Leseprobe Der Teufel von Bethnal Green | Der fesselnde historische Krimi im düsteren Regency London

Kapitel 1

London, Freitag, 01. April 1814

Der blutrote Abdruck einer Hand, deren Finger wie in großer Angst weit gespreizt waren, hob sich deutlich von der weißen, frisch gestrichenen Innenseite der Haustür des Stadthauses ab.

Jenny Crutcher durchquerte leise vor sich hin summend die große, mit schwarzem und weißem Marmor geflieste Eingangshalle seiner Lordschaft, da sah sie ihn. Sie blieb stehen, umklammerte mit einer Faust fest ihren Besen und blickte bestürzt auf das goldene Licht der aufgehenden Sonne, das durch das Oberlicht über der Tür hereinfiel. Jedes Hausmädchen eines normalen Gentlemans wäre von einer solchen Entdeckung geschockt. Aber Jenny arbeitete inzwischen seit sechs Jahren in Viscount Ashworths Anwesen in der Curzon Street. Nur weniges vermochte sie noch zu schockieren.

Sie war eine schmale, schlecht genährte Frau mit einem spitzen Gesicht und mattem, glattem hellem Haar, und beides zusammen ließ sie älter aussehen als ihre sechsundzwanzig Jahre. Vor nicht allzu langer Zeit hatten die Leute sie als hübsches kleines Ding bezeichnet. Aber Jenny machte sich nicht allzu viel daraus, dass ihr Aussehen verblasste. Neue junge Hausmädchen mit frischem Antlitz zogen tendenziell die Aufmerksamkeit seiner Lordschaft auf sich, und Jenny hatte bereits mehr als genug Schwierigkeiten in ihrem Leben. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Blut, dann eilte sie davon, um einen Wassereimer und einen Lappen zu holen. Eigentlich hatte sie keine Zeit für diese Aufgabe; sie arbeitete schon seit vor dem Morgengrauen, und es war noch so viel zu tun, bevor der Herr herunterkam.

»Donnerkeil«, murmelte sie, als beim Abstellen des Eimers auf den Marmorfliesen das Wasser über den Rand schwappte. Noch mehr Arbeit. Erst als sie auf Knien und Händen das vergossene Wasser aufwischte, bemerkte sie das Blut am Türgriff. Sie reinigte auch den und stellte überrascht fest, dass die Tür nicht verriegelt war. Der betagte Butler seiner Lordschaft, Mr Fullerton, machte jeden Morgen viel Aufhebens darum, wenn er die Haustür entriegelte. Aber der alte Mann war noch nicht auf den Beinen.

In einem normalen Haushalt wäre es auch die Aufgabe des Butlers, jeden Abend den Riegel der Tür vorzuschieben, bevor er sich zurückzöge. Aber diese Aufgabe wurde oft an den Kammerherrn seiner Lordschaft delegiert; aus Gründen, die Jenny nur zu gut verstand. Da haben wir wohl was vergessen, Digby, hm?, dachte Jenny und gönnte sich die Andeutung eines maliziösen Lächelns. Sie mochte den kleinen, grässlichen Leibdiener nicht.

Sie ließ den Eimer mit dem blutigen Wasser für später stehen und beeilte sich, um die Zimmer der ersten beiden Stockwerke zu bearbeiten. Sie zog Vorhänge auf, sammelte schmutzige Wein- und Brandygläser ein und räumte die Unordnung der vergangenen Nacht auf. Sie arbeitete in Übereinstimmung mit dem zweiten Hausmädchen, Alice. Die beiden Frauen teilten die Aufgaben zwischen sich in einer gewohnten Routine auf, die sie über zwei Jahre entwickelt hatten. Als sie die Treppe zu dem Stockwerk hinaufgingen, in dem der Viscount sein Schlafzimmer hatte, war es schon nach zehn Uhr. Glücklicherweise war seine Lordschaft nie vor Mittag auf den Beinen, also sollten sie noch reichlich Zeit haben, in seine Kammer zu schleichen, leise Feuer zu machen, frisches Wasser bereitzustellen und wieder weg zu sein, bevor er sich im Bett umdrehte.

Sie hatten die Tür des Herrn fast erreicht, da bemerkten sie, dass sie weit offenstand. Das Zimmer lag dunkel und still dahinter.

»Meinst du, er is schon auf?«, flüsterte Alice und zögerte.

Jenny schüttelte den Kopf. »Kann nich sein. Er hat nich nach Digby geläutet.«

Alice veränderte ihren Griff an der schweren Kohlenschütte, die sie trug. »Warum steht dann die Tür offen?«

»Vielleicht von nem Windzug?« Aber als Jenny das aussprach, erinnerte sie sich an den blutigen Handabdruck an der unverriegelten Haustür. Es kribbelte ihr das Rückgrat entlang nach oben, und sie drückte den Wasserkrug, den sie trug, fester an die Brust. »Vielleicht sollten wir nicht hineingehen.«

»Aber das müssen wir«, sagte Alice. Sie stieß die Tür weiter auf, machte einen Schritt hinein. Und schrie.

Kapitel 2

Anthony Marcus Ledger Viscount Ashworth, einziger Sohn und Erbe des Marquis of Lindley, lag nackt und mit ausgestreckten Gliedmaßen in den zerwühlten Tiefen seines riesigen, mit Seidenvorhängen versehenen Himmelbettes auf dem Rücken. Seine Augen waren geöffnet, aber eingesunken und blicklos, sein attraktives junges Gesicht sah aschefarben aus, und die Lippen stachen in eigenartigem Kontrast violett daraus hervor. Man brauchte sich seine wüst zerhackte Brust nicht anzuschauen, um zu wissen, dass er tot war.

»Ein grässlicher Anblick«, sagte Sir Henry Lovejoy, einer von drei auf Lebenszeit ernannten Untersuchungsrichtern der berühmten Bow-Street-Behörde. Der kleine Mann mit zurückgehendem Haarwuchs hatte das Aussehen eines respektablen Kaufmannes und das Auftreten eines strengen Geistlichen. Er achtete darauf, dem mit geronnenem Blut besudelten Bett nicht zu nahe zu kommen. In früheren Zeiten war Lovejoy tatsächlich einmal Kaufmann gewesen, und sogar leidlich erfolgreich. Doch der Tod seiner geliebten Frau und seiner Tochter vor etwa dreizehn Jahren hatte ihn dazu gebracht, von seinen religiösen Überzeugungen bis hin zu seinem Lebensziel alles zu überdenken und seine verbliebenen Tage dem Dienst an der Öffentlichkeit zu widmen.

Während er sich nun ein weißes Taschentuch an die Lippen presste, ließ er den entsetzten Blick von den blutdurchtränkten feinen Leinenlaken unter dem entstellten Körper seiner Lordschaft zu den weitverteilten Blutspritzern wandern, die sich von der champagnerfarbenen Seide der Bettvorhänge sehr deutlich abhoben. Die ausgestreckten Hände und Füße des Toten waren mit roten Seidenstricken an den dicken Holzpfosten des Bettes festgebunden. »Ich denke, wir können mit einiger Sicherheit folgern, dass seine Lordschaft hier getötet wurde«, sagte Lovejoy. Neben ihm schluckte ein junger Constable mit schmalen Schultern und einem pockennarbigen Gesicht mühsam. »Das ist eine grässliche Menge Blut, Sir.«

»In der Tat.«

Die schweren Vorhänge an den Fenstern zur Straße waren hastig aufgezogen worden, sodass das elegante Schlafzimmer von dem grellen Licht eines schönen Frühlingsmorgens überflutet wurde. Lovejoy steckte sein Schäuztuch weg und drehte sich langsam im Kreis. Dabei betrachtete er den neuen Aubusson-Teppich, die glänzenden Rosenholztruhen, die goldgerahmten Bilder von hochgezüchteten Jagdpferden und Jagdhunden. Allem Anschein nach war Ashworths Leben von einem seltenen Maß an Privilegien und Eleganz begleitet gewesen. Und wenngleich Lovejoy nur zu gut wusste, dass in diesem Augenblick der Schein auf gewisse Weise trügerisch war, blieb doch die Tatsache bestehen, dass der gewaltsame Tod des attraktiven jungen Sohns eines der wohlhabendsten Adligen des Königreichs die exklusive Welt des hohen »Ton«, der oberen Zehntausend, in Schock und Entsetzen stoßen würde. Und der Palast würde davon aufgerüttelt werden.

