Kapitel 1 - Januar 1883, Plauen, Dresden & Berlin
August
In Johannas Augen sah er Schrecken und gleichzeitig eine Verwirrtheit, die ihm Angst einflößte. August Bader meinte, seine Frau mühelos lesen zu können, dieser entrückte Blick jedoch ließ sogar ihn erschaudern. Fast wirr schaute sie zwischen ihm und der Zeitung hin und her, unfähig einen klaren Gedanken zu formulieren. Den heutigen Nachmittag in diesem edlen Hotel in Dresden hatte er sich wahrlich entspannter gewünscht, nun machte ihnen das Schicksal ein weiteres Mal einen gehörigen Strich durch die Rechnung.
»Hast du die Passage noch mal gelesen? Warum schreiben die nicht, wer überlebt hat? Von wann ist die Zeitung eigentlich?«, fragte Johanna zum wiederholten Mal und entriss ihm das Tageblatt. Mit dem Daumen fuhr sie suchend die klein gedruckten Zeilen ab. Ohne Erfolg. In der Abendausgabe der Berliner Börsenzeitung gab es lediglich eine kurze Notiz zum Untergang des Hapag Zweimasters Cimbria vor Borkum, mehr Informationen hatte man noch nicht.
»Ich bin verwundert, dass die Eltern uns nicht telegrafiert haben, oder meinst du, die Schäden der Eisstürme im Vogtland sind immer noch nicht beseitigt?« Johanna lief in ihr Zimmer und begann, sich anzukleiden. Fahrig schloss sie die Knöpfe einer weißen Bluse über einem leichten Korsett und kämpfte dann mit der Schleife am Stehkragen, bis sie aufgab und vor ihren Mann trat. Steile Falten zogen sich von ihren müden Augen die Stirn hinauf und schon liefen die Tränen. Ihre Arme hingen mutlos an ihrem schmalen Oberkörper, während sich ihr Mund zu einer Grimasse verzog, kurz bevor sie tief die Luft einsog und nochmals nach den beiden Enden der Schleife griff. Jetzt gelang sie ihr einigermaßen und schon straffte sie die Schultern.
Unheimlich, diese Frau, dachte August und kam nicht umhin, sich des Schicksals zu erinnern, dass sie in den vergangenen Monaten hatten hinnehmen müssen. Tief durchatmend trat er in den Türrahmen und sah, wie sie sorgfältig den Sitz ihres Hutes prüfte.
»Kommst du, August, das Postamt schließt bald und wir müssen nach Plauen kabeln. Die Eltern werden krank vor Sorge sein.« Ihre Familie, Besitzer einer Spitzenmanufaktur und eines Landgutes im Vogtland, kümmerte sich derzeit um ihre Tochter Esther, für die die Reise in die königliche Residenzstadt Dresden zu anstrengend gewesen wäre. Es zog ihm einen Ring ums Herz, wenn er daran dachte, ihnen zu berichten, dass so kurz nach dem Tod ihres Enkelsohnes auch der Sohn vermisst würde. Im Spiegel sah er ihr Gesicht und er wusste, sie las seine Gedanken.
Schon senkte sie wie in Zeitlupe die Lider, eine Hand legte sich um ihre Mitte und Johanna stützte sich am Frisiertisch ab. Er kam gerade rechtzeitig, um sie aufzufangen. Behutsam fasste er sie an den Schultern und führte sie zu dem kleinen Sofa am Fußende ihres Bettes.
»Du musst mich nicht behandeln, wie eine Schwerkranke«, fuhr sie ihn an und bereute es im selben Moment.
»Entschuldige August, es ist nur …« Für eine Sekunde schluckte sie, atmete tief ein, um die Contenance zu behalten. »Es ist keine sechs Monate her, dass uns diese Epidemie unseren Sohn nahm, ich weigere mich zu glauben, dass mein Bruder jetzt in einem Strudel aus eisigem Nordseewasser gestorben ist. Ich will nicht.«
Sie schlug sich weinend die Hände vors Gesicht und sah erst viele Sekunden später zu ihrem Mann auf. August war bewusst, welch Drama sich auf dem Schiff abgespielt haben musste, aber er würde seiner Frau nicht die Hoffnung nehmen.
Doch die Schwiegereltern zu informieren, ohne konkretes Wissen, erwog er nicht. Er unterbreitete seiner Gattin einen anderen Vorschlag.
»Deine Eltern sind vielleicht noch ahnungslos Johanna. Solange wir nichts Genaueres wissen, sollten sie in dem Glauben belassen werden, ihr Sohn und die wertvolle Fracht seien auf dem Weg nach Havre und New York City. Dein Vater hofft auf dortige Geldgeber oder den gewünschten Vertrag mit dem berühmten Kaufhaus Macys. Sie haben so große Pläne mit Gustav, denk doch an all die Vorbereitungszeit, die in dieses Projekt geflossen ist. Weder die Gesundheit deiner Mama noch die des Vaters erlaubt es uns, jetzt einen Fehler zu machen.«
Sie sah ihn aufmerksam an. Es war ihm nicht ähnlich, sich so um die Ihren zu sorgen, das wusste er. Doch offensichtlich gefiel ihr dieser fürsorgliche Zug an ihm. Ihre Gesichtszüge entspannten sich.
»Was schlägst du vor?« Ihre Stimme klang tonlos, als sie aufstand und ihm folgte. August kramte im Zimmer nebenan schon in seiner Aktentasche. Er durchforschte das große Innenfach, doch fand nicht, wonach er suchte und schüttete wild entschlossen den gesamten Inhalt auf den Boden. Johanna stand im Rahmen der Verbindungstür und sah ihm erstaunt dabei zu, wie er kniend seine Papiere durchsah. Endlich schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Er hielt ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein in der Hand und blätterte mit angefeuchtetem Finger die dünnen Seiten durch.
»Hier ist er ja. Ich fürchtete, seine Adresse sei vielleicht nicht eingetragen.« Murmelnd stand er auf und drehte sich zu ihr um.
»Es ist Sonntag Johanna, die Informationen, die wir haben, sind von gestern, vor morgen erscheint kein neues Tageblatt. Ich lasse über den Concierge an Frank Bellmann in Hamburg kabeln und bitte ihn, alle Zeitungen zu sichten und mir eine Zusammenfassung zu telegrafieren.« Johanna nickte verstehend.
»Vielleicht hast du recht, es ist zu früh, um die Pferde scheu zu machen. Das Unglück war am Freitag, die offiziellen Stellen wissen noch zu wenig und im Vogtland ist die Information vielleicht noch gar nicht angekommen.« Beruhigt, Johanna einsichtig zu sehen, zog sich August seine Jacke über.
»Ich gehe sofort hinunter und frage nach Sonntagsbeilagen der großen Zeitungen. Irgendeiner wird uns helfen können«, versuchte er, seine Frau zu beruhigen und verließ ihr Zimmer.
Auf dem Weg an die Rezeption rief er sich ihr Gespräch von gestern Nacht ins Gedächtnis. Eine weitere Baustelle, folgerte er betroffen. Johanna hatte ihm weinend von den Halluzinationen ihrer Tochter erzählt. Anders konnte er die wirren Gedanken von Esther nicht nennen. Dass Johanna ob der ausgedachten Tiermärchen solch tief verwurzelte Ängste hatte, fehlte ihm gerade noch.
Worum ging es in dem Märchen noch mal? Er grübelte, doch dann kam es ihm in den Sinn. Das Mäuschen Nale und das Küken Lulu reiteten mit Zauberfohlen durch die Nacht, sie lebten in einem Kürbis, besuchten ferne Galaxien und konnten ihre Eltern nicht finden. Er hatte dafür gesorgt, dass sich Esther nicht zu sehr in die Geschichte hineinsteigerte. Helene würde bald zu ihrem Mann nach Oelsnitz ziehen und dann wären die Nächte im Schrank der Tante vorbei. Das ganze Tam-Tam um fliegende Tiere ebenfalls. So hoffte er wenigstens und hatte seiner Tochter auf kindliche Art beigebracht, dass die Kürbiseismärchen bald der Vergangenheit angehörten. Jetzt hatte sich die Kleine weinend bei ihrer Mutter beschwert. Und die machte ihm Vorwürfe. Was mir nicht fehlt, sind weitere Disharmonien mit meiner Gattin, dachte er mürrisch und steuerte auf den Concierge zu.
Die Sonntagsbeilage der Norddeutschen Zeitung begnügte sich damit, ihre Leserschaft mit Belanglosigkeiten zu amüsieren.
Er überflog vaterländische Erinnerungen eines Julius von W., las zu den Bemühungen der Britisch-Nord-Borneo-Company und blätterte durch Heiratsinserate. Über einen für ihn völlig überflüssig erscheinenden Artikel zur Säuberung von Elfenbein schüttelte er nur den Kopf. Wie simpel das Leben doch war, wenn man sich keine Sorgen über vermisste Verwandte machte, dachte er ratlos und legte die Zeitung zurück auf den Tresen des Concierge.
»Möchten Sie dennoch versuchen, eine Depesche an Ihren Herrn Schwiegervater abzusetzen, ihm Ihre Ankunftszeit mitteilen? Vielleicht kann man auf dem Amt sagen, ob eine Zustellung bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen möglich ist«, schlug der eloquente Concierge vor. In vornehmem Gehrock gewandet, stand der Mann hinter dem Tresen und bat mitfühlend seine Hilfe an.
»Bitte bringen Sie in Erfahrung, ob eine Verbindung besteht, aber unternehmen Sie nichts. Und sollten Gäste aus Hamburg anreisen, fragen Sie diese nach Informationen. Am Morgen möchte ich alles in unserer Suite haben, was auf dem Zeitungsmarkt zu bekommen ist.«
»Sehr wohl, Herr Bader. Wünschen Sie, im Restaurant zu speisen? Oder darf ich Ihnen eine Karte hinaufschicken? Wir servieren gerne in Ihrer Suite.« August stimmte zu und stieg langsam die breite Treppe hinauf. Seine Schritte wurden vom tiefen Teppich gedämpft, den man verschwenderisch überallhin verlegt hatte. Es verlangte ihn nach einem Whiskey, einer Zigarre und etwas Zerstreuung, doch das würde ihm heute verwehrt bleiben.
Helene
Helene Arnstädt, wie sie seit Neuestem hieß, legte sich den Fuchspelz über, den sie von ihrem Gatten zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
Wie das klingt, mein Gatte, dachte sie vergnügt und sah sich nach dem großgewachsenen, dunkelhaarigen Mann mit dem leicht welligen Haar um, dem sie vor vier Wochen im engsten Familienkreis das Jawort gegeben hatte. Lächelnd kuschelte sie sich in die rostrote Flauschigkeit, die bestens zu ihrem kastanienbraunen Haar passte. Diese Aufmachung ist für den heutigen mondänen Abend in Berlin perfekt. Ja, das ist das richtige Wort dafür, schloss sie zufrieden und drehte sich noch einmal vor dem bodentiefen Spiegel ihres Hotelzimmers.
Mode war ihr eigentlich nur wegen einer Sache wichtig: Sie entstammte einer bekannten Spitzenmanufaktur, hatte selbst Anteile an der väterlichen Fabrik in Plauen und war eine erfolgreiche Musterzeichnerin. Sie hatte eine familiär-professionelle Bindung an die Mode, die wohl vergänglichste aller Vergnügungen und was sie heute trug, war in keinem Kaufhaus oder Spitzen-Engros-Lager der Welt zu finden. Den Berlinerinnen werden die Augen übergehen.
»Du bist eine lebende Annoncier-Säule, meine Liebe«, flüsterte ihr Robert zu, als er ihr die Dutzenden kleinen Knöpfe am Rücken ihres verschwenderischen Spitzenkleides schloss. Dabei küsste er sie auf den Nacken und drückte sie sanft an sich. Sie roch sein Aftershave und gewahrte, wie sich sein Körper an den ihren schmiegte. In froher Erwartung und in dem Wunsch nach mehr, wie sie erahnte.
»Stopp, stopp, du musst damit aufhören, sonst kommen wir nie pünktlich. Und außerdem heißt das Litfaßsäule. Der gute Mann hatte eine ausgezeichnete Idee, aber einen schrecklichen Namen, findest du nicht? Anzeigen an eine große runde Tonne mit Dach zu kleben, darauf muss man erst mal kommen«, sagte sie anerkennend und konnte nicht umhin, laut darüber nachzudenken, ob sich das auch für ihre Manufaktur lohnen könnte.
»Mach jetzt, Lene«, trieb sie ihr ebenso elegant gekleideter Mann zur Eile. »Mutter verzeiht eine Menge, Unpünktlichkeit aber nicht. Allein ihren Kontakten haben wir diese Einladung zu verdanken. Wir wollen nicht verpassen, wie die vornehme Gesellschaft am Palais vorfährt, oder?«
Die Ausstellung, zu der sie heute gingen, zeigte in Privatbesitz befindliche Bilder alter Meister. Diese stellte man zu Ehren der Silberhochzeit von Kronprinz Friedrich III und seiner Gemahlin in den Räumen der Königlichen Akademie der Künste aus. Morgen Nachmittag würde das Kronprinzenpaar mit Kindern und Entourage der Ausstellungseröffnung beiwohnen und eine exklusive Führung durch die festlich geschmückte Akademie genießen. Zu Ehren der Jubelfeier trifft sich heute, am Vorabend des 23. Januar 1883, die Gesellschaft der namhaftesten Nobilitäten der Stadt.
»Exklusiver kann die Liste der Bewunderer deiner lebenden Litfaßsäule nicht werden«, sagte sie lachend und steckte ein Taschentuch in ihren Ärmelabschluss.
»Kultusminister, Bürgermeister, Ministerialräte, Senatoren, Bankdirektoren, Künstler, Gelehrte … und alle kommen mit ihren Frauen. Ich hoffe, du hast dir gemerkt, in welchen Häusern unsere Spitze gekauft werden kann?« Helene sah Robert an und es wurde ihr klar, wie absurd sie sich benahm, doch sie war tatsächlich etwas aufgeregt.
»Entschuldige, eine solche Chance ergibt sich nicht jeden Tag.« Sie legte den Kopf auf die Seite und signalisierte damit ein Friedensangebot. Insgeheim wusste sie, dass er sie wegen ihrer Spontanität und Begeisterungsfähigkeit liebte. Nur manchmal, wenn ihre Gedanken zu oft um die Firma kreisten, musste er sie etwas eindämmen.
»Was sagt dein Stein dazu«, war alles, was von ihrem Gatten aus dem Badezimmer zu hören war. Es irritierte sie, da er nie nach ihrem Talisman fragte. Sonst ignorierte er dessen Existenz.
Ihre etwas verschrobene Art, auf seine Temperatur mit Freude oder Stirnrunzeln zu reagieren, war nie Thema zwischen ihnen.
Sie griff nach dem Stein. Seit Jahren hing er an einer langen Kette um ihren Hals und verschwand jeden Morgen in ihrem Korsett. Sie musste ihn nicht sehen, nur spüren, dass er da war. Das allein beruhigte sie. Er ist ein Andenken an eine schwierige Zeit. Sie hatte ihn in einem Ostseebadeort gekauft und seither nie mehr abgelegt. Helene blieb Robert eine Antwort schuldig und griff stattdessen nach einem golddurchwirkten Retiküle aus Jacquard Stoff. Der silberne Bügelverschluss klickte und sie verstaute sorgsam ihre Einladung darin. Robert trat wieder hinter sie.
»Lass uns zu Fuß gehen, es sind nur ein paar Schritte von unserem Hotel in die Akademie. Um genau zu sein, sind wir fünf Häuser weiter schon angekommen, dafür brauchen wir keine Kutsche.« Das Imperial lag am Berliner Prachtboulevard Unter den Linden in unmittelbarer Nähe zu Geschäften, Hofoper und Prinz-Heinrich-Palais mit der Humboldt-Universität; war umgeben von Restaurants und Cafés. Auf der sechzig Meter breiten Straße konnte man selbst im Hochsommer unter den schattigen Linden und Platanen unbehelligt flanieren.
Gaslaternen leuchteten ihnen den Weg, als sie aus dem sandsteinfarbenen Haus auf den belebten Gehweg traten. Die elektrische Beleuchtung, die sich Helene für diese Flaniermeile vorgestellt hatte, gab es leider nicht.
Einzig an der Leipziger Straße und am Potsdamer Platz hatten im Herbst vergangenen Jahres die modernen Bogenlampen Einzug gehalten. Gestern Abend waren Robert und sie hingefahren und sie waren beeindruckt gewesen. Das helle Licht machte einen Gang auch des Nachts so viel müheloser und sicherer.
Auf ihrem Rückweg waren sie am Brandenburger Tor vorbeigekommen, vor dem ein großgewachsener Mann mit Backenbart und gezogenem Zylinder einer älteren Dame aus der Kutsche half. Als er sich umdrehte, erkannte sie ihn und hatte Robert zugeflüstert: »Max Liebermann soll hier ein Haus haben, kann es das dort drüben neben dem Tordurchgang sein? Was meinst du?« Unauffällig deutete sie auf die Szene auf dem Trottoir.
Roberts Blick war ihr gefolgt, doch er zuckte unwissend die Schultern. »Was weißt du über Max Liebermann? Und nein, ich glaube, das ist sein Vater dort drüben«, hatte er geantwortet und sie waren Unter den Linden in Richtung Schloss hinuntergelaufen. Sie erzählte ihm von den Reisen ihres Vaters und seinen ausgeschmückten Erzählungen vom Pariser Kunstsalon, die sie zu ihrer Liebe zur Malerei inspiriert hatten. Damals hatte sie begonnen, sich mit Liebermann und Lenbach, der Münchner Schule zu beschäftigen.
»Ich bin besessen von der naturalistischen Form, wie er malt. Das ist so …« Sie hatte für einen Moment nach dem richtigen Wort gesucht.
»Kann man es animalisch nennen? Oder besser abstoßend?« Sie wollte ihren Mann eindeutig provozieren, der runzelte nur die Stirn.
»Das klingt beides etwas … wie soll ich sagen …« Robert beendete seinen Kommentar nicht, sondern schlenderte offenkundig entspannt den Prachtboulevard hinunter. Sie konnte ihm ansehen, wie er diesen Abend genoss.
»Ich weiß nicht. Liebermann wird kontrovers besprochen und allein das hat mich damals aufmerksam gemacht«, war alles, was sie zu dem Thema noch miteinander teilten.
Am heutigen Abend würden sie kein Bild von Liebermann in der Ausstellung sehen, denn es ging um die alten Meister. Insgeheim hoffte Helene auf Besucher, die auch ein Auge für die moderne Kunst hatten.
Und sie wurde nicht enttäuscht. Vor der Königlichen Akademie der Künste, die im Inneren festlich elektrisch beleuchtet war, tummelten sich Dutzende Paare. Kutschen fuhren vor, Pferde wieherten, Journalisten standen mit Papier und Bleistift bewaffnet bereit, um genauestens zu notieren, wer an diesem denkwürdigen Abend anwesend war.
Helenes Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als sie Wilhelm Bode, den Kunsthistoriker, erkannte und das Ehepaar Doktor Carl Bernstein vor ihnen die Treppe hinaufging.
»Man munkelt, Bode übernimmt in diesem Jahr die Skulpturensammlung der Königlichen Museen«, raunte sie ihrer Schwiegermutter zu und nestelte nervös nach ihrem Talisman. Auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie diesem Parkett gewachsen war und ergriff Roberts Arm etwas stärker. Er war flankiert durch seine Mutter und Helene nicht unbemerkt durch das Eingangsportal geschritten, ein Journalist sprach ihn an.
Helene hatte Mühe, sich auf ihn zu konzentrieren, denn sie wurde von einem Mann neben dem Fragenden abgelenkt. Mit Bleistift und Zeichenblock bewaffnet brachte er mit schnellen, gekonnten Strichen ein Bild aufs Papier. Er hatte nicht bemerkt, dass sie ihn beobachtete, und sah sie wieder prüfend an. Dann lächelte er und leckte an seinem spitzen Stift, bevor er weitere Linien aufs Papier setzte. Voller Neugier beugte sie sich vor, da drehte der Mann seine Zeichnung um und zeigte sie ihr. Ein breites Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Dann wurde sie mutig. »Möchten Sie wissen, woher das Kleid stammt?«, raunte sie mehr, als dass sie laut sprach, und zog die Augenbrauen herausfordernd hoch.
»Klar doch, warum nicht, vielleicht wird es dann eher gedruckt, superb ist ihre Spitze allemal.« Sie hätte vor Freude am liebsten in die Hände geklatscht oder Robert wild im Kreis herumgewirbelt, doch sie musste sich zusammenreißen.
»Die Spitzenmanufaktur zu Hohenlinden in Plauen entwirft diese vorzüglichen Tüllspitzen und schon bald, so kann ich Ihnen hier exklusiv verraten, werden wir auch Spitzen ohne jeglichen Trägerstoff herstellen. Diese einzigartige Herstellungsmethode für die grazilen Putzartikel wird Damen in der ganzen Welt begeistern. Sie werden noch an mich denken«, sagte sie couragiert und nickte dem Mann zu.
Gänsehaut zog an ihrem Arm hinauf und sie konnte kaum glauben, wie forsch sie aufgetreten war. Die Fakten stimmten, jedenfalls war sie davon überzeugt, dass die Luftspitze das aufregendste sein würde, dass man in der Modewelt in den kommenden Jahren feiern würde. Mittlerweile war der Journalist, der bis soeben mit Robert gesprochen hatte, aufmerksam geworden und auch er stellte Fragen zu ihrer Robe. Helene vergaß jede Zurückhaltung, schwärmte, erläuterte und war ganz in ihrem Element.
Schon nach wenigen Sätzen aber wurden sie weitergeschoben, unablässig drängten neue Gäste ins Vestibül. Innerlich schalt sie sich, denn sie hatte dem Journalisten diktieren wollen, wo man in Berlin die herrlichen Spitzen kaufen konnte. Ich muss unbedingt noch eine andere Gelegenheit finden, dachte sie verbissen und bemerkte, wie sie den Bernstein aus dem Kleid gezogen hatte und beständig daran rieb. Eine nervöse Angewohnheit, die sie manchmal unbewusst tat.
