihm dein Haus überlässt, würde er Miete zahlen und es für dich unterhalten.“
„Ein neuer Freund?“, fragte ich und hob eine Augenbraue, was Sid zum Lachen brachte. Ich wusste, wie die Freunde unseres extravaganten Stückeschreibers Ryan O’Hare waren: männlich und überaus künstlerisch.
„Du kennst Ryan! Er hat ständig neue Freunde. Aber wie ich hörte, ist dieser etwas Besonderes.“
„Sind sie das nicht alle?“, fragte ich, was sie erneut kichern ließ.
„Hör dir das an. Er ist ein russischer Balletttänzer. Nikolai Noblikov. Er ist hier, weil er im Metropolitan Opera House auftritt, am Broadway Ecke 39th. Wir haben ihn neulich Abend gesehen. Er ist beeindruckend – bei seinen flüssigen Bewegungen glaubt man, er hätte keine Knochen im Körper. Und als er am Ende der Aufführung an einem gebrochenen Herzen starb, blieb im ganzen Haus kein Auge trocken.“
„Er sucht doch bestimmt eine prächtigere Unterkunft als mein Haus“, sagte ich.
„Oh, nein. Es ist genau das, was er möchte“, fuhr Sid fort. „Ryan wollte ihn in einem Hotel einquartieren, doch er befürchtet, von Bewunderern belagert zu werden, wann immer er sein Zimmer verlässt.“
„Du liebe Güte“, sagte ich. „Er ist also richtig berühmt, ja? Ich habe noch nie von ihm gehört, aber ich war auch noch nie im Ballett.“
„Ryan sagt, er ist ein großes Ding in Russland“, sagte Gus. Aus irgendeinem Grund fand Sid das sehr witzig und sie prustete in ihren Kaffee.
„Wie auch immer. Wir glauben, er wäre der perfekte Mieter“, sagte Gus. „Er würde kein Chaos veranstalten und das Haus ohnehin nur zum Schlafen benutzen. Er kann zum Kaffeetrinken zu uns herüberkommen und wird sicher jeden Abend außer Haus essen.“
„Ich werde mit Daniel darüber sprechen“, sagte ich zögerlich, während ich daran dachte, wie er üblicherweise auf Ryan reagierte. „Es könnte mit seinem Wunsch in Konflikt stehen, im Winter seine Mutter in die Stadt zu holen.“
„Mein Gott, Molly“, rief Sid. „Du willst doch gewiss nicht, dass seine Mutter in deinem Haus wohnt, oder? Du weißt, was dann passieren wird. Sie wird jeden Tag zu euch in die 5th Avenue kommen, Daniels gesellschaftliches Leben für ihn organisieren, in der Tatsache schwelgen, dass er in die Politik geht und bei jeder Gelegenheit deine Unzulänglichkeit kommentieren.“
Das war alles sehr wahr. Daniels Mutter hatte sich gewünscht, dass Daniel in die Politik geht, seit ich sie kennengelernt hatte. Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis sie auftauchte und ein Teil von Daniels neuem, politischen Leben sein wollte. „Dann wäre ein Mieter im Haus wohl die perfekte Lösung“, sagte ich. „Ich werde heute Abend mit Daniel sprechen, und ihr könntet vielleicht mit Ryan reden.“
„Natürlich“, sagte Gus. „Er wird heute Nachmittag im Theater sein. Es gibt eine Matinee. Wie man hört, ist das Stück ein großer Erfolg. Es könnte noch monatelang laufen und dann auf Tour gehen. Ryan hat endlich auf beiden Kontinenten Erfolg.“
„Dann wird er jetzt unaufhaltbar sein“, merkte Sid trocken an. „Er hielt sich schon immer für Gottes Geschenk an die Welt. Jetzt wird er sich einfach selbst für Gott halten.“
Mit diesen weisen Worten verabschiedete ich mich mit Liam, um wieder packen zu gehen.
Auch wenn es nur um unsere Kleidung ging, hielt mich diese Aufgabe den ganzen Tag beschäftigt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es sein musste, auch noch mit Möbeln umzuziehen. Ich war gerade fertig geworden, als zwei große Kerle auftauchten, um unsere letzten Koffer ins neue Haus zu bringen. Sie sahen aus, als könnten sie Tammany-Schläger sein.