Von diesem Gedanken beunruhigt ging Lovejoy ans Fenster. Die Curzon Street lag in dem Londoner Stadtteil, der als Mayfair bekannt und Heim der Eleganten, Adligen, Reichen und Mächtigen war. Es hatte noch keine offizielle Verlautbarung zum Tod seiner Lordschaft gegeben, aber Nachrichten von garstigen Mordfällen schafften es immer, sich schnell zu verbreiten. Ein gutes Dutzend raunender Gaffer hatte sich bereits in der normalerweise ruhigen Straße zusammengefunden. Bald würden es mehr sein. Viel mehr.

»Noch keine Antwort von der Brook Street?«, fragte Lovejoy und hielt den Blick auf die wachsende Menschenmenge unten gerichtet.

»Noch nicht, Sir.«

Lovejoy hatte bereits ein halbes Dutzend seiner Constables darauf angesetzt, das Haus zu durchsuchen und die Bediensteten des Toten zu befragen. Aber er wartete auf jemand anderen, jemanden, dem er eine Nachricht hatte schicken lassen, sobald man in der Bow Street von Ashworths Tod erfahren hatte: Sebastian St Cyr Viscount Devlin, den einzigen noch lebenden Sohn und Erben des Earl of Hendon. Vor nicht sehr langer Zeit war Devlin selbst auf der Flucht gewesen, und zwar wegen eines Mordes, den er nicht begangen hatte. Damals war Lovejoy entschlossen gewesen, ihn hinter Gitter zu bringen. Aber in den Jahren seither hatte sich zwischen den beiden Männern eine ungewöhnliche Freundschaft entwickelt, eine große Verbundenheit aufgrund gegenseitigen Respekts und der geteilten Entschlossenheit, Mörder der Gerichtsbarkeit zu übergeben.

Das war jedoch nicht Lovejoys einziger Grund, Devlin mit hinzuzuziehen. Denn vor nur sieben Monaten hatte der liederliche, gefährliche Mann, der jetzt tot in seinem blutüberströmten Bett lag, Lord Devlins schöne junge Nichte, Stephanie, geehelicht.

Kapitel 3

»Schätze, der is wirklich tot?«, fragte der Junge mit gepresster Stimme, als Sebastian seinen Zweispänner durch die Menschenansammlung vor Lord Ashworths Haus in der Curzon Street lenkte. »Ich mein, wirklich, richtig tot?«

Sebastian warf einen Blick über die Schulter zu seinem jungen Burschen, oder Tiger, der sich hinter der Kutsche am Bock festhielt. »Daran scheint keinerlei Zweifel zu bestehen.«

Tom nickte, und seine Augen waren von einer dunklen, schmerzbeladenen Erinnerung beschattet. »Das hoff ich.«

Sebastian hielt dicht am Bordstein an. Kurz zögerte er und betrachtete das angespannte und besorgte Gesicht des Knaben. Ashworth war nicht selbst in den stundenlangen Albtraum involviert gewesen, den der Junge im September hatte durchleiden müssen, aber die Verwicklung des Adligen – als Komplize – in dem Fall war ebenso bedeutsam wie unbeweisbar. »Geht es dir gut, Junge?«

»Aye.«

Sebastian nickte und verließ sich auf das Wort des Burschen. »Wenn ich zu lange brauche, führ sie spazieren.«

Tom kletterte nach vorne und übernahm die Zügel. »Aye, Meister.«

Sebastian sprang auf das Pflaster und nahm die klassizistische Fassade des Stadthauses in Augenschein. Als er vor sieben Monaten zuletzt hier gewesen war, hatte es subtile Anzeichen der Vernachlässigung gegeben – die Eingangsstufen waren nicht gefegt gewesen, die Farbe an der Haustür verschossen und rissig. Als nun einer der Konstabler, die abgestellt waren, die Menschenmenge in Schach zu halten, herbeisprang, um ihm die Tür zu öffnen, bemerkte Sebastian die glänzende, frische Farbe und das reparierte Eisengeländer. Seit seiner Hochzeit hatte sich Lord Ashworths finanzielle Lage offenbar beträchtlich verbessert. Andererseits, dachte sich Sebastian, als er einem weiteren Constable durch das Treppenhaus hinauf folgte, war das ja genau der Grund, weshalb Ashworth schließlich zugestimmt hatte, zu heiraten und Nachwuchs zu zeugen: weil sein Vater, der Marquis of Lindley, seinem Sohn die großzügigen Alimente gestrichen und sich geweigert hatte, sie ihm wieder auszuzahlen, bis er einen Erben gezeugt hätte.

Sir Henry Lovejoy erwartete Sebastian oben auf der Treppe, und sein gewohntermaßen ernstes Antlitz wirkte noch finsterer als sonst. »Ich bitte um Entschuldigung, dass ich einen der Jungs geschickt habe, diese Nachricht zu überbringen, anstatt selbst zu kommen«, sagte er und verbeugte sich.

»Das ist verständlich«, sagte Sebastian, als sie beide sich dem großen Zimmer an der Vorderseite des Hauses zuwandten. Irgendwoher aus der Ferne erklang das Jammern einer Frau, die hemmungslos weinte.

»Es besteht kein Zweifel, dass es Mord war?«

»Nicht der geringste, fürchte ich.« Lovejoy trat zurück und ließ ihn zuerst eintreten. »Schaut.«

»Grundgütiger.« Sebastian verhielt den Schritt auf der Schwelle, als er das von geronnenem Blut besudelte Bett und den nackten Mann, der mit abgespreizten Gliedmaßen darin lag, sah. Der durchdringende Geruch nach Blut und Tod hing schwer in der Luft. »Wer hat ihn gefunden?«

»Zwei Hausmädchen, kurz nach zehn Uhr heute Morgen. Die Jüngere der beiden – Alice heißt sie, glaube ich – weint seither unkontrollierbar.«

»Ich bin überrascht, dass sie nach diesem Anblick nicht beide hysterisch sind.« Er ging neben das Bett und ließ den Blick über den bleichen, blutbeschmierten Leichnam des verdorbenen Mannes seiner Nichte wandern. Anthony Ledger war ein gutaussehender Mann gewesen mit seinen gleichmäßigen, sinnlichen Zügen, die von einer dünnen Narbe an einer Wange eher noch hervorgehoben anstatt entstellt wurden. Seine Augen waren von hellem Grau und seine Haare kunstvoll verwuschelt. Wie Sebastian war er Anfang dreißig gewesen. Der begeisterte Sportsmann war groß und geschmeidig, mit breiten Schultern und muskulösem Bauch.

Sein Brustkorb war eine einzige verheerte, fleischige Masse.

Sebastian hatte als Kavallerieoffizier über sechs lange Jahre hinweg mehr Männer sterben sehen – die meisten auf grausige Weise –, als er sich erinnern konnte. Aber das schien keinen Unterschied zu machen; den Anblick eines plötzlichen, gewaltvollen Todes fand er nach wie vor zutiefst aufwühlend. Der Tod eines jeden Menschen schwächt mich, hatte John Donne geschrieben, denn ich gehöre zur Menschheit. Aber als Sebastian auf das hinunterschaute, was von Anthony Ledger übrig geblieben war, spürte er nichts als Erleichterung.

Erleichterung und eine vage, nagende Sorge, von der er verzweifelt hoffte, dass sie unangebracht war.

