Leseprobe Der Stoff der Tränen | Die historische Familiensaga im 19. Jahrhundert

Kapitel 1 - Neujahr 1886, Plauen

Helene

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und ein makelloses Eiskristall an der Fensterscheibe zerrann unter der Berührung ihrer Fingerkuppe. Erschrocken zog Helene ihre Hand zurück und betrachtete wehmütig den Tautropfen, der in Zeitlupe an der Scheibe hinablief. Wie hurtig die Dinge doch vergehen, ging es ihr durch den Kopf und sie nahm sich vor, das Kristall so schnell es ihr möglich wäre, zu zeichnen. Die Vollkommenheit dieser Winterpracht inspirierte sie zu einem neuen Spitzenmuster. Bevor sie sich schon am ersten Tag des Jahres in Arbeit verlor, wandte sie ihr Gesicht ab und sah in die Runde.

Hinter ihr waren fast alle Familienmitglieder zum Neujahrsbrunch zusammen gekommen und Helene schmunzelte. Wie sie sich herausgeputzt hatten! Der aufwendige Kleidungsstil ihrer Mutter Dorothea ließ annehmen, sie wäre auf dem Weg zu einer Nachmittagssoiree bei einer der Plauener Damen von Rang und Einfluss. Selbst ihr Haar war in frische Wellen gelegt, sorgfältig zu einem erstaunlichen Gebilde zusammengesteckt. Da hat sich Mutters Hausdame alle Mühe gegeben, urteilte Helene anerkennend.

Ihr Vater, Wilhelm zu Hohenlinden, auch er in feinsten Zwirn gewandet, gab ihr in jenem Augenblick ein Handzeichen und sie stutzte kurz. Da öffnete er schon die Tür in das Vestibül der Stadtvilla und Kinderstimmen erklangen.

»Schnell, schnell Lenchen, wir wollen die Kleinen nicht warten lassen, es ist zu kalt, um ewig an der Haustür zu stehen«, erklärte ihr Vater, der die Tradition der Neujahrswünsche liebte. Sie verstand, raffte ihren ausladenden Rock und folgte ihm schnellen Schrittes. Schon griff er nach einer Schale gefüllt mit Karamelle, die ihm der Butler hinhielt und trat im Vestibül vor eine Gruppe Kinder.

»Iech wünsch eich e neies Goahr, des besser werrd, wie’s alte war. Ne Stall voll Hörner, ne Boden voll Körner, die Schei voll Stroh, nu gebbts mir wos, nooch bie iech froh.« Der pausbäckige Junge, der vor die Gruppe getreten war und stolz seinen Reim präsentierte, drehte seine Wollmütze verlegen in den Händen, als ein Mädchen neben ihn geschoben wurde. Helene sah Furcht in ihren weit geöffneten Augen und wollte sie am liebsten von ihrer Pflicht entlassen, doch Wilhelm hielt sie zurück, als er bemerkte, was seine Tochter vorhatte.

»Lass sie, man wird sie auslachen, tut sie jetzt nicht, was eingeübt wurde«, raunte er ihr zu und sie verstand. Die Traditionen mussten eingehalten werden, auch wenn dies bedeutete, sich am Neujahrstag vor fremden Türen die Zehen zu erfrieren und vor Bammel fast zu vergehen. Schon war ein dünnes Stimmchen zu hören, das mit Anstrengung und durch tiefes Einatmen begleitet, sagte: »Zen neie Goahr viel Glück und Segn!«

»Und, kleines Fräulein, hast du nicht etwas vergessen«, tönte die tiefe Stimme von Helenes Vater. Das Kind erschauderte, doch er lächelte auffordernd. Aus der Reihe hinter dem Mädchen kam ein Gemurmel, bis der ganze Chor mit einem: »Nu müßt ihr mir aah enn Neigrosch gehm« den Vers vervollständigte. Das dunkle Lachen ihres Vaters schallte vor Vergnügen durch das gesamte Vestibül und die Mienen der Kinder vor der Haustür entspannten sich.

»Nun denn, Hofstetter, wo haben wir die Groschen fürs Neie Goahr?«, ließ er seinen Butler vortreten und der übernahm es, den Neujahrsgroschen zu verteilen. Helene legte Karamelle in Kinderhände, folgte gierigen Blicken und stutzte bei den abgewetzten Handschuhen, die die Kälte kaum mehr als notdürftig abhielten. Da muss ich wieder mal mit dem Armenpfleger reden und herausfinden, was wir tun können, machte sie sich eine gedankliche Notiz und huschte schnell ins Innere ihres warmen Zuhauses zurück.

»Wie gut es uns doch geht. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir als Kinder je von Haus zu Haus gezogen wären. Außer draußen auf dem Gut, aber auch da mehr zum Spaß und weil der Pfarrer drauf bestand, als dass wir einen Groschen verdienen mussten«, wandte sie sich an ihren Vater, der schnellen Fußes vor ihr zum Speisezimmer zurückging. Er stockte kurz.

»Es wird immer Unterschiede geben, Hottehü, du hast eben Glück gehabt und jeder tut an seinem Platz, was ihm möglich ist und wofür er vorgesehen ist. Außerdem ist Singen ja kaum deine Stärke«, versuchte er dem Gespräch die Ernsthaftigkeit zu nehmen und hielt ihr die Tür auf. Helene lächelte über seine pragmatische Art, die sie manchmal etwas einfältig fand, doch es war der falsche Moment für eine Diskussion. Im Speisezimmer hatte man sie nicht vermisst. Launisch und aufgeräumt schwappten ihnen die Gespräche der anderen Familienmitglieder entgegen.

Einzig ihr Bruder Gustav schien von seinen nächtlichen Eskapaden noch immer derangiert und mit einem Kater zu kämpfen. Zu seiner Hilfe eilte die gute Josefa herbei und hielt ihm ein Glas mit undefinierbarem Inhalt hin.