»Das läuft ja famos, meine Liebe«, raunte ihr die Schwiegermutter und beste Freundin ihrer eigenen Mama zu und lächelte. Es schien Helene, als sähe sie so etwas wie Stolz oder Anerkennung auf Hannelores Zügen.
»Danke dir«, sagte sie leise und bat Roberts Mutter, nicht zu vergessen, sie mit der Dame bekannt zu machen, der sie die großartige Einladung zu verdanken hatten. Sie nickte und dann begannen die drei den Rundgang durch die Gemäldeausstellung.
Es war eine beeindruckende Sammlung von Gemälden, Teppichen und Skulpturen, die samt und sonders aus privater Hand zur Verfügung gestellt worden waren und von Dutzenden Berliner Sammlern stammten. Die Königliche Akademie der Künste war ein extravaganter Ort, hier im Marstall wurden nicht nur Ausstellungen initiiert, sondern täglich Kunst geschaffen. Helene gewahrte die Magie, die diese Lehranstalt verströmte. Hier trafen sich nicht nur Kunstschaffende zum Austausch, nein, es war ebenso ein Ort für vielfältigste Sammlungen deutschen Kulturgutes.
»Wie aufregend«, raunte sie Robert zu, als sie langsam durch die Räumlichkeiten schlenderten.
Von Frau Doktor Bernstein, die ihr von Hannelore vorgestellt wurde und mit der sie im Laufe des Abends zum vertrauten Du überging, ließ sie sich nur zu gern in die Geheimnisse dieser ehrwürdigen Hallen einführen. Die in Russland geborene Ehefrau eines Berliner Anwaltes, der an der Universität lehrte, war eine unerschöpfliche Quelle, wenn es um die kreativen Kunstschaffenden in der Stadt ging. Und nicht nur das. Felicie, die eine umfassende Bildung in einem Dresdener Mädchenpensionat genossen hatte, kannte sich auch mit Musik bestens aus. Als Helene ihr flüsternd offenbarte, eine Liebhaberin von Liebermanns Werken zu sein, hakte sie sich bei ihr unter und erzählte ihr von den Gemälden, die ihr Gatte und sie im letzten Jahr in Paris erstanden hatten.
»Ihr müsst uns unbedingt besuchen, mein literarischer Salon ist über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und wir freuen uns immer, wenn wir neue Freunde der Kunst begrüßen dürfen.
Kommt doch nächsten Mittwoch vorbei, dann siehst du dir die Gemälde in ihrer ganzen Pracht an, die dich so interessieren. Noch machen sich die Journaille und einige Kunstliebhaber darüber lustig, doch ich sage dir, den Impressionisten gehört die Zukunft. In ein paar Jahren wird man in unseren Musiksalon pilgern, um Monet, Manet oder Pissarro zu bewundern.« Das schmale Persönchen neben Helene war in ihrem Element, sie schwärmte von den Farben und Sujets der Bilder und die beiden Frauen vergaßen die Menschen um sich herum.
In einem Raum der oberen Etage zog Felicie sie in die hinterste Ecke und schaute sich unauffällig um.
Sie hakte Helene unter und schob eine mit Seidentapete bespannte Wand auf. Erstaunt sah sie dabei zu und flüsterte:
»Eine Geheimtür, wie aufregend.« Ihre Begleiterin legte verschwörerisch den Finger auf ihre Lippen. Flink schritten sie durch die Wand und schon waren sie in einem dunklen langen Flur, an dessen Ende ein winziges Fenster milchiges Licht von der Straße hereinließ. Felicie raunte ihr etwas Unverständliches zu und schon schlüpfte sie zu Helenes Erstaunen in einen angrenzenden Raum.
»Was meintest du, ich habe dich nicht verstanden«, richtete Helene das Wort an die Frau mit den dunklen Haaren und dem melancholischen Augenaufschlag, bevor sie sich staunend umsah. Eine Antwort war schlagartig unwichtig, denn sie befanden sich im Himmel. Wortwörtlich. Über den beiden Frauen erhob sich eine stählerne Kuppel mit Glasfenstern, die an einen kleinen Dom erinnerte. Schmutzige Scheiben ließen die Wolken nur erahnen und doch schob die große Stadt ihr Licht hindurch.
An den Wänden standen Tische, übersäht mit Farben, Pinseln und Lappen. Auf manchen entrollten sich Packen von Papier neben Wasserbechern und achtlos abgestellten Tellern, auf denen Obst lag oder sich eine Brotscheibe wellte. Auch eingetrocknete Farben konnten sie erkennen.
Auf den Staffeleien hielten die künftigen Meisterwerke der Künstler des Kaiserreiches Hof. Sie buhlten alle gleichzeitig um Helenes Aufmerksamkeit, riefen ihr Unerhörtes zu, zogen sie mal in die eine Ecke, mal in die andere.
Sie vergaß ihre Begleitung und war magisch angezogen von der Skizze einiger Blütenblätter. Scheinbar mühelos hatte sie der Künstler auf den schweren Papierbogen gezeichnet. Er ließ es aussehen, als würden die Blütenknospen in ihren verschiedenen Stadien des Aufblühens fliegen und schwerelos auf den Boden sinken. Die Rundungen waren gleichmäßig und wie zufällig verbunden mit dem Inneren des Kelches. Die Linien der Blätter fein und am Ende kaum erahnbar, und doch schienen sie alle miteinander verwoben.
Helene schalt sich, in diesem Moment keinen Zeichenblock bei sich zu haben. Diese angedeutete Blüte war in ihrer Unvollkommenheit perfekt und es drängte sie, sie so schnell als möglich auf Papier zu bannen. Was, wenn der Gedanke flüchtig und ihre Idee wie der Abend im Dunkel verginge? Nervös sah sie sich um und bemerkte erst jetzt, wie ihr ihre Begleiterin wohl schon seit Längerem Handzeichen machte. Sie rief sie hinüber in eine andere Ecke des Raumes.
Bevor sie ihr nachkam, stahl sich Helene einen kleinen Bogen Papier von dem nahestehenden Tisch, griff nach einem fast stumpfen Bleistift und machte sich an die Arbeit. Atemlos strichelte sie das Muster auf den Zettel, wischte mit dem Finger darüber, schüttelte verzweifelt den Kopf und war nach ein paar Minuten dann doch zufrieden. Nun rollte und faltete sie den Bogen, um ihn in ihren Handbeutel zu stopfen.
»Wir müssen uns sputen, Helene, ehe man uns vermisst«, hörte sie Felicie aufgeregt flüstern und schon war sie mit einigen wenigen Schritten bei ihr.
»Hier treffen sich Mitglieder der Akademie und von ihnen protegierte junge Künstler zum gemeinsamen Arbeiten. Ist das nicht aufregend? Zu sehen, wie alles entsteht? Man kann den Kampf um die Perfektion fast spüren. Hier entstehen neue Stilrichtungen, wird am Konzept für eine nie da gewesene Kunst gearbeitet. Und natürlich gestritten.«
»Gestritten? Was meinst du?« Helene horchte auf. Doch Felicie erhob wieder ihren Finger und zog sie zur Tür.
»Das ist ein Gespräch für einen anderen Abend. Wir sollten gehen, bevor man uns entdeckt. Mein Mann sagt, die Maler kommen manchmal sogar des Nachts hierher.« Schon zog sie sie an der Hand aus dem Raum und sie schlüpften in einem unbemerkten Moment wieder in den großen Saal.
Unter all den Menschen fühlte sich Helene auf einmal sehr allein und sie sehnte sich zurück in den Kuppelsaal, wo es nach Farben, Pergament und Staub gerochen hatte. Sie sah sich selbst in einem beschmierten Kittel an der Leinwand stehen und mehr als nur Spitzenmuster malen. Fast hätten sie ihre Träume übermannt, wie damals unter den Apfelbäumen ihrer Kindheit, doch der beständig brausende Lärm der vielen Menschen um sie herum holte sie zurück in die Wirklichkeit. Suchend sah sie sich nach Hannelore und ihren Mann um.
Wilhelm
Nachdenklich schloss Wilhelm zu Hohenlinden die Tür hinter dem unangekündigten Besucher. Kurz lehnte er sich an den Rahmen der schweren Eichentür des Stadthauses an der Syra und zog dabei gereizt an seinem Kragen. Wie immer, wenn er eine beunruhigende Nachricht erhielt, sehnte er sich danach, das starre weiße Ungetüm abzureißen, es im besten Falle aber zu lockern. Noch immer lechzte er nach Luft. Was nur sollte er Dorothea sagen? Wie komme ich an mehr Informationen?
Er sah sich im Foyer um und entschied, sich in sein Büro zurückzuziehen. Hofstetter brachte ihm einen Tee und er bat sich Ruhe aus.
»Ich möchte nicht gestört werden, von niemandem«, wies er den langjährigen Butler an und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Wie viel Zeit vergangen war, als es erneut an der Haustüre klopfte, vermochte Wilhelm nicht zu sagen. Doch er sprang wie elektrisiert auf und lief hinaus. Gab es Neuigkeiten? Sein Bekannter hatte versprochen, sich umzuhören. Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf, als er die Tür aufriss.
Beim Anblick der jungen Frau mit dem dicken Wolltuch um den Kopf trat er einen Schritt zurück und rief enttäuscht nach dem Butler. Mürrisch sagte er zu ihr: »Ich lasse Hofstetter kommen, er weist Ihnen den Weg zum Lieferanteneingang.«
»Erkennst du mich nicht? Ich bin es Wilhelm, Anna Elise.« Mit diesen Worten hatte die Frau das Tuch vom Kopf gezogen und versuchte, ihr dichtes Haar zu richten. Dann zerrte sie an ihrem dicken, warmen Umhang, den ihr Hofstetter, der geflissentlich herbeigeeilt war, abnahm. Mit dem Kleidungsstück auf dem Arm und der anderen Hand auf der Klinke sah dieser zwischen seinem Herrn und Anna Elise hin und her, unschlüssig, wie zu verfahren sei.
Wilhelm musste sich sammeln, erkannte dann aber sofort die entfernte Cousine seiner Frau, die im kalten Windzug dieses vergehenden eisigen Tages stand. Schon hörte er Dorothea vom Treppenabsatz aus dem ersten Stock rufen.
»Jetzt weiß ich endlich, was die ganze Geheimniskrämerei heute Nachmittag zu bedeuten hat. Du, mein lieber Mann, hättest mir sagen können, dass es Anna Elise ist, die uns besucht. Komm doch herein und entschuldige das eigenartige Verhalten, meine Liebe.« Schon hatte seine Frau das Vestibül erreicht und nahm die Cousine in den Arm, küsste sie zur Begrüßung auf die von der Kälte geröteten Wangen.
»Hofstetter stehen Sie nicht wie eine Salzsäule herum. Sorgen Sie für frischen Tee, etwas Gebäck und eine Wärmflasche. Meine Cousine ist verfroren, sicher war es in unserer Kutsche kühl. Ach herrje, nun komm schon herein und erzähle.« Bevor ihre Besucherin auf den Einwurf mit der Kutsche antworten konnte, machte sich Wilhelm daran, sie herzlich zu umarmen und bedeutete Hofstetter, ihr die Tasche abzunehmen. Dann rief er nach der Haushälterin und wies sie an, ein Zimmer herzurichten. Formvollendet geleitete er die Damen in Dorotheas Salon. Er blieb nicht bei dem Besuch, sondern entschuldigte sich.
»Wichtige Geschäfte, meine Liebe. Es wird nicht lange dauern«, meinte er und war verschwunden, bevor Doro etwas entgegnen konnte.
Ich muss Hofstetter so schnell als möglich zum Telegrafenamt schicken. Vielleicht waren die Leitungen ja wieder intakt. Er selbst würde zu Neupert in die Schulstraße hinüber gehen, der Zeitungsverleger wäre der Erste in der Stadt, der an Neuigkeiten kam, um sie in seiner Tageszeitung zu drucken. Wenn selbst der nichts wusste, dann würde er sich auf den beschwerlichen Weg nach Hamburg machen.
Was Anna Elise wohl von ihnen wollte, gerade jetzt? Dorothea hatte in den letzten Jahren kaum Kontakt zur Familie ihrer Cousine und nun tauchte sie unangemeldet hier auf. Ihm fiel kein ungünstigerer Zeitpunkt ein. Im Hausflur hörte er seine Frau weitere Anweisungen an Hofstetter geben und ging hinaus.
»Ach was … kümmern Sie sich darum, ich gehe jetzt zurück zu Anna«, hörte er sie sagen. Im Spiegel der Diele richtete sie sich ihre Haare und sah prüfend auf ihre Garderobe. Sie hatte wenig Aufhebens gemacht, als sie sich am Morgen angekleidet hatte.
Auf Besuch war sie nicht eingerichtet, denn die vergangenen Wochen hatte sich in Plauen nur aus dem Haus gewagt, wer wahrlich Eiliges zu verrichten hatte. Der Schnee, so schön auch anzusehen und die klirrende Kälte, machten Besuche zu einem Wagnis. Im Spiegel sah er sie an und wandte sofort seinen Kopf ab, doch da hielt sie ihn schon an der Schulter auf.
»Was ist los, Wilhelm? Die Überraschung ist dir gelungen, obwohl ich keine Ahnung habe, wie du das arrangiert hast. Ihr müsst den Besuch seit Wochen planen. Doch ich sehe etwas anderes in deinem Blick. Hat sie dir erzählt, worum es geht? Ich tue mich so schwer, hätte dir schon vor Monaten …« Sie wurden von einem Poltern aus dem Salon unterbrochen und liefen nebeneinander zu der angelehnten Tür. Der Anblick in Dorotheas kleinem, aber ausgesucht apart eingerichteten Salon verschlug ihnen die Sprache.
»Oh mein Gott, Anna … Wilhelm, rufe nach Hofstetter und Doktor Merk. Ich dachte gleich, sie sieht blass aus.« Mit diesen knappen Anweisungen war Dorothea an die am Boden liegende junge Frau herangetreten, die sich nicht rührte und kniete nieder. Neben Anna breitete sich eine rote Lache aus, die Doro kurz erschaudern ließ. Schnell erkannte sie jedoch, dass es sich um Kirschlikör handelte, dessen Karaffe zerbrochen auf den Dielen lag. Die Tischdecke, ein Buch und ein beschriebener Bogen Papier waren ebenso zu Boden gesegelt.
Hat sie den Brief gelesen und ist deshalb zusammengebrochen, fragte sich Dorothea erschrocken und ließ das Pergament in ihrem Rock verschwinden. Wilhelm beobachtete diese Geste erstaunt und half dem Butler dann, ihren Besuch auf die Chaiselongue zu heben.
Nachdem der Doktor das Haus verlassen hatte und man Anna Elise auf ihr Zimmer gebracht hatte, kam er nicht umhin, seine Gattin in die schrecklichen Nachrichten einzuweihen.
Das Dampfschiff Cimbria war gesunken, von ihrem Sohn gab es kein Lebenszeichen.
Helene & Robert
»Ich habe deinen Rat befolgt und tief in meinem Hirn gegraben, Liebste«, flüsterte Robert später in dieser Nacht, als sie ermattet in ihren Laken lagen und sich nach liebevollem Spiel ein Glas Wein gönnten. Helene rekelte sich wohlig unter der Daunendecke und zog diese bis an die Nasenspitze, bevor sie neugierig nachfragte, was er meinte. Robert schwang seine langen muskulösen Beine über die Kante des hohen Bettes und schlüpfte in Hauspantoffel und Morgenrock, den er sorgfältig schloss.
Auch so eine Marotte von ihm, dachte Helene belustigt, die ihrerseits meist, wie Gott sie geschaffen hatte, im Bad verschwand. Ihr Gatte bevorzugte seinen eigens in Paris maßgefertigten Morgenrock überzuwerfen. Man müsse ihn ja abtragen, hatte er einmal lächelnd zu ihr gesagt, wenn er schon so viel dafür ausgab. Damit hatte er recht, die Couturiers in Frankreichs Hauptstadt ließen sich wahrlich nicht lumpen.
Als frischgebackene Ehefrau gab es noch viel über ihren Mann zu lernen. Sie kannte Robert Arnstädt, den Sohn alteingesessener Korsettfabrikanten aus Oelsnitz zwar schon ihr ganzes Leben lang, hatte mit ihm bereits im Sandkasten gespielt, doch als junges Mädchen war ihr Interesse an ihm verschwunden. Fünf Jahre Altersunterschied waren ihnen damals vorgekommen, wie eine Ewigkeit. Dann hatte der Zufall sie wieder zusammengebracht.
Robert und sie erkannten schnell den Gleichklang ihrer Gedanken und Gefühle, fühlten sich in der Gegenwart des jeweils anderen sicher und geborgen, doch nicht eingeengt. Und eines musste man ihrem Mann lassen, er konnte vergeben, war großzügig und hatte ein unangepasstes Frauenbild.
Seine Mama, selbst aktiv in der Führung des Familienunternehmens, hatte es ihm vorgelebt, die Möglichkeit, Frau, Mutter und auch kreativer Kopf und Seele ihrer Manufaktur zu sein.
Helene gab unumwunden zu, sie hatte ihrer Ehe einiges abverlangt. Am Anfang ihrer sich zaghaft entwickelnden Beziehung war sie nicht sicher, ob sie der Bürde ihrer Vergangenheit standhalten würde. Aber Robert hatte sie überrascht. Er hat sie wirklich gewollt. Sie, die junge Frau, die andere als eine gefallene Seele brandmarken würden, wenn sie wüssten, dass ihre Nichte in Wahrheit ihr leibliches Kind war. Er hatte verstanden, dass sie das Mädchen nie verlassen würde, egal, wie liebevoll sich ihre Schwester Johanna um sie kümmerte.
»Wo bist du nur mit deinem Gedanken«, hörte sie ihn sagen und sah, wie Robert ihr ein weiteres Glas Wein hinhielt. Sie griff nach dem fein geschliffenen böhmischen Kelch und nippte daran, um ihn dann auf ihrem Nachttisch abzustellen und wieder tief in die Kissen zu sinken. Robert, mittlerweile mit einem luxuriösen seidenen Nachthemd bekleidet, kroch zu ihr unter die Decke und streckte sich gähnend, um sogleich nach ihr zu greifen. Versonnen wand er sich eine ihrer Haarlocken um zwei Finger und spielte damit. Er lehnte sich nah an sie, roch an ihr und atmetet wohlig ein und aus. Sie tauschten tiefe Blicke und Helene fuhr dieser reißende Puls in ihren Bauch. Sie kannte das schon und war erstaunt, mit welcher Intensität diese Welle von ihr Besitz nahm. Selbst in den schönsten Träumen von einem Leben mit ihrem Mann war nichts von diesem atemberaubenden Verlangen gewesen, das sich ihrer bemächtigte.
Mit einer Hand streifte er sein Hemd wieder ab, die andere eiskalte strich über ihre Haut. Spitz jauchzend hielt sie den Atem an. Er ließ sich nicht aufhalten, war mit seinen Fingern noch immer auf Erkundungstour.
Spielend erst, dann fordernd, suchten sie sich ihren Weg. Ihr wurde heiß, tausende Schmetterlinge flogen auf, vollführten einen wilden Tanz, der das Blut aus ihren Adern einzig in eine Richtung fließen ließ.
Mit Robert hatte sie erfahren, dass die körperliche Liebe zwischen Mann und Frau weder mechanisch noch einzig auf seine Bedürfnisse abgestimmt sein musste. An ihrem ersten Abend in seinem Haus in Oelsnitz hatte er sie behutsam in ein Liebesspiel eingeführt, dessen heftige, orkanartig aufbrausende Art ihr bis heute den Atem nahm. Wenn er sie so anfasste, und das tat er in diesem Moment überaus geschickt, schloss sie vor Wonne die Augen. Mit einem Mal wollte sie ganz schnell mehr von ihm. Sie wand sich, glaubte, ihre Mitte würde zerspringen, wenn er sie nicht sofort erlöse. Doch er kostete diese Momente der Überlegenheit aus. Denn ja, er war ihr überlegen, hatte sie buchstäblich in der Hand. Ein weiteres Mal erspürte sie in der heutigen Nacht Hitze in sich aufbranden und bald darauf eine ihr unerklärliche Erfüllung.
So hatte sie sich das Zusammensein nicht vorgestellt. In Doktor Weissbrodts Die eheliche Pflicht, das sich wie von Geisterhand kurz vor ihrer Vermählung auf ihrem Nachttisch eingefunden hatte, las sie von Hingabe aus Pflichtgefühl und dass die Art von Begierde, die sie für ihren Mann empfand, durchaus als Sünde anzusehen sei. Vor allem wenn die Leidenschaft von der Frau ausging. Das Buch hatte sie verwirrt zurückgelassen. Einerseits verwundert darüber, wie detailliert der Arzt darin über die Anatomie von Mann und Frau, den Fakten zur Zeugung schrieb. Andererseits klang alles mechanisch und von Liebe, ja Gefühlen oder dem Rausch, den sie empfand, war nichts zu lesen.
Mehr noch hatte sie im Kapitel zur Ausübung des Zeugungsaktes mit Erstaunen gelernt, dass die Frau die Empfangende sei und eher leidend als handelnd. Im krassen Gegensatz dazu beschrieb der Verfasser in dem Buch auch, wie wichtig eine gewisse Befriedigung für die Frau sei und erging sich seitenlang darin, die richtige Stellung im Ehebett zu erklären. Sie hatte das alles abgeschreckt und Helene erinnerte sich an ein Unbehagen vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Doch Robert war einfühlsam gewesen und sie hatte sich sofort bei ihm wohlgefühlt. Den Ratgeber hatte sie schnell vergessen. Für die Hingabe an diesen wundervollen Mann bedurfte es keiner Anleitung, entschied sie.
Irgendetwas hat Robert, dass andere Männer nicht haben, dachte sie und schmiegte sich an seine Brust. Der Rausch war nicht vorüber, sie bebte und atmete hektisch.
»Nein, mein Liebling, es liegt nicht an mir, es ist unsere Verbindung, die dieses Spiel so knisternd und erfüllend macht«, sagte er an ihrem Ohr und sie fragte sich, wie er ihre Gedanken erahnte.
»Du bist mir unheimlich«, presste sie heraus und trommelte mit den Fäusten auf seine leicht behaarte Brust. Dann hüpfte sie wie ein junges Reh aus dem Bett und lief ins Bad.