»Bezaubernd«, sagte Sebastian und verengte die Augen beim Betrachten der vielen tiefen Wunden. Wer auch immer Ashworth getötet hatte, hatte ihm immer und immer wieder eine scharfe Klinge in die Brust getrieben – so viele Male, dass es nahezu unmöglich war, eine Wunde von der anderen zu unterscheiden. »Was hat der Mörder benutzt? Eine Axt?«

»So sieht es aus, nicht wahr? Wir haben noch nichts gefunden, was die Tatwaffe sein könnte, aber meine Männer sind noch bei der Durchsuchung des Hauses. Vielleicht wird uns eine Autopsie mehr Einblick geben, wonach wir suchen müssen. Ich habe nach einem Transportsarg schicken lassen, um die Leiche zu Paul Gibson zu überstellen.«

»Gut«, sagte Sebastian. Niemand konnte die Geheimnisse, die das Opfer eines Mordes zu erzählen hatte, besser lesen als der ehemalige Armeearzt.

Lovejoy räusperte sich umständlich. »Die Dienerschaft seiner Lordschaft hat mich informiert, dass Eure Nichte, Lady Ashworth, nicht hier residiert.«

»Nein, das stimmt«, sagte Sebastian und ließ den Blick schweifen. Die Stiefel, der fein geschnittene Mantel, die Krawatte, das Hemd, die rehledernen Kniehosen und die Unterwäsche des Toten waren von der Tür bis zum Bett verstreut, als seien sie in der Hitze der Leidenschaft ausgezogen worden. »Das Haus war zum Zeitpunkt der Eheschließung in solch erbärmlichem Zustand, dass Ashworth vorgeschlagen hat, sie solle bei seinem Vater und seiner unverheirateten Tante in Lindley House in der Park Lane bleiben, solange hier renoviert wurde.«

Lovejoy räusperte sich erneut. »Sie ist in anderen Umständen, nicht?«

»Das war sie. Im vergangenen Monat hat sie gesunde Zwillingsbuben zur Welt gebracht.«

»Ach«, sagte Lovejoy, der wie jeder andere eins und eins zusammenzählen konnte. »Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass sie zögerte, in einer solchen Zeit umzuziehen.«

Sebastian vermutete, dass das nicht ihr einziger Grund sei, aber er sagte lediglich: »Was haben Sie von Ashworths Bediensteten erfahren?«

»Nich so viel wie erhofft, fürchte ich. Es war anscheinend nicht ungewohnt für seine Lordschaft, sich abends – ähm – mit Frauen zu vergnügen. Bei solchen Gelegenheiten zogen sich die Bediensteten früh zurück, und nur sein Kammerherr – ein Gentleman’s Gentleman namens Edward Digby – blieb dann auf, um sich um seine Bedürfnisse zu kümmern.«

»Und was hat Digby über die letzte Nacht zu berichten?«

»Unglücklicherweise haben wir den Mann noch nicht ausfindig machen können.«

Sebastian war in die Hocke gegangen, um die Blutflecken auf dem Teppich neben dem Bett in Augenschein zu nehmen, aber bei diesen Worten sah er auf. »Vielleicht ist er unser Mörder. Was wissen Sie über ihn?«

»Soweit ich es erfahren habe, ist er nicht sehr beliebt bei der restlichen Dienerschaft. Allerdings scheint niemand zu glauben, dass er …«, Lovejoy hielt inne, als suche er nach dem richtigen Wort, »hierzu fähig ist.«

»Die Menschen können einen Kipppunkt erreichen, an dem sie ausrasten«, sagte Sebastian. »Vor allem, wenn sie für einen derart bösartigen Mann arbeiten wie Ashworth.«

»Das stimmt.«

Sebastian richtete sich wieder auf und blinzelte zu dem blutbefleckten seidenen Baldachin hoch, der in einem Bogen durchhing. »Herr Jesus«, sagte er leise. »Wer auch immer das getan hat, muss komplett blutüberströmt gewesen sein.«

Lovejoy nickte. »Am inneren Griff der Schlafzimmertür ist Blut, und am Rahmen gibt es einen Streifen. Man sagte mir, dass es auch unten an der Haustür Blut gegeben habe, aber eines der Hausmädchen hat es leider abgewaschen, bevor die Leiche gefunden wurde.«

Sebastian nickte zu dem in hellen Farben gemusterten Teppich. »Interessanterweise führen keine blutigen Fußabdrücke zur Tür. Wie zum Teufel hackt man denn einen Mann zu Tode und vermeidet es, überall Blutspuren zu verteilen?«

Ein hell schimmerndes Stück Stoff, das unter dem Bett hervorlugte, zog seinen Blick auf sich, und er streckte die Hand aus, um es aufzuheben. Es stellte sich als der weiße, hauchdünne und noch neue Seidenstrumpf einer Frau heraus. Er hielt ihn in das durchs Fenster hereinströmende Morgenlicht. »Haben Sie schon eine Ahnung bezüglich der Identität der Frau, mit der Ashworth sich vergangene Nacht vergnügt hat?«

»Man sagte uns, dass Digby, der Kammerdiener, es wissen könnte.«

»Und er macht sich rar.« Sebastians Blick fiel auf eine Peitsche aus schwarzem Leder, die halb verwickelt in dem zerwühlten Bett lag, und die Kehle wurde ihm eng. Ashworth hatte bekanntermaßen eine Vorliebe für Sexspielchen gehabt – boshafte Spielchen mit Schmerz und Erniedrigung, die manchmal tödlich endeten. »Wenn je ein Mann verdient hat, so zu sterben, dann er.«

Lovejoy starrte unverwandt eine Wand an. »Ihr glaubt immer noch, dass er an dem, was wir vergangenes Jahr in Clerkenwell und Bethnal Green entdeckten, einen Anteil hatte?«

»Ja.« Sieben Monate zuvor war Ashworth in eine brutale Serie von Morden verwickelt gewesen. Verletzliche, obdachlose Jugendliche waren von den Straßen Londons entführt und bestialisch ermordet worden. Sebastian hatte einen der verantwortlichen Männer getötet. Doch Ashworths Anteil daran hatte er nicht nachweisen können, obwohl er seither kontinuierlich daran arbeitete, nach Beweisen suchte, die er vielleicht übersehen hatte, und den widerwärtigen Kerl beständig im Auge behalten hatte.

Auch Stephanie hatte er die ganze Zeit im Auge behalten.

Etwas an Lovejoys Schweigen verriet Sebastian, dass er die Tendenz von Sebastians Gedankengängen nur zu gut verstand. »Kennt Ihr jemanden, der ihn lieber tot gesehen hätte?«, fragte der Magistrat ruhig.

Außer mir?, dachte Sebastian. Immerhin stammte die dünne Narbe auf Ashworths Wange von Sebastians eigener Dolchspitze. Laut sagte er: »Ich könnte niemanden auf Anhieb benennen. Aber Männer wie Ashworth machen sich oft viele Feinde. Und sie …« Er unterbrach sich, beugte sich vor und betrachtete den Knoten in dem verdrehten Seidenstrick, mit dem Ashworths Handgelenk am nächsten Bettpfosten festgebunden war. »Das ist eigenartig«, sagte er, ging um das Bett herum und betrachtete jeden Knoten.