»As neie Goahr so zu beginne, ach junger Herr.« Helene beobachtete die intim anmutende Szene mit einem Lächeln. Augenscheinlich war die Köchin der zu Hohenlindens einzig heraufgeeilt, um ihrem heimlichen Liebling der Familie beizustehen. Sie verließ ihre Küche sonst nur an hohen Festtagen oder wenn man sie ausdrücklich dazu aufforderte. Plagte sich ihr Bruder jedoch mit einem Kater, braute Josefa höchstselbst eines ihrer Einimmiche und begab sich sogar freiwillig herauf.

»Nu mach scho, trink. Halt dir mierweng ne Riecher zu«, zischte sie unwillig und Helene amüsierte der gestrenge Ton, den sich Gustav von ihrer Mutter nie gefallen lassen würde. Den vogtländischen Dialekt versteckte die rundliche Frau mit den grauen Knopfaugen und den immer etwas geröteten Wangen nur schwerlich, aber das würde auch nicht zu ihr passen, geradeheraus und zupackend, wie sie war.

Helene beobachtete, wie ihr Bruder die gräuliche Flüssigkeit widerwillig hinunterwürgte und angewidert den Kopf schüttelte, als er das Glas an Josefa zurückgab. Die nickte zufrieden, warf Hans Hofstetter, ihrem Butler einen kurzen Blick zu, knickste vor ihrer Mutter und verschwand so schnell und unauffällig, wie sie heraufgekommen war. Gustav wischte sich die Lippen an einer Serviette und schüttelte sich ein weiteres Mal. Dann trat er auf sie zu.

»Das Zeug ist widerlich, aber es hilft.« Seine Stimme war kratzig und zeugte von einem ausgelassenen Fest, das er mit ehemaligen Kommilitonen in einer Schenke am Neustadtplatz gefeiert hatte. Punkt Mitternacht war er herübergekommen, um an der Syra mit seiner Verlobten und der gesamten Familie anzustoßen.

Helene zollte ihrer künftigen Schwägerin Respekt, die nonchalant zugestimmt hatte, als er die Silvesternacht mit seinen Studienfreunden aus Dresden verbringen wollte. »Dein letztes ausgelassenes Neujahrsfest in Freiheit sei dir gegönnt«, hatte sie zwinkernd zu ihm gesagt und Helene erinnerte sich an seinen verdutzten Gesichtsausdruck. Damit hatte ihr Bruderherz nicht gerechnet. Doch Judith war eine außergewöhnliche junge Frau. Mitfühlend, intelligent, aber genauso spontan und aufbrausend. Nach ihrer Verlobung mit einem unberechenbaren Tyrannen, der sie gerade noch so entkommen war, hatte sie sich vorgenommen, nie wieder klein beizugeben, nur weil ein Mann dies von ihr verlangte.

»Ich habe meine Lektion gelernt, Helene. Sollte ich je heiraten, muss es ein Kerl wie dein Robert sein«, hatte sie sich ihr erklärt und Helene war damals mehr als überrascht über diesen Kraftausdruck gewesen. In ihrem Inneren jubelte es, denn Judith hatte recht. Ihr Gatte, der Oelsnitzer Korsettwaren-Fabrikant Robert Arnstädt war ein Prachtstück von einem Ehemann, Weggefährten, Liebhaber und Freund. Schmunzelnd erinnerte sie sich an Judiths Ausführungen, denen ihr Bruder vor nunmehr fast zwei Jahren atemlos gefolgt war.

»Nie wieder lasse ich mich kleinreden, auf Mutterschaft und Haushaltsführung reduzieren. Ich möchte Kinder, sogar einen ganzen Haufen, aber das Wichtigste in einer Ehe ist der Respekt. Wenn mich jemand kleinhält, mir einredet, ich wäre nichts wert, außer im ehelichen Schlafzimmer …« Bei diesem Wort hatte Judith verlegen in Richtung ihrer Mama geschaut und den Blick gesenkt, um mit leiser Stimme fortzufahren: »Als ob eine Frau nichts anderes zu bieten hat als einen schönen schlanken Hals oder nette Garderobe. Das ist einfältig und ich verstehe nicht, warum viele jungen Dinger eben diesem Bild nacheifern. Haben sie denn gar kein Selbstwertgefühl? Ich hoffe, meine Bestimmung findet mich bald und bis dahin werde ich einfach alles ausprobieren.« Sie hatte Gustav damals herausfordernd angesehen und Helene erinnerte sich des Erstaunens in seinem Gesicht. Er war nicht nur beeindruckt gewesen, sondern ein klein wenig eingeschüchtert.

Wohl denn, es hatte funktioniert. Die Tochter einer entfernten Cousine ihrer Mama war ihrem Bruder Gustav anfangs mehr aus Langeweile, später mit wahrem Enthusiasmus im Kontor zur Hand gegangen. Seine fixe Idee, einen eigenen Laden in Plauen zu eröffnen, war schnell konkreten Plänen gewichen und die beiden hatten sich darin verbissen wie zwei Füchse in eine Henne. Seither waren sie unzertrennlich, hatten Mitte 1885 den Laden eröffnet, ihn bald schon erweitert und in vier Wochen würden sie sich endlich das Ja-Wort geben. Lang genug hat er sich geziert, mein Bruderherz, dachte sie an die Verlobungszeit von anderthalb Jahren und war dennoch froh, dass er nichts überstürzt hatte.

Helene war erleichtert ob dieser neuen Liebe, holte sie ihren Bruder doch aus seinen düsteren Selbstvorwürfen, die ihn nach seiner letzten Liaison gepeinigt hatten. Er war einer Schwindlerin aufgesessen, oder sollte sie besser sagen, einer Besessenen? Helene wusste es nicht mit Bestimmtheit, doch Lydia Clesen, eine alte Bekannte ihres Mannes, hatte sich durch ihre eigene Vermählung mit Robert brüskiert und übergangen gefühlt. Anstatt einzusehen, dass er nicht an ihr interessiert war, hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, der Familie zu schaden. Gustav war von ihr wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt worden. Doch damit nicht genug. Ihre kriminellen Machenschaften hatten der Plauener Spitzenmanufaktur nicht nur einen großen Verlust beschert, sondern auch das Stadthaus in allerlei Tumult gestürzt. Zum Glück lag das alles hinter ihnen und schien Helene manchmal wie eine groteske Farce aus einem bizarren Theaterstück. Und doch, die Spitzenunikate, die sie verloren hatten, grämten sie.

