Kapitel 1
Paris, 23. September 1900
„Also so lässt es sich doch leben.“ Die Gastgeberin unseres kleinen Picknicks, Patricia Kendrick, hob ihr Weinglas, als wolle sie allen im Park zuprosten. „Was für ein herrlicher Tag, um die Natur zu genießen!“
„Wie wahr. Kaum zu glauben, dass wir uns noch in Paris befinden“, gab ich zurück. Wir hatten uns für das Picknick einen Platz auf der weitläufigen Wiese am Lac Inférieur, dem unteren See, im Bois de Boulogne, einem der größten Parks von Paris, gesucht. Ich saß vom Tisch leicht abgewandt, so konnte ich die Ruderer auf dem Wasser beobachten, die sich ihren Weg zu den zwei kleinen Inseln auf der Mitte des Sees bahnten. Jetzt wo ich darüber nachdachte, fiel mir auf, dass die Inseln wohl von Menschen erschaffen worden waren. Wenn ich mich nicht irrte, galt das auch für die Seen. Lac Inférieur und Lac Supérieur, sowie die charmanten kleineren Gewässer waren im letzten Jahrhundert gestaltet worden und das Wasser entsprang einer künstlich erschaffenen Quelle am südlichen Ende des Parks.
Natürlichkeit hin oder her, gegen die Schönheit des prächtigen Parks konnte niemand etwas sagen.
Das Wetter war überraschend warm für Ende September und so kam die Idee, ein Picknick zu machen, zustande. Meine Schwester hatte von einem improvisierten Picknick gesprochen, dabei lag auf dem Tisch eine weiße Tischdecke, es gab Porzellangeschirr, Silberbesteck und Kristallglas. Zwei Diener brachten Körbe mit süßen und herzhaften Köstlichkeiten aus der Kutsche, die hinter der Hecke stand. Es war zu viel Essen für uns vier, meine Schwester Lily, ihre Schwiegermutter Patricia und deren Tochter Anne. Natürlich war auch Lilys vier Monate alte Tochter Amelia dabei, die sich damit begnügte, an den eigenen Fingern zu lutschen.
„Seit wann seid ihr aus Deauville zurück, Frances?“
Ich drehte mich zu Patricia um. Sie war Mitte vierzig, hatte dunkelbraune Augen und goldbraunes Haar. Sie trug einen Mittelscheitel und ihre Haare waren zu einer komplizierten Frisur gesteckt.
„Gestern erst“, antwortete ich. Mein Ehemann und ich hatten die letzten drei Wochen unsere Flitterwochen nachgeholt, wenn man es so wollte. Wir waren vor etwa einem Monat wegen seinem jungen Mündel und deren Halbschwester nach Frankreich gekommen. Es gab einige Angelegenheiten bezüglich des Nachlasses ihres Vaters zu klären, wozu auch eine Villa im Küstenort Deauville gehörte, die jedoch keines der Mädchen behalten oder auch nur besichtigen wollte.
Die Schwestern hatten sich geweigert, uns zu begleiten, und so waren George und ich allein nach Deauville gereist. Nachdem die Angelegenheiten dort geklärt waren – wir hatten uns entschieden, die Villa selbst zu kaufen – konnten wir endlich unsere Flitterwochen genießen. Nur wir beide. Zu zweit. Ich schwelgte in der Erinnerung daran. „Es war großartig“, erzählte ich Patricia, die verständnisvoll nickte.
„Wenn man das Haus erstmal voller junger Leute hat, ist es nahezu unmöglich, Zeit für sich zu finden“, gab sie zurück. „Und Deauville ist ein so hübscher Ort – dort kann man nichts tun außer entspannen.“
Wir hatten tatsächlich eine Menge zu tun gehabt und nicht alles davon war entspannend gewesen, manches sogar ziemlich beängstigend, doch das verschwieg ich Patricia lieber. „Es war ein wunderbarer Urlaub, aber ich kann es kaum erwarten zu Rose nach Hause zu kommen.“ Rose war meine neunjährige Tochter.
„Das verstehe ich gut“, sagte Patricia. „So sehr ich die Arbeit für die Kommission der Weltausstellung genossen habe, sehne ich mir das Ende herbei, damit ich zurück zu meiner Familie kann.“
Patricia unterstützte die britische Kommission der Pariser Weltausstellung, die seit April stattfand und noch bis November ging. Selbstverständlich freute sie sich auf Zeit mit ihrem Ehemann. Er war in England geblieben, um sich um geschäftliche Unterfangen zu kümmern, und Patricia hatte in Paris eine Wohnung gemietet. Bis auf den einen Monat im Sommer, den George und ich ihre Wohnung genutzt hatten, waren ihr Ehemann und sie getrennt gewesen.
„Vater und du solltet selbst eine solche Reise planen, wie Frances und George das gemacht haben“, schlug Anne vor. Lily und sie saßen uns gegenüber und spielten mit der kleinen Amelia, der die Umgebung weniger gefiel.
„Wenn ihr erst im November verreist, dann würde ich etwas Südlicheres und Wärmeres als Deauville empfehlen“, meinte ich. „Wie schön, dass dich bis dahin Anne besucht.“
„Das stimmt natürlich. Ich hätte nur gern mehr Zeit für sie.“ Patricia legte den Kopf schief und musterte mich. „Hast du während eures Urlaubs Golf gespielt?“
„Ich weiß nicht, ob man es so nennen kann. Aber ich lerne es und versuche mich zu verbessern“, antwortete ich. Um ehrlich zu sein, war ich fürchterlich darin, was mich gleichermaßen verärgerte und überraschte. In körperlichen Betätigungen war ich sonst immer gut.
Patricia ließ mich kaum aussprechen und deutete schon auf Anne. „Hast du das gehört? Frances spielt auch Golf. Ihr zwei müsst zusammen golfen gehen.“
Anne sah grinsend auf. Sie sah wie eine jüngere Version ihrer Mutter aus, wobei Patricias Frisur sie strenger aussehen ließ, während Annes sanftere Züge von welligem braunem Haar umspielt wurden. Sie hatte die kleine Amelia auf dem Schoß und versuchte, die nassen Finger abzuwehren, die das Baby gerade noch im Mund hatte, und nun an Annes Gesicht abwischen wollte. „Nicht doch, meine Kleine“, meinte Anne und schob die kleine Hand von sich. Dann sah sie mich an. „Ja, ich habe davon gehört. Ich würde gern mit dir üben, Frances, wenn du Zeit hast. Hat Mutter erwähnt, dass ich wegen des großen Turniers hier bin, das nächste Woche stattfindet?“
Lily nahm das Baby und ich reichte Anne eine Serviette, mit der sie ihre Wange abwischen konnte. „Ich wusste nicht einmal, dass ein großes Turnier ansteht.“
Anne seufzte. „Das überrascht mich kaum. Das Turnier ist Teil der Olympischen Spiele.“ Sie musterte mich. „Hast du davon gehört, dass die zweiten Olympischen Spiele hier in Paris stattfinden?“
„Nein, das ist mir neu. Die einzigen Veranstaltungen, von denen ich diesen Sommer gehört habe, hatten mit der Weltausstellung zu tun. Hat das Turnier schon begonnen?“
Sie lachte leise und sah zu ihrer Mutter, die den Kopf schüttelte. „Ich wusste auch nichts von dem Turnier“, erklärte Patricia. „Anscheinend findet es den ganzen Sommer schon direkt vor unserer Nase statt.“
„Die Wettkämpfe ziehen sich durch die ganze Stadt“, berichtete Anne. „Im Tuilerien-Garten fand das Fechten statt, Krocket und Polo gleich hier im Bois de Boulogne und auf der Seine schwimmen und rudern sie.“
Ich hätte fast laut gelacht, merkte aber gerade noch, dass es ihr Ernst war. „Menschen schwimmen in der Seine? George und ich sind zwischen London und Paris hin- und hergereist, daran muss unser Unwissen wohl liegen. Wie schade, dass wir das verpasst haben.“
„Ich glaube nicht, dass es an eurer Abwesenheit lag. Hast du etwas von den Olympischen Spielen gehört, Lily?“
Meine Schwester hatte sich mit der quengeligen Amelia auf dem Arm einige Schritte vom Tisch entfernt. Sie schüttelte den Kopf. „Ich bekomme in letzter Zeit kaum etwas mit.“
„Die Wettkämpfe werden nicht so sehr beworben wie die Weltausstellung“, meinte Anne. „Deshalb sind auch die meisten Teilnehmer Franzosen und manchen von ihnen war nicht einmal bewusst, dass sie an den Olympischen Spielen teilnehmen. Sie dachten, es sei einfach irgendein Turnier.“
„Gütiger Himmel“, entfuhr es mir. „Bedeutet das, dass du für England antrittst?“ Ich fasste nach Patricias Arm. „Du musst ja so stolz sein.“
„Nun, ja, natürlich bin ich das“, antwortete sie. „Ich bin immer stolz auf meine Kinder.“ Sie sah Anne verwirrt an. „So hatte ich es noch gar nicht betrachtet.“
Anne lachte und tätschelte ihrer Mutter die Hand. „Ich bezweifle aufrichtig, dass England überhaupt davon weiß, also brauchst du dich nicht schlecht fühlen, Mutter.“
„Wenn du gut genug bist, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen, dann kannst du kaum mit mir spielen wollen“, sagte ich. „Ich besitze kein besonderes Talent. George ist viel besser darin. Er spielt gerade mit einem Freund Golf. Vielleicht können wir es zu viert probieren und ich versuche mitzuhalten.“
„Das wäre großartig“, willigte Anne ein. „Das Turnier ist noch etwas mehr als eine Woche hin. Ich würde vorher gern noch ein oder zwei Runden spielen.“
„Ich wünschte, ich hätte Zeit für ein wenig Sport, aber ich bin mit Amelia mehr als ausgelastet“, sagte Lily und setzte sich zu uns an den Tisch.
Vorbeilaufende Passanten wären nie auf die Idee gekommen, dass Lily und ich Schwestern waren. Anne und Patricia waren unverkennbar Tochter und Mutter, genau wie Lily auch unserer Mutter ähnelte. Beide waren blond, blauäugig, klein und kurvig. Ich hatte Mutters blaue Augen geerbt, aber in allen anderen Dingen ähnelte ich unserem Vater. Das dunkle Haar, die schmale Figur, die Körpergröße. Lily war kaum einen Meter fünfzig groß, ich hingegen fast einen Meter achtzig, wobei ich mich weigerte, genauer ins Detail zu gehen.