»Mylord?«

»Diese Knoten sind nicht so festgezogen, wie man es erwarten würde. Selbst wenn sie am Anfang nicht fest verknotet worden wären, hätten sie sich doch fest zugezogen, als Ashworth sich im Todeskampf gegen sie wehrte.«

»Ihr denkt, er wurde nach dem Mord festgebunden?«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll.«

Aus der Eingangshalle unten klang ein Ruf herauf, gefolgt von der herrischen Stimme eines alten Mannes, der forderte: »Lassen Sie mich sofort hindurch! Wie können Sie es wagen? Das ist mein Sohn, der tot dort oben liegt, ihr Narren.«

»Ach je«, sagte Lovejoy. »Mein Kollege Sir John erklärte sich freiwillig bereit, zu Lindley House zu fahren und den Marquis persönlich über den Tod seines Sohnes in Kenntnis zu setzen. Er wird doch sicherlich seiner Lordschaft davon abgeraten haben, hierher zu kommen?«

»Ich bezweifle, dass der Marquis darauf hören würde.«

Auf der Treppe wurden Schritte laut. Dann erschien Alexander Adrian Ledger, der dritte Marquis of Lindley, auf der Türschwelle, gefolgt von einem gequält dreinblickenden Konstabler, der Lovejoy einen entschuldigenden Blick zuwarf.

In vielerlei Hinsicht war der Marquis die ältere, dünnere Version seines Sohnes: weißhaarig, aber immer noch groß, mit kantigem Kinn und trotz seiner über achtzig Jahre immer noch gut aussehend. Aber im Ausdruck des alten Mannes lag ein etwas freundlicherer, milderer Zug, den sein Sohn nicht aufwies. In seinem Antlitz zeichneten sich jetzt tiefe Falten von Schock und Trauer ab.

»Mylord«, sagte Sebastian und trat einen Schritt vor, um dem alten Herrn den Blick auf das Bett zu verstellen. »Ihr wollt das nicht sehen.« Der Marquis sah Sebastian an, und seine hellgrauen Augen blitzten und waren voller väterlicher Trauer. »Lasst mich durch.«

Sebastian zögerte, dann nickte er und trat beiseite.

Beim Anblick von Ashworths geschändeter, blutiger Leiche hielt der alte Mann einen Augenblick inne, seine Nasenflügel blähten sich. Dann schluckte er hart, brachte seine Gesichtszüge unter Kontrolle, als wappnete er sich gegen jegliches verräterische Anzeichen von Emotion, und zwang sich, sich seinem toten Sohn zu nähern. Welche Mühe es ihm bereitete, einen Fuß vor den anderen zu setzen, war schmerzlich anzuschauen.

»Großer Gott«, flüstere er und streckte die Hand aus, um nach dem nächsten Bettpfosten zu greifen, als seine Knie halb nachgaben. »Anthony.« Er blickte auf den Toten hinunter, sein Gesicht war wie eine erstarrte Maske aus entsetzter Ungläubigkeit. Dann wandte er sich ihnen zu, seine Stimme klang mürrisch, fast anklagend. »Wer hat das getan? Habt Ihr eine Ahnung?«

»Noch nicht, Mylord«, sagte Lovejoy und verbeugte sich tief.

Lindley drehte sich wieder zu dem Bett um, und ein angewidertes Zucken glitt über seine gealterten Züge, als er sich die Seidenstricke ansah, die um die Hand- und Fußgelenke seines Sohnes geschlungen waren. »Offenbar eine Frau. Die Bediensteten müssen doch sicherlich wissen, wer sie ist?«

»Wir führen noch Befragungen durch, Mylord.«

Er rieb sich mit einer zitternden Hand über das Gesicht. »Ja. Sicher. Ich bitte um Entschuldigung.«

»Wann habt Ihr Euren Sohn zum letzten Mal gesehen, Mylord?«, fragte Sebastian.

Die Frage schien den alten Herrn zu verwirren. »Ich weiß nicht … Das ist einige Tage her. Warum?«

»Hat er jemanden erwähnt, mit dem er in letzter Zeit Streit hatte?«

»Nicht dass ich mich erinnere, nein.« Er sog einen tiefen, abgehackten Atemzug ein und schüttelte knapp den Kopf. »Arme Stephanie. Sie besucht heute Morgen ihre Mutter, deshalb war sie nicht zu Hause, als der Magistrat gekommen ist, um uns zu berichten, was sich zugetragen hat. Ich habe eine Nachricht zu Lady Wilcox schicken lassen – es erschien mir das Beste, dass sie diejenige sei, die ihre Tochter informiert, aber … Das wird sie so schwer treffen.«

»Ja, zweifellos«, murmelte Lovejoy.

Sebastian selbst schwieg. Er war sich nicht sicher, wie viel Stephanie über Ashworths unorthodoxe sexuelle Interessen bei ihrer Heirat gewusst hatte. Aber dass sie in dem Herrenhaus ihres Schwiegervaters in der Park Lane wohnen geblieben war, legte nahe, dass sie genug erfahren hatte, um sich von ihrem frischgebackenen Ehemann fernzuhalten.

Dieser Gedanke hätte Sebastian eigentlich beruhigen sollen. Aber aus einem Grund, den er nicht ganz zu fassen bekam, war das nicht der Fall

Kapitel 4

»Wie lang müssen wir das ertragen?«, verlangte der Kronprinz zu wissen. Sein Gesicht war rot vor Verärgerung.

Seine königliche Hoheit George August Frederick, Prince of Wales und seit mittlerweile drei Jahren Regent des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, stand an einem der oberen Fenster seines Palastes Carlton House, die auf die Pall Mall hinauswiesen. Das Objekt seiner Aufmerksamkeit – eine schöne, exotisch aussehende junge Frau mit einem strahlenden Lächeln und blitzenden dunklen Augen – saß in einer offenen Barouche, die unten vorbeifuhr. Die Jubelrufe und Hurras der Menschen, die sich in der Straße drängelten, um ihr zu huldigen, klangen in auf- und abschwellenden Wellen zu dem opulent möblierten Saal herauf. Für einen Prinzen, dem unausweichlich Buhrufe entgegenschlugen und der ausgezischt wurde, wo auch immer er vorbeikam, war es ein schmerzliches Spektakel, das anzuschauen.

»Wie lang noch?«, schnappte er erneut.

Die Frage war an seinen Ratgeber, Vertrauten und entfernten Vetter Charles Lord Jarvis gerichtet. Der brillante und völlig skrupellose Jarvis hatte das Königreich erfolgreich durch alle Untiefen manövriert, von republikanischem Eifer und endlosem Krieg bis zur Geisteskrankheit des Königs und Inkompetenz des Prinzen. Er mochte gleichzeitig zielstrebig bis zur Rücksichtslosigkeit sein und sich über jede Moral hinwegsetzen, aber er widmete sich auch mit vollem Ernst dem Schutz und dem Voranbringen der Interessen der Monarchie sowie Englands. Ohne ihn wäre das Haus Hannover vor langer Zeit eingestürzt.

Er war gerade sechzig Jahre alt geworden. Jahrzehnte, in denen er sich um seinen zügellosen, hedonistischen Prinzen gekümmert hatte, hatten einige zusätzliche Pfunde auf die Rippen des großgewachsenen Jarvis’ gebracht, aber er war immer noch ein attraktiver Mann mit einer Hakennase oberhalb seiner überraschend sinnlichen Lippen, die er zu einem entwaffnenden – wenn auch meist unehrlichen – lieblichen Lächeln verziehen konnte. Er warf einen missbilligenden Blick auf die schillernde Passagierin unten in der Kutsche. »Sie ist gerade erst angekommen, Sir. Die Begeisterung des Mobs wird bald genug in sich zusammenfallen.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.« Der Prinz wandte sich von dem deprimierenden Schauspiel ab. »Warum zum Teufel ist sie so früh gekommen?«

Der Stein des Anstoßes des Prinzen war Großfürstin Katharina von Oldenburg, die kürzlich verwitwete und heißgeliebte Schwester des Zaren Alexander von Russland. Da die alliierten Kräfte immer näher nach Paris vorrückten, wurde es für alle offenbar, dass der Jahrzehnte dauernde Krieg mit Frankreich bald zu einem Ende kommen würde. Also hatte der Regent die alliierten Staatsoberhäupter eingeladen, in diesem Sommer in London zusammenzutreffen. Er hatte sich diese Begegnung als großartige, mehrere Wochen dauernde Siegesfeier ausgemalt. Aber die Feierlichkeiten sollten erst im Juni beginnen, und die Schwester des Zaren war bereits angereist.