Just in ihre Gedanken, die sich aufmachten an die Vorbereitungen dieser opulenten Vermählung zu denken, erscholl Luises Stimmchen. Helene schrak hoch und sah zu Robert hinüber, der in ein Gespräch mit ihrem Vater vertieft schien. Auch er hatte ihre Tochter gehört und tat die wenigen Schritte zu Dorothea, die versuchte, ihre Enkelin zu beruhigen. Liebevoll hielt sie das Mädchen auf dem Schoß und Helene rührte der Anblick. Während sie hinüber ging, fing sie Johannas tieftraurigen Blick auf, mit dem sie die innige Szene begleitete. Scharlach hatte dem kurzen Leben ihres Sohnes ein grausames Ende gesetzt und seither war für ihre große Schwester nichts mehr wie früher. Ein betrübliches Kapitel ihrer Familiengeschichte.

Mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Tochter, nicht ohne zu hören, wie sich Judith in anschaulichen Erklärungen ihrer Träume in den Unternächten erging. Ein Thema, dem sich Helene nicht stellen wollte, denn die ihren waren klar und beängstigend gewesen.

Helene legte eine Hand auf die Schulter ihres Mannes und beugte sich wie er über ihre Tochter. Beim Anblick des Vaters beruhigte sich Luise sofort und brabbelte in ihrem Kleinkind-Kauderwelsch auf ihn ein. Die rosigen Patschhändchen unterstrichen jedes Wort und fuchtelten wild in der Luft herum.

»Es wird nicht lange dauern und sie hält die Neujahrsrede«, sagte sie an alle gewandt und nahm die Kleine hoch. Sie schmiegte Luises Kopf in ihre Halsbeuge und blickte Robert an.

»Ist sie nicht wunderschön?«

»Genau wie ihre Mama«, flüsterte der und berührte seine Tochter leicht am Rücken.

»Ich gehe kurz mit ihr hinauf, wartet mit dem Toast auf mich.« Wie schon bei Esther hatte sie ihre Tochter selbst gestillt, auf eine Amme verzichtet und obwohl diese Zeit vorbei war, versorgte sie sie doch weitestgehend ohne Hilfe, wenn sie nicht im Geschäft war. Bald haben wir weniger innige Momente, meine Süße. Dann sind Windeln ein Thema der Vergangenheit und du rennst mir davon, murmelte sie in den Haarschopf ihrer Tochter und zog das Türblatt hinter sich zu.

Robert und sie bewohnten im ersten Stock des Stadthauses an der Syra zwei Zimmer mit Ankleide und Bad und hatten für Luise einen kleinen Raum von ihrem Salon abgetrennt. Gemütlich war es hier oben, wie in der Suite eines Hotels. Allen Geschwistern hatte der Vater im neuen Stadthaus einen solchen Trakt eingerichtet, auch seiner Tochter Johanna.

Johanna, dachte Helene, ach du Liebe. Wie wird es wohl für dich weitergehen? Der Eklat zwischen ihrer Schwester und deren Mann August Bader hatte die Familie geschockt, war aber unausweichlich gewesen. August, ein gewiefter Handelsreisender, hatte es zu weit getrieben, seine Frau einmal zu oft betrogen und auch das Familienunternehmen hintergangen. Der Tod des Sohnes jedoch hatte die Ehe ihrer Schwester endgültig ins Wanken gebracht.

Was etwas Abstand für die Eheleute hatte sein sollen, wuchs sich in ein Leben in zwei verschiedenen Städten aus. Ihr Schwager hatte vor anderthalb Jahren eine Dependance in Paris eröffnet, sie eingeführt, geleitet und nachdem sie erfolgreich und profitabel war, gleich eine zweite ins Auge gefasst. Seither besaßen sie drei europäische Niederlassungen, an denen man Geschäfte abwickeln, Spitzen und fertig konfektionierte Mode oder Posamenten kaufen konnte. Paris, Barcelona und Mailand waren die exotischen Plätze, zwischen denen August pendelte. Plauen lag abseits seiner Route und so sah man ihn in den letzten zwei Jahren nur an Feiertagen in der Stadt. Dann verbrachte er die meiste Zeit im Kontor oder er spielte mit Esther. Das Verhältnis zu den andern Familienmitgliedern hatte sich merklich abgekühlt.

Wie immer reden wir nicht drüber, alle tun so, als ob nichts wäre. Johanna ist aufmerksam und nett zu ihm, wenn er hier ist, doch sobald er abfährt, lüftet sich ein Schleier von ihren Augen. Dann blüht sie regelrecht auf, ist engagiert im Kontor und dem Maria Hilfsverein, organisiert ihren Lesezirkel und leitet Esther mit strenger, aber liebevoller Hand.

Helene Arnstädt, geborene zu Hohenlinden, hatte eine besondere Beziehung zu ihrer Nichte. Sie war ihre leibliche Mutter und hielt sich an den Schwur, den sie ihrer Schwester geleistet hatte. Niemals würde sie jemandem außerhalb der Familie von ihrem Geheimnis erzählen. Dass Johanna ihre uneheliche Tochter als die ihre ausgab und liebevoll großzog, war ein großes Geschenk. Ihre engste Verwandtschaft wusste mittlerweile um den Coup, der von August angezettelt, anfangs nur zwischen ihnen drei bekannt gewesen war. Zufälle und Intuition hatten die anderen Familienmitglieder auf ihre Spur gebracht. Sie hatte sich geschworen, Esther nie zu verlassen. Seit einem Badeunfall war Helene besessen davon, nur sie selbst könne das Mädchen beschützen. Als sie ihre Tochter in letzter Sekunde aus dem Weiher des Gutshofes gerettet hatte, gab sie sich selbst diesen Schwur. Und Helene hielt sich an ihre Versprechen.