»Was hast du vorhin gemeint, wobei hast du meinen Rat befolgt?«, rief sie ihm zu und begann sich ausgiebig zu waschen.
»Oh, ich bin deinem Journalisten noch einmal begegnet, als ich bei Doktor Bernstein draußen eine Zigarre schnorrte, und da dachte ich mir, ich stecke ihm, dass eure Spitzen in der Kaisergalerie zu haben sind. Als Meterwaren für die Ateliers der Schneiderkunst und auch verarbeitet in hauseigenen Kreationen. Es gibt doch Musterkleider bei einem der ansässigen Schneiderateliers?«
Helene war erstaunt, woran er sich erinnerte, er hörte ihr tatsächlich zu, wenn sie aus ihrem Tagesgeschäft plauderte, und sie freute sich über sein Interesse.
»Wir sollten in den kommenden Tagen unbedingt in die Galerie gehen und uns ansehen, wie die Ware präsentiert wird. Ich bin schon gespannt, diesen Einkaufstempel zu sehen, man erzählt sich ja so einiges.«
»Wegen der Bogenlampen von Siemens gibt es dort im Inneren helleres Licht als draußen und die Besucher vergessen die Zeit, sagt man sich. Das muss ein komisches Gefühl sein«, antwortete Robert, als sie zurückkam. Helene schmiegte sich ermattet an ihn, sie fachsimpelten ein wenig, doch dann hauchte sie ihm ein Küsschen auf die Wange und schon schlummerten sie zufrieden bis in den späten Morgen.
***
Sie hatten verschlafen, alles musste nun schnell gehen. Robert und Helene wollten eigentlich ein ausgiebiges Frühstück genießen, doch sie waren zu spät. Das Ehepaar Bernstein würde an der Nationalgalerie auf sie warten und nach der Besichtigung hatten sie vor, dem berühmten Café Fuchs einen Besuch abzustatten. Höhepunkt des Nachmittages wäre dann die Ankunft des Kronprinzenpaares vor dem Alten Marstall, was sie auf keinen Fall verpassen wollten.
Helene war gespannt auf die Garderobe der königlichen Hoheiten und sinnierte schon seit Tagen, wie man an den Hofschneider herankommen könnte. Vergebens, noch wollte ihr nichts dazu einfallen. Doch sie hatte sich vorgenommen, die bestens vernetzte Felicie zu befragen.
Als sie noch nicht ganz fertig angekleidet waren, klopfte ihre Schwiegermutter schon ungeduldig an der Zimmertür und Robert geleitete seine Mutter ins Foyer. Helene sputete sich, würde jedoch keinesfalls ohne ihre Plauener Spitzen aus dem Haus gehen und so suchte sie den Schirm aus dem großen Reisekoffer, zog einen anderen Handbeutel hervor und verstaute zwei Stifte und mehrere Bögen Papier darin. Heute bin ich vorbereitet, wenn mir während der Besichtigung wieder Einfalle für einen neuen Musterentwurf kommen, dachte sie und befestigte einen Spitzenkragen an ihrem Kleid. Sie zupfte die aufwendigen Schleifen ihres Rockes gerade und zerrte an der mit Spitzen verzierten Schleppe, bis sie perfekt saß. Zu guter Letzt steckte sie einen aparten Hut an ihrem Haar fest und griff nach dem obligatorischen Taschentuch, ihrem Markenzeichen.
Als sie die Tür hinter sich zuziehen wollte, erschrak sie und lief zurück zu ihrem Nachttisch. Sie griff nach dem Bernstein und ließ ihn in ihren Beutel sinken.
An dem Neorenaissance-Gebäude unweit vom Lustgarten im Zentrum Berlins wartete ungeduldig das Ehepaar Bernstein, als Robert mit Hannelore und Helene dort eintraf. Aufgeregt stiegen sie die breite Treppe mit den umlaufenden Halbsäulen zur Nationalgalerie hinauf, um im Inneren staunend vor weiteren Treppenaufgängen stehen zu bleiben. Riesige Fenster flankierten in der ersten Ausstellungsetage den Vorraum und gaben den Blick nach draußen frei. Das Ehepaar Bernstein führte sie durch die opulenten Räume und erklärte ihnen die beeindruckende Gemäldesammlung des Bankiers Wagener mit den Augen des Kunstsammlers und Mäzenen.
»Über 200 Gemälde bilden den Grundstock für diese Galerie, ein Hort der Moderne sollte entstehen, wie sich der König damals ausbat«, erklärte Felicie und hatte zu einigen der Gemälde einprägsame Geschichten parat. Die Familie Bernstein, selbst Kunstliebhaber und Förderer, war so eifrig in ihren Erzählungen, dass die Zeit wie im Flug verstrich. Helene fragte sich, wie sie all diese Eindrücke verarbeiten sollte.
Konsul Wagener hatte dem Land einen wahrlich großen Dienst getan, als er seine Gemäldesammlung König Wilhelm I. von Preußen vermachte und damit den Grundstock für die erste moderne Gemäldegalerie schuf.
»Wagener hat nicht irgendetwas gesammelt, er kaufte Werke europäischer Künstler an, die den Fortgang der neueren Kunst veranschaulichen. Vierzig Jahre lang widmete er sich dieser wertvollen Aufgabe«, schwärmte die Gattin des angesehenen Berliner Universitätsprofessors der Friedrich-Wilhelm-Universität. Leise murmelte sie dann ihrem Gatten etwas auf Russisch ins Ohr und lächelte Helene dabei an. Schnell entschuldigte sie sich, in die Sprache ihrer Heimat verfallen zu sein.
»Sie müssen verzeihen, verehrte Damen, mein Mann und ich sprechen in privaten Momenten ein eigens von uns erschaffenes Kauderwelsch aus Russisch, Deutsch und Französisch. Unsere Lebensumstände haben sich so entwickelt, dass uns all diese Sprachen ans Herz gewachsen sind, und ab und an bin ich in Gegenwart anderer gedankenlos.« Helenes Schwiegermutter nickte verständnisvoll.
Helene indes zog es in den ersten Cornelius-Saal hinein. Sie lief bis in dessen Mitte und stand zwischen zwei samtbezogenen Rondellen, die als Sitzgelegenheit dienten und ohne ihr Zutun wurde ihr Blick sofort nach oben gelenkt. Über ihnen ein mehrfach geteiltes Glasdach, das auf konisch zulaufenden Deckenwänden ruhte. Diese waren kunstvoll bemalt und gaben dem Raum eine Leichtigkeit, obwohl in vier Metern Höhe große Säulen anscheinend das Dach des Himmels trugen. Doch mitnichten war dies der einzig spannende Anblick. All diese prachtvollen Räume zeigten die große Kunst der Architekten, die diesen Bau verantworteten. Die ganze Familie war beeindruckt.
Hannelore wandte sich am Arm ihres Sohnes einem opulenten Gemälde zu. Versonnen stand auch Helene schon davor und lauschte Felicie, die so einiges dazu erklären konnte. Doch die Informationen rauschten an ihr vorbei, nur weniges tröpfelte in ihr Bewusstsein, denn sie empfand wieder diesen Sog, der sie erfasste, wenn sie etwas so Vollkommenes wie dieses Gemälde sah.
Angezogen vom Licht eines Kronleuchters, der über dem Kopf eines Flötisten von der Decke zu schweben schien, betrachtete sie ein Bild von Adolph Menzel. Es war dem Maler gelungen, eine privat anmutende Atmosphäre zu schaffen, obwohl es dem Konzertsaal von Schloss Sanssouci an Opulenz nicht fehlte. Das Flötensolo, bei dem Friedrich der Große die ganze Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat, wurde einzig durch Kerzen erhellt. Im Bann seines Spiels warteten Musiker am rechten Bildrand auf ihren Einsatz fast im Dunkeln.
»Am Cembalo sitzt wohl Emanuel Bach und hier drüben«, Felicie deutete auf eine junge Frau in Spitze gehüllt, »auf dem rosa Sofa, das ist die Schwester des Königs, Wilhelmine. Wenn du genau hinsiehst, erkennst du noch andere berühmte Persönlichkeiten des Hofes. Der Kapellmeister, der Opernintendant und so weiter und so fort.« Helene war beeindruckt.
»Erkennst du das Spiel des Lichts? Friedrich der Große, im schlichten Uniformrock, steht in jeder Hinsicht im Mittelpunkt des Gemäldes. Sein Gesicht ist als einziges durch die Kerzen erhellt. Das Spiegelbild des Kronleuchters bricht sich mehrfach und ist im Widerschein des polierten Parketts zu erkennen. Das gibt dem Mann die Größe und Schwere seines Ranges. Einzig die Schwester wird ähnlich ausgeleuchtet …« Helene schloss mit einer entschuldigenden Phrase.
»Excuse-moi. Ich vergesse mich, wenn ich Kunst sehe. Leider hatte ich bisher zu wenig Gelegenheit … Ach.«
»Das müssen wir ändern, denn du hast ein seltenes Talent, meine Liebe. Ich frage mich, was du zu den neuesten Gemälden, die Carl und ich im letzten Sommer in Paris kauften, sagen würdest. Ihr müsst uns unbedingt besuchen kommen.« Felicie hakte sich bei Helene unter, lächelte Robert und dessen Mutter entschuldigend an und zog sie mit sich fort. Die zwei jungen Frauen liefen langsam hinüber in den zweiten Cornelius-Saal und schienen die anderen völlig vergessen zu haben.
Als die kleine Gemeinschaft wenig später an zwei Tischen im Kaffeehaus Fuchs saß, ließen sie sich Törtchen und köstlichen Kaffee munden. Langsam verebbten die Gespräche und jeder hing ermattet seinen Gedanken nach. Robert blätterte lustlos in einer Zeitung, schenkte kaum einem Artikel mehr Aufmerksamkeit als zwei, drei kurze Augenblicke. Auch Helene war erschöpft von dem stundenlangen Schlendern durch die Galerie und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein wenig auszuruhen. Doch die Ankunft des Kronprinzenpaares am alten Marstall wollte sie auf keinen Fall verpassen.
Just als sie anhob, Felicie nach ihren Kontakten bei Hofe auszufragen, denn der Gedanke, den Schneider für ihre Spitzen zu gewinnen, wollte nicht verschwinden, hörte sie Robert schwer atmen. Sie stellte die Tasse ab und beugte sich hinüber zu ihm. Er war aschfahl und schluckte mit geschlossenen Augen. Ihre Hand, die sie auf sein Knie gelegt hatte, umklammerte er fest und forderte sie auf, näher an ihn heranzurutschen. Das kleine Chintz-Sofa unter ihnen ächzte, als sie sich schwungvoll darauf niederließ. Noch immer hielt er ihre Hand umklammert und nun war sie ernsthaft besorgt. Sie griff nach ihrem Bernstein, als sie las:
Liste der Überlebenden der Schiffskatastrophe des Hapag Dampfer Cimbria.
Johanna
»Entschuldige bitte, dass du warten musstest, Anna. In diesen Tagen geht es bei uns ein wenig durcheinander, wie du dir vorstellen kannst.«
Johanna rückte sich einen Stuhl an den kleinen runden Tisch, an dem Anna Elise Platz genommen hatte und nutzte den Moment, um die Besucherin genauer zu betrachten. Bislang hatte sie die entfernte Cousine ihrer Mutter nur einmal gesehen und als kräftige junge Frau in Erinnerung. Heute erschien sie ihr schlanker. Unter einem hohen Haaransatz gruben sich erste Falten in ihre Stirn und die tief liegenden blauen Augen waren dunkel umrandet.
Sie schien noch immer übernächtigt und keinesfalls gesundet. Als sie vor drei Tagen gleich bei ihrer Ankunft in eine Ohnmacht gefallen war, beschied Doktor Merk, dies wäre einer festsitzenden Erkältung und damit einhergehenden Entkräftung nach der Reise geschuldet. Anna Elise hatte die kommenden Tage das Gästezimmer nicht verlassen, nur wenig gegessen und viel geschlafen. Ihr bellender Husten hatte jede Nacht durchs Haus gehallt.
Als Johanna und August gestern in Plauen ankamen, hatten sie mit Erleichterung festgestellt, dass auch die jüngere Schwester aus Berlin zurück war. Der Grund dafür lag auf der Hand. Sie hatten aus der Presse vom Unfall auf dem Meer gehört.
Noch immer konnte sich Johanna nicht mehr eingestehen. Ein Unfall auf dem Meer, das war alles, was sie ertragen konnte. Dieses Unglück in Zusammenhang mit ihrem Bruder zu bringen, entfachte in ihr einen wütenden Sturm. Sie hatte im vergangenen Jahr ihren Sohn, ihr einzig leibliches Kind verloren. Scharlach hatte ihn hinfort gerissen, sein junges unschuldiges Leben auf grausame Art beendet. Monatelang fühlte sie sich seither abgestumpft, bar tiefer Gefühle, träge und ohne jegliches Interesse.
Erst seit sie nach Weihnachten zu ihrer Schwägerin gereist waren und sie dort behutsam in deren quengeligen Familienalltag eingebunden worden war, regte sich etwas in ihr. An manchen Tagen lüftete sich die Schwere, die auf ihrer Brust saß und sie atmete freier. Sie erlaubte sich, an eine Zukunft zu glauben.
Und nun das. Wenn ihrem Bruder etwas zugestoßen war, und danach sah es wahrhaftig aus, wüsste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte. Doch da war eine Stimme in ihr, die sie mahnte, nichts zu überstürzen, abzuwarten. So als ob es Hoffnung gäbe.
Neben ihr rutschte die Besucherin ungeduldig auf dem Stuhl hin und her und sah dabei weitaus älter aus als ihre knapp über dreißig Jahre. Bevor Johanna jedoch Gelegenheit gehabt hätte, sie weiter zu mustern, hörte sie sie sagen: »Gut siehst du aus, bist mittlerweile eine erwachsene Frau, wir haben uns zu lange nicht gesehen.« Ihre Stimme war wie ihre ganze Erscheinung verhuscht und unschlüssig. Johanna ahnte, dass sich ihr Gegenüber beklommen fühlte.
»Es scheint dir besser zu gehen, Anna. Unser Hausarzt mahnt trotzdem, Vorsicht walten zu lassen. Du mögest dich noch ein paar Tage schonen, lässt er ausrichten.« Der direkte Hinweis auf ihre labile Konstitution war Anna Elise peinlich und so wechselte sie schnell das Thema. »Nun, Anna, wie können wir dir helfen?« Ohne Einleitung war sie auf den Punkt gekommen und schämte sich augenblicklich ihrer rüden Manieren. »Es tut mir leid, so beginnt man keine Konversation. Wenn Mama wüsste, wie ungehobelt ich hier mit dir plaudere.« Dieser unangemeldete Besuch, der tragische Unfall auf dem Meer, die Unpässlichkeit ihrer Mutter und die Anspannung, die im ganzen Haus zu spüren war, verunsicherten Johanna. Wo Helene nur bleibt, dachte sie verzweifelt, denn die jüngere Schwester war in solch verzwickten Situationen weitaus gewandter als sie selbst.
Sie wollte nichts mehr, als sich jetzt um die Mutter zu kümmern, oder mit den Männern darüber zu brüten, wie man an neue Informationen käme, doch dieser Besuch benötigte ihre Aufmerksamkeit. Reiß dich zusammen, sagte sie sich und lächelte die verstört dreinblickende Anna Elise an.
»Es tut mir leid, wenn ich ungelegen komme, ich hatte deiner Mutter avisiert, dass ich losfahre, doch ihr scheint mich nicht erwartet zu haben, oder?«, sagte sie und zupfte an ihrem Kleid. Just in diesem Moment klopfte es und Helene trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein.
»Entschuldigt, ich habe mich verspätet. Hast du die Post heute schon durchgesehen«, platzte sie uncharmant in ihr Gespräch. Alles an ihr ist flirrend und in Aufruhr, dachte sie, als sie die Schwester musterte. Ihre Wangen von irgendeiner Anstrengung gerötet, das Haar ungebändigt offen über dem Rücken hängend, schien sie gerade aufgestanden, obwohl sich der Tag der Mittagsstunde näherte.
»Nein, das habe ich nicht. Es ist auch nichts gekommen, denke ich. Der Schneesturm? Schon vergessen?« Helene schüttelte unwirsch den Kopf und schlang eine Schleife in ihr Haar. Johanna übernahm wieder die Konversation.
»Habt ihr euch schon begrüßt? Darf ich vorstellen? Anna Elise Wächter, eine entfernte Cousine unserer Mutter, mütterlicherseits. Ich glaube, ihr habt euch zuletzt auf meiner Hochzeit gesehen. Damals warst du … egal. Sie macht uns ihre Aufwartung und möchte uns in dieser schwierigen Zeit beistehen.«
Johanna sah in weit aufgerissene Augen und verstand in diesem Augenblick, dass die Besucherin nichts von dem tragischen Geschehen im Hause der zu Hohenlindens wusste. Weder von Thomas Tod noch von Gustavs Verschwinden. Das machte alles umso komplizierter.
»O mein Gott, ist deiner Mutter etwas passiert? Ich hatte keine Ahnung, aber sie sah so gut aus, als ich ankam.
Jetzt weiß ich, warum du mich empfängst. Es tut mir so leid.« Hastig beugte sich Anna Elise vor und griff nach Johannas Hand. Die entzog sie ihr unwirsch und sprang auf.
»Aber nein …«, sagte sie, doch bevor sie die Situation aufklären konnte, ergriff Helene das Wort.
»Mein Neffe, Johannas Sohn ist an Scharlach verstorben. Und unser Bruder Gustav wird vermisst. Das Dampfschiff, mit dem er nach Amerika unterwegs war, ist gesunken. Wir glaubten, du bist deshalb hier. Ich muss jetzt nach Mama sehen, bitte entschuldigt mich«, sagte sie, ohne auf eine Reaktion zu warten und verließ den Raum. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, schlug sich Anna Elise die Hände vors Gesicht.
»Wie schrecklich das alles ist. Ich hatte ja keine Ahnung, sonst wäre ich doch niemals … Es tut mir leid, Johanna, ich werde natürlich sofort abreisen.« Die Cousine strich sich den Rock glatt, griff nach ihrem Schal, der sorgsam gefaltet über der Stuhllehne hing und erhob sich.
»Unsinn, du hast dich noch lange nicht erholt und hattest eine beschwerliche Anreise. Ruh dich weiter aus, Mama wird sicher bald …« Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, wann ihre Mutter ihren Besuch empfangen konnte, und so versuchte sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie drückte Anna Elise zurück auf den Stuhl, orderte Tee und Gebäck und hörte aufmerksam zu.
Minerva
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte die Hausdame der zu Hohenlindens im Schatten an der Hauswand gegenüber, ihre Schwester zu erkennen, und rieb sich erstaunt die Augen. Mit einem zweiten Blick stellte sie fest: Da war niemand. Sie zog ihr Tuch fröstelnd enger um die Schultern und lief weiter in Richtung Schloss. Wieso dachte sie in letzter Zeit so oft an sie? Es wollte ihr nicht einfallen, kein Wiegenfest stand bevor, kein Namenstag und auch sonst fehlte ein Grund, an die jüngere Schwester zu denken. Seit Jahren mieden sie jeden Kontakt.
Die Gnädige hatte sie heute Morgen gebeten, hinauf in die Schlossapotheke zu gehen, um mehr von dem Schlafmittel zu holen, das sie seit Monaten immer wieder einnahm. Die Nachricht über den vermissten jungen Herren und das Auftauchen der Cousine hatten ihr schwer zugesetzt und nur mit diesen Tropfen schien es ihr etwas besser zu gehen. Jedenfalls schlief sie damit und wanderte nicht den lieben langen Tag im Haus herum, ging von Zimmer zu Zimmer, um nachzusehen, ob der junge Herr Gustav vielleicht angekommen war. Manisch erschien der Hausdame der Zustand ihrer Herrin und doch hatte sie tief im Herzen Mitleid mit ihr.
Seit sie den Namen ihres Sohnes vergeblich auf der Liste der Überlebenden in der Hamburger Börsen Halle vom 22. Januar gesucht hatte, schien Dorothea zu Hohenlinden zu schrumpfen. Ihre sonst tadellos gerade Haltung wankte. Mit eingefallenen Schultern und geneigtem Kopf saß sie da und studierte immer und immer wieder auch die Berliner Börsenzeitung vom 23. Januar 1883, die ihre Tochter Helene mitgebracht hatte. Doch da war nichts, sein Name tauchte nicht auf. Gustav blieb verschwunden. Solch ein Verlust geht auch an dieser standhaften Frau nicht spurlos vorbei, dachte Minerva und betrat die Apotheke.
Hinter der dunkel lasierten Theke aus heimischer Eiche regte sich etwas, aus den Tiefen der Regale, schnellte ein junges Gesicht hervor und sah sie überrascht an.
»Ich habe sie nicht kommen hören, unsere Glocke muss …« Mit schnellen Schritten und ohne den Satz zu beenden, kam der hochgewachsene Famulant hinter der Theke hervor und sah an der Tür nach oben. Und siehe da, die kleine Glocke war abgerissen und lag in einer Ecke am Boden. Er hob sie auf und steckte sie in seinen Kittel, bevor er ihn glatt zog. Mit einem Fuß schob er die Tür an der Theke zu und stützte sich mit den Händen darauf. Auffordernd sah er sie an.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Leonhard«, fragte er betont entgegenkommend und schob die kleine Nickelbrille auf seiner Nase zurecht. Sein freundliches Wesen war ihr schon immer aufgefallen, doch nie hatte sich die Gelegenheit ergeben, mehr als ein paar belanglose Worte mit ihm zu sprechen. Meist war der Eigentümer der Apotheke oder Damen anwesend, die einkauften und beraten wurden. Doch heute waren sie allein und sie würde ihn etwas fragen.
»Frau zu Hohenlinden wünscht mehr von dem Schlaftrunk, so wie immer«, bestellte sie und schob zögernd hinterher: »Sie fragt sich, wie viel davon wohl schicklich ist oder besser gesagt: angemessen …«, stotterte sie verlegen und schalt sich, ihre Frage nicht vorbereitet zu haben. Es war ganz und gar unschicklich, sich in die Angelegenheit ihrer Herrschaft einzumischen, doch Minerva Leonhard sorgte sich.