Ihre Erklärung für ihr frühes Eintreffen – den bevorstehenden Besuch ihres Bruders vorzubereiten – war lächerlich und verdächtig. Jarvis hatte mehrere Theorien über ihre wahren Motive, beabsichtigte jedoch nicht, sie mit dem erregten Prinzen zu teilen.

»Ich traue ihr nicht«, sagte der Regent, ging zu einem goldenen, mit Seide bespannten Sessel, der wie eine Lotusblume geformt war, und warf sich hinein. Was den Prinzen betraf, so waren alle Frauen (freilich mit Ausnahme seiner eigenen geliebten Mutter) entweder alberne, nervtötende Dummköpfe oder intrigante böse Weiber. Die formidable Großfürstin Katharina fiel offenkundig in die zweite Kategorie. »Sie hat etwas vor, das weiß ich genau.«

»Vielleicht«, sagte Jarvis in beschwichtigendem Ton. »Aber es gibt keinen Grund, Euch unnötig aufzuregen, Sir. Habt Ihr noch einmal darüber nachgedacht, für den Besuch der Alliierten Staatsoberhäupter von Lawrence ein neues Porträt malen zu lassen?«

Der mürrische Ausdruck des Regenten wurde von einem Lächeln abgelöst, denn er ließ sich immer leicht mit seinem bevorzugten Gesprächsthema – er selbst – von anderen Dingen ablenken. »Lebensgroß, meint Ihr nicht auch? Und in einer meiner Uniformen. Vielleicht vor dem Hintergrund der Schlacht von Talavera?« Der Prinz war sein ganzes Leben nicht in der Nähe irgendeiner Schlacht gewesen. Aber das hielt ihn nicht davon ab, eine Kollektion schneidiger Uniformen anzuhäufen und seine Gäste beim Dinner mit fantasievollen Geschichten seiner angeblichen Heldentaten und seiner Brillanz auf dem Feld der Waffen zu unterhalten.

»Talavera?«, fragte Jarvis, als die Jubelrufe für die Großfürstin in der Ferne verklangen. »Oder bevorzugt Ihr vielleicht Vittoria?«

Kapitel 5

Als Sebastian Lord Ashworths Haus in der Curzon Street verließ, war alles voll mit Straßenhehlern und Lehrlingen, die sich mit Kaufleuten und Ladeninhabern herumschubsten, und dazu mehr als ein paar neugierige Nachbarn des Toten.

Seinen Zweispänner sah er hingegen nicht.

Schließlich entdeckte er seinen Tiger an einem Trog vor einem Pub an der Ecke von Clarges, wo er die Pferde tränkte. Der Junge schaute ins Leere; sein Blick war auf nichts Spezielles fixiert.

»M’lord«, sagte Tom, der auffuhr, als Sebastian zu ihm kam, und sich zusammenriss. »Hab Euch nich gesehen! Tut mir so leid, so leid. Ich hätt …«

Sebastian sprang auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln. »Schon gut, Tom. Ob du es glaubst oder nicht, ich bin ohne allzu große Ermüdung in der Lage, zu Fuß an mehreren Straßenecken entlang zu gehen.«

Der Junge kletterte auf seinen Bock. »Is er – is Ashworth tot?«

»Sehr.«

»Wisst Ihr, wer ihm den Garaus gemacht hat?«

»Noch nicht.«

»Wenn Ihr mich fragt: Der wo ihn gekillt hat, hat der Welt nen Gefallen getan, den Kerl beiseitezuschaffen.«

»Ich neige dazu, dir rechtzugeben.«

»Dann macht Ihr Euch diesma nich die Mühe herauszufinden, wer’s war?«

Sebastian lenkte seine Pferde in Richtung des Hauses seiner Schwester am St James’s Square. »Unglücklicherweise ist der brutale Mord an dem Sohn eines Marquis’ etwas, das die Behörden nicht einfach ignorieren können. Das heißt, sie werden jemanden verhaften müssen. Und wenn der Palast allzu nachdrücklich drängt, spielt es keine Rolle, ob die Person, die sie in die Finger kriegen, schuldig oder unschuldig ist, solange sie nur hängt.« Er hielt inne, nur zu deutlich einer Möglichkeit bewusst, die eine Stimme in seinem Kopf flüsterte. Dann fügte er hinzu: »Er oder sie.«

***

Sebsastians Beziehung zu seiner Schwester Amanda, der Dowager Lady Wilcox, war nie einfach gewesen.

Amanda war das älteste der vier Kinder, die in der Ehe des fünften Earl of Hendon und seiner schönen, flatterhaften Countess geboren worden waren. Wäre sie ein Junge gewesen, wäre sie automatisch Viscount Devlin geworden und Erbin von Hendons weitläufigen Ländereien und der Titel. Als Mädchen hatte sie stattdessen mitansehen müssen, wie diese Ehre zuerst an ihren Bruder Richard und nach dessen Tod an Cecil übergegangen war. Sebastian wusste, dass sie Richard und Cecil nicht hatte leiden mögen, obgleich sie keinen dieser schon lange verstorbenen Geschwister so sehr gehasst hatte wie ihren jüngsten und als einziger noch lebenden Bruder Sebastian. Andererseits war sie zwölf Jahre älter als er und damit alt genug, um einige schmerzhafte Tatsachen über Sebastians Geburt zu wissen, die ihm bis vor Kurzem noch unbekannt gewesen waren.

Seine seit drei Jahren verwitwete Schwester wohnte in einem eleganten Stadthaus am St James’s Square, das eigentlich ihrem Sohn Bayard, dem derzeitigen Lord Wilcox, gehörte. Aber der junge Baron war eine gequälte Seele und stand noch ganz unter der Fuchtel seiner Mutter. Angesichts dessen, was er über Bayard Wilcox wusste, nahm Sebastian an, dass es besser so war.

Die beeindruckende Haustür Ihrer Ladyschaft wurde von einem grimmig dreinblickenden Butler namens Crowley gehütet, der sich vor Sebastian verbeugte und steif sagte: »Ich bitte um Verzeihung, Mylord, aber ich habe immer noch Order, Eure Lordschaft nicht in das Haus einzulassen.«

»Ich weiß.« Sebastian reichte dem Mann trotzdem seine Karte. »Ist Lady Ashworth bei meiner Schwester?«

»Ja, Mylord. Es gab«, der Butler zögerte und drehte den Hut in beiden Händen, während er offensichtlich abwägte, wie viel Information er an den entfremdeten Bruder seiner Dienstherrin weitergeben dürfe, »einen Zwischenfall.«

»Ich weiß über den Mord an Ashworth Bescheid, falls Sie das beunruhigt. Ich werde warten, während Sie meine Schwester und meine Nichte darüber in Kenntnis setzen, dass ich Informationen habe, die sie unbedingt hören sollten. Ich denke, Sie werden sehen, dass Lady Wilcox ihre Meinung darüber ändern wird, mich sehen zu wollen.«

Der Butler blickte zweifelnd, führte Sebastian aber in ein kleines Gesellschaftszimmer. Dann ging er davon, um seine Botschaft ihrer Ladyschaft zu übermitteln. Bei seiner Rückkehr verbeugte er sich erneut und sagte: »Hier entlang, Mylord.«

Er führte Sebastian in einen hübschen Kleinen Salon, in dem Amanda und ihre Tochter an einem Fenster saßen, das auf den Garten hinter dem Haus hinausging. Vor ihnen auf dem Tisch lagen noch die Überreste eines nur halb verspeisten Frühstücks. Es wirkte, als habe Lindleys Nachricht ihr Mahl unterbrochen.