Ein lautes Scheppern und danach ein unflätiges Fluchen ließ sie aufhorchen. Sie setzte Luise in ihr Laufgitter und lief mit kleinen, schnellen Schritten zur Tür. Als sie diese öffnete und nach draußen spähte, gewahrte sie Ernst, den Hausburschen. Er stand vor einem Haufen Holz, der sich aus einem kaputten Weidenkorb vor ihm entleert hatte. Er bemerkte sie und drehte sich nach ihr um.

»Es tut mir leid, gnädige Frau. Ich habe das nicht kommen sehen. Der Korbboden muss morsch sein. Jetzt ist mir das ganze Holz hier auf den teuren Teppich gefallen. Aber ich kümmere mich sofort darum.«

»So was passiert, Ernst. Am besten holen Sie sich Hilfe.«

Beruhigt, dass nichts Größeres zu Bruch gegangen war, ging sie zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür. Durch das gegenüberliegende Fenster stahl sich ein Sonnenstrahl durch die elegante Tüllgardine, sie ging hinüber und schob sie beiseite. Klein Luise lag zusammengerollt auf einer Decke und döste vor sich hin, zu aufregend war der Morgen für sie gewesen.

An der Syrauer Straße war immer etwas los. Als Tangente zwischen Bahnhofstraße und Neustadtplatz führte sie hinunter zur Brücke, die die Elster überquerte. Man sah sogar heute am Feiertag einen Pferdewagen, Botenjungen, ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter. Auch hatte man einen freien Blick zur Johanniskirche hinauf oder erhaschte den Turm der Lutherkirche. Obwohl die Umbenennung von St. Bartholomäus schon über zwei Jahre her war, musste sie sich noch daran gewöhnen.

»Wir müssen hinunter, mein Liebchen«, sagte sie leise und sofort kam Leben in Luise. Sie riss die Augen auf und war augenblicklich dabei, lebhaft auf die Bücher zu zeigen, die im Laufstall aufgereiht standen.

Helene nahm Luise hoch, schmiegte sie an sich und rieb ihr sanft den Rücken. Normalerweise lenkte sie das ab und beruhigte sie, aber heute wand sich der kleine Körper, sie quäkte und verzog ihren himbeerroten Mund zu einem Flunsch. Aufgeregt bewegte sie ihren Schopf hin und her, versuchte einen weiteren Blick auf die Bücher zu erhaschen, doch Helene setzte sie aufs Bett. Sie besah sich die Kleider ihrer Tochter, suchte sie nach Milchflecken oder Ähnlichem ab und nickte zufrieden.

»Alles sauber, fein gemacht«, hauchte sie der Kleinen ins Ohr und küsste sie auf eine Wange. Dann knabberte sie an ihrem Ohrläppchen, kitzelte sie und lenkte sie so von den Büchern ab. Kurz darauf machten sie sich auf den Weg zurück zur Familie. Sicher würde man schon auf sie warten.

Genauso war es. Als sie in das Speisezimmer traten, waren sie komplett, endlich hatte sich August zu ihnen gesellt. In einem gepflegten Anzug, dem man das Pariser Maßatelier ansehen konnte, stand er bei Frau und Tochter. Sie sah, wie Esther langsam tastend ihre Hand in die seine schob und mit zusammen gekniffenen Lippen zu ihm hochsah. Er griff zu, zog die Kleine an seine Beine heran und lächelte ihr zu. Er bemühte sich um die beiden. Wüsste sie es nicht besser, könnte man glauben, er gehörte dazu. Aber das tat er schon lange nicht mehr. Er war ein Gast geworden, auch wenn das keiner aussprach.

Helene schloss hinter sich die Tür, trat an den Hochstuhl und setzte die Kleine hinein. Augenblicklich machte sich Esther wieder frei und kam zu Luise.

»Ich kann auf sie achtgeben, Tante Lene«, sagte sie und in ihrem Gesicht zeigte sich die Wichtigkeit dieser Aufgabe. Helene lächelte und stimmte Esther zu. Sie drehte sich um und suchte den Raum nach ihrem Mann ab. Er hatte auf sie gewartet, schlenderte zu ihr und überreichte ihr ein Glas.

»Dorothea habe ich Apfelsaft in den Champagner gemischt«, raunte er ihr zu und lächelte sie liebevoll an. Seit Doktor Julius Merk, ihr Hausarzt, ihre Mutter bekniete, ganz auf Alkohol zu verzichten, versuchten alle ihre Kinder diesen Trick. Meist kam sie ihnen drauf, doch hier und heute in der großen Runde würde sie sich nicht die Blöße geben. Dorothea hatte 1885 einen erneuten Zusammenbruch erlitten und Doktor Merk damals die gesamte Familie auf den ungezügelten Alkoholkonsum ihrer Mutter aufmerksam gemacht. Seither erst verstand sie, wie ernst es war. Nach einem Schlaganfall hatte sie zu morphinhaltigen Schlafmitteln gegriffen und diese unkontrolliert mit ihren diversen Likörchen hinuntergespült. Vom Morphin war sie losgekommen, doch dem Alkohol sprach sie noch immer zu.

»Wohl denn, ich bin gespannt auf Vaters Rede«, flüsterte sie Robert zu, der nah an sie herangetreten war und seinen Arm um ihre Taille legte. Eine Vertrautheit, die sie liebte, in der Öffentlichkeit vermisste und hier zwischen ihren Liebsten duldete. Er tat ja nichts Unsittliches. Wer sollte sich daran stören?, dachte sie und fühlte die Wärme seiner Hand auf ihrem Po. Langsam wanderte sie an ihrem Rücken hinauf und spielte an der Schleife ihrer Bluse. Leichterhand schüttelte sie ihn ab und sah ihn strafend an. Sie legte gerade genug Empörung in ihre Geste, dass er von seinem kindischen Vorhaben abließ und hinreichend Empathie und verschmitztes Grinsen, das signalisierte, wie sehr sie ihn begehrte. Ja, ihr Verlangen nach seinen zärtlichen und manchmal fordernden Liebkosungen war ungebrochen. Es war Helene ein Rätsel, nicht längst wieder guter Hoffnung zu sein, denn sein Versprechen „aufzupassen“ hatte sie nicht zu ernst genommen.