„Hast du denn kein Kindermädchen eingestellt?“, fragte ich sie. Lily und ihr Ehemann lebten im Norden Frankreichs, doch sie wohnte bis November in Paris, damit Patricia Zeit mit ihrer Enkeltochter verbringen konnte, bevor sie nach England zurückreiste. Leo, der im Norden geblieben war, kümmerte sich um eine der Fabriken seines Vaters, weshalb er jeden Tag im Büro war und abends oft noch Kunden zu Gast hatte. Ohne ein Kindermädchen war Lily ganz auf sich allein gestellt.
Patricia lachte glucksend auf. „Wir sind nicht adlig, Frances. Ich weiß, du musstest deine Tochter entsprechend der Familientraditionen der Wynns aufziehen, aber die Babyzeit ist nicht lang. Was für eine Mutter würde auch nur einen Moment davon verpassen wollen?“
Lily lächelte, aber den dunklen Augenringen nach hätte ich gewettet, dass es ihr nichts ausmachen würde, einige Momente zu verpassen. Vielleicht sogar eine ganze Nacht. Meine Tochter stammte aus meiner vorherigen Ehe mit Reginald Wynn, dem Earl of Harleigh. Rose war tatsächlich unter dem wachsamen Auge des Kindermädchens aufgewachsen, das schon Reggie versorgt hatte. Es war eine Tradition und es hatte keine Diskussion darum gegeben. Als das ältere Kindermädchen ging, stellte ich ein neues ein. Ich war Roses Mutter und konnte so viel Zeit mit ihr verbringen, wie ich wünschte, aber mit Unterstützung des Kindermädchens musste ich nicht vierundzwanzig Stunden mit ihr verbringen, ganz gleich, ob ich es so wollte.
„Ich verstehe, was du meinst, Patrica“, sagte ich. „Babys sind entzückend, aber Lily führt ja auch den Haushalt, kümmert sich um Leo und ist Gastgeberin für seine Geschäftspartner. Ich möchte nicht, dass sie ihre eigene Gesundheit aus Zeitmangel hintenanstellt.“
Patricia sah mich skeptisch an. „Ach, komm, Frances. Ich habe es geschafft, vier Kinder allein großzuziehen, und mich um meinen Ehemann gekümmert. Meine Gesundheit hat das nicht beeinträchtigt.“ Sie blickte an mir vorbei zu Lily. „Ich bin sicher, Lily würde etwas sagen, wenn sie Hilfe bräuchte.“
Lily senkte den Blick. „Aber natürlich würde ich das.“
Ich war mir da nicht so sicher. Lily wirkte erschöpft und unglücklich, aber vielleicht sah es auch heute bloß so aus. Ich ließ vorerst vom Thema ab. Meine Mutter sollte am nächsten Tag in Paris eintreffen, um ihre neue Enkeltochter kennenzulernen. Ich war sicher, die Frau, die für ihre eigenen Kinder eine ganze Reihe an Kindermädchen, Gouvernanten und Hauslehrern für sämtliche Fächer und Interessen engagiert hatte, würde mit ihrer Meinung zur Situation des neusten Enkelkinds nicht zurückhalten.
Nachdem die Speisen ausgepackt worden waren und wir uns unserem Festmahl zuwendeten, fragte ich Lily, ob sie von Mutters bevorstehendem Eintreffen in Paris wusste.
Sie riss die Augen weit auf. „Morgen? Ich hatte ja keine Ahnung. In ihrem letzten Brief stand, dass sie auf dem Rückweg einen Stopp in Paris einlegen würde, aber ein Datum hat sie nicht erwähnt. Wird sie bei dir wohnen?“
„Oh, aber ja“, sagte ich. „Ich dachte mir, dass Patricia mit Anne und dir genug Gäste hat. Vater reist weiter nach New York.“ Ich hielt inne und beobachtete Lilys Reaktion darauf. „Ich hoffe, du hattest nicht mit ihm gerechnet.“
Sie winkte ab. „Ich kann noch immer kaum glauben, dass er all die Monate von der Arbeit ablassen konnte, die sie in Ägypten waren. Ich bezweifle, dass er ein kleines Baby so spannend findet wie die Pyramiden oder den Aktienmarkt. Aber ich freue mich, dass Mutter zu Besuch kommt.“ Sie sah an mir vorbei und erkannte, dass Anne und Patricia im Gespräch vertieft waren, also wandte sie sich wieder mir zu. „Ich weiß, es mag für dich schwer vorstellbar sein, aber mir fehlt sie tatsächlich.“
„Zugegebenermaßen geht es mir ebenso. Manchmal frage ich mich, ob etwas mit uns nicht stimmt, dass wir uns danach sehnen, ständig kritisiert und korrigiert zu werden.“ Bei der Erinnerung schüttelte es uns beide. „Hinter all der Kritik steckt trotzdem eine Mutter, die uns liebt.“
Lily grinste. „Vielleicht musste ich selbst Mutter werden, um das zu sehen. Ich hoffe, du bringst sie gleich zu mir, wenn sie eintrifft.“
„Ich bezweifle, dass ich sie von dir fernhalten kann. Du kannst uns morgen Nachmittag erwarten.“
Mit der Zeit verfielen wir vier in ein angenehmes Schweigen. Die Vögel sangen in den Bäumen und um uns herum plauderten und lachten andere picknickende Parkbesucher. Wir hatten einen Platz mit Blick auf beide Seen und den Wald dahinter, doch hinter uns verlief eine der Hauptstraßen und ein Gehweg.
„Heute Nachmittag muss ein Rennen stattfinden“, überlegte Lily. „Die Straße scheint mir stärker befahren als vorhin bei unserer Ankunft.“
„Ich glaube, du hast recht“, pflichtete Patricia ihr bei. „Die Rennstrecke Hippodrome Auteuil liegt gleich hinter den Bäumen auf der anderen Straßenseite.“
„Seht nur, ich glaube dort kommt gerade Sarah Bernhardt.“ Lily deutete überflüssigerweise auf die offene Kutsche, die gerade in Sicht kam. Jede von uns hätte die renommierte Schauspielerin auch ohne Hinweis erkannt. Durch das Fenster sah man ihre schlanke Figur in weißem Pelz mit einem großen weißen Hut und obwohl sie saß, wirkte sie lebhaft, pausenlos in Bewegung. Das konnte nur die Göttliche Sarah sein.
Als ihr einige Passanten an der Straße winkten, lachte sie und winkte ausladend zurück.
„George und ich sind noch zwei weitere Wochen hier“, sagte ich. „Wir sollten unbedingt eine ihrer Vorstellungen besuchen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal Gelegenheit dazu haben? Jetzt wo sie ihr eigenes Theater hier besitzt, bezweifle ich stark, dass sie jemals wieder nach London kommt.“
„Oder Amerika“, ergänzte Lily. „Du solltest Mutter mitnehmen.“
„Ich werde sie fragen“, gab ich zurück und bemerkte, dass sich mehr Leute zum Picknick in unserer Nähe niederließen und noch viel mehr Menschen zum Nachmittagsspaziergang unterwegs waren.
„Frances.“ Lily tippte meinen Arm an und flüsterte dann. „Ich glaube, ich kenne die Dame, die auf uns zukommt. Ist das nicht Alicia Stoke-Whitney?“
Sie hatte recht. Die zierliche rothaarige Dame im gelben Kleid mit passendem Parasol in der Hand hatte sich von einer Gruppe am See getrennt und kam auf uns zu. Als meine Schwester Alicia das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie gerade erfahren, dass – nun, es ließ sich nicht würdevoll verpacken – mein erster Ehemann in deren Bett gestorben war.
Nach diesem Vorfall hatte ich von Alicia Abstand gehalten, bis sie mir keine andere Wahl mehr ließ, indem sie mich öffentlich zu einer ihrer Feiern einlud. Meine Schwester war dabei gewesen, also musste ich ihr mein Zögern erklären. Lily drängte mich zwar abzusagen, doch ich hatte keine Wahl. Hätte ich mich geweigert, hätte das bloß die Gerüchte um Alicia und meinen verstorbenen Ehemann angefacht. Die Tatsache, dass sie sehr wohl eine Affäre hatten, war ein irrelevantes Stückchen Wahrheit, das die Gesellschaft nichts anging.
Von da an erachtete Alicia mich als ihre Freundin. Anfangs mied ich sie weiter und tolerierte sie, wenn es mir nicht möglich war, sie zu ignorieren. Mit der Zeit wuchs sie mir jedoch ans Herz. Alicia war absolut egozentrisch, unzuverlässig und unverantwortlich, doch irgendwas hatte sie an sich, dass ich nicht anders konnte als sie – nun, man nannte es wohl – gern zu haben.
Sie besaß eine Respektlosigkeit so ziemlich allem gegenüber, was ich gleichermaßen schockierend und erfrischend fand. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass es wohl ihre Art war, mit dem Leben fertigzuwerden, das nicht immer leicht war. Viele ihrer Probleme hatte sie sich jedoch selbst zuzuschreiben.
Meine Schwester wusste nicht, wie viel sich getan hatte, seitdem sie Alicia das letzte Mal gesehen hatte, und ich konnte es auch nicht so schnell erklären, denn die Besagte war schon fast bei uns. Ich merkte, wie Lily sich neben mir empört aufplusterte, aber ich konnte nur noch schnell ihre Hand nehmen und sie zum Sitzenbleiben bringen. Während ich aufstand, flüsterte ich: „Schon gut. Ich erkläre alles später.“
Alicia schenkte uns vieren ein strahlendes Lächeln, dann strecke sie die Hände nach mir aus. „Frances, meine liebste Freundin. Es ist Ewigkeiten her. Gut siehst du aus.“
Lily starrte erstaunt, als ich Alicia begrüßte und ihr meine Begleiterinnen vorstellte. Patricia und sie tauschten Höflichkeiten über die Weltausstellung aus. Alicia war wie Patricia Teil der britischen Kommission, jedoch nicht in den gleichen Komitees.