Ganze zehn Minuten später trat sie in Gedanken versunken den Rückweg an. Der Hirtensteg war noch immer vereist und sie musste vorsichtig sein. Sie schalt sich, nicht den Umweg über den Hradschin genommen zu haben und hielt sich krampfhaft an dem niedrigen, wackeligen Geländer fest. Dabei gingen ihr die Ausführungen des angehenden Apothekers nicht aus dem Sinn. Sie musste ihre Gnädige von dieser schrecklichen Medizin wegbringen und nahm sich vor, sich die Kräuterküche der Köchin näher anzusehen. Vielleicht gab es dort etwas, was Dorothea zu Hohenlinden beruhigte, ohne sie abhängig werden zu lassen.
An der Tür zum Souterrain des Stadthauses kam ihr der Briefträger entgegen. Man war sich bekannt und er zückte die Kappe.
»Ich habe einen Brief für Sie abgegeben, Frau Leonhard. Sah schwer nach einem Verehrer aus. Feines Büttenpapier, schwungvolle Handschrift«, sagte er leichthin und nahm zwei Stufen auf einmal.
»Sie Schwerenöter«, rief sie ihm nach, »das würde Ihnen so gefallen.« Doch innerlich war es ihr bange und sie legte fragend die Stirn in Falten. Wer in Gottes Namen schrieb ihr? Seit Jahren hatte sie kaum Post bekommen, heute sah sie vermeintlich ihre Schwester in einem dunklen Hauseingang und nun eine Nachricht auf Büttenpapier?
Erst am späten Abend hatte sie Gelegenheit, den Brief zu öffnen und in Ruhe zu lesen. Den ganzen Tag über hatte sie das schwere Papier in ihrer Rocktasche gespürt. Wenn sie sich bewegte, raschelte der Umschlag, unentwegt wurde sie daran erinnert, dass dies eine wichtige Nachricht sein könnte. Doch sie zögerte, hatte sich nicht getraut, den Umschlag vor den anderen zu öffnen. Als die Familie spätabends nach den derzeit nicht enden wollenden Gesprächen um Gustav zu Hohenlinden aus dem Wohnzimmer kam und sich alle in ihre Schlafräume verabschiedeten, konnte auch sie endlich in ihr Zimmer gehen.
Sie hatte sich eine Tasse Tee mit hinauf in die Mansarde genommen und saß in ein gehäkeltes Schultertuch gehüllt, aufrecht in ihrem Bett. In ihrem Rücken ein dickes Kissen, über den Knien, das knubbelige Federbett. Kleine Eiskristalle am Fenster zeigten, wie knackig kalt die Nacht war, und so bemühte sie sich noch einmal an ihre Kleidertruhe und nahm ein dickes Paar Socken heraus. Schnell streifte sie sie über und kroch fröstelnd wieder unter die Decke. Das Licht einer einzigen Kerze beleuchtete ihr kleines Zimmer gelblich und die verschwommenen Konturen der wenigen Gegenstände darin verblassten im milchigen Widerschein. Selbst jetzt zögerte sie, denn in den vergangenen Stunden waren ihr die krudesten Gedanken gekommen, von wem der Brief sein könnte und welche Nachricht er beinhaltete.
Bei der Anrede blieb ihr kurz die Luft weg, denn es gab nur wenige Menschen, die ihren Spitznamen aus Kindertagen wussten. Doch dann las sie atemlos weiter, kaum glaubend, was dort geschrieben stand. Es waren nicht viele Zeilen in krakeliger, ungeübter Handschrift, über die ihre Augen flogen. Sie las sie ein zweites Mal. Dann legte sie den Bogen mit Bedacht auf ihre Decke und strich sanft mit der Fingerkuppe darüber. Hörbar atmete sie auf. Eine jahrelange Last hob sich von ihr. So als ob sich ein Schleier von ihrem Leben löste, waren alle Konturen im Raum auf einmal scharf. Ihr Gestern zog wie Nebel unter die Mansardendecke und verschwand.
Minerva Leonhard rutschte tiefer in die Kissen, wehrte sich nicht mehr gegen die Tränen und begann leise zu weinen. Ihr Körper bebte. War es Erlösung oder Trotz? Bedauerte sie all die Jahre, die sie in unnötiger Angst verbracht hatte oder sehnte sie sich nur nach ihrer Schwester? Sie wusste es selbst nicht.
Eines war sicher, den Grund für ihr jahrelanges Schweigen, der zum Kontaktabbruch zur einstmals besten Freundin geführt hatte, gab es nicht mehr. Es war vorbei, vorüber und das schon seit Jahren. Gleich morgen würde sie ihr schreiben und sie bitten, sie besuchen zu dürfen. Erst da fiel ihr auf, dass auf dem Brief keine Adresse vermerkt war.
Kapitel 2 - Februar 1883, Plauen
Wilhelm
In den Tagen nach der schrecklichen Nachricht über die Katastrophe auf See kroch die Zeit zäh in der Stadtvilla an der Syrauer Straße dahin. Die Drohung des Schicksals, die das Verschwinden seines Sohnes für ihn darstellte, war so unverhohlen, dass es ihm daheim den Atem nahm. Er versuchte seinen Töchtern aus dem Weg zu gehen, die sich gegenseitig darin zu überbieten suchten, Gründe vorzubringen, die die Lage Gustavs plausibel erscheinen ließ. Doch sie schafften es nicht, ihn zu beruhigen.
Auch Dorothea konnte er nicht ins Gesicht schauen. Die dunklen Schatten unter ihren Augen zeugten von durchwachten Nächten, so manches Mal hatte er sie durchs Haus wandern hören. Er vernahm ein leises Klagen, ihr fast lautloses, aber doch hörbares Weinen, wenn sie den Gang hinunterschlich. In Gustavs Zimmer saß sie dann stundenlang in einem Sessel, eingekuschelt in seine Babydecke, die sie von wo auch immer hervorgeholt hatte.
Er wusste, dass sie dort in den Unterlagen des Jungen geblättert hatte. Er sah sie mit alten Büchern von ihm die Treppe hinunterschlurfen und sich damit in ihrem Salon verkriechen. All das brachte nichts. In den Papieren ihres Sohnes hatte es keinen Hinweis darauf gegeben, dass er einen Abstecher zu Freunden vorgehabt hatte. Ihr manisches Ansinnen, irgendeine Ausrede zu finden, machte auch ihn mittlerweile schlaflos, bescherte ihm Kopfzerbrechen. Ihr Anblick ließ ihn erschaudern. Von Tag zu Tag wurde sie weniger, sie trank nicht, aß wie ein Spatz und das Schlimmste an all dem war, dass sie nicht sprach. Sie wollte mit keinem reden. Sie schloss sich in ihr Zimmer ein, verkroch sich in ihrem Salon oder verließ stundenlang allein das Haus. Selbst in der schrecklichen Kälte der letzten Tage hatte sie nicht darauf verzichtet.
Sie hatte ihren Pelzmantel um sich geschlungen und war mit den Händen im Muff vergraben losgezogen. Auf seine Bitte, jemanden mitzunehmen, sich ihrer Cousine zu widmen, hatte sie unwirsch reagiert.
»Ich brauche keine Amme. Ich komme allein zurecht«, war alles, was er aus ihr herausbrachte.
Er begriff nicht, was das sollte. Diese langen Spaziergänge, dieses Verneinen der Wirklichkeit. Aber dann sah er in ihre blassgrünen Augen. Und er vermisste das Leuchten darin. Auf einmal verstand er sie. Ihr Licht, ihr einziger Sohn war verloschen. Wilhelm konnte es nicht mehr ertragen und so verließ er heute die Stadtvilla schon früh am Morgen und ging in die Manufaktur.
Auf seinem Weg hinauf zum Kontor begegnete Wilhelm an diesem eisigen Februartag kaum einer Menschenseele. Es war zu früh, vor dem Frühstück war er aufgebrochen, denn er wollte seiner ganzen Familie aus dem Weg gehen. Doch auch dieser Gang war ihm beschwerlich. Er schnaufte vernehmlich, als er den Hradschin hinauf ging und am weißen Atem vor seinem Gesicht erkannte Wilhelm, dass der Morgen eisiger war als angenommen. Schnell kroch ihm die Kälte unter den Wollmantel, und er schalt sich, keinen dickeren Schal gewählt zu haben. Der gute Hofstetter hatte ihn warnen wollen und sogar nach Conrad gerufen, um ihn in die Kutsche zu verfrachten, doch er hatte mürrisch abgewunken. In Gedanken sah er die beiden treuen Seelen an der Tür stehen und ihm nachblicken, als er aus deren Blickfeld verschwand. Nun grämte er sich. Doch es half nichts, die Hälfte des Weges hatte er hinter sich, den Rest würde er auch noch schaffen und im Kontor wäre es sicher schon warm.
Heute würde er ein weiteres Mal versuchen, an die Reederei in Hamburg zu kabeln und wenn dies nicht gelänge, einen Brief senden. Auch Augusts Freund würde er schreiben, ihn bitten, das Kontor der Reederei aufzusuchen.
»Wenn doch der gottverdammte Eissturm endlich aufhören würde«, sagte er laut vor sich hin, als er die schwere Tür zur Manufaktur zu Hohenlinden aufschob und in den Hausflur trat. Oben im Kontor knarzte wie immer die vierte Diele und es roch verführerisch nach Kaffee. Man erwartete ihn.
Doch Wilhelm meldete sich nicht an, sondern verschwand eiligen Schrittes in seinem Büro, ließ sich in Mantel und mit Hut auf dem Kopf schwerfällig in seinen Bürostuhl fallen. Der kurze Weg hier herauf hatte ihm alle Kräfte geraubt, die er zu besitzen schien. Er regte sich nicht, verlor sich in seinen Gedanken.
»Lassen Sie mich Ihnen aus dem Mantel helfen, Herr zu Hohenlinden«, hörte er eine bekannte Stimme neben sich und war überrascht, seinen Bürovorsteher zu sehen. Verwirrt sah er auf.
»Ich habe sie gar nicht gehört, Neumeister. Es ist wohl an der Zeit, mit dem Tagwerk zu beginnen.« Alban Neumeister, sein Sekretär, half Wilhelm hoch, nahm ihm Hut und Mantel ab und verließ den Raum, um kurz darauf mit einer dampfenden Tasse Kaffee zurückzukehren. Milch und Zucker hatte er ebenso auf dem Tablett angerichtet wie einige ausgesuchte Petit Fours aus Wilhelms Lieblingskonditorei Trömel. Der Mann weiß um meine Vorlieben, dachte er schon vergnügter und langte zu. Der Zuckerguss des ersten Stückchens und dessen samtige Textur, die auf der Zunge zerfloss, ließ ihn genüsslich die Augen schließen.
Doch jäh wurde er an den eigentlichen Grund seines Besuches im Kontor erinnert.
»Sie verführen einen alten Mann mit diesen Köstlichkeiten, lieber Neumeister und wissen besser als jeder andere, wie man damit von den eigentlichen Aufgaben ablenken kann. Jedoch, ich sage Danke für diesen Trost.« Er sprach die Worte mit Bedacht und nickte seinem Bürovorsteher zu.
Dann zeigte er auf den wahrlich überschaubar kleinen Stapel Briefe und Zeitungen auf seinem Schreibtisch und fragte, wo der Rest geblieben sei. Die Antwort hätte er sich denken können, hatte doch der Sturm und die unterbrochenen Telegrafen und Eisenbahnverbindungen weite Teile der Kommunikation lahmgelegt. Nur langsam schien Besserung einzutreten.
»Nun denn, dann bitte ich Sie, ein Kabel aufzugeben.« Der Angestellte sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, erwiderte aber nichts. Neumeister nickte verstehend und zog sich zurück. Er hat nicht einmal gefragt wohin oder an wen, dachte Wilhelm und war sich doch im Klaren, der Mann wusste genauestens, wonach er trachtete. Flüchtig sah er die wenigen Briefe durch, lenkte sich dann mit Zeitungslektüre ab.
Aufmerksam studierte er einen Artikel für die zur Diskussion stehende Krankenversicherung, die in diesem Jahr im Reichstag besprochen würde. Bismarcks Sozialgesetzgebung sah eine Absicherung für Arbeiter vor, die es weltweit so nirgends gab. Die fortschreitende Industrialisierung, die neuen großen Fabriken und damit einhergehende Entfremdung zwischen Personal und Arbeitgebern machten einen solchen Schritt wohl notwendig. Wilhelm kannte noch jeden seiner Angestellten mit Namen, bei den meisten wusste er über die Familienverhältnisse Bescheid. In größeren Unternehmen war das natürlich nicht so. Er unterstützte die Vorhaben von Bismarck, auch wenn ihm dessen eigentliches Ansinnen, die Sozialdemokratie zu unterwandern, nicht behagte. Kaisertreue hin oder her, ob man sie damit stärkte, wagte Wilhelm zu bezweifeln. Für seine Manufaktur hieß das, er würde ein Drittel dieser Zwangsversicherung mittragen müssen. Wilhelm zog einen Bogen Papier heran und machte eine Notiz für Neumeister. Man musste vorbereitet sein und wissen, welche Kosten auf sie zukamen.
Nachdem er staunend einen Artikel zur Einrichtung des Fernsprechnetzes in München studiert hatte und von dem stattlichen Preis von 150 Mark im Jahr las, die ein Anschluss kostete, widmete er sich endlich ein paar Abrechnungen.
Doch es hielt ihn nicht lange an seinem Schreibtisch. Er schlenderte durch die Fabrik. Nichts konnte seine Aufmerksamkeit für mehr als ein paar Minuten halten, immer und immer wieder ging ihm Gustavs Schicksal durch den Kopf.
Mit jedem Tag, an dem kein Wort über dessen Verbleib im Stadthaus ankam, schwand seine mühsam aufrechterhaltene Kontenance. Sein Sohn war ein guter Schwimmer, gestählt durch seine Wanderungen und bei weitem kein weichlicher Jüngling. Er würde kämpfen, das wusste er. Doch wie lange überlebt man in solch eisigen Gewässern, würde man nicht alsbald herausgefischt? Doktor Merk hatte den Blick gesenkt, als er ihm diese Frage stellte, und nur zögerlich eine unbefriedigende Antwort gegeben.
Selbst Merk hatte versucht, ihn aufzumuntern und daran erinnert, dass in den einschlägigen Zeitungen und den darin veröffentlichten Listen Gustavs Name nicht aufgetaucht war. Er war weder unter den Passagieren gelistet noch bei den Überlebenden und auch nicht unter den Toten. Was mochte das alles zu bedeuten haben? Wilhelm war klar, dass bei Dutzenden Menschen, ja, bei hunderten Schicksalen ein einziges durchrutschen konnte. Aber warum ausgerechnet sein Sohn? Diese Frage hatte er sich in den letzten Tagen mehrmals gestellt. Er selbst hatte die Passage gebucht und bezahlt. Er, Wilhelm zu Hohenlinden, hatte dafür gesorgt, dass die Fracht auf dem Dampfer nach New York untergebracht wurde.
Das alles würde sich bald aufklären, glaubte August, der im regen Austausch mit einem Freund in Hamburg stand. Der hatte ihnen versichert, sofort Bescheid zu geben, wenn es Neuigkeiten gab.
Geistesabwesend hatte sich Wilhelm an einen freien Tisch gesetzt, den die Näherinnen zum Ausbessern oder Vernähen der meterlangen Spitzenbordüren nutzten.
Mit den Fingern trommelte er auf das glänzende Holz. In Gedanken ging er all die Informationen über das Unglück durch, die er bisher aus den einschlägigen Zeitungen erfahren hatte. Was er dort gelesen hatte, machte ihn schwermütig. In der Nacht des 19. Januars 1883 hatten ein kalter Wind und dichte Nebelschwaden über die Cimbria gepeitscht. Angeblich drosselte Kapitän Hanssen die Fahrt schon seit einem Tag und hatte sich nur langsam durch den dichten Nebel der Nordsee bewegt. In kurzen Abständen ließ er wohl auch das Nebelhorn des Schiffes ertönen. Den Beschreibungen nach hörten die Menschen an Bord urplötzlich ein weiteres Horn ganz in der Nähe. Wenig später war an der Backbordseite ein schwaches grünes Positionslicht aufgetaucht, das sich sekundenschnell in ein riesiges Schiff verwandelt hatte. Als die beiden Ozeanriesen nur 30 Meter voneinander entfernt waren, erkannten sie den Kohlefrachter Sultan. Kapitän Hansen hatte laut Bericht alles versucht, um eine Kollision zu verhindern. Doch es half nichts! Zu diesem Zeitpunkt war das Schicksal der Passagiere schon besiegelt gewesen.
Mit einem hässlichen Knirschen, Krachen und Quietschen hatte sich der Rumpf der Sultan in die Backbordseite der Cimbria gebohrt. Der Gedanke daran, dass der englische Kohledampfer urplötzlich aus dem Nebel gebrochen war und mit aller Gewalt in die Dampffregatte der HAPAG hineingefahren war, ließ Wilhelm erschaudern. In seinem Kopf hörte er das Quietschen von Eisenplatten, die sich verschoben, ächzten und nachgaben. Der Bug des Frachters zermalmte wohl sogar Passagiere. Sofort mussten große Wassermassen ins Schiff eingebrochen sein und der Stahlkoloss war auf die Seite gekippt. Nur 56 Menschen schafften es bis in die Rettungsboote. Welches Schiff hatte sie noch mal aufgenommen? Wie viele von ihnen konnten sich auf die Insel Borkum retten? War sein Sohn dort? Bewusstlos und man wusste überhaupt nicht, wer er war?
Wilhelm konnte sich schwerlich vorstellen, wie die Minuten, in denen das Oberdeck geflutet und das Wasser dann ins Unterdeck drückte, abgelaufen waren. Seine Vorstellungskraft schien dafür nicht auszureichen. Er hatte davon gehört, dass Rettungsboote gekentert waren, Frauen und Kinder im Wasser ein schreckliches Ende gefunden hatten. Welche Todesangst mussten diese armen Menschen empfunden haben? Die Cimbria war als äußerst sicheres Schiff bekannt. Über 70-mal hatte sie die Reise von Hamburg nach New York schon hinter sich gebracht und niemand hatte ein solches Unglück für möglich gehalten. Die Öffentlichkeit war geschockt.
Doch wer war schuld? Lag es am Kapitän, der ausgelaufen war, obwohl sein Lotse ihn darauf hingewiesen hatte, dass der Nebel zu dicht war? Lag es an der Reederei, die Verträge einhalten wollte? War es nur ein unsäglicher Zufall? Ein tragischer Unfall? Wilhelm war nicht frei davon, bei irgendjemandem die Schuld zu suchen. Doch das würde ihm nicht helfen. Das wusste er.
Mit einem harten Schlag gegen die Wand flog die Tür im Saal der Näherinnen auf. Albin Neumeister kam schwer atmend zum Stehen und sah sich suchend nach Wilhelm um. Er kommt niemals hier herunter, etwas muss geschehen sein, dachte der sofort und ging mit wenigen ausholenden Schritten auf seinen Bürovorsteher zu.
»Der Laufbursche hat dies vom Amt mitgebracht, man hat ihm die Post gleich ausgehändigt, die wissen, dass wir dringend auf Nachricht warten.« Noch immer hielt er den Brief in die Höhe und sah Wilhelm mit geweiteten Augen entgegen. Der versuchte danach zu greifen, war aber ein gutes Stück kleiner als der Mann vor ihm und die Szene mutete seltsam an.
»Jetzt geben Sie endlich her, Neumeister, Sie sind ja ganz durcheinander«, rief er seinen Angestellten zur Raison und öffnete den Brief. Mit fliehenden Fingern las er die Nachricht der Hamburger Reederei.
Helene
Für ihre Familie war das Mittagessen ein Tagesordnungspunkt, der verbindlich eingehalten wurde. Man kam zusammen, genoss ein paar gute Bissen, einen Schluck Wein und sprach über die Dinge, die man erlebt hatte oder vorhatte. Selbst wenn man das Frühstück verpassen durfte, beim Mittag wurden alle erwartet. Man verabredete sich für den Abend, um gemeinsam ein Glas Portwein zu trinken oder die Post durchzusehen. Vielleicht auch auszugehen.
Seit die kleine Esther am Mittagstisch teilnahm, ging es dabei weniger förmlich und wuseliger zu. Helene ahnte, dass sich ihr Vater manchmal seine alte Ruhe zurückwünschte. Dann aber beobachtete sie ihn, wie er seine Enkelin ansah. Seine Mundwinkel schoben sich nach oben, wenn sie plapperte, mit den Beinen wackelte und fröhlich alle begrüßte.
Helene mochte gar nicht daran denken, wie es jetzt ohne die Kleine wäre. Mein Gott, die Tristesse würde uns erdrücken, gerade in den vergangenen Tagen, wo das Leben dröge schien, so ohne jeglichen Esprit. Auch heute war es nicht anders. Jeder, einschließlich der Angestellten, schlich auf leisen Sohlen durchs Haus, fast so, als ob man schon einen Toten beklagen müsste. Helene schauderte bei diesem Gedanken. Wenn es irgend ging, würde sie heute das Mittagessen schwänzen. Wie immer aus dem Nichts auftauchend, trat Hofstetter auf sie zu. »Sie werden nicht am Essen teilnehmen? Wollen Sie Ihren Vater im Kontor aufsuchen?«, fragte der Majordomus und holte eilfertig ihren schweren Umhang aus der Garderobe.
Helene zog sich die Fellkappe, die sie sonst nur auf dem Gut trug, tief über die Ohren und betrachtete sich im Spiegel. So würde sie niemand erkennen, was gut war, denn auf Gespräche war sie nicht aus. Sie wollte einzig nicht erfrieren, auf dem Weg ins Kontor. Ihr Aussehen war ihr egal.
»Richtig geschlussfolgert, Verehrtester. Meine Mutter und Johanna versinken förmlich in Selbstvorwürfen und dann wieder in Anschuldigungen. Das alles hilft uns nicht. Ich muss mich ablenken und gehe ins Kontor, Vater braucht sicher Hilfe. Mein Mann ist auch zurück nach Oelsnitz gefahren, er kann seine Manufaktur nicht länger allein lassen.«
Die Korsettwarenfabrikation ihrer Schwiegermutter im nahe gelegenen Oelsnitz kam oft genug ohne den Juniorchef aus, nun war es an der Zeit nach dem Rechten zu sehen. Hier konnte er derzeit nichts ausrichten.