»Ihr Lieben«, tönte es da aus einer Ecke des Speisezimmers, in der sich ihr Vater einen Schluck Sekt nachschenken ließ. Dann trat er in die Mitte an den festlich gedeckten Esstisch und räusperte sich.

»Aus den Untiefen unseres Hauses orakelt man mir soeben zu, Josefa droht sich eine neue Familie zu suchen, wenn nicht bald aufgetragen wird.« Bei den Wörtern Orakel und Untiefen hörte man ein leichtes Zischen und schon war Esther an ihren Großvater herangetreten und zupfte an seinem Sakko. Mit dem Ernst einer 6-Jährigen flüsterte sie eindringlich: » Nale wird auch manchmal so gerufen, da musst du vorsichtig sein.« Sie sah Wilhelm aus ihren hellen Augen beschwörend an und er beugte sich, erstaunt um sich blickend, zu seiner Enkelin hinunter.

»Du meinst das Küken, das im Kürbis wohnt und sich in der Speisekammer versteckt?« Ernsthaft nickte Esther. Da griff Wilhelm energisch nach ihrer Hand und wandte sich an seine Familie.

»Ihr habt es gehört, alle Bewohner des Hauses, die lebenden und die der Fantasie entsprungenen raten zu baldiger Nahrungsaufnahme. Lasst mich eines vorausschicken. Die Sterne stehen gut am Firmament der Familie zu Hohenlinden. Neues Leben hat Einzug gehalten, junges Glück steht vor dem Ja-Wort und unser Streben nach wirtschaftlichem Aufstieg wird auch 1886 von Erfolg gekrönt sein. Ihr alle …«, und dabei ließ er seinen Blick von einem zum anderen schweifen, »… ihr alle habt bewiesen, wie der Zusammenhalt in der Familie zu unserem Glück beiträgt. Viva 1886! Auf ein gesundes und erfolgreiches neues Jahr.« Esther stand noch immer nah bei ihm und war seiner Rede mit geöffnetem Mund gefolgt. Wilhelm stupste ihren Unterkiefer an und ihr schlugen die Zähne aufeinander. Sogleich fasste er sie unter den Achseln und hob sie mit Schwung auf ihren Stuhl an der Tafel. Verdutzt juchzte die Kleine auf und Helene und Johanna sahen sich eine Millisekunde lang an. Lag da Erstaunen in ihrem Blick oder Irritation? War der Vater eine Spur zu aufgedreht?

Johanna

Im Widerschein der Gaslampe sah sie ihr Antlitz und erschrak. Tiefe Schatten hat sich im Laufe des Tages unter ihre Augen gelegt und Johanna tastete leicht die dünne Haut ab. Etwas von der Olivencreme, die Mama ihr gegeben hatte, sollte helfen. Mit raschen Bewegungen griff sie nach dem Tiegel, öffnete den Korkverschluss und tupfte sich sanft etwas von der öligen Substanz unter die Augen. Dann verschloss sie die Dose mit einem tiefen Seufzer.

Wenn ich die Lider öffne, liegt seine Jacke nicht mehr im Salon und sein Geruch nach Parfüm und Tabak hat sich verzogen, wünschte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Die vergangenen zwei Wochen waren schön und schwer zugleich gewesen. Ihre Tochter froh und ausgelassen mit ihrem Vater spielen zu sehen, erwärmte ihr Herz, doch Augusts mittlerweile abweisende Art, waren sie allein und unbeobachtet, konnte sie nicht länger ignorieren. Ich habe es so gewollt, ich habe ihn gebeten zu gehen. Das war nach dem Tod ihres gemeinsamen leiblichen Kindes gewesen und zwei Jahre her. Johanna hatte sich Klarheit erhofft, ihre Gefühle für ihn prüfen wollen. Leider, so dachte sie, sind wir keinen Schritt weitergekommen. Die Verletzungen, die er ihr und ihrer Familie zugefügt hatte, der Verrat und die Kälte, die sie fühlte, wenn sie ihn ansah, machte sie schaudern. Woher kommt dieses unterkühlte Etwas in mir?

Vor drei Jahren hatte sie alles dafür gegeben, ihre Familie zu erhalten, die Anfeindungen weggewischt und sich an ihrem fragilen Glück festgeklammert. Mit der Schwangerschaft und Geburt von Thomas, ihrem kleinen Liebling, schien alles besser zu werden. Doch dann passierte das Unvorstellbare.

Der Tod unseres Kindes hat uns entzweit, wir konnten nicht gemeinsam trauern und die Geschichte um die ominöse Frau aus England … noch so etwas, was anrüchig und halbseiden war

Ein Klopfen riss Johanna aus ihren Gedanken und widerwillig setzte sie sich auf und antwortete. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen und Emma stolperte ins Zimmer. Ein Luftzug knallte die Tür hinter ihr wieder zu. Gereizt drehte sich Johanna um. Auf dem Arm ihrer Freundin aus Kindertagen, die seit mehr als einem Jahrzehnt als Hausmädchen bei ihnen arbeitete, lag ein ausladendes Kleid. In den Händen hielt Emma auf Hochglanz polierte Schuhe, die sie als Augusts Tanzschuhe ausmachte. Prustend kam Emma im Ankleidezimmer zum Stehen und legte ihre unförmige Last auf einem Bänkchen ab.

»Entschuldige, die Schneiderin hat das eben abgegeben und ich möchte dieses Schmuckstück gerne auf eine der großen Stangen unter die Decke hängen, sonst knittert gleich alles.« Geschäftig werkelte sie herum, um dann mit den Schuhen in der Hand wieder in Johannas Zimmer zu treten. Verschämt schob sie diese hinter ihren Rücken und lugte hinüber zu Augusts Ankleide, in dem ein Bett für ihn aufgestellt worden war.

»Geh schon und stell die Latschen ab, wir sind doch keine Kinder mehr.«

Emma knickste ungewohnt dienstbeflissen und verschwand hinter der angelehnten Tür, um gleich darauf zurückzukommen. »Er ist nicht hier?«, entfuhr es ihr und schaute dabei betreten drein. Es war nicht ihre Art, sich ungefragt in Johannas Dinge einzumischen. Auch wenn sie sich schon ein Leben lang kannten, gab es da eine gewisse Distanz. Mit Helene geht sie anders um, dachte Johanna und lächelte.