In dieser Nacht hatten wir es, glaube ich, alle schwer, Schlaf zu finden. Ich auf jeden Fall. Meine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen und Liam kletterte immer wieder aus seinem Bett. Ich brachte es nicht übers Herz, streng zu ihm zu sein, wo ich doch selbst so neben mir stand. Schließlich nahm ich ihn mit in unser Bett, legte in zwischen Daniel und mich und wir alle dämmerten in den Schlaf hinüber.
Acht
Donnerstag, 10. Oktober
Am Donnerstagmorgen frühstückten wir schweigend in einem Haus, dass sich jetzt sehr leer anfühlte. Liam spürte immer noch die Ungewissheit und meine Anspannung und wurde dadurch sehr anhänglich und weinerlich. Daher musste er stets von mir oder Bridie unterhalten werden, was uns ausbremste. Ich hatte Bridie nicht in die Schule geschickt, damit sie mir mit Liam helfen konnte. Sie war mit dem Umzug offensichtlich auch nicht glücklich.
„Es wird wohl gut sein“, sagte sie mit schwacher Stimme. „Vielleicht reden die anderen Mädchen in der Schule sogar mit mir, wenn sie erfahren, dass ich in der 5th Avenue wohne.“
„Und du wirst ein schönes, großes Zimmer nur für dich haben, samt Frisiertisch und Spiegel“, sagte ich.
„Aber es ist so schön, jeden Nachmittag die Damen zu besuchen, wenn ich nach Hause komme, und ihnen von meinem Tag zu erzählen“, sagte sie.
„Das kannst du immer noch tun. Der Weg ist nicht weit. Und außerdem sind die beiden gerne auf Reisen. Ehe wir es uns versehen, werden sie in Marokko oder sonst wo sein. Sie sprechen schon eine Weile davon.“
Bridie nickte. Sie hatte schon gelernt, dass unsere geschätzten Freundinnen nicht immer zuverlässig und gelegentlich anfällig für Launen waren. Daniel wirkte ebenfalls angespannt, als er mit einer weiteren schweren Kiste die Treppe herunterkam. „Ich weiß nicht, ob wir Liams Decken mitnehmen müssen“, sagte er. „Das Kinderzimmer ist bestimmt gut ausgestattet.“
„Aber er braucht seine eigenen Decken zum Einschlafen“, sagte ich. „Er sollte wenigstens seine eigenen Sachen haben, um sich sicher zu fühlen. Und ich auch, wenn wir schon dabei sind.“
Daniel schaute mich an, als würde er mich zum ersten Mal sehen. „Tut mir leid. Dieser Umzug verlangt dir einiges ab, nicht wahr? Keine Sorge. Es ist nicht für immer.“
Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Was, wenn du zum Sheriff gewählt wirst, und dann zum stellvertretenden Bürgermeister, oder zum Senator, in den Kongress … ich weiß, wie diese Dinge laufen.“
„Ich verspreche dir, dass sie für uns nicht so laufen werden“, sagte er. „Ich strebe nicht nach Macht, im Gegensatz zu unserem werten Gönner.“ Er trug die Kiste an mir vorbei und stellte sie draußen auf der Straße ab.
Ein Pferdefuhrwerk traf ein und unser Besitz wurde von denselben Schlägern wie zuvor zügig aufgeladen. Als mich einer der beiden mit dem tiefsten, irischen Akzent begrüßte, wurde mein Verdacht über ihre Identität bestätigt. Das Fuhrwerk setzte unter Schwierigkeiten zurück, da der Patchin Place so schmal war, dass Pferde hier nicht wenden konnten. Nachdem der Karren abgefahren war, lief ich durchs Haus und betrachtete Liebevoll meine kleine Küche, den groben Kiefernholztisch und den Herd, der so angenehme Wärme spendete. Wir hatten hier eine glückliche Zeit verbracht. Ob ich jemals wieder an diesem Tisch sitzen würde?
„Sollten wir uns nicht auf den Weg machen?“, fragte ich Daniel. „Es hat keinen Zweck, noch länger hier zu warten und uns selbst schlechte Laune zu machen.“
„Wir müssen auf Finn warten“, sagte Daniel. „Er soll uns zum neuen Haus eskortieren.“
„Beim Heiligen Michael und seinen Engeln“, rief ich. „Soll dieser verdammte Finn über unser Leben bestimmen?“
„Magst du ihn nicht? Er kam mir recht umgänglich vor“, sagte Daniel.