Sie unterhielten sich einige Minuten, dann wandte Alicia sich mir zu. „Ich soll eigentlich Anstandsdame für meine Tochter Harriet und ihre Freunde spielen.“
„Anstandsdame?“ Beinahe hätte ich mich an dem Wort verschluckt. Alicia? Ich folgte ihrem Blick zu der Gruppe junger Leute am Wasser. Wer immer Alicia damit beauftragt hatte, die Anstandsdame zu sein, musste vollkommen verzweifelt gewesen sein oder kannte sie nicht.
„Ich muss bald zu ihnen zurück, aber ich habe mich gefragt, ob du wohl vorher mit mir ein paar Schritte gehen würdest.“
Ich war neugierig genug, um zuzustimmen, also gingen wir in Richtung des Fußwegs in der Nähe der Straße, der zu einem Wäldchen führte. „Wie gefällt es Harriet in Paris?“, fragte ich.
„Sie findet es ganz unterhaltsam, glaube ich. Sie hat ein Grüppchen aus jungen Leuten gefunden, sowohl Briten als auch Franzosen.“ Alicia hielt inne und zwischen ihren Augenbrauen tauchten zwei kleine Fältchen auf. „Es gibt da einen Gentleman, der ein gewisses Interesse an ihr zeigt. Deshalb wollte ich mit dir sprechen.“
Ich sah sie neugierig an.
„Er ist Amerikaner. Ich habe mich gefragt, ob du ihn kennst.“
Ich lachte. „Amerika ist ziemlich groß, Alicia. Und ich bin seit über zehn Jahren fort. Ich bezweifle sehr …“
„Er heißt Carlson Deaver.“
„Oh! Doch, den kenne ich wohl – wenn auch nicht persönlich, aber sicherlich weißt du, dass seine Schwester Lottie eine Freundin von mir ist. Ich meine, er lebt in Paris. Wie auch seine Mutter.“
„Richtig.“ Sie zog das Wort in die Länge. „Auf Mrs. Deaver würde ich auch gern zu sprechen kommen, aber das muss warten. Zunächst einmal, was weißt du über Carlson?“
„Fast nichts. Seine Schwester Lottie ist mit Charles, dem Cousin meines verstorbenen Mannes, verheiratet.“
„Ach ja, wir sind einander begegnet.“ Sie hob den Zeigefinger, als wäre ihr etwas eingefallen, doch auf meinen finsteren Blick hin verkniff sie sich die Anekdote über Lotties Tollpatschigkeit oder Charles’ Geistlosigkeit. Ihr war zugutezuhalten, dass sie meine Verwandtschaft nicht beleidigte und den Finger wieder senkte. Dann sagte sie: „Bitte, fahr fort.“
Wunder, oh Wunder. Die Frau lernte dazu.
„Wie du schon weißt, ist Mimi Deaver seine Mutter. Ich meine, sein Vater ist letzten Herbst verstorben. Kurz darauf fand Lotties und Charles’ Hochzeit statt. Mr. Deaver hatte mit Eisenbahnen zu tun und wenn ich mich nicht irre, hat er seinen Kindern und seiner Witwe ein beachtliches Vermögen hinterlassen.“
Alicia starrte mich weiterhin erwartungsvoll an.
„Und sie stammen aus New York“, fuhr ich fort. „Mehr weiß ich nicht.“
„Mehr nicht?“ Sie hakte sich bei mir ein und zog mich vom Gehweg auf den Rasen in Richtung See, sodass wir ihre Schützlinge noch sehen konnten, aber nicht in Hörweite waren. „Nichts zu seinem Charakter? Keine alten Geschichten?“
„Alicia, er gehörte zur New Yorker Gesellschaft, aber ich nicht. Nach wenigen Monaten in New York, in denen wir nicht miteinander bekannt waren, bin ich nach England gezogen. Ich habe also unmöglich mehr über ihn erfahren können. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr über einen Mann zu berichten habe, den ich schlichtweg nicht kenne.“
Sie musterte mich einen Augenblick lang, dann nickte sie entschieden. „Dann hätte ich gern, dass du für mich Ermittlungen anstellst.“
„Wie bitte?“
„Musst du denn so kreischen?“, fragte sie. Sie griff meinen Arm und zog mich dichter an den spritzenden und plätschernden Wasserfall. „Stell Ermittlungen an“, wiederholte sie. „Das hast du doch schon öfter getan. Du hast Recherchen zu den Verehrern deiner Schwester angestellt.“
Wir blieben am Ufer stehen und taten so, als würden wir zusehen, wie das Wasser die Steine hinunterplätscherte. „Das stimmt nicht direkt. Ich habe einen Polizisten gegen die Verehrer meiner Schwester ermitteln lassen. Das ist ein ziemlicher Unterschied. Ich habe es nicht selbst getan – na ja, jedenfalls habe ich nicht viel ermittelt. Wenn du willst, dass jemand mehr über seine Vorgeschichte in Erfahrung bringt, dann solltest du eine solche Person engagieren.“
Sie breitete die Arme aus. „Wen denn? Ich kenne niemanden in Paris, der solche Dinge tut. Ich will ja dich engagieren, aber aus irgendeinem Grund zierst du dich.“
„Ich sage nur, dass du wen Besseres dafür finden wirst als mich“, entgegnete ich.
Gütiger Himmel, das klang, als würden wir über die Ehe sprechen.
„Was willst du gern herausfinden? Ob er wirklich ein Vermögen besitzt?“
„Ich will mich vergewissern, dass er kein Mörder ist.“ Alicia hob die Hand, als ich nach Luft schnappte. „Wag es ja nicht, wieder so zu kreischen“, sagte sie. „Ich will nicht, dass die Leute sich fragen, worüber wir wohl reden.“
Ich blickte zur Picknickwiese hinter uns und sah, dass uns niemand beachtete. Das fließende Wasser übertönte unsere Unterhaltung. Ich sah jedoch eine Bank mit Blick auf den See und zog Alicia dorthin. Als wir uns gesetzt hatten, fing ich an, Fragen zu stellen.
„Was gibt dir Anlass, dich so etwas zu fragen?“
Alicia warf ihre roten Locken über ihre Schulter. „Seine erste Ehefrau wurde ermordet.“
„Von ihm?“, fragte ich.
„Ich nehme an, du scherzt“, sagte sie und fuchtelte mit dem Finger vor meinem Gesicht. „Das Problem ist, niemand weiß es. Der Fall ist ungelöst. Ich wüsste gern mit absoluter Sicherheit, dass Mr. Deaver nichts mit dem Tod seiner Ehefrau zu tun hatte, bevor ich ihm erlaube, um meine Tochter zu werben. Ich bin sicher, du verstehst meine Position.“
Das tat ich allerdings. Alicias verstorbener Ehemann hatte sich stets als Maß allen Anstands ausgegeben, aber hinter der Fassade hatte sich ein krimineller Mann verborgen. Nicht einmal Alicia hatte sein wahres Ich gekannt, bis es fast zu spät gewesen war. Nach diesem Erlebnis war es wenig überraschend, dass Alicias Vertrauen nur schwer zu erlangen war. Ich verzog unweigerlich das Gesicht bei der Erinnerung.
„Ja, genau“, sagte sie. „Du verstehst mich also. Wenn meine Tochter sich auf diesen Mann einlässt, muss ich wissen, dass sie in seiner Gegenwart sicher ist.“
„Das ist das Mindeste“, pflichtete ich ihr bei. „Ich wusste nicht, dass Mr. Deaver verheiratet war. Was kannst du mir über seine Ehefrau und ihren Tod erzählen?“
„Nur das, was in der Zeitung stand. Es ist im Januar passiert, kurz nachdem Harriet und ich nach Paris gekommen sind. Wir lebten uns gerade erst in der Stadt ein und ich kannte die Pariser Gesellschaft noch kaum.“
„Seine Frau ist noch kein Jahr tot und er zeigt schon Interesse an Harriet?“ Seit dem Tod von Harriets Vater, Alicias Ehemann, war auch noch kein Jahr vergangen. Vielleicht lag Alicia weniger an diesen Dingen.
„Genau das hat mich verwundert“, sagte sie. „Mir scheint, dass die meisten Männer ein Jahr um ihre Ehefrau trauern. Mr. und Mrs. Deaver waren noch recht frisch vermählt, kaum ein Jahr zum Zeitpunkt ihres Todes. Sie hätten noch ganz verliebt sein sollen. Und trotzdem hält er schon Ausschau nach einer neuen Frau.“
Offenbar bedeutete ihr Anstand doch etwas. „Du könntest ihn bitten, dass er sein Interesse an Harriet zurückstellt, bis eine angemessene Trauerzeit vergangen ist“, schlug ich vor.
Alicia sah gequält aus. „Er ist ein sehr wohlhabender Mann. Wenn Harriet ihn hinhält, wird jemand anders ihn ihr wegschnappen.“
„Wir wissen beide, dass eine vorteilhafte Partie nicht unbedingt eine gute Ehe bedeutet.“
„Ja, das hat mich die Erfahrung gelehrt.“ Sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. „Wenn Harriet ihn nicht mögen würde, würde ich mir nicht all diese Mühe machen.“
„Verstehe. Was haben die Zeitungen sonst noch berichtet?“
„Carlsons Ehefrau, ich glaube, ihr Vorname war Isabelle, war allein zu Hause. Der Polizei nach ist jemand eingebrochen und die Diebe wussten nicht, dass Mrs. Deaver noch zu Hause war. Sie vermuten, dass die Einbrecher sie umgebracht haben.“
Das kam mir ziemlich eindeutig vor. „Warum glaubst du dann, dass Mr. Deaver etwas mit dem Mord an seiner Ehefrau zu tun haben könnte?“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Weil die Polizei weder die angeblichen Diebe noch die Beute gefunden hat.“
Bei der Wortwahl musste ich lachen. „Beute?“
„Größtenteils Schmuck, wenn ich mich recht erinnere. Aber wichtiger ist, dass niemand verhaftet wurde. Für meinen Geschmack ist da zu viel Raum für Spekulationen.“
„Ich weiß nicht, ob ich genug erreichen kann, um deine Sorgen zu mindern“, sagte ich. „Meine Mutter kommt jedoch morgen in Paris an. Ich weiß, dass sie Carlsons Vater und Mutter kennt. Sie könnte mehr über Carlson wissen, aber ohne die Unterstützung der französischen Polizei oder der Zeitung werde ich nicht viel mehr in Erfahrung bringen können.“
„Ein paar Informationen sind mehr als nichts“, sagte sie.