»Er ist ausgegangen, irgendein Vereinsabend, den er vermisst, wenn er in Paris ist«, entschuldigte sie August unnötigerweise und schalt sich Erklärungen zu erfinden. »Danke für das Kleid und nun mach, dass du zu deiner Familie kommst, ich krieg das mit den Haaren allein hin.« Sie drehte sich zum Spiegel zurück und wedelte mit der Hand, um Emma zu signalisieren, dass sie Feierabend machen konnte.

In der Sekunde, als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sank Johanna in ihre auf dem Frisiertisch aufgestützten Hände und schluchzte. Das traurige Ende ihrer Familie belastete sie genauso, wie die Fragen, die sie sich für ihre Zukunft stellte. Wie sollte es weitergehen? August und sie hatten einander nichts mehr zu sagen. Außer in Belangen der Manufaktur sprachen sie kaum miteinander. Wenn er hier in Plauen war, ergingen sie sich in Höflichkeiten, vermieden aber möglichst allein zu sein. Ihr fehlte die ausgelassene Fröhlichkeit ihrer ersten Jahre, die Hoffnung auf ein Kind, die sie zusammengeschmiedet hatte. Wann haben wir uns verloren?, grübelte sie und war sich sicher den Grund in ihrer anfänglichen Unfruchtbarkeit, den Fehlgeburten zu finden.

»Damals begann seine Unzufriedenheit, nichts konnte ich ihm recht machen, er war kontrollierend und nur auf eines aus«, hatte sie ihrer kleinen Schwester gestanden, als diese vor ein paar Wochen offene Worte gefunden hatte.

»Auf eines?«, presste Helene mehr aus ihr heraus und half ihr, nicht nur sich die Schuld an der misslichen Situation zu geben.

»Ich verstehe, dass du eure Kinderlosigkeit auf dich beziehst, die Fehlgeburten müssen schrecklich gewesen sein, doch du hast Thomas bekommen. Das sollte Grund genug sein, nicht an dir zu zweifeln.«

»Als mein kleiner Engel zu uns kam, war es bereits zu spät, Helene. Rückblickend stand unsere Ehe schon lange auf dem Prüfstand. Das Baby konnte sie nicht retten.« Johanna hatte sich eine Rückkehr zu einem liebenden Paar so gewünscht und für eine Weile hatte es so ausgesehen, ihr Mann besänne sich mehr auf sie und die Familie. Nach Thomas Tod aber zog er sich in völliger Sprachlosigkeit zurück.

»Der Brief von dieser Frau aus England mit diesen ominösen Anspielungen hat nicht unbedingt geholfen, oder Johanna?« Helene hatte es auf den Punkt gebracht, eine vermeintlich neue Affäre offen angesprochen.

»Ich weiß, dass August immer wieder unseriösen Geschäften nachgegangen ist. Alles, was in den vergangenen Jahren passiert ist, wurde niemals rückhaltlos aufgeklärt. Wir wissen, dass er sich von dem Eintritt in Vaters Manufaktur mehr erwartet hatte. Und nun bist du Anteilseignerin und nicht er. Das hat seinem Ego geschadet«, hatte Johanna zusammengefasst, was man in der Familie nicht einmal hinter vorgehaltener Hand besprach.

»Sein Ego ist mir völlig egal, meine Liebe. Hatte er die zündende Idee, wie wir die Firma wieder aus den Miesen bringen? Nein! Wir hatten sie und ich habe mein Geld aus dem Erbe von Oma Karoline investiert«, hatte Helene aufbrausend hinzugefügt und war im Zimmer auf- und abgewandert.

»Niemand macht dir daraus einen Vorwurf, Helene, im Gegenteil«, versuchte Johanna ihre Schwester zu beruhigen und hatte aufmunternd gelächelt. Sie ahnte, diese Aussage galt nicht für alle Familienmitglieder. Ihr Vater Wilhelm hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn diese zündende Idee gehabt und damit Anteilseigner geworden wäre, doch pragmatisch wie er war, hatte er Helenes Engagement hingenommen.

Ihr Mann aber hatte gewettert, sich aufgeregt und erst nachdem Johanna ihm die brutale Wahrheit an den Kopf geworfen hatte, war er wenigstens nachdenklich geworden. An diesen Abend erinnert sie sich mit Abscheu. Sie hatten beide gelesen und es hätten entspannte Stunden bei einem Glas Wein sein können, doch er hatte nicht aufgehört, an Helene herumzukritteln. Seine sonst sonore Stimme war spitz und näselnd gewesen, erinnerte sie sich.

»Ich kann nicht verstehen, wie du das gutheißen kannst, Johanna. Helene bekommt jetzt einen Anteil von deinem Erbe. Der geht dir dann flöten.« Seine Aufgeregtheit war am Ton seiner Stimme abzulesen, doch ihr war nicht klar gewesen, worauf er hinauswollte. Die Fakten widerlegten seine missgünstigen Aussagen. Wie immer verdrehte er die Geschichten so, wie sie in seine Welt passten.

»Ich kann nicht verstehen, was du dagegen hast. Helene hat uns aus einer prekären Lage geholt. Einzig durch ihre Initiative haben wir den Wettiner Hof gefunden und kaufen können. Die Banken wollten uns keinen Kredit geben bei der hohen Verschuldungsrate durch die neue Manufaktur.«

»Papperlapapp. Natürlich hätten sie uns einen anderen Rahmen eingeräumt. Dein Vater traute sich nur nicht, zu verhandeln.« August hatte herablassend herübergesehen und sie hatte geahnt, er meinte es ernst.

»Ach ja? Und du hättest ihn dabei unterstützt und Gustav auch, oder wie sehe ich das?« Sie war aufgeregt gewesen und hatte sich echauffiert. War laut geworden. Aber dann mahnte sie sich, bei den Fakten zu bleiben. Die waren ihrer Meinung nach glasklar.