„Er mag umgänglich sein, aber es gibt so etwas wie zu viel Nähe. Soll er uns überall hinbegleiten? Sollen wir uns vielleicht ein größeres Bett zulegen, falls er auch das mit uns teilen möchte?“
Daniel lächelte peinlich berührt. „So arbeitet Tammany eben, Molly. Jetzt da die ganze Welt weiß, dass ich der Tammany-Kandidat bin, könnten mir einige Unannehmlichkeiten bevorstehen. Es ist nur ein überzogenes Maß an Vorsicht, wenn du mich fragst. Aber Finn hat die Aufgabe bekommen, das Haus für uns vorzubereiten, also nehme ich an, dass er uns persönlich herumführen will.“
Es gab nichts, was ich hätte sagen können, ohne flegelhaft zu klingen, doch mir ging langsam auf, dass wir nicht mehr selbst über unser Leben würden bestimmen können.
„Ich werde mit Liam und Bridie über die Straße gehen, damit wir uns von unseren Freundinnen verabschieden können“, sagte ich.
„Das klingt ja so, als würden wir mit Planwagen gen Westen reisen“, sagte Daniel. „Es sind fünf Minuten zu Fuß, Molly.“
„Ich weiß“, sagte ich. „Aber ich muss ihnen den Ersatzschlüssel geben, für den Fall, dass sich der russische Balletttänzer das Haus ansehen möchte.“
„Hoffen wir, dass dieser Russe das Haus nicht mit Flüchtlingen oder Künstlern füllt“, sagte Daniel. Ich hatte es geschafft, ihn davon zu überzeugen, dass es fürs Erste gut wäre, jemanden im Haus wohnen zu lassen. Seine Mutter würde vor Weihnachten höchstens zu einem kurzen Besuch vorbeikommen. Trotz seiner Abneigung gegenüber Ryan und den Seinen stimmte er zu, dass ein einzelner Balletttänzer ein optimaler Mieter wäre – da er jeden Abend im Theater sein und tagsüber schlafen würde.
Wir verabschiedeten uns herzlich von Sid und Gus. Bridie weinte. Ich glaube, ich habe auch ein paar Tränen vergossen. Da Liam nicht außen vor bleiben wollte, weinte er auch. Als Daniel kam, um uns zu berichten, dass Finn eingetroffen sei, blickte er mit Entsetzen in einen Raum voller Heulender Frauen.
„Ich könnte es ja verstehen, wenn wir alle in Irland wären und uns aufs Schiff in die Neue Welt verabschiedeten“, sagte er.
„Es geht nicht um die Entfernung“, sagte Gus, „sondern um die Tatsache, dass Molly ihr Leben nicht mehr selbst bestimmt. Vielleicht wird sie keine Zeit mehr für uns haben.“
„Doch, natürlich. Man wird nicht von ihr verlangen, Wahlkampf zu betreiben. Vielleicht muss sie ein paar Gäste unterhalten, aber alles in allem hält man Frauen besser aus der Politik heraus.“
Sid schaute mit einer erhobenen Augenbraue zu mir. „Warte nur ab, bis wir das Wahlrecht haben“, sagte sie.
Finn wartete geduldig in der Gasse. Daniel setzte den protestierenden Liam in seinen Kinderwagen und wir machten uns auf den Weg. Ich versuchte, nicht zurückzuschauen, als wir die Straßenecke erreichten und auf die 6th Avenue einbogen.
„Ich glaube, Sie werden mit den Vorbereitungen zufrieden sein, Mrs. Sullivan“, sagte Finn, als wir zur 5th Avenue hinüberwechselten und uns dem Haus näherten. „Mary ist schon seit einer Weile da und kam mit guten Empfehlungen. Aileen ist neu dabei und noch nicht ausgebildet, aber sehr lernwillig, und ich habe eine Köchin für Sie eingestellt, damit Sie keinerlei Pflichten im Haushalt haben.“
Ich wollte nicht fragen, was ich den ganzen Tag lang tun sollte. Vermutlich sticken!
„Wie findest du es, Bridie?“, fragte ich.
Sie starrte an der Fassade hinauf und ich konnte nicht sagen, ob ihr Blick Bewunderung oder Entsetzen zeigte. „Es sieht groß aus“, sagte sie.