„Dann werde ich sehen, was ich herausfinden kann.“
Kapitel 2
Patricia hatte eine offene Kutsche für die Fahrt zum Park und zurück gemietet. Auf dem Rückweg zeigte sie Anne die verschiedenen Sehenswürdigkeiten, während Lily und ich Amelia beschäftigten, die im Schatten unserer Sonnenschirme in ihrem Körbchen zwischen uns lag.
Ich spürte, dass die Neugier praktisch aus meiner Schwester herauszuplatzen drohte, aber ich konnte sie davon abbringen, mich zu meiner Freundschaft mit Alicia zu verhören, indem ich den Spieß umdrehte. Ich fragte sie nach Carlson Deaver.
Sie blinzelte überrascht, dann runzelte sie die Stirn, als würde sie angestrengt nachdenken. „Ich habe mal bei irgendeinem Abendessen neben Carlson gesessen, aber ich würde nicht behaupten, dass ich ihn kenne“, meinte sie. „Warum fragst du?“
„Nun, du hast dich sicher gefragt, worüber Alicia und ich gesprochen haben …“
„Das habe ich tatsächlich.“ Lilys Augen funkelten interessiert.
„Alicia hat eine Tochter …“
Sie verzog das Gesicht und lehnte sich dichter zu mir. „Diese furchtbare Frau hat die Frechheit, eine Tochter großzuziehen?“
„Lily, sei nicht grausam. Alicia mag mit ihrer Zuneigung sehr frei zu sein, aber sie hat viele gute Eigenschaften.“
„Ach ja? Sag mir eine.“
Keine leichte Aufgabe, schließlich hatte Alicia seitdem wir einander kannten, noch keine davon gezeigt. „Ich muss sie noch herausfinden, aber …“
„Wenn du nur weiter suchst, dann findest du irgendwann heraus, dass sie ein Herz aus Gold besitzt?“
„Das bezweifle ich stark, aber wenn du aufhörst, mich zu unterbrechen, komme ich vielleicht dazu, es dir zu erklären.“ Ich hatte etwas aufbrausender gesprochen als beabsichtigt und als ich aufblickte, sah ich, dass Mutter und Tochter Kendrick uns von den Sitzen gegenüber musterten.
Patricia schenkte uns ein gutmütiges Lächeln und winkte ab. „Ihr braucht euch nicht zu sorgen. Ich verstehe voll und ganz, wie das unter Schwestern ist.“
Anne schaute eher verschmitzt. „Mit uns dreien hatte Mutter nie eine ruhige Minute.“
„Beachtet uns nicht“, sagte Patricia. „Sprecht, als wären wir nicht hier.“
Das war nun unmöglich, zumindest nicht, ohne unfassbar unhöflich zu sein. „Ich habe bloß versucht meiner Schwester zu erklären, dass Harriet Stoke-Whitney, die eine liebe und reizende junge Dame ist, wohl das Interesse von Carlson Deaver geweckt hat. Da er Amerikaner ist, hat Mrs. Stoke-Whitney sich bei mir erkundigt, was ich über den Gentleman weiß – wie es jede besorgte Mutter tun würde.“
Ha, da hatten wir doch eine gute Eigenschaft! Ich drehte mich zu Lily um. „Alicia ist nämlich eine besorgte Mutter.“
Lily schürzte die Lippen und sah mich aus dem Augenwinkel an. Sie war offensichtlich nicht überzeugt.
Anne runzelte die Stirn. „Carlson Deaver? Ich glaube, er nimmt nächste Woche am Golfturnier der Herren teil.“ Sie lachte und machte eine ausladende Handbewegung. „Und jetzt wisst ihr alles, was ich über den Mann weiß.“
„Wenn ich mich recht erinnere, müsste Carlson älter sein als du, Frannie. Etwa Anfang dreißig. Wie alt ist Miss Stoke-Whitney?“, fragte Lily.
„Sie ist achtzehn, meine ich. Es wirkt wie ein großer Altersunterschied, aber es ist für einen Gentleman kaum unüblich, insbesondere für einen reichen Gentleman, dass er zehn oder mehr Jahre älter ist. Ich glaube, ihre Mutter beschäftigt eher, wie wenig sie über ihn weiß.“
„Ist er mit Mimi Deaver verwandt?“ Patricia blickte argwöhnisch drein.
„Ja.“ Lily antwortete, ehe ich nur den Mund aufgemacht hatte. „Sie ist seine Mutter und genoss in New York keinen sonderlich guten Ruf. Ich weiß nicht, was die Pariser Gesellschaft zu ihrer Beziehung mit dem Comte de Beaulieu sagt.“ Sie legte den Kopf schief. „Heißt es Comte oder Count in Frankreich?“
„Comte“, antwortete Patricia. „Und sein Ruf ist tadellos. Republik hin oder her, die Pariser schätzen den Adel. Er widmet sich außerdem einer Reihe von guten Zwecken, wie auch der Weltausstellung. Er ist also gut vernetzt. Und er ist charmant. Wenn der Comte für sie eintritt, dann akzeptiert die Gesellschaft sie.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie ist ihm treu ergeben.“
Wenn eine verheiratete Frau ihren Ehemann in New York verlässt und mit einem anderen Mann nach Frankreich zieht, würde ich erwarten, dass man von ihrer Hingabe ausgehen kann. Auf der Reise nach Paris hatte Mimi ihre Tochter Lottie bei mir in London abgesetzt, fast so, als wäre sie lediglich ein Paket. Sie hatte mir auch einen großzügigen Scheck überreicht, also konnte ich mich schlecht beschweren. Sie hatte beabsichtigt, dass ich Lottie helfe, einen adligen Ehemann zu finden, was sie auch tat, wenn auch mit wenig Hilfe meinerseits. Lottie hatte sich in den Cousin meines verstorbenen Ehemanns verliebt. Mir selbst wäre niemand Passenderes als Charles eingefallen.
„Treu ergeben kann man es wohl nennen. Sie weicht ihm nicht von der Seite. Nur zur Hochzeit ihrer Tochter und dann etwa einen Monat später zur Beerdigung ihres Ehemannes hat sie Paris verlassen“, ergänzte Lily.
Immerhin ist sie zur Beerdigung gegangen, kam es mir.
„Wenn ich mich nicht irre, sind Mimi, Lottie und Carlson seit seinem Tod ziemlich wohlhabend“, sprach Lily weiter. „Wenn Mrs. Stoke-Whitney darum besorgt ist, kannst du sie beruhigen.“
Nein, das war nicht Alicias Sorge. Mit Geld ließ sich vieles ausgleichen, aber Mord gehörte nicht dazu. „Weißt du etwas über Carlson Deavers verstorbene Ehefrau?“
„Ich wusste gar nicht, dass er geheiratet hat“, staunte Lily. „Die Hochzeit muss stattgefunden haben, bevor Leo und ich nach Frankreich gezogen sind. Wir haben nicht lange in Paris gelebt, ehe wir nach Lille gezogen sind. Ich meine, dass Carlson aber schon hier gelebt hat, noch bevor Mimi nach Paris gekommen ist.“ Sie schnipste mit den Fingern, als wäre ihr eine Idee gekommen. „Mutter weiß immer, was sich in der Gesellschaft tut. Du solltest sie fragen, wenn sie ankommt.“
„Mutter war mindestens sechs Monate lang in Ägypten.“
„Das Gesellschaftsleben ist ihr trotzdem wichtig“, erklärte Lily. „Ich würde sie fragen. Und natürlich könntest du Lottie fragen.“
Patricia ließ den Kutscher mich im sechsten Arrondissement vor der Wohnung, die George und ich gemietet hatten, absetzen. Als wir im Juli hier gewesen waren, hatten wir in Patricia Kendricks Wohnung gelebt, doch als wir letzten Monat nach Paris zurückkehrten, wollten wir ihr nicht zur Last fallen.
Zu unserem Glück näherte die Weltausstellung sich ihrem Ende und so waren mehr Unterkünfte frei geworden. Wir hatten die Wohnung bis zur zweiten Oktoberwoche gemietet. Die Wohnung selbst entsprach unseren Ansprüchen, doch die Anzahl an Bediensteten war größer als erhofft. Der Eigentümer war ein Anwalt, ein avocat wie die Franzosen sagten. Er war außerdem ein Junggeselle, der viel arbeitete und oft verreiste, weshalb seine Bediensteten nie wussten, wann er zum Abendessen da war, wann er kurz zum Mittagessen vorbeikam oder ohne Vorwarnung mehrere Tage die Stadt verließ. Als wir nach nur wenigen Tagen in Paris schon unsere Taschen packten und nach Deauville fuhren, störte das die Bediensteten kaum.
Ich bedankte mich beim Concierge, der mir das Tor zum Innenhof öffnete. Er war ein netter junger Mann und trotzdem fehlte mir doch das kauzige Pärchen, das dieser Aufgabe bei Patricias Wohnung nachging. Ich ging die Stufen in den ersten Stock hinauf und schloss die Tür auf. Aus dem Salon erklangen Stimmen, was mir verriet, dass George vor mir nach Hause gekommen sein musste. Und dass er Besuch hatte.
Ich legte im Foyer meinen Hut und die Handschuhe auf dem Tischchen ab. Vor dem Spiegel darüber richtete ich meine Frisur, ehe ich hineinging.
Unser Gast war Daniel Cadieux, ein Inspektor der Sûreté, der hiesigen Kriminalpolizei. Sowohl er als auch George standen auf, als ich den Salon betrat. Mein Blick ging zuerst zu George, meinem Ehemann, dem Größeren der beiden. Seine grünen Augen, die aristokratische Nase und der dunkle Bart ließen mein Herz noch immer höherschlagen. Cadieux war auf seine eigene Weise gutaussehend. Ein winziges bisschen kleiner als ich, glattrasiert, dunkle Augen und volles, dunkles Haar, das er zurückgekämmt trug, sodass es seine faltenfreie Stirn betonte.