»Darf ich dich daran erinnern, wem wir es zu verdanken haben, dass wir nichts investieren konnten? Weder in den Wettiner Hof noch in die neuen Maschinen, die wir dafür angeschafft haben?« Sein Blick hatte auf ihr gelegen wie ein heißer Stein. Er durchbohrte sie fast. Sie konnte die Wut sehen, die in ihm hochkochte. Sie hörte seine Finger knacken und in jenem Moment fühlte sie sich schwach. Nein, sie erinnert sich genau an das Gefühl. Es war Angst gewesen. Die Furcht, dass er wütend werden könnte, wieder mit der Hand gegen die Wand schlagen und dann davonrennen würde, um sich zu betrinken. Doch an jenem Abend war er anfangs erstaunlich abgeklärt geblieben.

»Dass die Eisenwerke Pinneberg Konkurs anmelden und dann die von deinem Vater so geliebte Schröder‘sche Bank, konnte ich nicht vorhersehen. Das weiß jeder in der Familie und man hat mir verziehen, nur du nicht. Meine eigene Ehefrau fällt mir in den Rücken, ist stetig bemüht, mich an diese Verfehlungen zu erinnern. Nur gut, dass du nie eine Investition getätigt hast, meine Liebe. Dann kannst du auch keine Fehler machen.«

Johanna musste innerlich auflachen. Sicher waren die bloßen Fakten so, wie er sie darstellte. So klangen sie besser als die Variante ihres Vaters und ihre eigene. August fand wieder einmal irgendeine Hintertür, um seine Beweggründe so darzulegen, dass er gut dastand. Johanna verstand nicht, warum er nicht zu seinen Taten stand. Die Investitionen, die er mit ihrem Erbe getätigt hatte, hatten seine Spielschulden vertuschen sollen. Mit den Gewinnen wollte er die Verbindlichkeiten abzahlen, ohne dass irgendjemand in der Familie etwas davon mitbekam. Dann gingen die Pinneberger Stahlwerke pleite und die Bank zur selben Zeit.

»Damals haben sich alle gegen mich verschworen! Alles passierte in jenem Herbst auf einmal. Helene war schwanger, ich musste euch aus dieser Bredouille helfen und das habt ihr gerne angenommen. Dann habe ich das erste Mal eine Entscheidung allein getroffen. Ohne den großen Wilhelm von und zu Hohenlinden zu konsultieren und schon wird es mir mein Leben lang vorgeworfen.« Er war aufbrausend gewesen und Johanna erinnert sich an das ungute Gefühl in ihrem Magen.

»Halt dich etwas zurück«, hatte sie ihn angezischt. Sicher hatte man sie auf dem Gang vor der Tür hören können.

»Ich lasse mich von dir nicht maßregeln. Das ist meine Wahrheit. Und du redest mir nichts anderes ein.«

Daraufhin hatte er an jenem Abend sein Buch zusammengeklappt und war, wie sie es befürchtet hatte, aus dem Zimmer gerauscht. So wie er es immer tat, wenn sie in einen Disput verfielen oder ihm eine Antwort nicht gefiel. Er war in dieser Nacht erst spät zurückgekommen, sturzbetrunken gewesen. So wie oft in jenen Tagen.

Wenn sie an Helene dachte, wunderte sich Johanna, wie aus dem scheuen Mädchen, das ihre Jugend auf Pferderücken verbracht hatte, auf einmal eine gewiefte Geschäftsfrau geworden war. Jetzt war sie sogar mit einem Mann verheiratet, den sie liebte, und sie hatten ein gemeinsames Kind. Die entzückende Luise war ein Sonnenschein und für alle im Haus eine wahre Bereicherung. Manchmal war Johanna etwas neidisch, wenn sie Helene und Robert beobachtete, wie sie miteinander umgingen. Doch dann gönnte sie ihrer kleinen Schwester dieses Glück von ganzem Herzen. Auch ihrer Beharrlichkeit, die sie langsam, aber stetig entwickelt hatte, zollte Johanna Respekt. Selbst wenn es für sie hieß, dass sie in ihrem Umgang mit ihr ehrlicher und offener sein musste. Das fällt mir manchmal schwer, gestand sie sich ohne Zögern ein.

»Wie soll das mit euch weitergehen?«, hatte Helene vor kurzem geradeheraus gefragt. Und es war klar, sie wollte keine ausweichenden Antworten gelten lassen. So war sie, ihre kleine Schwester. Seit all diesen ominösen Vorfällen, in denen in der Familie geschwiegen und gelogen worden war, hatte sie sich vorgenommen, offener zu sein. Die Courage dafür, hatte ihr kleines Schwesterchen entwickelt. Sie war nicht nur eine kreative Musterzeichnerin geworden und bereicherte damit die Kollektionen der Spitzenmanufaktur. Nein, sie war eine ambitionierte junge Frau mit Zielen und Werten. Sie liebte Helene dafür und so hatte sie freimütig geantwortet.

»Eigentlich müsste ich mich von August trennen. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, ist ein Leben in dieser Familie auf Raten nicht länger zu ertragen. Aber wie soll das gehen? Ich als geschiedene Frau? Kann man sich überhaupt scheiden lassen? Es ist zum Verzweifeln, Helene.«

»Was ist mit Doktor Merk?«, hatte Helene rund heraus nachgebohrt und Johanna hatte erstaunt hochgeschaut. Damals hatte sie sich gefragt, was ihre kleine Schwester wusste oder besser: Warum hat mich diese Frage so aus dem Konzept gebracht?

Hinter ihr bewegte sich etwas und Johanna fuhr erschrocken herum.

»Entschuldige vielmals, Johanna, ich dachte, du wärst unten bei deiner Mutter und eurem Besuch«, hörte sie hinter sich August und atmete tief durch. Er stand mit hochgezogenen Brauen vor ihr und schien keine Anstalten zu machen, sich in sein Zimmer zu begeben. Fragend sah sie ihn an, sagte aber nichts. Zu abrupt hatte er sie aus ihren Gedanken geholt und sie war für einen kurzen Moment durcheinander.