Daniel holte Liam aus dem Wagen und reichte ihn mir, während er den Wagen mit Finns Hilfe die Stufen hinauftrug. Finn öffnete die Haustür und machte dann einen Schritt zur Seite, um uns zuerst eintreten zu lassen. Mary, Aileen und eine dicke Frau mit einem beeindruckend großen Knoten aus grauem Haar standen in einer Reihe, wie Soldaten, die auf eine Inspektion warteten. Ich hatte solche Szenen erlebt, in Irland, bei Besuchen im Haus des Grundbesitzers, doch beim Gedanken, dass ich selbst eine Reihe von Bediensteten zu inspizieren hatte, wollte ich lachen. Es kam mir so absurd vor.
„Dies sind Ihre Bediensteten, Mrs. Sullivan“, sagte Finn. „Ich glaube, Mary und Aileen haben Sie bereits kennengelernt.“
Mary knickste. „Willkommen, Ma’am“, sagte sie.
Aileen knickste etwas ungeübt und zeigte mir ein schüchternes Lächeln, das ich liebenswert fand. Die Frau am Ende der Reihe knickste weder, noch lächelte sie.
„Und das ist Ihre Köchin“, sagte Finn. „Constanza. Ich fürchte, ihr Englisch ist noch nicht so gut, aber sie wird schnell lernen.“
Die Köchin streckte mir ihre Hand entgegen. „Bongiorno, Signora“, sagte sie. Doch sie lächelte immer noch nicht.
„Constanzas Ehemann ist bei einem Unfall an den Docks umgekommen“, sagte Finn. „Wir versuchen, für die Unseren zu sorgen.“
„Mein Beileid“, sagte ich zu ihr. Sie nickte.
„Das ist unser Mündel, Bridie.“ Ich nahm sie an der Hand. Sie hielt sich schüchtern im Hintergrund. „Und unseren Sohn Liam haben Sie bereits kennengelernt. Aber wenn sie mich jetzt entschuldigen würden; ich sollte auspacken.“
„Das ist bereits erledigt, Ma’am“, sagte Mary. „Es liegt alles an seinem Platz.“
Ich schien also kein Mitspracherecht mehr zu haben, wenn es darum ging, wo meine eigene Habe verstaut wurde. Ich fühlte mich langsam wie eine Gefangene in einem sehr noblen Gefängnis. Doch das wollte ich die Bediensteten nicht wissen lassen. „Dann werde ich mal alles inspizieren“, sagte ich. „Und mich ein wenig mit dem Haus vertraut machen. Aileen kann Liam in sein Kinderzimmer bringen, damit er sich richtig eingewöhnen kann.“
„Sehr wohl, Mrs. Sullivan“, sagte Aileen. Sie hob Liam hoch. „Komm, kleiner Mann. Gehen wir das Schaukelpferd suchen.“
„Pferdchen?“ Liam ließ sich mitnehmen, ohne auch nur einmal zurückzuschauen.
Bridie trat zögerlich einen Schritt vor, als könnte man von ihr erwarten, auch ins Kinderzimmer zu gehen.
„Komm dir mit mir die Zimmer anschauen, Liebes“, sagte ich. „Dir werden bestimmt wichtige Dinge auffallen, die wir ändern könnten.“
Sie lächelte mich dankbar an.
„Dann überlass ich euch eurer Inspektion“, sagte Daniel. „Finn und ich haben um zwölf eine Besprechung. Ich werde zum Mittagessen also nicht zu Hause sein.“
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern nickte Finn zu und sie machten sich auf den Weg. Mary schaute mich an – ich konnte nicht sagen, ob es ein freundliches Lächeln war, oder ein Grinsen, weil ich ihr nun ausgeliefert war. Ich entschied, dass ich mir nur etwas einbildete, und betrat das vordere Wohnzimmer. Wie ich schon zuvor gesehen hatte, handelte es sich um einen reich dekorierten Raum – eher einen Salon, der für bedeutenden Besuch vorgesehen ist, nicht für die Familie. Es war ganz gewiss kein Zimmer, in dem ich mich je wohlfühlen würde. Mir fiel auf, dass kein Feuer im Kamin brannte.
„Ist dieser Raum nur für Besuch bestimmt, Mary? Wird hier sonst kein Feuer entfacht?“, fragte ich.