Amanda war mittlerweile über Mitte vierzig. Wie ihre Mutter, die schöne, aber berüchtigte Countess of Hendon, war sie zierlich und anmutig von Gestalt, und ihr goldenes Haar war noch immer kaum mit Grau durchsetzt. Aber ihre groben Gesichtszüge waren die ihres Vaters, des Earls, so wie ihre auffallend blauen Augen auch. In letzter Zeit hatte sie begonnen, silberfarbene Kleider oder das Blassgrau zu tragen, das in der vorgerückten Trauerzeit um ihren verstorbenen Gatten üblich war. Er war ein gemeiner Mann gewesen, den sie inbrünstig gehasst hatte und sicherlich nicht vermisste.

Ihre neunzehnjährige Tochter, die frisch verwitwete Lady Ashworth, saß da und umklammerte mit den Händen die schmalen Armlehnen ihres Stuhls.

Wie ihre Mutter hatte Stephanie goldenes Haar und war zierlich gebaut, und sie hatte die gleichen intensiv blauen Augen der St Cyrs. Aber im Gegensatz zu Amanda hatte die Tochter nicht die weniger attraktiven Züge von Hendon geerbt. Vielmehr ähnelte sie in erschreckendem Maße ihrer Großmutter – ätherisch schön, verführerisch und von ungezähmter Wildheit bis zum Punkt der Selbstzerstörung. Sebastian, der ihr blasses, jedoch gefasstes Antlitz betrachtete, fragte sich nicht zum ersten Mal, welche Folge von Geschehnissen sie dazu verleitet hatte, sieben Monate zuvor Ashworth zu ehelichen.

»Wenn du nur hergekommen bist, um dich an deiner Schadenfreude zu weiden«, sagte Amanda, ohne ihn zu begrüßen, »kannst du gleich wieder umdrehen und gehen.«

Sebastian ging nicht auf seine Schwester ein, sondern sah seine Nichte an und sagte: »Ich werde nicht so tun, als ob ich es bedaure, dass er tot ist, Stephanie. Aber mir tut jede Unbill leid, die dir sein Tod verusacht.«

»Sehr umsichtig formuliert, Onkel«, sagte Stephanie. »Weißt du, wie er gestorben ist?«

»Ja. Weißt du es auch?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Nachricht des Marquis’ an Mama war taktvoll bis zu einem Grad der Abstrusität. Ich nehme an, weil die Wahrheit entsetzlich ist?«

»Ich fürchte, ja.«

»Nun tu nicht so verweichlicht und sag es schon«, versetzte Amanda.

»Nun gut. Er wurde mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt gefunden, nackt. Es ist derzeit noch schwer zu sagen, aber so wie es aussah, würde ich sagen, dass jemand seinen Brustkorb mit einem Beil traktiert hat.«

»Großer Gott«, sagte Amanda. »Was für ein Narr, sich in eine derart angreifbare Position zu begeben.«

Sebastian beobachtete seine Nichte. Ihre Brust hob sich in einem schnellen Atemzug, aber ansonsten veränderte sich ihr Ausdruck nicht. Er sagte: »Du wirkst nicht überrascht.«

Sie sah ihn unverwandt an. »Ich weiß, wie er war.«

Da keine der beiden Frauen ihn eingeladen hatte, Platz zu nehmen, ging er vor den Kamin und legte einen Arm auf der Umrandung ab. »Hast du eine Ahnung, wer ihn getötet haben könnte?«, fragte er Stephanie.

»Jemand, der ihn nicht leiden mochte?«, schlug sie vor. Ihre Nasenflügel bebten, ihr Blick wirkte erschöpft. »Das sollte die Liste auf quasi jedermann zusammschenschrumpfen lassen, der jemals mit ihm zu tun hatte.«

Das schwache, beharrliche Flüstern des Zweifels, das Sebastian schon zuvor wahrgenommen hatte, verwandelte sich nun in große Sorge. Sie war zu ruhig, zu … vorbereitet. »Wo warst du gestern Abend, Steph?«

»Grundgütiger.« Amanda erhob sich und machte in einer Hast, die ihr silbernes Trauerkleid um ihre Knöchel schwingen ließ, mehrere Schritte auf ihn zu. »Was genau deutest du da an?«

Sebastian behielt weiterhin Stephanie im Blick. »Du weißt, dass diese Frage kommen wird«, sagte er sanft. »Wo warst du?«

Stephanies Hände an den Armlehnen ihres Stuhls verkrampften sich. »Zu Hause. Ich habe geschlafen.«

»Kann das jemand bestätigen?«

Ihr Kinn ruckte hoch. »Ich war allein, falls das deine Frage ist.«

Amanda wischte in einer scharfen, missbilligenden Geste mit der Hand durch die Luft. »Ernstlich, Devlin? Sie hat vor kaum einem Monat Kinder geboren. Was willst du andeuten?«

»Die Zwillinge schlafen bei ihren Ammen?«, fragte er Stephanie.

»Ja.«

Amanda verzog die Lippen zu einem missbilligenden Grinsen. »Du dachtest doch nicht ernstlich, meine Tochter würde sich in eine Milchkuh verwandeln?«

Dieser Seitenhieb galt Sebastians Frau Hero, die ihren kleinen Sohn selbst gestillt hatte. Er ignorierte die höhnische Bemerkung und fragte Stephanie: »Wann hast du deinen Mann zum letzten Mal gesehen?«

»Das muss mindestens eine Woche her sein, wenn nicht mehr.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Ich würde dir raten, darauf zu achten, dass du keine Lügen aussprichst. Nicht, wenn es um Mord geht.«

»Ich lüge nicht. Ashworth hat mich geheiratet, um die immer fordernderen Bitten seines Vaters zu erfüllen, und sobald er erfahren hat, dass ich schwanger war, hat er mich ebenso gern ignoriert wie ich froh war, in Ruhe gelassen zu werden. Und jetzt bin ich ehrlich gesagt überglücklich, Witwe zu sein.«

»Eine Wahrheit, die ich dir rate, für dich zu behalten.«

Stephanie neigte den Kopf zu einer Seite, und ein seltsam verkniffenes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Wirklich, Onkel? Und doch hast du mir gerade erst geraten, nicht zu lügen.«

»Nicht darüber, wo du wann gewesen bist. Aber ich glaube, deine Freude über die Witwenschaft kann guten Gewissens verborgen bleiben.«

Amanda stieß ein angewidertes Schnauben aus. »Du willst nicht ernstlich andeuten, irgendjemand könnte es wagen, Stephanie zu verdächtigen? Stephanie?«

»Ich fürchte, das ist durchaus möglich, wenn man bedenkt, dass Ashworth anscheinend von einer Frau getötet wurde.« Er sah, wie sich Stephanies Augen weiteten, und er fragte: »Das erschreckt dich. Warum?«

»Natürlich erschreckt mich das. Mutter mag ja glauben, dass mich niemand verdächtigt. Aber diese Sicherheit teile ich nicht.«

Ihre Stimme brach, als sie das sagte, was ihm einen kleinen Einblick in das stille Entsetzen gab, das sie so tapfer versteckte. Und kurz spürte er sich von der Zuneigung zu dieser schönen, lebendigen und aufgewühlten jungen Frau überwältigt, die er Zeit ihres Lebens schon empfand. Er sagte freundlich: »Wenn du etwas weißt – egal was –, das Licht in das bringen könnte, was Ashworth zugestoßen ist, musst du es mir sagen.«

Sie erhob sich von ihrem Stuhl und ging zum Fenster, um, eine Hand auf der Fensterbank, in den Garten zu blicken. »Ich weiß nichts.«

Er betrachtete ihr halb abgewandtes Profil. »Ich helfe dir auf jede erdenkliche Weise, Stephanie. Aber du musst ehrlich zu mir sein.«

»Wir brauchen deine Hilfe nicht«, sagte Amanda, ging zur Klingel und läutete mit einem festen Zug. »Einer der Butler wird dich hinausbegleiten.«

Sebastian erwiderte den steinharten Blick seiner Schwester. »Ich hoffe zu Gott, dass du recht hast.« Zu Stephanie sagte er: »Wenn du mich brauchst, weißt du, wo du mich findest.«

Sie betrachtete ihn, und in den Tiefen der lebendigen blauen Augen der jungen Frau sah er etwas flackern.