»Ich bat Hofstetter, meine Sachen ins Gästezimmer zu bringen. Dort ist es etwas bequemer als in diesem kleinen Kabuff.« Erklärend zeigte er auf die Tür zu dem zugegebenermaßen winzigen Ankleidezimmer und strich sich dann verlegen über seinen Bart. Er griff nach seinem Sakko und schaute sich um.

»Aha, ich verstehe«, erwiderte Johanna einsilbig und folgte seinem suchenden Blick. Dann bemerkte sie, wonach er Ausschau hielt und stand auf. Vom Regal zog sie eine Tabakdose, die er vorsorglich hier aufbewahrte und reichte sie ihm. »War es das, wonach du suchst?«

»Ja, danke. Schlaf gut«, presste er heraus und hatte schon seine Hand auf der Klinke, als er sich wieder zu ihr umdrehte. »Ich habe das nicht gewollt, Johanna. Ich liebe dich und Esther und weiß, wie enttäuscht du von mir bist. Mittlerweile habe ich keine Worte mehr, um mich zu erklären.« Betreten sah er zu Boden und für einen Moment nahm sie ihm den geläuterten Ehemann und Vater ab.

»Ich glaube, die Zeit der Erklärungen ist längst vorüber. Das haben wir hinter uns gelassen, August. Es hat uns nicht weitergebracht. Unsere Rückschlüsse waren halbherzig. Das müssen wir uns leider eingestehen.«

»Wie soll es nun weitergehen? Du hier in Plauen, ich in Paris. Nach außen hin kann man das erklären, immerhin muss ich als Handelsreisender unterwegs sein. Aber meine Besuche hier in der Stadtvilla in Plauen sind für mich eine Tortur. So sehr ich Esther vermisse und gerne Zeit mit ihr verbringe, ist das Leben unter einem Dach mit deiner Familie mehr als anstrengend.«

Johanna lachte auf. »Anstrengend, sagst du. Nun ja, dann würde ich dich bitten, darüber nachzudenken, wie es für mich ist. Hier tagein, tagaus mit keinerlei Perspektive auf ein normales Familienleben. Unter dem Dach meiner Familie und den Augen aller, wohlgemerkt.« Sie dachte einen Augenblick über das nach, was sie ihm schon lange hatten sagen wollen, zögerte, doch dann traute sie sich. »Ich weigere mich, mir allein dafür die Schuld zu geben.« In Erwartung einer harschen Erwiderung streckte sie nervös ihren Rücken durch und wandte kurz ihren Blick von ihm ab.

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass ich für uns keine Perspektive sehe. Willst du nicht auch eine bessere Zukunft? Ein Familienleben?«

Er beantwortete ihre Frage nicht, sah nach wie vor auf seine Schuhspitze. Dann blickte er ihr unverwandt und fast ein wenig trotzig direkt in die Augen. »Erwägst du eine Scheidung?« Seine Stimme war dunkel und hart.

Johanna, bange wie weit sie gehen konnte, ohne dass er sich provoziert fühlte, spielte mit einer Haarsträhne und wiegte ihren Kopf hin und her. Jetzt musst du dich zusammennehmen, gib nicht wieder nach, ermahnte sie sich selbst und auch sie sah ihn trotzig und direkt an. »Freilich habe ich darüber nachgedacht. Doch ich schäme mich bei dem Gedanken. Es wäre das Eingeständnis, auf ganzer Linie versagt zu haben. Über die Ächtung in der feinen Plauener Gesellschaft will ich gar nicht nachdenken. Ich muss zugeben, ich fürchte mich davor.«

Er nickte. »Was ist die Alternative?« Wieder schob er ihr die Erklärung zu, forderte sie auf, sich zu offenbaren, eine Lösung anzubieten, die er dann erwägen konnte oder eben auch nicht.

Johanna sah, wie es hinter seiner Stirn rumorte, er konnte seine Angespanntheit vor ihr nicht mehr verbergen. Zu lange spielten sie dieses Spiel. Das Weiß seiner Augen war kaum zu sehen, so angestrengt kniff er sie zusammen.

»Ich hatte gehofft, Abstand könnte uns helfen, doch weit gefehlt, nicht wahr?«, fragte sie ausweichend.

Seine Antwort traf sie unvorbereitet. »Ich vermisse euch«, erklärte er spontan und es klang ehrlich. Er weiß genau, wie er mich in die Ecke drängen kann, schoss es ihr durch den Kopf und sie erschrak. So weit waren sie gekommen. Sie war nicht froh über seine Gefühle, nein, sie unterstellte ihm Berechnung. Sie wusste, dass er es schaffen könnte, sie wieder einzulullen. So wie schon oft zuvor. Denn ihre Vorstellung von dem perfekten Leben zu dritt, der Traum von der liebevollen Kleinfamilie war tief in ihr verwurzelt.

Ein leises Klopfen ließ sie aufhorchen und insgeheim war sie froh um die Unterbrechung. Hans Hofstetter schob sich ins Zimmer, stutzte kurz bei Augusts Anblick und ein Billett verschwand so unauffällig wie möglich hinter seinem Rücken. Man sah dem Mann an, dass er angestrengt nachdachte.

»Ja, bitte Hans, Sie wünschen?« Johanna sah ihn aufmunternd an und streckte die Hand nach dem Billett aus, das auch August gesehen haben musste.

»Das wurde für Sie abgegeben, Johanna. Ich wusste nicht, dass Sie beide sich schon zurückgezogen haben, es kann sicher bis morgen früh warten«, erklärte er umständlich und sie horchte auf. Ihr Butler war doch sonst nicht so um eine Antwort verlegen. Nochmals streckte sie die Hand aus und Hofstetter trat auf sie zu, als August fragte: »Von wem ist die Nachricht?«

Johanna fühlte sich mit einem Blick auf das Kuvert bemüßigt, den treuen Diener aus seiner Zwickmühle zu befreien. »Danke Hans, Sie können gehen.« Mit Kälte in der Stimme sagte sie zu August: »Die Nachricht ist von Herrn Doktor Merk.«

August schürzte die Lippen, nickte kaum merklich und stapfte ohne ein weiteres Wort aus der Tür.