Beide Männer waren der Mode entsprechend schlank und trugen Golf-Kleidung – George hatte eine weite Hose an, Cadieux Knickerbocker, und beide trugen Tweedjacken. So nebeneinanderstehend sahen sie wie die Sorte Männer aus, vor denen Mütter ihre Töchter warnten. Unverschämt gutaussehend und mit schalkhaft funkelnden Augen, sodass die Mütter sicher sein konnten, dass sie Ärger bedeuteten.
„Bonjour Madame Hazelton“, begrüßte Cadieux mich lächelnd.
„Bonjour, Inspektor, George. Ich nehme an, die Partie auf dem Golfplatz war angenehm?“
„Eine hervorragende Vormittagsbeschäftigung“, antwortete Cadieux. „Begleiten Sie uns beim nächsten Mal?“
Seltsamerweise schien es für uns inzwischen ganz alltäglich, einen französischen Polizisten zu Besuch zu haben. Wir hatten Inspektor Cadieux bei unserem ersten Fall in Paris kennengelernt, als Georges Tante ihn im Juli gebeten hatte, Ermittlungen zum Tod eines Freundes anzustellen. George war zwar der Sohn eines Earls, jedoch der dritte Sohn, daher konnte er nicht allein vom Grafentitel leben. George hatte Recht studiert und für das Innenministerium gearbeitet, wo er an seinen ermittlerischen Fähigkeiten feilte. Vor einiger Zeit hat er mir dann aus einer verzwickten Lage geholfen und seitdem gingen wir der Detektivarbeit gemeinsam nach.
In Paris waren wir damit bei Inspektor Cadieux angeeckt, der uns daraufhin gleichermaßen in die Quere kam, doch am Ende lernten wir zusammenzuarbeiten und freundeten uns sogar an. Als Cadieux herausfand, dass George gern Golf spielte, hatte er darauf bestanden, dass sie bei unserem nächsten Besuch in der Stadt eine Partie spielen würden. Beide sahen aus, als hätte ihnen die frische Luft, vielleicht auch das Golfen, gutgetan.
„Wie lief das Spiel?“, fragte ich, als ich mich in meinen Lieblingssessel setzte, der smaragdgrün gepolstert war und im Jugendstil verzierte Beine besaß.
Cadieux nahm wieder auf dem dazu passenden Sessel gegenüber von mir Platz und George entschied sich für das Sofa. Beide hatten ein Glas Brandy in der Hand. George bot mir auch welchen an, den ich jedoch ablehnte. Ich war schon entspannt von der frischen Luft im Park. Alkohol hätte mich bloß müde gemacht.
Die darauffolgenden dreißig Minuten gaben mir allerdings Anlass, diese Entscheidung zu überdenken. Schlaf wäre die bessere Wahl gewesen als die äußerst detailreiche Nacherzählung ihres Morgens. Cadieux und George schafften es, jeden Schlag an jedem Loch haargenau wiederzugeben, bis ich das Gefühl hatte, selbst jeden Grashalm auf dem Platz zu kennen und selbst gespielt zu haben. Das war sehr viel genauer, als ich es hatte wissen wollen.
George beschrieb gerade einen besonders herausfordernden Schlag über einen kleinen Teich auf die kurzgemähte Fläche um das Loch herum, als mir Cadieux’ Metier wieder einfiel.
„Inspektor, erinnern Sie sich an den Mord an Mrs. Carlson Deaver im Januar?“
Cadieux hatte gerade einen Schluck Brandy nehmen wollen und hielt in der Bewegung inne. Er ließ das Glas sinken und starrte mich an, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen. George sah auch verblüfft aus, fand die Sprache aber schneller. „Wie kommst du auf die Frage? Hat dich jemand danach gefragt?“
Ihre Reaktion überraschte mich, also erzählte ich ihnen von Alicias Bitte, mehr über Carlson Deaver herauszufinden. „Sie ist besorgt, weil der Fall um den Mord seiner Ehefrau nicht gelöst wurde. Genaugenommen hat sie Sorge, dass Carson sie selbst umgebracht haben könnte“, erklärte ich belustigt auflachend.
Cadieux’ stechender Blick ließ mich verstummen. Dann fiel mir ein, dass ich wohl den Mund schließen sollte.
„Wie kommt sie darauf?“, fragte George.
Ich hob beschwichtigend die Hände. „Sie hat keinerlei Beweise dafür. Es ist nur ein Gedanke gewesen. Es würde sie beruhigen, wäre der Fall gelöst.“
Cadieux’ Blick war in seinem Getränk versunken und George beobachtete ihn.
„Nun? Ich habe erklärt, wie wir zu dem Thema gekommen sind, jetzt will ich auch mehr erfahren“, forderte ich die Gentlemen auf. „Was ist daran so beunruhigend, dass ich ihren Namen erwähnt habe?“
Sie sahen einander an.
Cadieux zuckte mit den Schultern.
Ich seufzte. „Sie wissen, dass ich es herausfinden werde.“
„Wir haben zufälligerweise während des Golfens genau über diesen Fall gesprochen“, erklärte George.
„Dann ist der Fall also nicht abgeschlossen?“
„Nicht offiziell“, warf Cadieux ein. „Aber wir haben seit sechs Monaten keine neuen Hinweise.“
Ich entschied, dass ich doch einen Brandy brauchte. George bewahrte ihn in einer Vitrine hinter dem Sofa auf. „Was könnt ihr mir über den Fall erzählen?“, fragte ich und schenkte mir ein Gläschen ein. Ich hielt die Flasche fragend hoch und als beide ablehnten, kehrte ich auf meinen Platz zurück.
„Kannten Sie das Paar?“, fragte Cadieux.
„Sie gehörten zur New Yorker Gesellschaft, daher kenne ich die Familie Deaver“, antwortete ich. „Carlsons Schwester ist mit meinem Cousin verheiratet, daher kenne ich sie gut, aber Carlson selbst und seine verstorbene Frau habe ich nicht kennengelernt.“
Der Inspektor lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Armlehnen. „Monsieur Deaver ist Anfang neunundachtzig zu einem ausgedehnten Besuch in Begleitung von Freunden nach Paris gekommen. Auch Amerikaner. Nach einigen Monaten reisten seine Freunde weiter, doch statt sie zu begleiten, mietete er ein Apartment an. Mit der Zeit fand er Freunde in Paris und verkehrte mit einer Schauspielerin namens Isabelle Rousseau. Zur Überraschung der Freunde beider Seiten heiratete das Paar im Januar neunundneunzig.“
„Das überrascht mich kaum“, gab ich zurück.
„Richtig. Es wurde viel darüber spekuliert, wie eine Schauspielerin einen so wohlhabenden Gentleman heiraten konnte, doch es wurde darauf geschoben, dass er Amerikaner ist.“ Cadieux tippte sich an die Stirn. „Jeder weiß, dass die etwas eigen sind.“
Als er meine finstere Miene sah, streckte er beschwichtigend eine Hand aus. „Anwesende ausgenommen, Madame. Das versteht sich von selbst.“
„Natürlich.“ Ich war mir ziemlich sicher, dass Cadieux mich etwas eigen fand, aber nun ja. Es war tatsächlich nicht unüblich, dass reiche Amerikaner hübsche Schauspielerinnen heirateten. Es passierte sogar recht häufig. Wobei dies seltener der Fall war, wenn die Familie Teil der feinen Gesellschaft war. „Ich nehme an, sie hat die Schauspielerei nach der Heirat aufgegeben.“
„Das hat sie, jedoch hielt sie weiter Kontakt mit ihren Freundinnen am Theater. Falls sie Familie hatte, war der Kontakt schon lange abgebrochen gewesen.“
Ich blickte zwischen den Männern hin und her. „Nichts von dem, was ich bisher gehört habe, lässt mich auf einen Mord schließen. Was ist passiert?“
George hob eine Hand. „Dürfte ich?“, fragte er Cadieux. „Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.“
Cadieux bedeutete ihm fortzufahren und lehnte sich zurück.
George drehte sich zu mir. „Am Abend des 26. Januar war Isabelle Deaver allein zu Hause, als jemand einbrach, wohl in der Absicht, das Haus auszurauben. Ihr Ehemann war fort und auch sie hatte Pläne für den Abend, also genossen die Bediensteten einen freien Abend. Die Diebe waren vermutlich genauso überrascht wie sie, als sie sie antrafen.“
„Die Polizei weiß nicht genau, was sich ereignet hat. Sie wissen nur, dass die Diebe sie nicht dort umgebracht haben. Die Wohnung sah verwüstet aus, aber Blut fanden sie nicht. Die Verbrecher haben sie entführt. Vielleicht wollten sie ein Lösegeld verlangen, doch am Ende brachten sie sie um – gewaltsam und mehrere Stunden später. Madame Deaver wurde verprügelt und dann erwürgt. Die Leiche wurde am nächsten Morgen im Marais, in der Nähe vom Place des Vosges gefunden.“
„Am nächsten Morgen?“ Ich sah zu Cadieux. „Carlson muss außer sich vor Sorge gewesen sein.“
„Monsieur Deaver kehrte erst kurz bevor sie gefunden wurde nach Hause zurück“, erklärte Cadieux. „Die Polizei war am Abend zur Wohnung gerufen worden und bereits fort. Als er nach Hause kam, muss er die verwüstete Wohnung und keine Ehefrau vorgefunden haben. Wir hatten einen Polizisten dort abgestellt, der ihm die Situation erklären sollte. Seinem Bericht nach hatte Deaver den Abend über eine beachtliche Menge Alkohol konsumiert und als er vom Tod seiner Ehefrau erfuhr, goss er sich das nächste Glas ein.“
„War er mehr um seine Ehefrau oder die gestohlenen Dinge besorgt?“, fragte George.