Doch sie wandte das Gesicht ab und sagte nichts.

***

Als Nächstes ging Sebastian zur Residenz von Alistair James St Cyr, fünfter Earl of Hendon, am Grosvenor Square. Er war seit vielen Jahren Schatzkanzler und seinen Mitmenschen als Sebastians Vater bekannt. Laut Hendons Butler war der Earl jedoch zwei Tage zuvor nach Oxford abgereist.

Sebastian schrieb eine sorgfältig formulierte Nachricht, dann fuhr er zurück zu seinem eigenen Haus in der Brook Street. »Stell sie erst einmal in den Stall«, sagte er zu Tom und gab ihm die Zügel. »Und hol dir auch gleich etwas zu essen. Ich habe so ein Gefühl, dass das heute ein langer Tag wird.«

»Aye, M’lord.«

Sebastian sah zu, wie der Knabe davonfuhr, bevor er sich umdrehte, um die Stufen vor dem Haus zu erklimmen. »Ist Lady Devlin da?«, fragte er seinen Majordomus und reichte ihm seinen Kutschmantel, Hut und Handschuhe.

»Ich glaube, ja«, sagte Morey.

»Ah. Danke sehr.«

Sebastian fand seine Frau Hero über den Bibliothekstisch gebeugt vor. Sie betrachtete so konzentriert die Karte, die sie darauf ausgebreitet hatte, dass sie ihn nicht kommen hörte. Er blieb kurz auf der Türschwelle stehen, und ein leichtes Lächeln glitt ihm über die Lippen, während er sie still beobachtete.

Sie war eine außergewöhnlich große Frau, fast so groß wie er selbst, mit einem sportlichen Körperbau, warmem braunem Haar und ausgeprägten, leicht maskulinen Zügen. Sie war zudem einer der brillantesten Menschen, die er kannte, folgte unbeirrbar den Regeln der Logik und widmete sich mit Leidenschaft dem Identifizieren und Ausgleichen von Ungerechtigkeiten in der Welt, in der sie lebten. Seit einiger Zeit arbeitete sie bereits an einer Artikelserie über die Armen in London – eine Unternehmung, die ihren Vater Charles Lord Jarvis, den omnipotenten Vetter des Königs, zutiefst verärgerte. Als die wahre Macht hinter der fragilen Regentschaft des Prince of Wales versetzte Jarvis fast alle Menschen im Königreich in Angst. Außer Hero.

Sie war inzwischen seit zwei Jahren Sebastians Gattin, aber für ihn nach wie vor ein Wunder. Sie war in einer besonders düsteren Zeit in sein Leben getreten, als er zuerst die Frau, die er über Jahre geliebt hatte, verloren hatte, und danach sein Verständnis davon, wer und was er eigentlich war. Jetzt konnte er sich die Welt nicht mehr ohne Hero vorstellen. Manchmal überkam ihn aus dem Nichts in der von Monstern heimgesuchten Dunkelheit der Nacht die Angst, sie oder ihren gemeinsamen kleinen Sohn Simon zu verlieren, und das mit einer Wucht, die ihm den Atem nahm und ihn bis auf die Knochen verängstigte. Er nahm an, das würde nun immer so bleiben.

Da blickte sie auf, sah ihn und lächelte.

»Neues Projekt?«, fragte er und stieß sich vom Türrahmen ab.

»Ich denke darüber nach, einen Artikel über die armen Müllsammler in Londons Straßen zu schreiben – hauptsächlich über die, die den Müll nach Kot und Knochen durchwühlen, die Lumpensammler, vielleicht aber auch die Abortgrubenmänner, wenn ich mich dazu durchringen kann.« Die Abortgrubenmänner waren die Arbeiter, die des Nachts die Hunderttausende Latrinengruben und Plumpsklos leerten und immer ihrem Beruf entsprechend stanken.

»Klingt zauberhaft«, sagte Sebastian und ging zum Beistelltisch, um sich einen Brandy einzuschenken.

»Stimmt es?«, fragte sie und beobachtete ihn. »Ist Ashworth tot?«

Sebastian löste den Stopfen aus der Brandykaraffe. »Ja. Mit einem Beil zu Tode geschlagen, während er nackt in seinem Bett angebunden war. Diese Pikanterie werden sie nicht aus den Zeitungen fernhalten können. Niemals.«

»Arme Stephanie. Wie trägt sie es?«

»Mit erschütternder Gelassenheit.«

Hero beobachtete, wie er den Dekanter zur Seite stellte und nach seinem Glas griff. »Du verdächtigst doch nicht ernsthaft Stephanie des Mordes?«

Er nahm gemächlich einen Schluck Brandy und spürte ihn brennend durch die Kehle hinunterrinnen. »Ich wünschte, ich täte es nicht.«

»Ist sie zu dieser Art von Gewalt überhaupt fähig?«

»Wenn sie dazu getrieben wird? Ich glaube schon. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Mann wie Ashworth fast in jeder Frau den Wunsch auslösen würde, ihn zu töten.«

Hero ging zu ihm, trank einen Schluck seines Brandys und gab ihm das Glas wieder zurück. »Ich werde nie verstehen, warum sie ihn geheiratet hat.«

»Weil sie im dritten Monat schwanger war und es nicht ausgehalten hat, sich den Konsequenzen zu stellen.«

Hero lächelte schief. »Das kann ich nachvollziehen. Ich schätze, was ich nicht verstehe, ist vielmehr, wieso sie sich überhaupt auf einen solchen Mann eingelassen hat.«

»Na, er war der Erbe eines Marquis’, außergewöhnlich reich und auf eine schurkische, gefährliche Art unleugbar attraktiv. Außerdem konnte er, wenn er es wollte, sehr charmant sein.«

Hero zog ein Gesicht. »Kann ich mir denken.«

Er trank noch einen Schluck. »Stephanie sagt, die Liste der Menschen, die Ashworth tot sehen wollten, sei sozusagen endlos.«

»Zweifellos. Wo schlägst du vor anzufangen?«

»Bei jemandem, der den Mann gut kannte und es dennoch irgendwie hinbekommen hat, ihn leiden zu mögen.«

»Ich schätze, so jemanden wird es geben.«

»O ja.« Sebastian leerte seinen Drink in einem langen Zug und stellte das Glas ab. »Ich bin mit ihm zur Schule gegangen.«

Kapitel 6

Sein Name war Sir Felix Paige, und er war ein Freund von Ashworth gewesen, seit sie als Jungen zusammen Eton besucht hatten. Sebastian war zur selben Zeit in Eton gewesen, aber er hatte keinen der beiden je seinen Freund genannt.

Im Gegensatz zu Ashworth, der in seine Position als Erbe seines Vaters geboren worden war, hatte Paige sein Leben als jüngerer Sohn eines jüngeren Sohns begonnen. Im Alter von siebzehn Jahren hatte er sich mit Unterstützung seines Onkels ein Offizierspatent gekauft, anstatt nach Oxford oder Cambridge zu gehen. Dann war er nach Indien aufgebrochen, um ein Vermögen zu machen. Allerdings war er dort beinahe gestorben – zuerst am Fieber, dann an einer grässlichen Kopfwunde, die er in der Schlacht von Assaye bekommen hatte. Zur Genesung nach Hause geschickt, hatte er das große Glück gehabt, in rascher Abfolge zuerst seinen Vater, seinen Onkel, den kinderlosen einzigen Sohn seines Onkels und dann seinen unverheirateten älteren Bruder zu begraben. Der frischgebackene Baronet, der auf diese Weise unverhofft zu Titel und Vermögen seiner Familie gekommen war, veräußerte unverzüglich sein Offizierspatent, ließ sich dauerhaft in London nieder und reiste nur noch in der Jagdsaison zu seinem Anwesen auf dem Lande.