„Oh, aber Ma’am, ich habe Ihnen doch von der Dampfwärme erzählt, erinnern Sie sich? Sie werden in jedem Raum Heizkörper vorfinden. Ich werde nur dann Feuer machen, wenn Sie darum bitten.“
„Ich mag es, abends ein Feuer zu haben“, sagte ich. „Dann wirkt der Raum gleich viel freundlicher, meinen Sie nicht?“
„Dann sollten sie dafür wohl das hintere Wohnzimmer wählen. Das ist eher für die Familie bestimmt“, sagte sie und führte mich durch den Flur in das Zimmer, das sie uns bereits zuvor gezeigt hatte. Dieser Raum wirkte in der Tat etwas wohnlicher, auch wenn es mehr Kleinkram und Stoffbehänge gab, als mir lieb war. „Dieser ausgestopfte Vogel wird irgendwo anders einen Platz finden müssen“, sagte ich, und deutete auf das Tier unter einer Glaskuppel auf einem Beistelltisch. „Liam würde ihn binnen weniger Minuten hinunterwerfen.“
„Sehr wohl, Ma’am“, sagte sie.
„Was befindet sich noch hier auf diesem Stockwerk? Das Esszimmer ist gleich gegenüber, oder?“
Sie antwortete nicht, öffnete aber die Tür zu einem Raum mit einem langen Mahagonitisch und acht Stühlen. Aus dem Fenster blickte man in einen kleinen, quadratischen Garten hinter dem Haus. Immerhin hatte Liam dort einen sicheren Platz zum Spielen. Die ganze Situation fühlte sich für mich schrecklich förmlich an und ich sah ein Bild von mir als Gastgeberin einer Dinnerparty an dem langen Tisch. Du liebe Güte! Woher in aller Welt sollte ich wissen, was dabei zu tun ist, wo ich doch noch nie in meinem Leben eine solche Party veranstaltet hatte?
„Und wo ist die Küche?“, fragte ich, während ich eilig den bedrückenden Raum verließ.
„Unten, Ma’am. Im Keller. Sie müssen nicht dort hinuntergehen. Wenn sie mit der Köchin sprechen wollen, können Sie mir auftragen, sie zu holen. Das Essen kommt in dem kleinen Speiseaufzug nach oben. Vielleicht ist Ihnen das kleine Schränkchen an der Wand aufgefallen.“
Himmel, was kam als Nächstes? Ich versuchte, mich zu geben, als wäre ich schon seit meiner Kindheit an Speiseaufzüge gewöhnt.
„Dann sind das alle Räume in diesem Stockwerk?“
„Nein, Ma’am. Auf der anderen Seite des Flurs ist noch die Bibliothek.“ Sie öffnete mir die Tür und ich trat in einen Raum, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit Büchern ausgekleidet waren. Ich hatte noch nie im Leben so viele Bücher an einem Ort gesehen; nicht einmal bei Sid und Gus. Bridie wird hier ihre wahre Freude haben, dachte ich. Noch als dieser Gedanke durch meinen Verstand wanderte, betrat Bridie hinter mir das Zimmer und keuchte leise.
„Oh, schau dir nur all diese Bücher an. Darf ich die alle lesen?“
„Jedes einzelne“, sagte ich und lächelte sie freudig an.
„Wenn ich das den Mädchen in der Schule erzähle“, sagte Bridie. „Jetzt habe ich eine echte Bibliothek zu Hause. Genauso wie Julia und die hochnäsige Blanche.“
„Komm mit nach oben und schau dir die Schlafzimmer an. Du kannst dir eins aussuchen.“ Ich legte ihr einen Arm um die Schultern, wobei mir auffiel, dass sie mittlerweile beinahe so groß war wie ich. Wir gingen die Treppe hinauf.
„Ich habe die Sachen der jungen Dame ins hintere Schlafzimmer gebracht“, sagte Mary, die uns folgte. „Ich dachte, dort gibt es weniger Ablenkung, weil nicht so viele Geräusche von der Straße zu hören sind.“
Verärgerung stieg in mir auf, doch als ich das Zimmer sah, konnte ich wirklich keine Einwände einlegen. Es war ein hübsches Zimmer mit einem kleinen Schreibtisch am Fenster, mit Blick in den Garten. Auf der einen Seite stand sogar ein Baum, der gewiss hübsch aussehen würde, sobald er wieder Blätter trug. Doch ich wollte mir von Mary nichts vorschreiben lassen.