„Dem Polizisten zufolge war Deaver sehr um seine Frau besorgt“, antwortete Cadieux. „Bedenken Sie jedoch, dass der Mann betrunken war. Er hat die ganze Nacht mit seinen Freunden gezecht und weitergemacht, als er nach Hause kam. Zum Glück traf kurz darauf seine Mutter ein. Der Polizist übergab ihn in ihre Obhut.“
„Stimmt, zu diesem Zeitpunkt muss Mimi bereits in Paris gelebt haben“, sagte ich. „Also wusste Carlson nicht, dass seine Frau tot war, als er nach Hause kam.“
Cadieux schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Wir hatten eine Leiche nahe Isabelle Deavers Arbeitsplatz gefunden. Die Frau war jung und entsprach der Beschreibung von Isabelle Deaver in Größe, Alter und Haarfarbe, doch sie musste noch identifiziert werden, um sicher zu sein. Wir riefen in der Wohnung der Deavers an und sprachen mit Mimi Deaver. Sie war diejenige, die die Leiche identifizieren kam. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, aber nach einigen Verhören kam es zum Stillstand. Es gab keine weiteren Hinweise, die Aufschluss lieferten. Bis vor ein paar Tagen.“
„Faszinierend. Nach so langer Zeit gibt es eine neue Spur.“ Ich lehnte mich neugierig vor.
Hätte ich Inspektor Cadieux in einem Wort beschreiben müssen, dann hätte ich unerschütterlich gesagt. Ihn überraschte nichts. Nichts schockierte ihn. Seine ruhige Ausstrahlung konnte durch nichts aufgerüttelt werden. Zumindest hatte ich es noch nie erlebt – bis jetzt.
Er rutschte auf seinem Sessel herum, strich sich die schon ordentlich zurückgekämmten Haare zurück, seufzte laut und rieb sich den Nacken, als würde es ihn ehrlich schmerzen weiterzuerzählen. Mit einem lauten Seufzer fuhr er schließlich fort. „Vor drei Tagen hat jemand einen Erpresserbrief erhalten. Oder besser gesagt, es liest sich wie der Vorläufer dessen, einen Drohbrief.“
Ich sah von Cadieux zu George und versuchte ihn mit Blicken dazu zu bringen auszusprechen, was der Inspektor nur widerwillig preisgab.
„Es war nicht nur ein Brief“, fuhr nun George fort, „sondern auch ein Schmuckstück. Ein Ohrring, den sie als Isabelle Deavers erkannte. Dabei lag ein Zettel, auf dem steht ‚ich weiß, was du getan hast.‘“
Ich verzog das Gesicht. „Gütiger Himmel, das klingt nach belastendem Beweismaterial. Und du sagtest ‚sie‘. Scheinbar weißt du schon, wer es ist. Wie hast du es herausgefunden?“
George sah zu Cadieux und zog eine Augenbraue hoch. „Frances könnte uns helfen“, meinte er.
Cadieux lehnte sich vor. „Die Empfängerin ist Sarah Bernhardt.“
„Nein!“ Ich hätte nicht erstaunter sein können. Sarah Bernhardt hatte einen Erpresserbrief erhalten, in dem man sie des Mordes beschuldigte? Darauf wäre ich nicht gekommen. „Die Schauspielerin Sarah Bernhardt?“, fragte ich, als könne es eine Verwechslung geben.
„Eben jene“, bestätigte George.
„Glauben Sie, sie war es?“
„Selbstverständlich nicht!“ Cadieux klang entschieden. Und noch immer aufgewühlt.
George warf dem anderen Mann einen Blick zu, dann stand er auf und nahm Cadieux das Glas ab, um es erneut zu füllen. „Du wolltest wissen, wie die Polizei von dem – nennen wir ihn vorerst einen Drohbrief – erfahren hat.“
Er reichte dem Inspektor das Glas zurück. „Madame Bernhardt hat die Polizei selbst kontaktiert.“
„Ein Polizist hat ihre Aussage aufgenommen, doch er wollte dem wohl nicht nachgehen, was Madame Bernhardt erkannte“, ergänzte Cadieux. „Sie nahm also Kontakt zu Freunden auf, die weit oben sitzen. Die meisten Leute würden solche Beziehungen wohl nutzen, um sich selbst zu schützen, aber sie bestand darauf, dass wir den Fall neu aufrollen. Sie verlangt eine umfassende Ermittlung. Sie will Gerechtigkeit für ihre Freundin.“
„Das ist bewundernswert“, bemerkte ich. „Doch Sie klingen wenig begeistert. Wenn der Fall nicht gelöst war, wo liegt das Problem?“
„Niemand will den Fall übernehmen“, antwortete George.
„Es ist die einzige neue Spur seit Monaten und egal wie man es dreht und wendet, es belastet Sarah Bernhardt.“ Cadieux sprach ihren Namen ehrfürchtig aus. „Ausgerechnet sie. Aber wie sollen wir dieses Beweismaterial ignorieren?“
George zuckte mit den Schultern. „Also wird der Fall hin und her gereicht.“
Cadieux vergrub das Gesicht in den Händen.
„Ach kommen Sie“, sagte ich. „Ich verstehe ja, dass sie große Beliebtheit genießt, aber …“
Der Inspektor machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn Sie das sagen können, dann verstehen Sie es eindeutig nicht. Kein Polizist will als der Mann bekannt werden, der Sarah Bernhardt verhaftet hat. Stellen Sie sich diese Schmach vor!“
George sah mich mitfühlend an, Cadieux hingegen funkelte mich an, als wäre ich stumpfsinnig. „Und da die Beweise zu ihr führen“, sprach er weiter, „will niemand den Fall übernehmen. Ich habe noch nie so viele Männer plötzlich krank werden sehen. Manche haben sogar gedroht zu kündigen.“
Also das war nun wirklich absurd. „Was, wenn sie Isabelle Deaver umgebracht hat? Wollen Sie sagen, dass man sie einfach davonkommen lassen würde?“
Cadieux schüttelte verächtlich den Kopf. „Dazu würde sie sich niemals erniedrigen. Es ist schlicht unmöglich, dass sie schuldig ist.“
Irgendwie klang es nicht, als sei Cadieux durch sorgfältige Ermittlungen zu diesem Schluss gekommen. „Schön, sie ist nicht schuldig“, meinte ich. „Was ist dann so riskant daran, in dem Fall zu ermitteln?“
George räusperte sich. „Madame Bernhardt wünscht, selbst an der Ermittlung beteiligt zu sein.“
„Tut sie das, ja?“, fragte ich. „Ich habe gehört, dass sie nicht gern untätig ist.“
„Seitdem sie den Schrieb erhalten hat, erachtet sie es als ihre Pflicht“, erläuterte Cadieux. „So furchtlos wie sie ist, wäre es schwierig, ihre Sicherheit zu garantieren.“
„Mal abgesehen davon, dass niemand glaubt, dass sie das Verbrechen begangen hat“, setzte ich vorsichtig an, „muss sie als Empfängerin des Briefs nicht als Verdächtige behandelt werden?“ Cadieux konnte unmöglich in Betracht ziehen, die Frau an der Ermittlung teilhaben zu lassen.
„Nicht nur eine Verdächtige“, warf George nun ein. „Eine, die sich weigert preiszugeben, wo sie zum Zeitpunkt des Mords war und mit wem sie zusammen war. Selbst wenn die neuen Beweismaterialien die Polizei nicht voranbringen, sieht sie ziemlich schuldig aus. Es könnte Druck von oben geben, dass man sie verhaftet.“
Cadieux senkte den Kopf und massierte sich die Schläfen. „Mein Vorgesetzter hat mir den Fall auf den Tisch gelegt, als ich gerade gehen wollte. Ich habe die klare Anweisung, den Täter zu finden, der den Brief geschrieben hat, und dann Isabelle Deavers Mörder zu finden. Und derjenige soll ja nicht Sarah Bernhardt sein. Er sagte sogar ausdrücklich, ich solle für ihre Sicherheit sorgen.“
Er lehnte sich seufzend zurück. „Ich bin nicht sicher, aber meine Anstellung könnte davon abhängen.“ Plötzlich erhellte sich seine Miene. „Ich habe aber eine Idee, die dabei helfen könnte, wie ich es fertigbringe, meinen Job behalte und nicht als Schandfleck aller Franzosen aus Paris vertrieben werde.“
„Nun, das muss eine große Erleichterung sein“, sagte ich mit leicht sarkastischem Tonfall. „Und wie lautet diese Idee?“
George hob die Hand. „Das wäre dann wohl ich.“
„Ah, jetzt verstehe ich, warum ihr über den Fall gesprochen habt. Und ich verstehe, was für eine geniale Idee es ist.“
„Hazelton ist kein Franzose und auch nicht bei der Polizei. Er kann ohne Sorge ermitteln.“ Der Inspektor sah zu George. „Wenn die Beweise zu Madame Bernhardt führen, dann können Sie den Kopf hinhalten, mon ami.“
Kapitel 3
Als Inspektor Cadieux gegangen war, zogen George und ich uns für das Abendessen um – für die wohl letzte friedliche Mahlzeit, bevor meine Mutter eintreffen sollte. Um ehrlich zu sein wusste ich nicht, womit ich rechnen sollte. Als sie uns letzten Oktober in London besucht hatte, war sie für vier Monate geblieben. Sie beschwerte sich über mich, meine Bediensteten, sogar über das Wetter in England. Ich war sicher, dass sie noch immer etwas an mir auszusetzen haben würde, aber ich wusste, dass sie Paris liebte, und an unserer gemieteten Wohnung würde sie nichts kritisieren können.
Das Apartment war weitläufig und hell. Die Haushälterin hatte stets im Nu Essen auf dem Tisch und konnte es ohne Mühe mehrere Stunden warmhalten. Wie durch ein Wunder war es immer herausragend und würde ich den Verdacht hegen, dass es damit zu tun hatte, dass es um die Ecke ein Restaurant gab, nun, dieses Detail behielt ich für mich. In einer für einige Monate gemieteten Wohnung konnte ich kaum mehr verlangen.