Hofstetter nickte unmerklich, erinnerte sie dann aber an die Tradition im Hause zu Hohenlinden und ein leises Schuldgefühl kroch in ihr hoch. Der mittlerweile weißhaarige Mann kannte sie seit ihrer Geburt und manchmal war er ihr unheimlich. Fast hatte er dieselbe Autorität für sie wie ihr Vater. Auf jeden Fall war er das zweite Gewissen im Hause, das musste sie sich eingestehen.
»Ich lasse Sie schon nicht allein mit den Damen, Hofstetter. Zum Essen bin ich zurück«, sagte sie mit einem Seitenblick auf die Standuhr im Foyer und wusste, nun musste sie sich sputen. Sie drückte aufmunternd Hofstetters Unterarm und war aus der Tür. Seine Frage nach ihren Wünschen für das Mittagessen, die jetzt folgen würde, hörte sie schon nicht mehr.
Durchgefroren erschien sie wenig später im Kontor. Erfreulicherweise hatte sich heute die Sonne durch die lästigen Nebelwände der letzten Woche gefressen und Helene ahnte, es würde mit der Schneeschmelze vorangehen. Endlich würden die Tage lichter und das Eis auf den Gehwegen und Straßen konnte schmelzen.
Es quietschte unter ihren Sohlen, als sie den Flur betrat, und zum wiederholten Male fragte sie sich, ob ihr Vater den Bodenleger beauftragt hatte, diese knarzende Bohle einzubauen. Wilhelm zu Hohenlinden, der solch unschwer zu behebende Unzulänglichkeiten schnellstens ausmerzen ließ, schien sich mit dieser hier ausgesöhnt zu haben. Und so fragte sie sich, ob er so kontrollierte, wer ging und kam? Egal, schalt sie sich, es ist nicht von Belang.
Dann bemerkte sie die Stille in der sonst brummenden Kontoretage. Fast schien es, als wäre niemand hier. Kein Stuhl scharrte, keinerlei Gespräche waren zu hören. Aus dem Raum für die Schreibkräfte und Buchhalter, dessen Tür offenstand, konnte sie sogar bei genauestem Zuhören nicht einmal das Kratzen von Federn auf Papier hören. Seltsam, dachte sie und trat ein.
Es war keiner da. Sie drehte sich um und steuerte die kleine Teeküche an, doch auch dort war keine Menschenseele. Hatte ihr Vater eine Versammlung anberaumt, aber worum ging es? Schnell legte sie ihren ungewöhnlichen Kopfputz und den Umhang in ihrem Büro ab, griff nach einem Schultertuch am Haken und knüpfte es sich in der Taille fest. Dann lief sie hinunter in den Packraum. Die Männer und Frauen unterhielten sich in einer Ecke des Raumes und bemerkten sie erst, als sie nah an die Gruppe herangetreten war.
»Was gibt es?«, erkundigte sie sich kurz angebunden und sah in erstaunte Gesichter. Der Älteste unter ihnen trat vor. Verlegen nahm er seine Kappe vom Kopf und drehte sie zwischen seinen Fingern. »Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, gnädige Frau …« Offensichtlich hatte man sich noch nicht daran gewöhnt, dass Helene nun verheiratet war und einen anderen Familiennamen trug. Doch sie nahm das niemanden übel. Lächelnd half sie dem Mann auf die Sprünge. »Es heißt ab jetzt Frau Arnstädt, aber was geht hier vor sich? Sagen Sie schon.« Der Mann aus dem Packsaal lächelte sie freundlich an, erklärte kurz und knapp, was er auf der Stiege zum Abtritt gehört hatte, und Helene lief augenblicklich hinunter in den Saal der Näherinnen.
Dort fand sie ihren Vater, der von seinem Prokuristen, den Angestellten des Kontors und in einigem Abstand verstohlen linsenden Näherinnen umringt war. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Doch sie erkannte sofort, dass es Freude war, was aus seinen Augen sprühte. Oder war es gar Hoffnung?
»Was hast du da?«, brachte sie heiser heraus und griff nach dem Brief. Ihr Vater stand auf, packte sie kräftig bei den Schultern und schob sie lesend aus dem Saal hinaus. Mit einem Winken löste er die Versammlung auf und hinter Helene gingen alle wieder ihrem Tagwerk nach. Sie hakte sich bei ihrem Vater ein und wäre am liebsten sofort und ohne Umweg heimgelaufen. Jeder Schritt fühlte sich auf einmal leicht an, der Bann war gebrochen, es gab Hoffnung.
Als weder Dorothea noch Johanna von ihrer Suppe aufsahen, als die beiden wenig später zu ihnen in das Speisezimmer traten, atmete Helene einmal tief durch. Sie ging zu Esther und strich der Kleinen in einer vertrauten Geste über den Kopf. Dann zog sie ihren Stuhl heran und nickte ihrem Vater aufmunternd zu.
»Ich habe eine Rechnung erhalten«, sagte er mit seiner sonoren Stimme und hielt ein. Sein Blick suchte den seiner Frau. Doch Dorothea war so in Gedanken, dass sie ihn nicht einmal gehört hatte. Stirnrunzelnd sah sie ihn an.
»Hast du etwas gesagt? Entschuldige, ich grüble schon seit Stunden darüber nach, ob der Junge genügend Zeit hatte, um aufs Oberdeck zu kommen. Es war Schlafenszeit, als das Unglück geschah, und ihr wisst ja, wie tief er schläft.«
Verzagt sah sie sich in der Runde um, bevor Helene sie endlich unterbrach.
»Mama, bitte, so hör Vater doch zu.« Verständnislos sah ihre Mutter hinüber zu ihrem Mann.
»Ich sprach davon, dass wir eine weitere Rechnung aus Hamburg erhielten. Man macht uns darauf aufmerksam, dass die Mitnahme von Fracht auf dem Passagierschiff Bohemia mehr kostet als auf der Cimbria, da dort weit weniger Laderaum zur Verfügung stünde. Unser Sohn hat aber auf den Transport der Waren auf der Bohemia bestanden.«
Wilhelm schaute in entgeisterte Gesichter. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Johanna wieder atmete und ihre Finger in den Arm ihrer Mutter krallte. Die saß versteinert, ohne jegliche Regung und Helene sprang auf. Sie schrie sie an und erst dann tat Dorothea einen langen Seufzer, bei dem sie in sich zusammensank. Johanna packte sie sofort an den Schultern und verhinderte, dass Doro vom Stuhl sank. Schon war auch Esther von ihrem Sitzplatz gerutscht, unter dem Tisch durchgekrochen und vor ihrer Großmutter mit einem Zipfel des Tischtuches im Gesicht wieder aufgetaucht. Sie rappelte sich auf und stemmte sich auf deren Knie.
»Oma, was ist mit dir?« Dorothea umfasste das Mädchen, lehnte ihren Kopf an ihr Gesicht und schaukelte Esther, die still sitzen blieb und wie gebannt auf das hörte, was Wilhelm jetzt allen erklärte.
»Man avisiert das Einlaufen des Schiffes inklusive unserer Spitzen auf den 11. Februar 1883 und fordert uns auf, die Löschung zu zahlen, damit sie schnellstmöglich vorgenommen werden kann. Lagermöglichkeiten gäbe es vor Ort in New York und man könne uns behilflich sein.«
»Gustav lebt, er hat ein anderes Schiff genommen«, sagte Helenes Vater im Brustton der Überzeugung und ließ ab sofort keine andere Version der Geschehnisse der letzten Wochen zu.
Johanna
»Du bist dir sicher, dass sie von Streik sprachen?« Johanna kniff die Augen zusammen und sah ihren Mann von unten herauf an. Ihre Stickarbeit hatte sie zur Seite gelegt und sie sank langsam in die weichen Kissen des Sofas. In ihren Privaträumen im Stadthaus hielt sie sich nicht allzu oft auf, aber in diesen Tagen war es ihr lieber, ab und an für sich zu sein. Die Reise nach Dresden, die unterhaltend und leicht hatte sein sollen und aufmerksam von August auf ihre Vorlieben abgestimmt gewesen war, endete in einem Desaster. All die Hoffnung auf ein normales Leben, die sich ihrer in den Tagen bei seiner Familie bemannt hatte, versank wieder in einem Nebel aus Trauer und Ungewissheit.
Ihr kleiner Junge war tot, nie wieder würde sie sein liebreizendes Gesichtchen sehen, sein Quieken hören oder von seiner Zukunft träumen können.
Auch Esther bereitete ihr Sorgen. Wieder und wieder fand Helene die Kleine des Nachts in ihrem Schrank sitzend vor. Weinend erbat sie sich neue Geschichten um Maus Nale und Küken Lulu, die gemeinsam im Keller des Stadthauses lebten. Sie mussten etwas unternehmen, um dem Mädchen klarzumachen, dass Helene sie nicht verlassen würde. Ihre Bitte an August, sich der Sache anzunehmen, hatte ihn nur belustigt.
»Wer glaubt denn an diese Ammenmärchen«, hatte er gefragt und sie verständnislos angesehen, als sie gemeinsam mit Helene das Gespräch mit ihm gesucht hatten.
»Deine Tochter tut es und sie ist verstört, seit du ihr erzählt hast, dass ich bald wegziehe. Fast jede Nacht sitzt sie in meinem Schrank und ich kann sie nur schwerlich beruhigen«, hatte Helene aufgebracht gezischt und ihn feindselig angesehen. Doch August hatte nur verdrießlich den Kopf geschüttelt und etwas von Hysterie gemurmelt und sie stehengelassen. Sie selbst hatte keine Kraft, um einen neuerlichen Kampf mit ihm zu führen und Helene hatte abgewunken.
»Lass ihn, ich werde sie schon beruhigen. Vielleicht nehme ich sie am Wochenende mit nach Oelsnitz und zeige ihr unser Haus. Sicher gibt es dort auch Fabelwesen, die wir entdecken können. Damit dürfte sie dann eine Zeit lang beschäftigt sein«, hatte ihre Schwester vorgeschlagen und so hatten sie es gehandhabt. Von Helene hatte sie erfahren, dass mittlerweile Rosalia, die Kinderfrau, die Figuren aufgenommen und in die tägliche Märchenrunde einband. Es half, denn Esther war ruhiger, schlief so manche Nacht durch und schien insgesamt ausgeglichener.
Nun hielt sie die Schiffskatastrophe und das in ihren Augen noch immer ungewisse Schicksal ihres Bruders Gustav in Atem. Er war aufgebrochen, um für die Firma neue Handelswege in den USA anzubahnen, Kredite von Bankhäusern für die geplante Expansion zu verhandeln und jetzt das.
Der Brief aus Hamburg war ein Lichtblick und ihre Eltern beide in einen Freudentaumel verfallen. Vater hatte sofort ein Kabel gesandt und zu aller Erstaunen am nächsten Morgen eine Antwort erhalten. Gustavs Name war auf der Passagierliste der Bohemia und Johanna müsste außer sich sein, vor Freude. So wie der Rest ihrer Familie. Doch zu ihrer Verwunderung lüftete sich der graue Schleier nicht, der über ihren Tagen hing. Im Gegenteil.
Was ist nur los mit mir, dachte sie. Ich müsste übersprudeln vor Glück, endlich wieder mein Tagwerk im Kontor aufnehmen, wie ich es früher getan habe. Mit Freude und Enthusiasmus die mir so vertrauten Dinge abarbeiten. Ich kann mich einfach nicht aufraffen. Was, wenn doch noch die schreckliche Nachricht kam? Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippen, die seit Tagen schon spröde brannten, und fragte sich, ob Josefa dagegen ein Kräutlein in ihrer Hexenküche hatte.
»Wo bist du mit deinen Gedanken, Johanna? Es muss doch langsam Schluss sein mit der Grübelei. Wir haben uns dringenden geschäftlichen Dingen zuzuwenden, von denen du immer behauptet hast, du möchtest involviert sein. Jetzt frage ich dich um Rat und bitte dich, deinen Charme spielen zu lassen und du bist im Wolkenkuckucksheim gefangen.« August starrte missmutig aus dem Fenster hinaus auf die Lohmühlenanlage und schien jemanden entdeckt zu haben, denn er zog die Gardine ein wenig zur Seite. »Seit Tagen sehe ich diese Frau hier herumlungern. Komm her, Johanna, ist sie eine unserer Näherinnen? Hast du sie schon einmal gesehen? Ich laufe hinunter und stelle sie zur Rede«, brauste er auf und wollte aus dem Zimmer gehen. Doch sie hielt ihn zurück, erwischte ihn am Jackenärmel und zog ihn sanft ans Fenster. Mit dem Zeigefinger deutete sie hinüber zu den Bänken, auf denen die junge Frau gesessen hatte. Gerade noch konnte er dort ihren Burschen mit dem Mädchen auf den Parkwegen verschwinden sehen. Sie beschäftigten ihn seit einem Jahr. Ernst Ullmann kümmerte sich um die körperlich anstrengenden Arbeiten im Haus. Schleppte Kohlen und Wischwasser, schippte Schnee und bewirtschaftete mit Josefa den kleinen Garten. Er versorgte die Pferde oder wurde von Conrad zu Reparaturen in Stadthaus und Kontor herangezogen. Ein fleißiger Junge und das da war augenscheinlich sein Geschmuse, das täglich auf ihn wartete. August schüttelte den Kopf.
»Kein Grund, dich aufzuregen. Die Frauen aus der Manufaktur stehen nicht vor dem Haus und skandieren wie in London oder auf den Straßen von Manchester. Die beiden sind jung und verliebt«, ließ sich Johanna vernehmen und ging zurück zum Sofa. August war auffällig ruhig geworden und sie musterte ihn. Der einstmals hochgewachsene, muskulöse Mann mit den markanten Wangenknochen und den blitzenden Augen war gealtert. Auch ihn hatten die Jahre nicht verschont. Die Ehe mit all ihren Regelmäßigkeiten, das gute Essen, zu wenig Bewegung hatten ihn an Umfang zulegen lassen. Mit seinen achtunddreißig sah er noch manierlich aus, doch neuerdings drückte sich ein Bäuchlein unter seinen stets geschmackvollen Westen hervor. Ihr durchaus als betucht zu bezeichnender Lebenswandel hatte seine Spuren hinterlassen.
August liebte seine kleine Familie, doch die Schattenseiten ihrer innerfamiliären Konstellation ließen ihm keine Ruhe, das wusste sie. Zu gerne hätte er es gesehen, wenn Johannas Schwester mit ihrem Ehemann nach Oelsnitz gezogen wäre. Doch schon vor ihrer Hochzeit im letzten Dezember war klar gewesen, Helene würde Plauen auf keinen Fall den Rücken kehren. Mehr noch, das Paar plante, ihre Zeit zwischen zwei Wohnsitzen und dem Gut in Freiberg nahe Adorf aufzuteilen.
Bei dieser Ankündigung hatten Helene und insbesondere Robert angemerkt, dass es vor allem für die kleine Esther wundervoll wäre, die Sommer genau wie Mutter und Tante in jungen Jahren auf dem Land zu verbringen. Sie hatten sie wissen lassen, dass sie sich freuen würden, die Kleine bei sich zu haben.
Man sprach nie offen darüber, dass Esther Helenes leibliches Kind war. Die Mitglieder ihrer Familie zogen es vor, den Mantel des Schweigens zu bemühen, und das war Augst und ihr recht so.
Wilhelm war ein liebevoller Großvater, der gerne Zeit mit Esther verbrachte, doch er bestand darauf, Johanna als die Mutter anzusprechen und Helene als die Tante.
»So vermeiden wir, das Kind zu verwirren und irgendwann vor Fremden etwas Falsches zu sagen.« Das klang nach dem Pragmatiker Wilhelm zu Hohenlinden und ihr eigener Gatte hatte dem nickend zugestimmt.
Johanna holte tief Luft. Manchmal, in gewissen trüben Stunden, so wie heute, überfiel sie eine eigenartige Sehnsucht nach Offenheit und Normalität. Doch die würde es für sie nie geben. Als sie vor vier Jahren entschied, ihrer kleinen Schwester aus ihrer Bredouille zu helfen, und sich seitdem mit Augusts Einverständnis als Esthers Mutter ausgab, war diese Hoffnung für sie gestorben. Mit der Geburt ihres Sohnes Thomas hatte sich der Schleier gelüftet, das Leben war leicht und voll sanfter Melodien gewesen. Doch es hielt nicht lange an, denn diese schreckliche Scharlach-Epidemie hatte ihn ihr genommen.
Wie habe ich früher meine Tage verbracht, bevor Thomas geboren wurde? Johanna spitzte ihre Lippen und setzte sich auf. Der Blick nach draußen war nur äußerlich, tatsächlich wanderte sie tief in Gedanken in den Schuhen der zwei Jahre jüngeren Johanna und erkannte auf Anhieb, dass ihre Mitarbeit im Kontor probates Mittel gegen Einsamkeit gewesen war. Damals hatte sie trotz all der Zeit, die sie mit Esther verbrachte, viele Stunden über Berechnungen gesessen, hatte dem Vater im Kontor bei Übersetzungen geholfen und mit Helene Kostenkalkulationen durchgesehen. Die jüngere Schwester hatte ihre schwungvollen Muster entworfen, sie in Schablonen umgesetzt und gemeinsam hatten sie berechnet, wie viel Zeit und Material man dafür bräuchte.
Rechnete sich ein Muster und würde es bei den Händlern ankommen? Diese Frage hatten sie wieder und wieder gestellt und an effektiven Vorschlägen für den Vater getüftelt. Johanna rieb sich den Nacken und griff in ihre Bonbonniere. Nur noch wenige Salzkaramelle lagen darin und sie war schon geneigt, aufzustehen und sich Nachschub zu besorgen.
Da erschien vor dem Fenster ein Eichhörnchen. Sein rotbraunes Fell leuchtete in der Abendsonne und obwohl es sich suchend umsah und bereit zum nächsten Sprung war, schaute sie das Tier direkt an. Ihre Blicke verfingen sich ineinander und Johanna traute sich kaum zu atmen. Der flinke Geselle taxierte wieder seine Umgebung, doch anscheinend lauerte keine Gefahr in den weiter entfernten Bäumen. Schon sah er erneut ins Zimmer und erschrak selbst dann nicht, als sich Johanna unbedachterweise bewegte. Als sie innehielt, kreuzten sich wieder ihre Blicke.
Wie seltsam, dachte sie. Bisher hatte ich diese flinken Tiere immer als scheu empfunden. Sogar auf dem Gut waren sie nie zutraulich geworden. Das Eichhörnchen ruhte sich aus, gleichzeitig beobachtete es genau, was hier drin bei Johanna und draußen vor sich ging, um gewappnet zu sein. Im nächsten Moment war es auf und davon, von einer neuen Mission getrieben. Erst jetzt bemerkte sie, dass August noch immer bei ihr im Zimmer saß. Sie streckte ihren Rücken, bevor sie sich ihm zu wand.
»Ich habe lange genug beobachtet und analysiert, es wird ohne mein Zutun keine Veränderung in unserem Leben geben, nicht wahr?« Ich muss mich wieder aufraffen, beginnen, mich einzumischen, sagte sie sich selbst. »Früher habe ich meine Aufgaben geliebt, auch wenn du sie mir ständig absprechen wolltest, mich lieber im Heim und am Herd sehen möchtest.«
»Heim und Herd ist wohl zu weit hergeholt, meine Liebe. Aber ja, etwas mehr Hingabe für deine Kinder, unsere Familie hätte ich mir gewünscht.« Der offen vorgetragene Vorwurf erzürnte sie, war sie es doch gewesen, die sich um Thomas bemüht hatte. In seinen härtesten Stunden bei ihm gewesen war. August war äußerlich entspannt, die Provokation kam ihm ruhig von den Lippen. Dieses Thema zwischen ihnen hätte leicht in einen Streit ausufern können, anders als sonst war er zurückhaltend.
»Ich kenne deine Meinung. Doch die Anerkennung für meine Arbeit im Kontor, der Austausch mit Menschen, deren Horizont weiter geht als bis ans Ende von Mamas Stickrahmen, hat mir immer gutgetan.« Mehr wollte sie sich nicht erklären, doch sie fasste einen Entschluss, durch den sich ihre Sehnsucht nach Normalität vielleicht erfüllen ließ. Egal ob August nur ihren Charme einforderte, sie würde wieder eine Rolle im Kontor spielen.
Sie stand auf und trat vor ihn hin. »Du sagst, die Frauen haben konkrete Forderungen gestellt? Habt ihr das durchgerechnet? Du und Neumeister?« August, der mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Sessel vor dem offenen Kamin saß, legte die Zeitschrift weg, in der er geblättert hatte. Fast geräuschlos glitt sie auf den dicken Teppich. Er war verwundert, das sah sie und bemerkte auch eine gewisse Neugier bei ihm. Schon lange hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, was ihr Mann dachte. Selten hatte sie ihn in den letzten Monaten so eingehend betrachtet, um überhaupt wahrzunehmen, was in ihm vorging. Es war ihr egal gewesen.
Zu oft hatte er sie in ihren elf Ehejahren betrogen oder belogen, hatten seine Spielchen und krummen Geschäfte ihr Kopfzerbrechen bereitet. Und nicht nur das. Vor zwei Jahren war sie ihm auf die Schliche gekommen, als beim Bau der neuen väterlichen Manufaktur durch seine undurchsichtigen Machenschaften ein Mensch zu Schaden kam. Auch sie selbst war dabei verletzt worden. Unbekannte hatten sie niedergeschlagen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Seither war sie auf der Hut. Die schönste Zeit mit ihm hatte sie während ihrer Schwangerschaft mit Thomas verlebt. Und in den ersten Monaten nach der Niederkunft. Der Tod ihres gemeinsamen Sohnes hatte alles verändert.
August lehnte sich vor und legte seine Unterarme auf den Beinen ab. Mit den Fingern drehte er abwesend eine Krawattennadel, als er antwortete.