„Was meinst du, Bridie?“, fragte ich. „Ist das ein Zimmer, in dem du glücklich werden kannst?“
„Oh, es ist toll“, sagte sie. „Schön ruhig für die Hausaufgaben.“ Sie drehte sich mit einem dankbaren Lächeln zu Mary um. „Vielen Dank, dass Sie es für mich vorbereitet haben.“
„Sehr gern, Miss Bridie“, sagte Mary mit einem anerkennenden Nicken.
„Und Liam?“, fragte ich. „Wo ist sein Schlafzimmer?“
„Das Kinderzimmer ist im obersten Stockwerk, Ma’am. Er wird dort schlafen.“
Das gefiel mir gar nicht. „Oh, ich weiß nicht, ob ich möchte, dass er so weit weg schläft“, sagte ich. „Er klettert gerne aus dem Bett, und wer weiß, was ihm zustoßen kann, wenn ich ihn dann nicht höre.“
Marys Gesichtsausdruck blieb ungerührt. „Keine Sorge, Ma’am. Aileen schläft im Zimmer neben ihm. Ich habe ihr gesagt, dass sie neben ihrer Arbeit im Haus als sein Kindermädchen fungieren wird, und sie freut sich sehr auf diese Aufgabe. Anscheinend vermisst sie ihre jüngeren Geschwister.“
Wie es schien, war für alles gesorgt. Ich hätte mich freuen sollen, warum tat ich es nicht? Ich ging in das Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, das unser Schlafzimmer sein würde. Meine Toilettensachen und Haarbürsten waren auf dem Schminktisch im Ankleidezimmer angeordnet worden. Auf dem Bett lag sogar ein Nachthemd für mich bereit. Heilige Mutter Gottes! So war es also, richtige Bedienstete zu haben. Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob mir das gefiel.
„Ist alles nach Ihrem Geschmack, Mrs. Sullivan?“, fragte Mary.
„Ja, vielen Dank, Mary. Sie müssen hart gearbeitet haben“, bekam ich heraus.
„Ich finde, es ist ein hübsches Zimmer. Genau wie die Zimmer der Mädchen an meiner Schule“, sagte Bridie, während sie die Rüschen am Bett und die Vorhänge an den Fenstern begutachtete. Ich konnte nicht einfach sagen, dass mir solcher Schnickschnack gar nicht gefiel und das alles verschwinden würde, sobald ich mich hier wohlfühlte. Immerhin war Bridie zufrieden.
„Wir sollten Liam sein Mittagessen geben, sonst wird er unleidlich“, sagte ich.
„Aileen wird sich darum kümmern“, sagte Mary. Sie streckte eine Hand aus und berührte mich beinahe. „Sie müssen sich wirklich keine Gedanken machen, Ma’am. Wir sind alle sehr fähig. Wir werden dafür sorgen, dass Ihr Leben hier reibungslos abläuft. Das ist unsere Aufgabe.“
„Es tut mir leid“, sagte ich. „Sie müssen verstehen, dass mir ein solcher Lebensstil fremd ist. Ich habe noch nie in einem so großen Haus gelebt oder eigene Bedienstete gehabt.“
„Das ist schon in Ordnung, Ma’am. Das gilt für viele Menschen in New York, nicht wahr? Sie kommen mit nichts aus Europa herüber und werden dann erfolgreich. Ich finde es wundervoll. Wir können alle von so etwas träumen, nicht wahr?“
„Sind Sie schon lange hier, Mary?“, fragte ich. Wegen der Verbindung zu Tammany nahm ich an, dass sie Irin war, doch sie klang amerikanisch. „Haben Sie schon für die ursprüngliche Familie hier gearbeitet?“
„Nein, Ma’am. Ich kam vor einem Jahr her, als der letzte Gentleman einzog. Der Mann, der für das Amt hätte antreten sollen, um das sich jetzt Ihr Ehemann bewirbt. Er war ein wirklich netter Mensch. Hat mir nie Ärger gemacht.“
„Was ist aus ihm geworden?“, fragte Bridie. „Ist er tot?“
„Oh, nein, Miss. Dieser Teufel Hearst hat etwas Schmutziges über ihn ausgegraben und er musste eilig die Stadt verlassen. Jetzt muss er die Sache an irgendeinem heidnischen Ort wie Vermont oder Maine aussitzen, bis sich der Skandal gelegt hat.“
Ich erschauderte. Versuchte Hearst in diesem Moment, etwas über Daniel herauszufinden, oder schlimmer noch, über mich?