Was mich an etwas erinnerte …
Ich hakte mich bei George ein, der mir den Arm bot, und ging mit ihm hinunter ins Esszimmer. „Ich habe mich gefragt, ob Mutter wohl vorhat, mit uns nach London zu reisen, wenn wir Paris verlassen.“
George sah mich entsetzt an und fiel beinahe die letzte Stufe hinunter, sodass er sich am Geländer festhalten musste. „Bei Gott, du meist doch nicht etwa mit zu uns nach Hause.“
„Ich nehme an, sie würde bei Tante Hetty wohnen, jetzt wo ich darüber nachdenke. Wir haben im Moment ein recht volles Haus.“
Das volle Haus beherbergte Rose, meine neunjährige Tochter, Lissette, Georges fünfzehnjährige Cousine und Mündel, sowie Christine, Lissettes zwanzigjährige Halbschwester. Sie waren derzeit in Tante Hettys Obhut, solange George und ich in Paris waren, würden aber wieder zu uns ziehen, wenn wir zurückkehrten. Wir hatten zwar noch ein weiteres Gästezimmer, doch wenn meine Mutter auch noch zu uns zog, dann waren die Flitterwochen endgültig vorbei. Und dafür war ich noch nicht bereit.
Wir hatten kaum am Esstisch Platz genommen, da brachten Madame Auclair und eines der Dienstmädchen schon Schüsseln mit dampfender Suppe und knuspriges Brot. Ich hatte zwar schon gut beim Picknick gegessen, aber die Suppe duftete so herrlich, dass ich den ersten Löffel kostete, noch ehe die Tür hinter der Haushälterin zuschwang.
„Ich dachte, deine Mutter kommt bloß nach Paris, um ihre Enkeltochter kennenzulernen, und reist dann deinem Vater nach New York nach“, sagte George zwischen zwei Bissen Brot.
„Sie hat ihre Pläne nicht genau erläutert. Mag sein, vielleicht hat sie aber auch andere Optionen. Sie könnte Lily begleiten wollen, wenn sie mit dem Baby nach Lille zurückreist. Oder vielleicht möchte sie mit uns nach London reisen. Es ist Monate her, dass sie Rose zuletzt gesehen hat und du weißt ja, wie sehr Mutter sie vergöttert.“
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ein Missverständnis dazu geführt, dass meine Mutter sich bewusst von meinem Vater distanziert hatte. Nachdem sich alles geklärt hatte, waren sie jedoch zu einer gemeinsamen Reise nach Ägypten aufgebrochen, sodass sie mehr als fünf Monate nicht voneinander getrennt gewesen waren.
Ich würde sie das erste Mal wiedersehen, seitdem sie die Reise angetreten hatte, und ich hoffte wirklich, dass sie noch miteinander redeten. Und dass Vaters Entscheidung, nicht auch nach Paris zu kommen, nicht daran lag, dass er so dringend zur Arbeit zurückkehren wollte. Doch Mutters Briefe waren wie üblich kurz und vage gewesen. Ich würde es wohl bei ihrer Ankunft herausfinden.
„Ich wage zu behaupten, dass ihre Pläne davon abhängen, wie gern sie nach New York zurück möchte oder auch nicht.“ Ich blickte auf und sah George sehnsüchtig zu mir schauen. Ich streckte den Arm aus und legte meine Hand auf seine. „Die Zeit zu zweit war wundervoll, aber irgendwann müssen wir uns dem Rest der Welt stellen, mein Liebster.“
George zog eine Augenbraue hoch. „Woher weißt du, was ich denke? Ich bin nicht sicher, ob ich eine Ehefrau möchte, die meine Gedanken lesen kann.“
„Mir kam bloß derselbe Gedanke. Wobei ich zugeben muss, ich frage mich immer wieder, was Rose und ihre Cousinen wohl gerade tun. Zeit allein, nur du und ich, ist herrlich, aber ich vermisse sie. Und ab morgen gehört auch wieder meine Mutter dazu.“
George schnitt eine Grimasse und ließ meine Hand los. Ich konnte ihm keine Vorwürfe machen. George war zwar charmant und verstand sich mit nahezu jedem, doch meine Mutter stellte sich gerne quer. George hatte bereits Erfahrungen mit ihrer weniger reizenden Seite gemacht und behandelte sie daher eher wie einen Blindgänger. Wenn er sie gänzlich meiden konnte, war es ihm noch lieber.
Madame Auclair kam unsere Suppenschalen abholen und brachte den nächsten Gang. Während des Essens unterhielten wir uns über Orte, die wir noch ansehen wollten, bevor wir in zwei Wochen abreisten, und mögliche Mitbringsel für die Mädchen.
„Ich brauche irgendeine andere Bezeichnung für die drei“, sagte ich. „Ihr Altersunterschied ist so groß, nur Rose kann man noch als Mädchen bezeichnen.“
„Die drei Grazien?“, schlug George vor. „Das Trio terrible?“
Ich schnaubte. „Also George. Nichts davon trifft auf die drei zu.“
„Ich bin komplett umzingelt von Frauen, Frances.“ Er zwinkerte mir zu. „Glaub mir, das ist nicht einfach. Zum Glück habe ich die Bediensteten. Sonst hätte niemand mit mir Mitleid.“
Vor unserer Heirat hatte George in einem reinen Männerhaushalt gelebt – mit einem Butler, einem Koch, einem Kammerdiener und einem Diener. Dann zogen Rose und ich ein. Und selbstverständlich brachte ich meine Kammerdienerin Bridget mit. Erst letzten Monat waren Lissette und Christine dazugekommen. Es war eine ziemliche Umstellung für ihn gewesen. „So hatte ich es noch nicht betrachtet“, sagte ich und versuchte, mir das Lachen zu verkneifen. „Das Trio trifft es doch. Nur ohne das terrible.“
Als Madame Auclair unsere Teller abholen kam, schlug ich vor, dass wir den Kaffee im Salon trinken. George war einverstanden und wir gingen hinüber. „Ich vermute, du willst gerne den neuen Fall besprechen“, meinte er, als wir den Salon betraten. Er ging um das Sofa herum und holte die dicke Mappe, die auf dem Tisch wartete.
„Ist die von Cadieux?“, fragte ich und setzte mich. „Er muss sich ziemlich sicher gewesen sein, dass du einwilligen würdest, wenn er eine so volle Mappe auf den Golfplatz mitgenommen hat. Hat er sie achtzehn Löcher lang mit sich herumgetragen?“
„Nein, er hat sie heute Morgen hergebracht und wir sind gemeinsam zum Golfplatz gefahren. Zu wissen, dass die Mappe hier wartet, hat mich die ganze Zeit gequält.“ Er hielt inne und schenkte mir sein schiefes Lächeln. „Ich bin sicher, der Inspektor kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich an dem Fall interessiert sein würde.“
„Ist das die Akte ihrer Ermittlung?“
George setzte sich neben mich und schlug die Mappe auf dem Sofatisch vor uns auf. „Ja und ich bin gespannt, was wir darin finden.“
Ich machte etwas Platz auf dem Tisch für das Kaffeetablett und beäugte die Mappe. „Ich bin überrascht, dass Cadieux dir so viele Informationen gibt. Es klang nicht so, als wolle die Polizei die Schuldigen finden.“
George legte den Kopf in den Nacken und sah dann zu mir herab. „Au contraire. Sie würden zu gern jemanden finden – nur eben nicht Sarah Bernhardt.“
„Das verstehe ich nicht. Wer immer den Brief geschrieben hat, glaubt, dass sie des Mordes an Isabelle Deaver schuldig ist. Glaubst du nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass sie es war?“
Die Haushälterin brachte den Kaffee und eine Auswahl an Käsesorten und stellte uns alles auf den Tisch. George schien in Gedanken versunken, als ich den Kaffee einschenkte. „Beantworte mir Folgendes, Frances. Was glaubst du, würden die Einwohner Londons, oder gleich ganz Englands sagen, wenn die Ermittler von Scotland Yard in einer Mordermittlung die Queen ins Visier nehmen würden?“ Er zog die Augenbrauen erwartungsvoll hoch und nahm die Tasse Kaffee entgegen. „Glaubst du, sie würden das für ein Unding halten?“
„Ich vermute, ein jeder englischer Polizist würde davor zurückschrecken, aber gewiss hältst du das nicht für einen angemessenen Vergleich. Victoria ist schließlich die Queen.“
„Um ehrlich zu sein, habe ich bloß an jemanden gedacht, der für die Briten Symbolcharakter hat und unpolitisch ist. Sarah Bernhardt ist genau das für die Franzosen – sie ist eine Ikone. Ich würde vermuten, dass auch einige Briten etwas daran auszusetzen hätten, wenn Madame Bernhardt angeklagt wird.“
Ich dachte eine Weile über seine Behauptung nach. „Du hast vermutlich recht. Sie wird auch in Amerika angehimmelt, jetzt wo ich darüber nachdenke.“
„Amerika auch“, murmelte George. „Dann wird die Person, die für ihre Verhaftung verantwortlich ist, in der ganzen Welt geschmäht werden.“
„Und trotzdem scheint dich die Aussicht nicht zu besorgen.“
„Mir gefällt die Idee sogar recht gut. Wenn ich in der ganzen Welt geschmäht werde, kann ich mich noch viel leichter mit dir verstecken.“ Er lehnte sich zu mir und gab mir einen Kuss.
Ich legte meine Hand auf seine Wange. „Ein schöner Hintergedanke, aber wenn wir dich zum meistgehassten Mann der Welt machen wollen, dann sollten wir uns an diese Mappe machen, meinst du nicht auch?“
„Also gut, schön, Madame Spielverderberin. Dann haben wir jetzt wohl alle Hände voll zu tun.“
Ich holte Stift und Papier vom Schreibtisch in der Ecke, während George die Unterlagen sichtete. „Ich werde Notizen zu allem machen, was wir recherchieren müssen. Dann erstellen wir einen Plan, wie wir es angehen“, erklärte George.