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit. Nachdem heute alle in solchem Aufruhr wegen der guten Nachrichten waren, wollte ich nicht mit deinem Vater sprechen. Und Neumeister wäre zu ihm gerannt, dem geht das Geschäft über alles.« August erklärte Johanna, was vorgefallen war, schilderte zu ihrem Erstaunen nicht nur die Fakten, sondern beschrieb ausführlich die emotionale, wie er es nannte Aufgewühltheit der Näherinnen. Es war offensichtlich, dass er mit so viel weiblicher Chuzpe nicht zurechtkam. Frauen, die Ansprüche stellten und auf ein gewisses Salär pochten, waren ihm noch nie untergekommen. Die passten nicht in sein Weltbild. Innerlich musste Johanna schmunzeln.
Die Arbeiter in ihrer Manufaktur waren nicht organisiert. Generell hatten es die aufkommenden Gewerkschaften in ihrer Region schwer, Fuß zu fassen. Die ausgezeichnete Konjunktur und eine gut verdienende Mittelschicht boten nicht den gleichen Nährboden für Organisationen, wie man sie aus England oder deutschen Großstädten des Kaiserreiches zur Genüge kannte.
»Es hat in der Branche schon immer ein Auf und Ab gegeben. Du kannst dich sicher daran erinnern, wie du erst vor zwei Jahren händeringend nach Lohnstickereien gesucht hast, die unser Auftragsvolumen abarbeiten können? In Zeiten der Konjunktur können es sich die Unabhängigen leisten, den Lohnsatz vorzuschreiben. Sie haben sich sogar schon erdreistet, Materialien abzulehnen, die ihnen nicht behagten. Ich kann mich erinnern, wie erstaunt Vater deshalb war. In mauen Zeiten biedern sie uns die Maschinen und ihre Arbeitskraft dann zu billig an. Dass unsere inhäusigen Arbeiterinnen ein solches Anliegen an der Direktrice vorbei vortragen, hätte ich nicht vermutet.«
»Es geht nicht nur um Geld Johanna. Die Zwischenmeisterin braucht besseres Licht beim Teilen der Coupons für die Heimarbeit. Die Frauen, die nachbessern, müssen näher an die Fenster gesetzt werden oder wir brauchen auch für sie andere Lichtquellen.«
»Die Manufaktur ist gerade mal ein Jahr alt, man sollte glauben, Vater hätte auf diese Dinge geachtet«, sagte Johanna fast zu sich selbst und sah hinüber zu August. Sie hatte neben ihm am Kamin Platz genommen, ihren Sessel nahe an den seinen geschoben.
»In der alten Fabrik in der Fürstenstraße gibt es die meisten Klagen, vor allem von den Fädlerinnen«, versuchte er zu erklären und griff neben sich in ihre Bonbonniere. Er erhaschte das letzte Karamell und schob es sich ohne Scheu schief grinsend in den Mund.
»Du besorgst uns neue und ich sehe derweil nach Esther«, sagte sie mit einem aufgesetzten Lächeln und er widersprach nicht.
Schon nach wenigen Minuten war er zurück und hatte im Untergeschoss nicht nur neue Bonbons, sondern auch eine Platte mit Happen stibitzt, die Josefa für ihre Mutter und deren Cousine bereitgemacht hatte. Oliven, Salami und frische Butter lagen auf einem Bett aus Trauben und dampfendem Brot. August war stolz auf seinen Fang und erklärte ihr, dass derart Köstlichkeiten neuerdings von Minerva Leonhard persönlich bei Feinkostkönig Oheim in der Herrenstraße eingekauft wurden. Doch Johanna war einzig an den Oliven und den obenauf liegenden Mandarinenstückchen interessiert, scherte sich wenig darum, wer wo einkaufte und steckte sich die Früchte eines nach dem anderen in den Mund.
Dazwischen sprach sie unentwegt auf August ein. Sie erfuhr von ihm nach kurzem Zögern, dass es sich bei dem angekündigten Streik keineswegs nur um bessere Lichtverhältnisse und andere Pausenzeitregelungen handelte.
»Warum gibt es immer wieder Probleme mit den Pausenzeiten, hast du die Direktricen darauf angesprochen, August?« Johanna insistierte und bevor er sich versah, bombardierte sie ihn mit weiteren Fragen. Es war ihm zu viel Theater, zu viel Nachhaken.
»Wie schon erwähnt, ich habe nichts unternommen, dachte so ein Gespräch von Frau zu Frau, sollte das doch klären können. Aber lass dir eines gesagt sein, Johanna, ein Zehn-Stunden-Tag ist undenkbar und ein freier Sonnabendnachmittag bei vollem Lohnausgleich ebenso.« Erschrocken sah sie ihn an. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass es diesmal nicht nur um ein paar Gefälligkeiten ging, die sich schnell umsetzen ließen. So einfach konnte man den Frieden nicht wieder herstellen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Du weißt, dass im Vogtland zu niedrigeren Löhnen gearbeitet wird als in der Schweiz, dem zweiten kontinentalen Spitzenmekka. Das macht es nicht besser …«, hob August ein weiteres Mal an, wurde aber sofort von seiner Frau unterbrochen.
»Natürlich weiß ich das, und obwohl sie teurer sind, machen sie noch immer erheblich mehr Umsatz als wir.« Sie wackelte mit dem Kopf und fragte: »Was hast du ihnen gesagt? Haben die Frauen eine Art Ultimatum gestellt?«
August riss die Augen auf und verneinte entrüstet. Sie merkte, wie absurd ihm diese Frage vorkam. Schließlich wäre es von den Frauen nur vernünftig gewesen, ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Auf der anderen Seite war sie sicher, August hätte nicht zugehört.
»Ich werde noch heute Abend mit Helene sprechen, denn ich bin nicht im Bilde, welche genauen Regularien derzeit im Kaiserreich bezüglich Arbeitszeiten, Frauenrechten et cetera gelten. Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen.« Ihre jüngere Schwester wäre auf dem Laufenden, hoffte sie. Sie würden versuchen, einen Kompromiss für die Manufaktur zu finden. Den Frauen einen sicheren Arbeitsplatz bei ihnen zu bieten, sie zu halten, war wichtig. Es gab zu viele gute Angebote für sie in ihrer prosperierenden Stadt.
»Ich habe deinen Bekannten wiedergetroffen, Emmas Cousin«, sagte August, der das Thema wechselte. Verständnislos sah sie ihn an. Stirnrunzelnd fragte sie, ob er den Bleichereigehilfen meinte.
»Genau den – Kolmar. Ich hatte ihn auf eine der Vereinssitzungen eingeladen und er ist allen Ernstes gekommen. Anfangs dachte ich ja, es wird dröge mit ihm, er schwadroniert ständig über seine Antonie und die Tochter …« August stockte, musste sich an den Namen der Kleinen wohl erst erinnern. Doch Johanna half aus.
»Sie heißt Alma, Alma Klara … hübsch, nicht wahr? Und sie ist ein nettes Kind, genauso alt wie Esther. Wo wart ihr genau?«
August erzählte ihr von der Sitzung der Bergschlossgesellschaft und dem Bau des neuen Turmes auf dem Kemmler. Die höchste Anhöhe der Stadt sollte von einem Aussichtsturm geziert werden und ihr Mann engagierte sich, Gelder dafür zu sammeln. Wie ein Bleichereigehilfe dabei von Nutzen sein konnte, wollte sich Johanna nicht erschließen, doch sie unterbrach ihn nicht.
»Kolmar ist ein kluger Bursche und hatte gute Ideen, wie man auch das einfache Volk davon überzeugen könnte, entweder beim Aufbau zu helfen, ein paar Pfennige zu spenden oder bei der Einweihung zugegen zu sein. Einen Maurergehilfen kann er jedenfalls schneller besorgen als ich.« Johanna nickte, hörte aber schon nicht mehr zu.
Als August später ausführte, Louis Höppner führe den Vorsitz der ehrwürdigen Gesellschaft, wurde ihr klar, warum sich ihr Gatte neuerdings für die Geschicke der Stadt einsetzte.
Seit Monaten trieben ihn Ideen zur Neuausrichtung und Erweiterung des Geschäfts um. Als die Errichtung einer eigenen Tüllfabrik im vorigen Jahr an qualitativ hochwertigen Maschinen gescheitert war, meinte er nun, Anteile an einer Appreturwerkstatt kämen ihnen zugute. Sicher, sie nahmen die Dienste derer ständig in Anspruch und die Kosten stiegen von Jahr zu Jahr, doch das hatte seinen Grund. Die Alchemisten aus der Elsteraue hatten jahrelange Erfahrung mit dem Bleichen und Ätzen, mittlerweile standen sie kurz vor dem Durchbruch auch die Ätzspitze zur Perfektion zu bringen. Ihrer Familie fehlte auf diesem Gebiet jegliche Expertise. Wie sollte man dann einen solchen Geschäftsbetrieb führen, fragte sie sich.
»Was willst du von Höppner? Verkauft er seine Anteile? Oder zieht sich sein Bruder aus der Bleicherei zurück? Das wäre eigenartig. Außerdem weißt du, dass Vater unsere Waren lieber bei Münzing, Hempel oder Doktor Nietzsche bearbeiten lässt. Dort ist man immer auf dem neuesten Stand und deren Qualität hat uns nie enttäuscht«, endet sie mahnend und sieht in sein zweifelndes Gesicht. Eigenartig flüsternd, als ob man sie hier belauschen könnte, rückte er nach kurzem Zögern endlich mit der Sprache heraus.
»Kolmar hat mir im Vertrauen erzählt, dass Anton Falke sich einer Herstellungsart für die durchbrochene Spitze zugewandt hat, die er aus der Schweiz von einem Karl Wetter-Ruesch mitbrachte. Falke testet seither mit der Bleicherei Münzing, Seide auf Baumwolle zu sticken und diese danach mit Soda, als Ätzmaterial zu bearbeiten.«
»Du meinst, sie arbeiten an der Beseitigung des Nansoc? Sie haben die Idee der Luftspitze noch immer nicht verworfen«, murmelte sie und nahm ihre Stickarbeit wieder auf.
»Genau, die luftgerechte Schablone, wie er sie nennt und die auch Helene mittlerweile gut beherrscht, hat er perfektioniert, aber was nützt es, wenn man nach wie vor nicht weiß, wie man den Unterstoff beseitigen soll? Genau da kommt dieser Mann aus St. Gallen und mein Kontakt zu Kolmar ins Spiel. Kolmar hat die Rezeptur für das Nassätzverfahren und ist bereit, zu Höppner zu wechseln.«
Noch immer kam Johanna nicht mit. Was meinte August? Er wollte doch wohl den armen Kolmar nicht zur Spionage anstiften? Und was hätten sie davon? Außer … Doch da ging es ihr auf. August wollte sich seinen Einstieg bei den Brüdern Höppner durch Kolmars Wissen erkaufen.
Dorothea
Einfach so hier aufzutauchen, ohne konkrete Anmeldung. Anna Elise scheint kein Gespür für unsere Befindlichkeiten aufzubringen. Was erwartet sie? Ich verstehe ihren Gram, doch ich muss mich erst sortieren.
Die Gedanken wirbelten nur so in Doros Kopf und sie schob den Kamm ein ums andere Mal in den Haarknoten, es wollte ihr aber nicht gelingen, ihn zu befestigen. Missmutig gab sie auf und legte den Schildpattkamm zurück auf ihre Frisierkommode, um nach Frau Leonhard zu läuten.
Wilhelm trat von hinten an sie heran und sie spürte seine kühlen Hände im Nacken. Ihr Spiegelbild war das eines in die Jahre gekommenen Paares, hochgewachsen beide, noch immer mit vollem Haar und blanken Augen, doch man sah ihnen die Mitte fünfzig an. Wilhelm hatte sich besondere Mühe mit seiner Garderobe gegeben. Sie bedachte sein Erscheinungsbild mit einem zustimmenden Kopfnicken.
»Gut siehst du aus, mein Lieber. All die Aufmachung für unseren Besuch?«
Gestern Abend hatten sie lange über Anna Elise, ihre entfernte Cousine gesprochen. Sie hatte ihm von den Briefen erzählt, die sie im frühen Winter des vergangenen Jahres von ihr erhalten hatte. Was genau darin gestanden hatte, vermochte sie ihm unter Aufbietung ihrer gesamten weiblichen Verschleierungskunst zumindest teilweise zu verbergen. Sicher glaubte er an ein Frauenleiden oder so etwas. Damit war sie vor weiteren Nachfragen ihres Gatten gefeit.
»Deine Cousine hat einen beschwerlichen Weg auf sich genommen. Eine Reise, die auch eine begüterte Großbäuerin nicht einfach mal so unternimmt. Und dazu allein, im kältesten Monat des Jahres. Es musste ernst sein, wenn sie sich einer solchen Strapaze aussetzte. Was meinst du, ist vorgefallen? Ich mag nicht drängen, aber was genau steht in den Briefen?«, fragte er doch nach. Er gab nicht auf.
»Ach Wilhelm, die ganze Geschichte ist so lange her, warum jetzt?« Ihr fehlten die Worte. Dorothea versuchte mit aller Gewalt, nicht an dem Thema zu rühren. Sie wusste, dass es dumm war, denn heute kämen sie alle zusammen, spätestens beim Frühstück würde Anna Elise den Rest der Familie in die Geschichte einweihen.
»Ich verstehe, du hattest seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu den Cousinen. Deine geliebte Cousine Theresia ist vor Jahren von uns gegangen und auf einmal sucht Anna Elise uns auf, faselt von einem brisanten Brief und bittet um Hilfe. Ich finde das eigenartig, nach all der Zeit, du nicht?« Dorothea trat auf Wilhelm zu und legte ihre Hände auf seinen Brustkorb, der sich ungewöhnlich angestrengt unter ihrer Berührung hob und senkte.
»Erst einmal werde ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass wirklich meine Cousine Theresia diesen besagten Brief geschrieben hat. Ich kenne ihre Handschrift, ich habe Poesiealben mit ihren Einträgen. Aber erst dann und nur dann, mein lieber Gatte, werden wir diesmal nichts diskret unter den Teppich kehren. Denn genau das haben wir all unseren Kindern angetan.«
Wilhelm horchte auf. Sie klang dramatisch, und doch schien ihm die Angelegenheit nach Doros Beschreibungen schwerlich von derselben Brisanz, wie alles, was in den letzten Jahren in seiner Familie vorgefallen war. Das konnte er sich nicht vorstellen. Und doch schien sie sich große Sorgen zu machen. Seit ihrem Schlaganfall war sie empathischer und zugänglicher, weniger steif und dieser neue Zug an ihr gefiel ihm. In Bezug auf Cousine Theresia und deren Tochter Judith fiel es ihm schwer, ihr zuzustimmen.
»Man möchte meinen, irgendwelche Jugendsünden verjähren und man hält nicht ein Leben lang damit hinter dem Berg. Theresia hatte es mit ihrem Mann gut getroffen, er war doch ein anständiger Kerl und arm waren sie auch nicht. Warum dann die Heimlichtuerei?« Wilhelm schluckte bei dem Gedanken und er sah erstaunt, wie Dorothea verzweifelt versuchte, Tränen zu unterdrücken. War er jetzt auf dem richtigen Weg? Würde sie endlich mit der Wahrheit herausrücken? Er wusste, dass sie ihm etwas verheimlichte.
»Meine Liebe«, sagte er mitfühlend und nahm sie etwas unbeholfen in den Arm. Anfangs verschränkte sie noch die Arme vor der Brust, doch dann gab sie ihm nach und lehnte sich weinend an ihn.
»Theresia ist tot, Wilhelm und das schon so lange und ich hatte keine Gelegenheit, mich von meiner Spielgefährtin zu verabschieden oder unseren dummen Streit aus dem Weg zu räumen. Wir sind quasi zusammen aufgewachsen und nun taucht zehn Jahre nach ihrem Tod dieser Brief auf. Und ich kann sie nichts mehr fragen.« Die letzten Worte hatte sie nur gehaucht, sie stand dicht bei ihm und er fühlte, wie hölzern er sich benahm.
»Ihr Gast möchte gehen, gnädige Frau«, sagte Minerva Leonhard, die sichtlich nervös in der Tür stand und zu Dorothea und Wilhelm herübersah. Sie hatten ihr Klopfen nicht gehört.
»Ich meinte, sie kämen gleich zum Frühstück herunter, doch sie bestand darauf, ihnen sofort Bescheid zu geben. Entschuldigen sie die Störung.«
»Schon gut, Frau Leonhard. Wir kommen. Bitte geleiten Sie Frau Wächter in unser Speisezimmer. Auf keinen Fall darf sie das Haus verlassen.« Wilhelm fasste Dorothea an den Schultern und sagte: »Lass mich machen, ich kleide mich fertig an und wir gehen gemeinsam hinunter.«
Doch sein Plan ging nicht auf. Als das Ehepaar zu Hohenlinden das Speisezimmer betrat, war schon die ganze Familie anwesend. Er sah Helene in einen Brief vertieft, Johanna und August diskutierten und selbst Robert Arnstädt schien im Bilde, denn er hielt Anna Elises Hand und sprach leise auf sie ein. Er war mit dem Frühzug angereist und wollte den Tag mit seiner Frau verbringen, bevor er weiter zur Messe nach Leipzig fuhr.
»Guten Morgen«, lies sich Wilhelm betont fröhlich verlauten und schlagartig verstummten die Anwesenden.
»Guten Morgen, Wilhelm«, hörte er leise von Anna Elise, während er Dorothea den Stuhl zurechtrückte. Dann trat er auf die Besucherin zu, nahm ihre Hand in die seinen und begrüßte sie freundlich.
»Ich muss mich für meine Abwesenheit gestern Abend entschuldigen, meine Liebe. Nimm doch Platz, wir wollen frühstücken.« Mit einem auffordernden Blick wies er Hofstetter an, die warmen Speisen aufzutragen, und trat an die Stirnseite des Tisches.
Betreten sahen sich ihre Töchter an, taten es ihm aber gleich und nahmen Platz. Robert begann als erster eine unverfängliche Konversation, die weder Thomas Bestattung noch Gustavs Verschwinden tangierte und langsam entspannte man sich. Als sie sich jedoch über den Landwirtschaftsbetrieb der Familie Wächter im weitentfernten hessischen Gambach unterhielten und die Umsicht des Landwirtes rühmten, dessen Erträge sich bei der Kartoffelernte um fünfzig Prozent gesteigert hatten, schlug Helene mit der flachen Hand auf den Tisch.
Dorotheas Gatte sah verstört auf und bemerkte, wie ihre Jüngste selbst erstaunt über ihren emotionalen Ausbruch war. Doch Wilhelm zuckte nur kurz, sie wechselten einen verstehenden Blick und er nickte ihr auffordernd zu.
Helene ist eine besonnene junge Frau und sie ist von all den alten Geschichten am wenigstens tangiert, dachte Dorothea. Wilhelm sollte sie gewähren lassen.
Emma
Seit Wochen geht es im Stadthaus an der Syra nun schon wie im Taubenschlag zu, dachte Emma und schob sich auf die Bank in der Gesindestube. Oben im Speisezimmer hielt die Familie wieder geheime Besprechungen ab. Man bemerkte sofort, wenn das Personal unerwünscht war. Dann taten sie immer besonders nett und waren aufmerksam. Erboten sich, selbst Kaffee nachzugießen, und sorgten dafür, dass niemand, nicht einmal Hofstetter, anwesend war. Vorher prüfte die Gnädige, ob alle Platten aufgefüllt waren, und deshalb war Emma auch noch einmal hinaufgeschickt worden. Es hatte Butter gefehlt.
Als sie das Speisezimmer mit dem Hinweis, man wünsche, nicht gestört zu werden, verlassen hatte, lehnte sie die Tür nur an. Hofstetter war in den Obergeschossen zugange, er beaufsichtigte einen Handwerker, der unter dem Dach werkelte und so hatte sie gehofft, ein paar Minuten lang das Ohr an die Tür legen zu können. Doch diese dumme Pute Agatha hatte ihr dazwischengefunkt und sie prompt erwischt.
Nun saß sie ihr mit einem triumphierenden Lächeln gegenüber und Emma ahnte, was kommen würde.
Doch vorerst spielte sie die Ahnungslose. Es fuchste sie, dass sie, die sonst immer von Helene und Johanna ins Vertrauen gezogen wurde, nicht wusste, was derzeit los war. Ja, die schreckliche Ahnung über das Schiffsunglück hatte die Familie betrübt, doch das war hoffentlich aufgeklärt.
Was Anna Elise aber hier suchte, hatte sie trotz aller Bemühungen nicht herausfinden können. Die Arme war so geschwächt und angegriffen gewesen, dass sie kaum sprach. Nun tuschelten die Schwestern ständig und die Gnädige lief mit einem Gesicht herum, das zehn Tage Regenwetter in den Schatten stellen würde. Dabei hätte sie doch froh sein müssen, dass sich wegen ihres Söhnchens alles zum Besten wendete.
Und dann die Launen der Leonhard. Seit Tagen war sie vergnügt gewesen, hatte gesprüht vor Energie und unentwegt gelächelt. Wirklich seltsam. Doch seit gestern trug sie wieder diesen strengen, altbackenen Knoten, der ihr alle Falten aus dem Gesicht zu ziehen schien und war nörgeliger als je zuvor. Dabei hatte sie einen halben Tag freibekommen, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen. Als sie nach einer Stunde schon zurückgekommen war, wirbelte sie wie ein Derwisch durchs Haus. Sie inspizierte die Gesindestuben, riss Wäscheschränke auf und begann eine Liste mit Unzulänglichkeiten aufzustellen, an der Agatha und sie heute schon den lieben langen Tag arbeiteten. Solange sie nicht fertig waren, könnte sie nicht in die Kinderstube, hatte sie ihr gesagt.
»Und damit sie es wissen, Emma, ihre Arbeit als Kindermädchen haben sie einzig und allein der Fürsprache der jungen Damen zu verdanken. Wenn die sich nicht so für sie eingesetzt hätten …« Sie hatte den Satz nicht zu Ende gebracht, doch Emma wusste genau, was sie dachte. Sie selbst machte sich auch Sorgen, denn nun, nach Thomas' Tod, brauchte die Familie nur an den freien Tagen der Kinderfrau Rosalia eine Hilfe. Wie lange würde man ihr gestatten, dass sie ihre eigenen zwei Kinder mit betreute? Conrad jedenfalls beharrte darauf, dass sie wenigstens während der Sommermonate aufs Gut ziehen möge. Vorerst hatte sie es ihm ausreden können, das Wetter war ihr zu Hilfe gekommen.