Wie Ashworth war Sir Felix ein wohlhabender Bonvivant, ein Sportler mit dem Ruf eines hervorragenden Reiters, der sowohl in Angelo’s Fechtakademie als auch in Gentleman Jackson’s Boxklub in der Bond Street viele Stunden verbrachte. Dort fand Sebastian ihn auch, im Ring mit Gentleman Jackson höchstpersönlich.

Sebastian blieb in der Nähe an eine Wand gelehnt stehen, während die beiden Männer gegeneinander boxten. Paige war ein großer, schlaksiger Mann mit sandfarbenem Haar, einer hohen Stirn und einem beweglichen, ausdrucksstarken Gesicht, das ständig zu einem breiten Lächeln bereit zu sein schien – wobei das Lächeln nur selten bis zu den blassblauen Augen hinauf reichte, die immer wachsam und wertend waren.

Sebastian war von der Fußarbeit und der Expertise des Baronets ebenso überrascht wie von der Art und Weise, wie seine absolute Konzentration auf seinen Gegner nicht eine Sekunde nachließ. Trotzdem wusste Sebastian, dass dem Mann seine Anwesenheit bewusst war, und dass er die Beobachtung nicht schätzte. Als die letzte Runde vorbei war, schlang sich der Baronet ein Handtuch um den Hals und kam zu ihm.

»Ihr müsst wohl aus einem bestimmten Grund hier sein«, sagte Paige, dessen Gesicht vom Schweiß glänzte. Seine Brust hob und senkte sich im angestrengten Atmen.

Sebastian löste sich von der Wand. »Habt Ihr schon von Ashworth gehört?«

Eine unlesbare Regung glitt über das grobknochige Gesicht des Baronets, die sofort wieder verschwunden war. »Ja.«

»Dann wisst Ihr, weshalb ich hier bin.«

»Ach ja?«

»Ihr wart einer seiner engsten Freunde, oder nicht?« Sebastian machte eine spürbare Pause, bevor er hinzufügte: »Insbesondere jetzt, da Rowe tot ist.«

»Rowe habe ich nicht gut gekannt. Aber Ash und ich waren Freunde, ja. Alte Freunde.« In der Wortwahl des Baronets lag die gleiche Vorsicht wie in seinem Blick.

»Wer hat ihn Eurer Meinung nach getötet?«

Paige hob die Hand, um sich mit einem Zipfel des Handtuchs über das verschwitzte Gesicht zu wischen, dann wandte er sich zu den Umkleiden. »Ich habe keine Ahnung.«

»Nicht?«, fragte Sebastian, der mit ihm Schritt hielt. »Aber Ihr müsst eine Ahnung haben, wer seine Feinde waren.«

Paige warf ihm einen Seitenblick zu. »Eine Liste habe ich nicht gerade geführt, falls das Eure Frage ist.«

»Waren es so viele?«

»Die meisten Männer haben Feinde.«

»Aber Ashworth hatte mehr als nur ein paar?«

Paige zuckte die Achseln.

Sebastian sagte: »Wann habt Ihr ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Das war tatsächlich gestern Abend. Bei Tatersall’s. Warum?«

»Hat er zufällig erwähnt, wie er den Abend verbringen wollte?«

»Nicht dass ich wüsste, nein. Tut mir leid.«

»Wie ist er Euch vorgekommen?«

Paige zog sich das verschwitzte Hemd aus und ging zu einem Waschtisch, um Wasser in eine Schüssel zu schütten. »Was meint Ihr damit?«

»War er nervös? Verärgert? Fassungslos?«

Paige schüttelte den Kopf. »Wohl kaum. Wenn überhaupt, würde ich sagen, er war in guter Stimmung. Das war er meistens.«

»Habt Ihr gehört, wie er gefunden wurde?«

Paige presste die Lippen zusammen. »Ja.«

»Ist Euch bekannt, welche Art Spielchen er gern gespielt hat?«

»Vage.«

»Spielt Ihr solche Spiele auch gern?«

Paige erstarrte beim Händewaschen. »Nein.«

»Ich kann das herausfinden, wisst Ihr.«

Die Nasenflügel des Baronets blähten sich, als er rasch einatmete. »Das könnt Ihr halten, wie Ihr wollt. Aber nennt mich noch einmal Lügner, dann ziehe ich Euch zur Rechenschaft.«

»Wenn Ihr seine Machenschaften so verachtenswert fandet, wieso seid Ihr dann sein Freund geblieben?«

»Das ging mich doch nichts an.«

»So könnte man es wohl sehen, schätze ich.« Sebastian beobachtete, wie Paige sich über das Bassin beugte und sich Wasser ins Gesicht spritzte. »Ihr kennt nicht per Zufall den Namen der Frau, mit der Ashworth gestern Abend zusammen war?«

»Tut mir leid, aber nein.«

»Gab es eine spezielle Person, mit der er in letzter Zeit zu tun hatte?«

Paige sah auf; von seinem Gesicht tropfte das Wasser.

»Es gab wohl jemanden?«, fragte Sebastian.

Paige griff nach einem sauberen Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab. »Ash hat immer eine Vorliebe für gefährliche Frauen gehabt. Er sah sie als Herausforderung.«

»Und wer war dann seine letzte ›gefährliche Frau‹?«

Obwohl sie allein waren, warf der Baronet einen Blick um sich und senkte die Stimme. »Habt Ihr von dieser Großfürstin gehört, die in der Stadt ist?«

Es war nur eine Großfürstin von Bedeutung in der Stadt: Katharina von Oldenburg, die geltungssüchtige, in Russland geborene Schwester des Zaren Alexander. »Ihr wollt nicht ernstlich andeuten, dass Ashcroft sich mit Großfürstin Katharina eingelassen hat?«, sagte Sebastian. »Sie ist doch erst angekommen.«

Paige schüttelte den Kopf. »Nicht mit ihr, sondern mit einer ihrer Damen. Ivanna ist ihr Name; Prinzessin Ivanna Gagarin. Sie ist bereits seit Wochen hier.«

Sebastian musterte das Gesicht seines Gegenübers und suchte nach Anzeichen einer List. Er sah keine. »Seid Ihr sicher?«

»Dass sie gestern Abend mit Ash zusammen war? Nein, natürlich nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber soweit ich weiß, liebt sie die Art Spielchen, die er spielt.«

Sebastian beobachtete Paige, der sich ein frisches Hemd über den Kopf zog. »Mit wem hat er in letzter Zeit noch seine Spiele gespielt?«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

»Könnt oder wollt Ihr nicht?«

Paige lächelte vage und griff nach seiner Krawatte.

Sebastian sagte: »Nur aus Neugier: Wo wart Ihr gestern Abend?«

»Ich? Im White’s. Warum?«

»Bis wann?«

»Zwei? Vielleicht drei Uhr.«

»Und danach seid Ihr nach Hause gegangen?«

»Ja. Ich bin früh ins Bett gegangen.« Der Baronet hielt den Blick auf den Spiegel gerichtet und widmete sich ganz den Feinheiten seines Halstuchs. »Bitte sagt mir, dass Ihr nicht ernsthaft andeuten wollt, ich könnte etwas mit dem Tod von Ash zu tun haben. Ich verstehe Euren Impuls, Eure Nichte zu beschützen, aber das werdet Ihr nicht tun, indem Ihr die Schuld mir zuschiebt. Glaubt mir, mit Prinzessin Ivanna habt Ihr viel mehr Glück.«

»Ach ja? Und wieso?«

Paige drehte sich vom Spiegel weg, und seine Augenwinkel legten sich in echter Belustigung in Falten. »Überprüft sie. Ihr werdet schon sehen.«