„Der erste Punkt auf unserer Liste lautet herauszufinden, wie wir es vermeiden können, dass Madame Bernhardt Teil der Ermittlung wird“, schlug ich vor. „Jede Information wird fragwürdig sein, wenn einer der Verdächtigen darin verstrickt ist.“
George sah entsetzt drein. „Ich schlage vor, wir sagen einfach Nein zu ihr.“
Ich blickte ihn über meine Kaffeetasse hinweg an. „Was für eine geniale Lösung. Wieso ich nur nicht selbst darauf gekommen bin.“
Er verengte die Augen. „Ich habe das Gefühl, du machst dich über mich lustig.“
„So, du bist also ein guter Detektiv.“ Ich stellte meine Tasse ab und lehnte mich zu ihm. „Hast du Cadieux nicht gehört? Es klang, als sei sie entschlossen, sich in die Ermittlungen einzumischen. Weißt du viel über Sarah Bernhardt?“
„Ich dachte, ich wüsste genug, aber du scheinst über mehr Wissen zu verfügen, also muss ich mit Nein antworten.“
Ich lehnte mich zurück und faltete die Hände im Schoß. „Ich bin zwar schockiert, dass die Polizei Madame Bernhardt als Verdächtige abtut, aber ich bewundere sie auch. Zum einen lässt sie sich nichts ausreden, wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hat. Als es vor dreißig Jahren hier die Probleme gab, hat sie das Odéon Theater in eine Krankenstation umgewandelt. Man könnte sogar ihre grandiose Karriere auf ihre enorme Entschlossenheit zurückführen. Wenn sie sagt, sie will Teil der Ermittlung sein, dann sollten wir besser einen Plan haben, wie wir sie überzeugen.“
„Wir betonen einfach das Risiko für ihre Sicherheit“, schlug George vor.
„Pfft!“
Er zog die Brauen hoch. „Ich nehme an, das wird nicht reichen?“
„Ich glaube, dass sie es als Herausforderung sehen wird. Um ehrlich zu sein, ich bin nicht sicher, wie wir sie davon abbringen können.“ Ich strich mir mit dem Finger über die Lippen und wägte unsere Optionen ab. Viele waren es nicht. Ich sah zu George. „Vielleicht könnten wir sie anders beschäftigen – ihr eine Aufgabe geben, bei der sie das Gefühl hat, dass sie hilft. Ohne dass es riskant ist oder sie sonderlich involviert ist.“
George grinste breit. „Warum habe ich das Gefühl, dass du insgeheim gern mit der Dame zusammenarbeiten möchtest?“
Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden. Mist! „Ich gebe zu, dass ich gespannt bin, sie kennenzulernen, aber ich bleibe dabei: Wenn sie ermitteln will, wird es schwierig werden, sie aufzuhalten.“
„Das muss nichts Schlechtes sein“, warf George ein. „Vielleicht sollten wir sie erstmal kennenlernen, herausfinden wie sie ist und wie entschlossen sie ist. Vielleicht entpuppt sie sich als wahre Hilfe.“
Mir war ein Plan lieber, aber George war gut in spontanen Entscheidungen, also willigte ich ein. „Aber jetzt sollten wir uns Cadieux’ Akten ansehen.“
George hatte den Inhalt der Mappe in zwei Stapel unterteilt. Einen mit Dokumenten und einen mit Fotografien. Ich war nicht sicher, ob ich bereit für den zweiten Stapel war. Bei den Dokumenten lag die Vernehmung von Carlson Deaver und seinen Nachbarn obenauf. „Dem Bericht nach war Mr. Deaver die ganze Nacht im Club Kartenspielen.“
George sah von einem anderen Blatt auf. „Cadieux sagte, die Polizei hat sein Alibi bestätigen können. Das sollte auch in den Unterlagen stehen.“
„Ja, hier. Er ist gegen siebzehn Uhr eingetroffen und bis fast sechs Uhr morgens geblieben.“ Ich legte den Bericht zurück. „Wie praktisch, außer er hat die Angewohnheit, öfter bis zum Morgengrauen zu spielen.“
„Hat er nicht, also ist die Tatsache, dass er die ganze Nacht fort war, wirklich äußerst praktisch. Und etwas verdächtig. Wir sollten ihn definitiv selbst befragen.“
„Du solltest ihn zu einer Runde Golf einladen.“
„Wie kommst du darauf, dass er golft?“
„Anne Kendrick hat es mir erzählt. Weißt du noch, ich habe versucht mehr über ihn herauszufinden, ehe dir diese Ermittlung zugefallen ist.“
George sah mich interessiert an. „Erzähl weiter.“
„Das war eigentlich schon alles. Er soll nächste Woche bei dem Turnier in Compiègne spielen.“
„Sprichst du von den Olympischen Spielen?“
„Ja, ganz richtig. Anne wird erfreut sein, dass du davon gehört hast. Sie nimmt am Turnier der Damen teil. Soll ich nachfragen, ob sie uns begleiten möchte? Wie wäre ein Vierer?“
„Gern. Wenn Mr. Deaver glaubt, es handle sich bloß um eine gesellige Runde Golf, ist er vielleicht entspannter und offener für unsere Fragen.“
George schlug vor, den Ausflug für in zwei Tagen anzusetzen, und verfasste eine kurze Einladung an Carlson Deaver. Da ich Anne am nächsten Tag sehen würde, konnte ich sie dann persönlich einladen.
Nachdem diese Angelegenheit geklärt war, las ich weitere Polizeiverhöre. Die nächsten paar stammten von einigen Leuten aus dem Theater, darunter auch Madame Bernhardt. „Sarah Bernhardt bestreitet, etwas mit Isabelle Deavers Tod zu tun zu haben, aber sie weigert sich preiszugeben, wo sie war oder mit wem sie zusammen war.“
„Die Polizei glaubte scheinbar, sie habe kein Motiv“, bemerkte George.
„Nun, sie haben auch nicht sehr genau hingeschaut. Hast du das gesehen?“ Ich reichte ihm zwei Seiten mit Notizen. „Zwei der Schauspielerinnen behaupten, dass Madame Deaver Madame Bernhardt in ihrer Garderobe besucht habe. Das Treffen endete in einer hitzigen Auseinandersetzung.“
George las die Notizen mit großem Interesse. „Und das einen Tag vor dem Mord. Die Zeuginnen wussten wohl nicht, worum es ging, berichteten aber, dass die beiden sich sonst gut verstanden.“
Das passte zu der Aussage einer anderen Schauspielerin, die ich gerade las. „Vielleicht hat die Polizei recht. Soweit ich es beurteilen kann, hat Isabelle vor ihrer Heirat mehrere Jahre für Sarah gearbeitet. Sie blieben befreundet, was darauf schließen lässt, dass sie mehr als nur Kolleginnen waren. Isabelle hat sie nahezu wöchentlich besucht.“ Ich ließ die Seite sinken und sah George an.
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Freunde hin und wieder streiten“, sagte ich.
„Natürlich“, pflichtete er mir bei. „Wenn man frei miteinander sprechen kann, kommt es oft vor, dass eben diese Freunde einem auch sagen, wenn man im Irrtum ist.“
„Was unter flüchtigen Bekannten eher unüblich ist.“
George kniff die Lippen zu einer harten Linie zusammen. „Das ist Mord auch, zumindest wenn es sich um den Mord an einer Frau handelt. Der Täter ist oft jemand, der ihnen nahesteht.“
Ich schrieb unsere ersten Notizen nieder. „Also hat die Auseinandersetzung vielleicht nicht zu dem Mord geführt, deutet jedoch auf eine engere Beziehung hin. Was bedeutet, dass wir die Ikone selbst verhören müssen. Die Göttliche Sarah mag eine Verdächtige sein, aber sie könnte uns auch helfen, Isabelle besser zu verstehen.“
„Vielleicht hat sie sogar ein Alibi für uns“, überlegte George.
Ich sah ihn wachsam an. „Das ist wahr. Wir sind schließlich nicht die Polizei. Vielleicht erzählt sie ja uns, was sie in jener Nacht getan hat. Was mich an etwas erinnert“, murmelte ich und durchsuchte einige der Seiten, die ich aus der Mappe genommen hatte. „Ich dachte, ich hätte hier einen Spielplan gesehen. Hier ist er ja.“ Wir glichen das Datum des Mords mit dem Spielplan des Theaters ab. „Demnach war Sarah von acht bis zehn Uhr auf der Bühne.“
„Isabelle wollte in die Oper gehen, die um acht Uhr begonnen hätte. Genau wie Sarahs Theaterstück.“ George nahm sich das Käsemesser und schnitt sich ein Stück Camembert ab. „Nur hat sie das Haus nie verlassen, weil eingebrochen wurde.“
„Konnte die Polizei ermitteln, wann das geschehen ist?“, fragte ich.
George deutete auf die Dokumente. „Wir haben eine Menge zu lesen.“
Ich runzelte die Stirn. „Wieso glauben wir noch gleich, dass diejenigen, die eingebrochen sind, es auch waren, die Isabelle umgebracht haben?“
„Der Drohbrief.“
„Richtig. Wo ist der?“
„Den hat die Sûreté“, antwortete George. „Es ist ein neues Beweisstück, das noch verarbeitet wird. Wir müssen hinfahren, um ihn uns anzusehen.“
Ich ergänze es auf meiner Liste. „Hat Cadieux den Brief nicht den Vorläufer eines Erpresserbriefs genannt?“
George nickte. „Es wurde kein Geld verlangt und es ist keine offene Drohung. Bloß die Worte ‚ich weiß, was du getan hast.‘. Es lag ein Schmuckstück von Isabelle dabei. Offenbar etwas für Isabelle typisches, denn Sarah hat es erkannt.“
„Jetzt bin ich endgültig völlig verwirrt“, meinte ich. „Jemand hat Sarah einen Brief geschickt und darin angedeutet, dass sie etwas Schlimmes getan hat, und ein wiedererkennbares Schmuckstück beigelegt, damit klar ist, worum es geht. Sollte man nicht erwarten, dass derjenige, der Isabelles Schmuck hat, auch derjenige ist, der das Haus ausgeraubt und sie umgebracht hat?“
„Willst du sagen, dass der Erpresser auch der Mörder ist?“
Wollte ich das? „Wie sonst sollte derjenige an Isabelles Schmuck gelangt sein?“
Ich wartete, während George einen Schluck Kaffee trank und den Blick schweifen ließ, ehe er mit dem Finger auf mich deutete. „Der Schmuck könnte dem echten Mörder gestohlen worden sein.“
„Wenn das so ist, dann weiß der Erpresser, wer der Mörder ist. Und er beschuldigt Madame Bernhardt.“
George zog die Augenbrauen hoch. „Das ist kein zwingender Beweis.“
Ich wandte mich wieder den Unterlagen zu. „Vielleicht nicht, aber ich habe das Gefühl, dass du auf dem besten Weg bist, der meistgehasste Mann in Paris – vielleicht sogar der ganzen Welt – zu werden.“