»Die zu Hohenlindens waren großzügig zu uns, aber wir sollten es nicht übertreiben«, hatte er gesagt und ihr dann erklärt, sie solle schon bald mit den beiden Kindern aufs Gut ziehen. Dort gäbe es im Frühling jede Menge Arbeit, die Kinderbetreuung könne sie sich mit ihrer Mutter teilen und sobald Helene und Johanna nebst Familie aufs Gut kämen, würde man sie eh dort brauchen.
»Die frische Luft und deine ungeteilte Zuneigung würden den Kindern guttun.« Schon seit dem Brauereifest redete er so auf sie ein. In den vergangenen Tagen, seit die Schneeschmelze eingesetzt hatte, bedrängte er sie geradezu.
»Sind unsere beiden erst mal älter, kannst du zurück in die Schule, jeder hätte Verständnis, wenn du deinen Kurs später beendest«, hatte er versucht, sie zu überreden. Doch Emma wurde bei diesem Gedanken schwer ums Herz. Sie genoss diesen Tag pro Woche, an dem sie beim Frauen- und Dienstbotenverein lernte und mit den anderen Frauen eine unbeschwerte Stunde im Café verbringen konnte. Außerdem hatte sie nur noch wenige Tage im Frühsommer zu absolvieren, dann wäre sie mit der Ausbildung fertig. Bald schon war sie endgültig firm in Anstand und Höflichkeitslehre, wusste, wie man Tische für jede Gelegenheit eindeckte, konnte Servieren, Frisieren, Glanzplätten und Schneidern. Vieles hatte sie schon gewusst, doch die Feinheiten würden den Unterschied machen und irgendwann, das schwor sie sich, übernahm sie den Posten der Leonhard. Dafür war eine gute Ausbildung wichtig und sie rätselte, warum ihr Mann sie nicht verstehen wollte. Conrad war sonst so schlau und fischelant, doch in dieser Hinsicht hatte er seit dem Herbst auf stur gestellt.
Ihr gutmütiger Ehemann beharrte außerdem darauf, dass sie ihre Nebeneinnahme aufgab.
Nein, sie wollte ihre regelmäßigen Besuche bei Solomon Guggenheim nicht missen. Der Amerikaner hatte ihr im vergangenen Sommer unverhohlen den Hof gemacht. Anfangs wusste er nichts über Mann und Kinder, doch auch nachdem er es erfahren hatte, tauchte er immer wieder dort auf, wo sie allein unterwegs war. Auf dem Markt, in der Kirche und so hatten sie angefangen zu plaudern. Ungezwungen und anfangs unbedarft hatte sie seine offene, weltmännische Art anziehend gefunden. Dann gab es da diese Stellenausschreibung und Emma war wie von unsichtbarer Hand geführt hingegangen und hatte sich für eine Freundin bei ihm vorgestellt. Wochenlang spielte sie ihm und ihrem Mann vor, die Freundin wäre krank und bettlägerig und sie helfe ihr nur aus, da sie sonst nicht wüsste, wie sie die Kinder durchbringen sollte. Conrad kannte die Elfie nicht und sie verkehrten in so unterschiedlichen Kreisen, dass es unwahrscheinlich war, dass sie sich je begegnen würden. Und wer weiß, vielleicht übernimmt Elfie ja die Stelle irgendwann, hatte sie gedacht. Tief in ihr drin, erkannte sie die unausgegorene Geschichte, in die sie sich da hineinmanövrierte, doch sie konnte nicht anders. Am Nachmittag nach der Schule hatte sie bei Guggenheim geputzt und unmerklich hatte er sich in ihr Herz geschlichen. Emma konnte und wollte seinen Annäherungsversuchen nicht widerstehen.
Ende September letzten Jahres war sie fast aufgeflogen, als Conrad vor dem Haus in der Windmühlenstraße aufgetaucht war. Ihm hatte sie lediglich von zwei, dreimal erzählt, die sie bei dem Amerikaner ausgeholfen hatte. Dass es eine regelmäßige Beschäftigung geworden war, wusste er zu dem Zeitpunkt nicht.
Als sie auf dem Trottoir vor ihm zum Stehen gekommen war und in sein entsetztes Gesicht schaute, hatte sie Mitleid mit ihm. Er war so ein guter Mann, treu und hilfsbereit, nett. Aber wer wollte schon nett? Nicht Emma Leitner.
Er hatte nichts gefragt, keinerlei Vorwürfe gemacht, sie lediglich am Arm zur Kutsche geführt, mit der er unterwegs gewesen war. Auf dem Nachhauseweg hatte sie händeringend nach einer klugen Antwort gesucht und ihm die Geschichte mit Elfie aufgetischt. Hatte er ihr geglaubt? Sein leidendes Gesicht und die vorwurfsvollen Augen verfolgten sie bis heute. Doch nachgefragt hatte er nicht.
Emma gestand sich ein, dass sie hier im Haus bevorzugt wurde, andererseits hatte sie nun einmal ein Arrangement mit der gnädigen Frau geschlossen, das sie schützte. Ihr Ausrutscher mit dem Schwiegersohn würde zum Schutze der heiligen Johanna Bader für immer ihrer beider Geheimnis bleiben und Selma höchstoffiziell die Tochter von Conrad, ihrem Ehemann sein.
Es war ungewöhnlich, als verheiratete Mutter als Hausmädchen zu arbeiten. Geschweige denn ihr den Besuch der Schule zu erlauben. Sie stammte aus Freiberg, dem Dorf, das nahe am Gutshof der Familie lag und war mit den beiden Töchtern aufgewachsen. Sie hatten alle Kindheitssommer zusammen verbracht und sofort nach der Schule war Emma in deren Dienste getreten. Sie wollte mehr vom Leben, träumte von Reisen und schönen Kleidern, beides war ihr gelungen. Mit den jungen Frauen war sie bis ans Meer gekommen, trug deren abgelegte Röcke. Den Mann jedoch, den sie wirklich hatte haben wollen, bekam Johanna.
Manchmal vergaß sie die kleine Episode mit August und die irritierte Dorothea zu Hohenlinden und fühlte sich wie ein Familienmitglied. Das ist es, was sie wollte, Teil von diesem großen mächtigen Gefüge zu sein, oder jedenfalls so nahe dran, wie es ging. Die Vorteile, die sie genoss, schmeckten nicht allen. Vor allem die Hausdame Minerva Leonhard ließ sie ihre Missbilligung ständig spüren.
Doch durch ihre Heirat mit dem Kutscher Conrad Leitner, der einen ganz besonderen Draht zum gnädigen Herrn hatte, war sie in der Hierarchie der Angestellten weiter aufgestiegen.
Mitten in ihre Gedanken kroch ihre Tochter Selma auf ihre Knie und schmiegte sich an ihre Brust. Die Kleine war wohl der Kinderfrau entlaufen und wurde mit tosendem Johlen von Esther verfolgt, die prustend um die Ecke gesaust kam. Sie lief geradewegs in Josefa hinein, die die Kleine abfing und herumwirbelte.
»Na wer kommt denn da reigeschneit? Du sollst doch nicht so die Trepp nunter renne, de Stiech is rutschit und deine Knie noch immer net verheilt«, mahnte sie das Mädchen, die Stufen langsam zu nehmen, während sie prüfend den Schorf auf Esthers Knie abtastete.
»Ich hole etwas Eireibich, hock dich derweil zu den annern an den Tisch. Kommt Frau Rosalia herunter, oder seid ihr ausgebüchst?«
Josefa verschwand in der Vorratskammer und Emma griff über die Schulter ihrer Tochter nach dem Holzbrett, auf dem ein Hefezopf bereitstand. Dann bestrich sie für beide Mädchen einen dicken Kanten mit süßer Butter und mahnte sie, langsam zu essen.
Agatha war zur Seite gerutscht und schien ihr Ansinnen im Angesicht der Kinder zu vertagen. Bloß gut, dachte Emma. Noch eine Spinne, die ich in Schach halten muss, hat mir gerade noch gefehlt.
Die Kinder plapperten und schmatzten, tranken ein Glas Milch und zappelten schon kurz darauf wieder ungeduldig mit den Beinen.
»Können wir mit dir backen, Josefa?«, fragte Esther, herzallerliebst mit den langen dunklen Wimpern klimpernd und rutschte von dem hohen Stuhl, um sich an die Schürze der Köchin zu schmiegen.
»Ich würde gerne helfen. Oben wird nur vorgelesen«, brummelte sie und bekam sofort Schützenhilfe von Selma.
»Ja, es ist langweilig und außerdem kennen wir die Geschichte schon. Tausendmal hat Frau Rosalia das Schneewittchen vorgelesen.« Emma musste lächeln. Sie wusste, dass dies das Lieblingsmärchen der Kinderfrau war und doch sollten sie die Köchin nicht von der Arbeit abhalten. Man erwartete Besuch für den Abend und sie hatte sicher jede Menge vorzubereiten. Bevor sie eingreifen konnte, hörte sie die Köchin sagen: »Des wird heit nix. Für sowas is kaehweng Zeit. Seht ihr den Kaventsmann dort, der will ausgenommen und zubereitet werden. Wir backen später, morgen vielleicht. Und nun lauft.« Josefa hatte auf den riesigen Fisch gedeutet, der in der Spüle lag und auf seinen Salzmantel wartete und schob die Kinder zur Treppe. Emma bewunderte die resolute, doch gutmütige Frau um ihre natürliche Autorität. Ohne Widerworte machten sich die Mädchen, zwar leise maulend, aber einsichtig auf und stiegen die Treppen wieder hinauf.
»Also? Heraus mit der Sprache. Was hast du gehört?«, vernahm sie Agatha, die seit einigen Wochen als Zweitmädchen die schweren Hausarbeiten übernommen hatte. Emma blieb seitdem das beschwerliche morgendliche Reinigen und Einfeuern der Öfen erspart, sie musste nicht mehr vor den Hühnern aufstehen. Agatha übernahm das Waschen der groben Kleidung der Angestellten, plättete und so blieb Emma mehr Zeit, um sich um die Garderobe der zwei jungen Frauen und die Kinder zu kümmern. Selma und Jonas freuten sich, den Morgen mit der Mutter zu verbringen.
Agatha war klein und rundlich, manchmal wunderte sie sich, wie flink sie trotz ihrer behäbigen Art war. Emma schaltete auf stur, war nicht gewillt, sich in die Karten schauen zu lassen, da konnte sie noch so oft fragen.
»Gar nichts habe ich gehört. Mein Schürzenband war aufgegangen und hatte sich in der Klinke verfangen«, fauchte sie missmutig. »Ich musste mich winden, um es aus der zufallenden Tür zu ziehen. Was auch immer du meinst gesehen zu haben, ich habe versucht, leise zu sein, so wie es mir die gnädige Frau aufgetragen hat. Und nun schau, dass du weiterkommst, du wirst hier nicht fürs Rumsitzen bezahlt. Nicht dass ich noch deine Arbeiten übernehmen muss.«
Flunkern fiel Emma leicht und mit ihrer Ausrede war sie zufrieden. Agatha war drauf und dran, ihr zu widersprechen, doch die Beiköchin kam herein und unterbrach sie. Meta wurde immer dann angeheuert, wenn Gesellschaften ausgerichtet wurden, und sie war dafür bekannt, wortkarg zu sein. Auch heute nickte sie den beiden nur zu und stellte als Zeichen, dass sie den Tisch beanspruche, eine Schüssel mit Sauerteigansatz geräuschvoll auf der Platte ab. Dann begann sie mit schwungvollen Bewegungen Mehl darauf zu stäuben. Spätestens jetzt machten sich die beiden Frauen daran, die Gesindestube zu verlassen.
»Ich komm dir schon noch drauf«, wisperte Agatha ihr auf der Stiege zu und verschwand. Emma blickte ihr kopfschüttelnd nach und dachte an ihre bevorstehende Zeit auf dem Gut. »Wenigstens die wird mir dort nicht fehlen«, murmelte sie.
Gustav
Als Gustav acht Tage nach dem Ablegen des Schiffes die Augen öffnete, erschrak er über seinen rasselnden Atem. Seine Lider waren seltsam verklebt und das Schaukeln des Bettes ließ seinen Magen rumoren. Während er sich mit seinen Unterarmen hochdrückte, konnte er durch das Fenster an einer Seite der Kajüte das Meer sehen. Die Sonne schien. Auf den Wellen machte er kleine Gischt aus. Wie lange war er schon hier? Hatte er den Großteil der Überfahrt etwa verschlafen?
Im selben Moment packte ihn ein Röcheln, hustend ließ er sich nach mehreren Minuten anfallartigen Aufbäumens erschöpft zurück in seine Kissen fallen. Das Bett war schmal und auch die Kajüte eher klein. Doch da erinnerte er sich, froh gewesen zu sein, überhaupt eine der letzten verfügbaren Passagierkajüten auf der Bohemia ergattert zu haben.
Es dämmerte ihm, schon bei der Einschiffung unter massiver Atemnot gelitten zu haben, und jetzt fühlte es sich nicht besser an. Wieder rappelte er sich auf, rückte im Bett zurück und lehnte sich mit seinem Oberkörper an das Kopfteil. Wer hatte sich die ganzen Tage um ihn gekümmert oder war wirklich nur eine Nacht vergangen? Es fiel ihm schwer, sich zu orientieren. Im selben Moment brach ihm der Schweiß aus. Neben sich sah er eine Schüssel mit einem Waschlappen stehen und griff danach. Behutsam wischte er sich die Stirn, tupfte sich den Nacken ab und legte sich den nassen Baumwolllappen auf seinen linken Unterarm. Wohltuende Kühle ermächtigte sich seiner und kurz darauf rutschte er ermattet in eine halb liegende Position zurück.
Das Schiff bewegte sich in einem launigen Auf und Ab und die Gischt vor dem Fenster nahm zu. Fast überkam ihn erneut eine spontane Übelkeit, doch er schüttelte den Kopf, setzte sich ruckhaft auf und schwang die Beine aus dem Bett. Sofort wurde ihm schwindelig und er legte sich zurück. Mein Gott. Was ist nur mit mir passiert? Kann das die vielbeschriene Seekrankheit sein? Nein, das war es nicht. Die Erkältung, die er sich auf der Zugfahrt von Plauen nach Hamburg zugezogen hatte, musste arger sein als angenommen.
Kein Wunder, erinnerte er sich. Die Heizung in den Zügen war ausgefallen, außerdem gab es auf den Bahnhöfen, auf denen er stundenlang hatte ausharren müssen, fast nie eine Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Überall hatten die Menschen in jenen Tagen mit der klirrenden Kälte gekämpft, die im südlichen Teil des Kaiserreiches wütete.
Erbarmungslos schienen Eis, Wind, Schnee und Winterstürme über die Landschaften zu fegen und wenn es möglich war, mied man in diesen Tagen die Bahn oder gar eine Reise in der Kutsche. Doch ihm war nichts anderes übrig geblieben, die Zugtickets hatten in seiner Tasche aus edlem Atlastuch gelegen und wollten eingelöst werden. Mutter hatte ihm das teure Stück eigens für die Reise zu Weihnachten geschenkt. Und die Waren, die sie aus dem Sortiment der Manufaktur ausgewählt hatten, warteten seit Wochen in Hamburg auf die Einschiffung. Er hatte fahren müssen. Als er nach Silvester von Plauen losfuhr, hatte es Frost gegeben, doch das war nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit.
Aber was er dann schon auf der ersten Teilstrecke erlebt hatte, war mehr an Schneestürmen und Verwehungen, abgebrochenen Bäumen und vor allem verspäteten Zügen, als er sich hätte vorstellen können. Sehr früh war ihm klar geworden, dass er die Cimbria nicht erreichen würde. Vergebens hatte er in den ersten zwei Tagen versucht, zu telefonieren oder ein Telegramm zu schicken. Das Vogtland, wie weite Teile Thüringens waren fest in der Hand dieses Eissturms. Am dritten Tag seiner Reise war es ihm gelungen, eine Depesche nach Hamburg an die Reederei zu kabeln und darum zu bitten, auf keinen Fall seine Ware an Bord zu schaffen, sollte er selbst nicht anwesend sein. Welch brillante Entscheidung, gestand er sich ein. Denn als er letztlich übernächtigt in Hamburg angekommen war, hatte er der Cimbria in der Ferne beim Auslaufen zugesehen.
Die Bilder des stürmischen Tages zogen vor seinem geistigen Auge auf. Er ließ aufleben, wie erleichtert er gewesen war, seine Ware in einem Lager gefunden zu haben. Nicht um die wertvollen Stücke zu bangen, für deren Ausschiffung er in New York selbst hatte sorgen mögen, machte das Verpassen des Schiffes erträglicher. Müde und hungrig, einen Anflug von Fieber ahnend, hatte er sich ein Hotel genommen.
Es folgten eine traumlose Nacht in weichen, gestärkten Kissen und lahme, ächzende Glieder am nächsten Morgen. Er war kaum aus dem Bett gekommen und hatte den Portier gebeten, ihm eine neue Passage zu besorgen.
Die Bohemia war ein reines Passagierschiff und er würde seine Ware nicht mitnehmen können, hatte man erklärt, außer, er zahle einen nicht unerheblichen Aufschlag. Die Entscheidung fiel ihm leicht. Man erwartete ihn in den USA und so zahlte er, ließ seine Waren von einem Mietkutscher des Hotels auf das neue Schiff bringen und buchte für sich selbst eine der letzten verfügbaren Kajüten.
Zwei Tage hatte Gustav danach in Hamburg ausharren müssen und es war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, die Familie zu informieren. Fiebrig und hustend hatte er im Bett gelegen, einen Arzt konsultiert und war nur darauf bedacht gewesen, endlich an sein Ziel zu kommen. Er verließ sein Hotelzimmer erst am Tag seiner Ausreise und das nur unter Aufbietung seiner letzten Kräfte. Es erschien ihm nicht wichtig, die Plauener zu informieren, die glaubten, er wäre auf großer Fahrt.
Gustav sah sich um. Staunend begriff er, dass die Einzelkajüte ihrem Namen alle Ehre machte. Nichts erinnerte hier an die luxuriöse Doppelkabine, die er auf der Cimbria gebucht hatte. Dennoch, er hatte sie für sich allein und war auf dem Oberdeck untergebracht, wie er mit Blick durch das Bullauge feststellte.
Er versuchte es noch einmal. Diesmal setzte er sich langsam auf, schlug die schwere Decke zurück, hielt sich am Bettgestell fest und brachte ein Bein nach dem anderen aus der Koje. Dann saß er so für eine Weile. Behutsam stellte er seine Füße auf den kalten Boden, nur um zu testen, ob der Schwindel von vorhin vergangen war. Langsam drückte er sich hoch, um in halb gebückter Haltung zu verharren. Die Kajüte begann sich vor seinem Auge zu drehen. Stöhnend ließ er sich ins Bett fallen. Was für ein vermaledeiter Zustand. Er würde sich gedulden müssen. Irgendjemand hatte sich in den letzten Tagen um ihn gekümmert. Dieser jemand würde zurückkommen. Und mit dem konnte er alles besprechen. Bis dahin musste er ausruhen. Kraftlos fielen ihm die Lider zu.
Das sanfte Schaukeln trug ihn wieder hinüber in einen diesmal etwas leichteren Schlaf. Er wusste nicht, wie lange er so vor sich hingedämmert hatte, als es an seiner Kajütentür klopfte und ein junger Mann eintrat. Dunkelhaarig, mit Schnurrbart, gewandet in einem eleganten Dreiteiler trat er auf das Bett zu und schien überrascht, Gustav mit offenen Augen vorzufinden.
»Das ist großartig. Sie sind wach. Mein Gott. Seit Tagen warte ich auf diesen Anblick.«
Etwas zögernd setzte sich der junge Mann auf sein Bettende.
»Entschuldigen Sie mein forsches Eindringen, vorgestellt habe ich mich auch nicht. Herrje …« Der junge Mann sprang von der Bettkante und nahm Haltung an. Gustav erkannte eine gewisse Unsicherheit im Verhalten seines Gegenübers und zog sich die Bettdecke unters Kinn. Er selbst fand die Situation ebenfalls höchst unangenehm.
»Ich bin Ihr Chefsteward, angenehm, Herr zu Hohenlinden. Die Umstände sind befremdlich, ich verstehe. Lassen Sie mich erklären: Sie haben fast drei Tage geschlafen. Als Sie hier ankamen, zeigte ich Ihnen Ihre Kajüte und Sie baten um ein leichtes Abendessen. Als ich damit zurückkam, lagen Sie mit hohem Fieber im Bett.«
»Dann haben Sie sich die ganze Zeit um mich gekümmert?«
»Nein, nein, dieser Verdienst gebührt unserem Schiffsarzt und einer Krankenschwester, die mehrmals am Tag nach Ihnen sah.
Sie ist eine resolute Dame, hat Sie gewaschen, ab und an etwas zu trinken eingeflößt. Soweit ich informiert bin, haben Sie nur wenig zu sich genommen und haben ein gutes Frühstück nötig, um schnell auf die Beine kommen. Darf ich mich darum kümmern?« Der junge Mann war noch immer ziemlich aufgeregt und ließ ihn kaum antworten. »Oder wünschen Sie, den Arzt zu sprechen? Er kann alles besser erklären als ich.« Gustav setzte sich im Bett auf und ließ sich seinen Morgenmantel reichen. Umständlich half ihm der Stewart hinein.
»Ich wollte nur sehen, ob Sie irgendetwas brauchen, ob wir als Reederei etwas für Sie tun können. Entschuldigen Sie, dass ich einfach so eingetreten bin, in den letzten Tagen haben Sie nie geantwortet, also ich ähm …«
Der Mann verhaspelte sich, blickte verlegen auf seine Schuhspitzen und strich sich mit seinen kräftigen Händen durch die vollen Haare. Dann verbeugte er sich kurz und empfahl sich.
Gustav hatte keine Möglichkeit, ihm Fragen zu stellen. Hoffentlich lässt er ein Frühstück kommen, durcheinander wie er ist, dachte er verwundert und setzte sich wieder auf. Er versuchte ein weiteres Mal, die Beine auf den Boden zu stellen. Das Sitzen allein jedoch strengte ihn an und so rutschte er zurück in die flauschigen Kissen, zog die Decke über sich und wartete.
Helene
Das aufmunternde Lächeln ihres Vaters hatte Helene am Morgen genutzt, um Anna Elise an den eigentlichen Grund des Besuches zu erinnern. Es kam ihr töricht vor, so zu tun, als sei sie hier, um Thomas zu beweinen. Diese Scharade musste aufhören.
Sie war dem äußeren Anschein nach sehr erleichtert gewesen, endlich über ihr Ansinnen sprechen zu können. Kurz zusammengefasst vermisste sie ihre Ziehtochter Judith, die nach einem Streit davongelaufen war.
Mit dem Tod von Mutters Cousine Theresia vor zehn Jahren hatte Anna deren Tochter bei sich aufgenommen und wie ein eigenes Kind großgezogen. Bei der Erwähnung von Theresias Namen hatte Johanna die Augen weit aufgerissen und Helene vielsagende Blicke zugeworfen, doch bisher hatten die Schwestern keine Gelegenheit gehabt, sich auszutauschen. Das Frühstück verging mit Erklärungen seitens Anna Elises und Nachfragen der Familie zu den Umständen. Ihr Vater versprach, den Aufenthaltsort des Mädchens herauszufinden.
Wie auch immer er das anstellen möchte, hatte Helene sich gefragt, die nur halbherzig bei der Sache gewesen war. Die Vorbereitungen für die heutige Abendgesellschaft hielten sie auf Trab und natürlich wurde der Anlass des Abends wie auch die Gästeliste en détail diskutiert.
Sie erwarteten neben altbekannten Freunden, die Eheleute Otto und Eugenie Schumann, denen der Ruf als progressives Paar vorauseilte. Jung an Jahren hatten sie in der Stadt bereits den Nimbus von Wohltätern erlangt, in dem sie vielfältige soziale Projekte unterstützten. Der Maria Hilfsverein und der Albert Zweigverein Plauen waren nur zwei der Konzepte, dem die junge Mutter ihre Zeit widmete. Offen trat Eugenie für Frauenrechte in jeder Bevölkerungsschicht auf, selbst in Gegenwart ihres Mannes hielt sie nicht mit ihren Ansichten hinter dem Berg. Helene imponierte die kleine Frau mit dem blonden Kraushaar und den tief liegenden Augen.
Ihr Vater freute sich auf neue Bekannte und wusste einiges über den Anwalt Schumann zu berichten. Nur August saß abwesend dabei und Helene konnte sich nicht zurückhalten, ihn zu ermahnen. Seine altmodischen Ansichten zu Frauen und Familie wollte sie am heutigen Abend ungern hören und so bat sie ihn, diese ein wenig leiser vorzubringen, wenn es grundsätzlich notwendig wäre.
»Was denkst du von mir?«, hatte er trotzig gesagt und sie provozierend angesehen, als sie ihn auf der Treppe zum Obergeschoss angehalten und ihre Bitte vorgetragen hatte.
»Eugenie Schumann ist eine feste Größe, wenn es um Wohltätigkeit in der Stadt geht. Ich möchte sie gerne näher kennenlernen und sie von unserem Lesezirkel überzeugen. Der braucht unbedingt ein paar neue Impulse, oder ich sterbe vor Langeweile. Und Johanna stünde etwas mehr …« Sie tat sich schwer, ihm gegenüber zu beschreiben, was sie ihrer Schwester wünschte. Doch sie versuchte es. »Johanna muss auf andere Gedanken kommen. Ein wenig soziales Engagement und öfter mal mit Menschen zusammen sein, sollten ihr helfen, sich etwas abzulenken. Nur immer im Stadthaus hocken oder auf dem Gut Löcher in den blauen Himmel zu starren, das hilft ihr nicht.« Er hatte einsichtig genickt und ihr gönnerhaft die Schulter gestreichelt. Auch am Abend kam keine seiner süffisanten Bemerkungen über seine Lippen.
Spät in der Nacht, nachdem alle Gäste frohgemut das Stadthaus verlassen hatten, zogen sich die Schwestern ins Wohnzimmer zurück.
»Das war ein bezaubernder Abend, danke Helene. Eugenie Schumann ist eine bemerkenswerte junge Frau, ich glaube, mit ihr bekommt unser Lesezirkel neue Impulse.« Helene sah ihrer Schwester die Müdigkeit an, doch da war noch etwas anderes. Sie strahlte und die leicht geröteten Wangen standen ihr gut. Vielleicht kann sie sich mit Eugenie anfreunden, dachte sie. Die junge Anwaltsgattin hatte eine zweijährige Tochter und sich angeregt mit Johanna über eine ausgestandene Grippe des Mädchens unterhalten. Eifrig hatten sie Anekdoten ausgetauscht und es erschien Helene nur folgerichtig, wenn sich die Frauen und Kinder bald zu einem Spaziergang oder zum Spielen trafen.
»Du magst sie?« Sie zog ihrer Schwester einen Sessel ans Feuer, das noch immer im Kamin glomm.
Hier war es gemütlich warm und sie saßen heimelig bei Kerzenschein und einem Glas Wein. Das hatten sie lange nicht getan, es schien Helene eine Ewigkeit, dass sie solch normalen Dingen nachgegangen wären. Doch heute Abend war zum Glück alles anders.
»Ja, sie ist nett, gebildet und kein bisschen von sich eingenommen. Ihre Ansichten zu Familie und Kindern, zu Frauenthemen finde ich inspirierend. Hast du Augusts Gesicht gesehen, als sie vorschlug, sich mit den Schriften von Louise Otto-Peters zu befassen? Die Gründerin der deutschen Frauenbewegung ist sogar ihm ein Begriff. Er war nicht amüsiert.«
»Ich glaube, er weiß, dass wir nicht nur ihre Essays, Novellen oder Gedichte lesen werden. Die Peters ist eine ungewöhnliche Vertreterin unseres Geschlechts, ihr ganzer Lebenslauf aufregend. Kennst du eine Frau, die Zeitschriften herausgibt, erst mit 40 Jahren heiratet und wirtschaftlich unabhängig ist und einen Verein gründet? Ja, gar dessen Vorstand übernimmt? In einer Zeit, in der jegliches politisches Engagement von uns Frauen unerwünscht scheint?« Helene war in ihrem Element. Seit sie den Konventionen geschuldet so viel durchgemacht hatte, wollte es ihr im Traum nicht mehr einfallen, sich den Wünschen eines Mannes zu beugen.
»Ich bin erstaunt, Johanna, dass du nicht von dir gesprochen hast. Immerhin bist du eine der wenigen Frauen in dieser Stadt, die jeden Tag im Kontor gearbeitet hat, Entscheidungen traf. Bist du nicht stolz? Fehlt dir das nicht?« Helene wollte wirklich herauszufinden, wie sich ihre Schwester selbst sah, doch sie ging nicht darauf ein. Es schien ihr peinlich zu sein.
»Ach, lass doch«, wiegelte sie ab, um eine andere Frage zu stellen.
»Hast du je ein Exemplar von Neue Bahnen gelesen?«, fragte sie ihre Schwester. Helene schüttelte den Kopf.
»Ich frage mich, ob man die Zeitung des Frauenvereins in Plauen kaufen kann? Ich werde Eugenie darum bitten oder sie mir zur Not von Felicie Bernstein aus Berlin schicken lassen.«
»Frag doch deine Schwiegermutter, sie ist sicher im Bilde«, sagte Johanna und zog sich eine Decke über die Knie. Helene nickte. »Famose Idee, Hannelore ist immer für eine Überraschung gut.« Fröstelnd stand auch sie auf, legte einen Holzscheit in den Kamin und sagte: »In Plauen gibt es keinen Zusammenschluss im Sinne vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein, wie in Leipzig. Dort bündeln die Damen schon seit 1865 ihre Kräfte und organisieren Veranstaltungen, bilden sich weiter und kämpfen für Fortbildungs- oder Kochschulen. Hier sind die Frauen immer nur Samariter. Ich will das keinesfalls herunterspielen, es ist wichtig, was der Maria Hilfsverein oder der Albert Zweigverein leistet. Ohne das Engagement der Damen hätte die karitative Armenpflege keinerlei Unterstützung.«
»Aber die Frauen negieren nach wie vor ihre eigenen Bedürfnisse. Um mit Louise Peters zu sprechen, wird niemand an sie denken, wenn sie es nicht selbst tun.« Helene war erstaunt, ihre Schwester so reden zu hören, doch es gefiel ihr.
»Wir beide müssen uns stärker einbringen, Schwesterherz. Das sind wir Esther schuldig und all den anderen jungen Mädchen, die sich nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung sehnen.«
»Was hast du dir vorgestellt?« Johanna sah ihre Schwester fragend an, als die ihr erklärte, mit dem Lesezirkel progressive Damen der Gesellschaft ansprechen zu wollen.
»Wir müssen aufklären, auch uns selbst und dann sollten wir dem Maria Hilfsverein alsbald einen Besuch abstatten.«
Als Helene sich erheben und den Raum verlassen wollte, hielt Johanna sie zurück.
»Ich muss unbedingt mit dir wegen unseren Näherinnen sprechen, Helene. Sie haben August eine Art Ultimatum gestellt.« In kurzen Worten umriss sie die Anliegen der Frauen und bat um die Unterstützung ihrer Schwester. Sie waren sich einig, den Vater vorerst außen vor zu lassen, da er mit solchen Unannehmlichkeiten, wie er es nennen würde, nicht gut umging.
»Er braucht keine weitere Aufregung. Hoffentlich ist Gustav wirklich auf diesem anderen Schiff und meldet sich bald, dann ist ihm eine Last genommen. Mutters Cousine hat uns auch Probleme ins Haus gebracht, die uns nichts angehen, doch Mama scheint so betroffen davon, dass sie Vater damit sicher in den Ohren liegt.«
Johanna sah sie prüfend an, denn Anna Elises Auftauchen und die Geschichte um das Verschwinden ihrer Ziehtochter Judith war undurchsichtig. Es erstaunte sie, dass Helene das auch so sah. Sie pflichtete ihr bei.
»Als Anna Elise den Namen Judith nannte, hat Mutter eigenartig reagiert und mir ist etwas eingefallen, das ich längst vergessen hatte. Kannst du dich an diesen Besuch im September erinnern, als eine Judith Schuster hier vorsprach und sofort wieder ging, ohne ihr Anliegen vorzutragen? Das war sie, das war Judith, Anna Elises Ziehtochter. Meinst du nicht auch?« Helene nickte langsam.
»Du hast recht, das könnte sie gewesen sein. Dann wäre das Mädchen schon seit Monaten von daheim fort. Ich glaube, Mutter und ihre Cousine verschweigen uns etwas. Wenn ich nur wüsste, was.« Schulterzuckend trat Johanna auf sie zu und reichte ihr die Hand. Die unbeholfene Geste sah ihr nicht ähnlich und Helene stand von ihrem Sessel auf.
»Mach dir keine Sorgen, Johanna. Die beiden Frauen werden das klären und wir kümmern uns morgen erst einmal um den Streik. Das ist das Letzte, was wir brauchen.« Helene war auf dem Weg zur Tür, doch die Stimmlage, in der ihre Schwester jetzt sprach, ließ sie aufhorchen.
»Ich werde dich mit der Firma nicht mehr allein lassen, ich möchte wieder eine Aufgabe, etwas Richtiges … du weißt schon.« Johanna verhaspelte sich und sah Helene direkt an. Verlegen sog sie an ihrer Unterlippe und war gerührt von Helenes vertrauter Geste. Sie hatte ihren Bernstein aus dem Kleid gezogen und hielt ihn ihr hin. Auffordernd nickend legte sie Johannas Hand um den Stein und schloss die ihre darum. Ihr Bund war wieder besiegelt.
»Mein erster Gang ist zur Direktrice. Irgendetwas sagt mir, dass sie die Schlüsselfigur für einige der Probleme sein könnte.«
»Was soll sie damit zu tun haben?« Helene horchte auf. Die Direktricen wurden allesamt von ihrem Vater persönlich eingestellt, waren seit Jahren im Betrieb, kannten jeden Arbeitsgang, alle Mitarbeiter und waren höchst zuverlässig. Ohne deren organisatorisches Feingefühl käme man an keinem ihrer Standorte durch den Tag.
»Es gibt Hinweise darauf, dass eine von ihnen den Frauen restriktive Vorschriften für Pausen und Toilettenbenutzung macht, aber Genaues weiß man nicht. Ich kenne keine der Näherinnen gut genug, um eine unvoreingenommene Meinung zu bekommen.« Helene gab zu bedenken, Ruhe zu bewahren, keinesfalls überstürzt zu handeln und alle Seiten gut abzuwägen.
»Wenn es die Zeiten verlangen, werden wir über Änderungen nachdenken müssen.«
»Änderungen? Welcher Art, was stellst du dir vor?«, fragte Johanna.
Helene erinnerte ihre große Schwester an den Ausspruch von Louise Otto-Peters, den sie selbst zitiert hatte.
»Die Frauen oben in der Manufaktur übernehmen Verantwortung. Für ihr eigenes Leben, das ihrer Familien … und wir sollten ihnen dabei nicht im Wege stehen, sondern sie unterstützen. Darum geht es doch, wenn wir wirklich etwas bewegen wollen. Ein Lesezirkel allein bringt uns da nicht weiter. Und solange wir aktiv werden und nicht abwarten, wie Vater es tun würde, haben wir die Zügel in der Hand und können das Schicksal unserer Manufaktur im Auge behalten.«
Gustav
Bereits einen Tag nachdem Gustav vom Schiffsarzt gründlich untersucht worden war, fühlte er sich besser und entschied, seine Kabine zu verlassen. Der Gang über die schwankenden Böden an Deck war ungewohnt, doch er genoss die frische Luft und die Aussicht. Auf einer Seite des Schiffes waren Liegestühle aufgestellt worden und er gesellte sich zu einem deutschen Ehepaar. Sie forderten ihn freundlich auf, Platz zu nehmen. Schnell entspann sich ein angeregtes Gespräch über Reisepläne und Befindlichkeiten während einer solchen Seefahrt. Die Dame neben ihm sah unentwegt besorgt auf ihren Mann, der mit der leidigen Seekrankheit zu kämpfen hatte. Als sie nicht enden wollend immer wieder ihr Gespräch mit Fragen zu seinem Wohlbefinden unterbrach, wurde der ältere Herr unwirsch.
»Meine Liebe, mir geht es gut, immerhin sind wir am Leben und liegen nicht wie diese armen Seelen auf dem Grunde des Meeres. Du kannst in drei Tagen deinen Bruder am Kai von New York in die Arme schließen und dann ist auch mein Unwohlsein vorbei.«
Gustav überlegte, von welchen Seelen sein Gegenüber sprach, doch schon ergoss sich ein Schwall von unfassbaren Neuigkeiten über ihm, der ihn frösteln ließ.
»Einzig die Menschen vom feinen Oberdeck konnten in die Boote springen«, hörte Gustav die Gattin erzählen, die sich auch durch Gegenfragen nicht aufhalten ließ.
»Zwei der Rettungsboote sind sofort gekentert, die Frauen und Kinder kläglich in den Untiefen versunken. Man erzählt sich, dass sich ein Liebespaar die Kehlen durchschnitt, um wenigstens zusammen zu sterben, wenn sie schon nicht gemeinsam das rettende Ufer erreichen können.« Die Frau stand kurz davor, in Tränen auszubrechen, schnäuzte hörbar in ihr feines Taschentuch und rieb sich die Augen. Nachdem er geduldig auch noch die Geschichte der schwäbischen Musikerfamilie Rommer über sich ergehen ließ, die bis zum Untergang geträllert haben sollen wie die Singvögelchen, unterbrach sie ihr Mann.
»Nun ist es aber genug der Ammenmärchen, meine Liebe. Unser junger Mann hier ist schon ganz blass um die Nase. Hatten sie Bekannte auf der Cimbria?«
***
Drei weitere Tage später zählte Gustav die Stunden, die er noch auf dem Schiff verbringen musste. Die Neuigkeiten zum Untergang der Cimbria und wie er dem sicheren Tod nur um Haaresbreite entkommen war, steckte ihm in den Gliedern. Vergeblich hatte er in der bordeigenen Bibliothek nach einer aktuellen Zeitung vom Tag ihrer Abreise gesucht, um herauszufinden, ob sein Bekannter Moritz Strauss umgekommen war. Der Darmstädter Kaufmann hatte wie er eine Kajüte in der ersten Klasse gebucht und war ebenfalls in Geschäften unterwegs. Doch er war nicht fündig geworden.
Als die Skyline von New York vor ihm auftauchte, ahnte er betroffen, dass seine Familie noch immer in heller Aufruhr war. Bis die Briefe, die er dem Kapitän seines Schiffes übergeben hatte, im Vogtland ankämen, würden noch mal Wochen vergehen. Seine einzige Hoffnung bestand darin, dass sich der Vater mit der Reederei in Benimm gesetzt hatte und von dort längst die ersehnte Aufklärung gekommen war.
Wie gut wäre es doch, man könnte verlässlich ein Kabel schicken, wie auf dem Festland, dachte Gustav grimmig und erinnerte sich der langwierigen Versuche diesbezüglich. Zwar gab es seit 25 Jahren ein Kabel tief drunten am Boden des Atlantik, doch die Übertragung von Informationen hatte anfangs nicht länger als ein paar wenige Wochen zuverlässig funktioniert. Danach musste die Verbindung zwischen dem europäischen und amerikanischen Telegrafennetz wieder aufgegeben werden. Siemens hatte dann einen weiteren Vorstoß gewagt und gut isolierte Unterwasserkabel verlegt. Damit begann die Vernetzung der großen Hafenstädte aller Kontinente. Einheitliche Standards in der Telegrafie gab es jedoch nicht und so empfand er es noch immer als ein Wagnis, wenn man sich auf diese kostspielige Art der Kommunikation verließ.
Es fuhr ihm in den Magen, wenn er an Lydia dachte. Wie schrecklich müssen die ungewissen Tage für sie gewesen sein? Er hatte ihr ausführlich geschrieben, obwohl es stattliche zwei Wochen brauchen würde, ehe sie die Nachricht in den Händen hielt. Doch er war sicher, sie würde seine persönlichen Zeilen zu schätzen wissen. Neben seiner Zuneigung, derer er sie versicherte, schilderte er seine beschwerliche Reise und war erleichtert, die Cimbria verpasst zu haben. Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre. Lydia hatte ihn im Vorfeld wahrlich in seinen Ambitionen bestärkt und wäre es ihre Entscheidung gewesen, auf diese verwegene Reise begleitet.
Hätte ich ihr nachgegeben, wären wir jetzt tot, dachte er. Sie hatte vorgeschlagen, Silvester mit Bekannten in Hamburg zu feiern und danach gemeinsam die Cimbria zu besteigen. Das wäre unser Ende gewesen, sinnierte er und musste ob seines verdammten Glücks schmunzeln. Bloß gut, dass ich mich durchgesetzt habe. Es hatte ihm einiges abverlangt, denn Lydia war von Anfang an forsch und unkonventionell aufgetreten.
Noch nie war ihm so eine fordernde und doch auch zugewandte junge Frau begegnet. „Ambitioniert“ war die richtige Beschreibung für sie, mit der ihn auch Robert Arnstädt eines Abends vor ihr gewarnt hatte. Doch er gab nichts auf das Gerede von Männern, die abgewiesen worden waren. Denn das hatte Lydia ihm glaubhaft dargelegt. Anders als Robert es ungefragt überall herumerzählte, schien sie die Verlobung mit ihm gelöst zu haben.
Doch seine Eltern und vor allem Helene hatten ihn überzeugt, dass eine gemeinsame Reise für Lydia kompromittierend sei und generell nicht opportun. Und er hatte eingesehen, dass sie recht hatten. Lydia war erst seit dem Abend auf Schnorrs Festivität im Oktober an seiner Seite. Sie waren weder verlobt noch verheiratet und eine Reise mit ihr wäre wohl auch beschwerlicher als allein. So musste er keine Rücksichten nehmen und um ehrlich mit sich selbst zu sein, wusste er, sie hätte ihn abgelenkt. Zu sehr lechzte es Lydia nach Ausgehen, Soireen und Konzerten, Opernabenden und allen Vergnügungen, die es in einer Stadt wie New York zuhauf geben würde.
Er musste und wollte sich auf seine Arbeit konzentrieren. Ein Fehler wie bei seiner ersten Englandreise, als er weit mehr Verträge abgeschlossen hatte, als sie hatten ausführen können, durfte ihm nicht unterlaufen. Und so hatte er ihr abgesagt. Schmollend und säuselnd hatte sie ihn an diesem Abend fast verführt. Ihr war alles recht, um ans Ziel zu kommen, sie kannte weder Scham noch Regeln, wenn es um ihren Dickkopf ging. Erinnerte er sich an diesen Abend, wunderte er sich über sich selbst. Nicht jeder Mann hätte ihren Verführungskünsten widerstehen können.
Über Lydias unkonventionelle Art grübelnd, kam ihm sofort seine Mutter in den Sinn. Sie schien mit seiner Wahl zu hadern, brachte es aber nicht übers Herz, Bedenken auszusprechen oder gar Vorwürfe zu machen.
Zu sehr hing sie ihrer harschen Absage an seine letzte große Liebe nach. Ihre damalige Ablehnung hatte ihn veranlasst zu zögern, sich zu hinterfragen, bis alles in einem unsäglichen Streit und einem tödlichen Unfall gemündet war. Tabeas Tod hing ihm noch immer nach. Dachte er an sie, überkam ihn die unfassbare Traurigkeit über eine verlorene Chance. Es wurde ihm eng in der Brust.
Das lag nicht nur an seiner Bronchitis, sondern auch an dem Wissen um Mutters labile Konstitution. Frau Leonhard hielt ihn heimlich über die regelmäßige Einnahme dieser Schlafmittel auf dem Laufenden, vor denen ihn Doktor Merk gewarnt hatte. Die Kur, zu der seine Eltern hatten aufbrechen wollen, hatten sie jetzt sicher nicht angetreten. Was für ein Schlamassel, dachte er und hoffte, dass die Familie von der Reederei über seine Umbuchung informiert worden war. Oder sollten sie einer Tageszeitung habhaft geworden sein? Waren Sie in heller Aufruhr?