Leseprobe Der Stoff der Hoffnung | Die historische Familiensaga im 19. Jahrhundert

Kapitel 1, Juli 1881, Gut Hohenlinden bei Adorf im Vogtland

Helene

Es war eine fast vergessene Beschwingtheit, die Helene zu Hohenlinden in diesen prallen Sommertagen aufhorchen ließ. Mit aller Macht schien ein Gefühl hervorzubrechen, das tief in ihr geschlummert hatte. Sie wähnte es verloren, traute ihm noch nicht, doch sie wagte ein Lächeln.

Die Unbeschwertheit ihrer Kindheit kam in einem neuen Gewand daher. Es fühlte sich nicht so leicht an wie früher, über allem lag dieser Hauch von Erfahrung, den sie nun hatte. Es war erfreulich, nicht mehr ausgeliefert zu sein, abwartend und passiv die Tage zu durchträumen. Das neue Gefühl, gebraucht zu werden, der Friede, der sich einstellte, wenn sie ein Spitzenmuster fertiggestellt hatte, beruhigte und belebte sie gleichermaßen. Staunend gestand sich Helene ein: Die trüben Tage im Advent und in den ersten Monaten dieses Jahres könnten endgültig vorbei sein.

»Ich muss mir nur mehr zutrauen«, murmelte sie vor sich hin.

Erleichtert stellt sie überdies fest, dass sich die angespannte Atmosphäre in ihrem Elternhaus aufzulösen schien. Ihre Schwester Johanna war nach ihrem Unfall vollständig genesen, nur manchmal bereiteten ihr die tauben Fingerkuppen noch Probleme. Die Ehe der Älteren hatte durch das unseriöse Geschäftsgebaren ihres Schwagers gelitten, doch Johanna nannte es eine Prüfung und stellte sich dieser mit großer Entschlossenheit. Stirnrunzelnd erinnerte sich Helene an die Verlorenheit ihrer Schwester in diesen Tagen des Zweifelns.

»Scheitern ist für mich keine Option«, hatte sie ihr an Silvester anvertraut und mit einer für sie untypischen Bemerkung geschlossen: »Vielleicht ist es ein Kompromiss, der uns weiterbringt, so hoffe ich wenigstens.« Johanna hatte geklungen, wie jemand, der sich nur schwer aufraffen konnte, zweifelte und schien ihr abgestumpft. Manchmal erkannte sie sie gar nicht wieder, wollte sie schütteln und anschreien, fragte sich, wohin ihr Esprit verschwunden war. Wie war es möglich, dass die leidenschaftliche Johanna, die Frau mit dem Vorwitz und dem kehligen Lachen, betäubt durchs Haus lief? Nun, ein halbes Jahr später, war ihre Schwester mit ihren Entscheidungen zufrieden. Obwohl Helene mit diesen Zugeständnissen haderte, war sie froh, sie so zu sehen. Gelöster und nach vorn schauend.

»Wir werden alles hinter uns lassen, neu anfangen, ich will nichts aufkochen und zerreden. Was soll das bringen? Jetzt kann August beweisen, wie wichtig wir ihm sind. Er weiß, was auf dem Spiel steht«, hatte sie mit Bestimmtheit gesagt.

»Vergeben und vergessen, das ist es, was du möchtest?«, hatte Helene flüsternd nachgefragt und war über die aufbrausende Antwort noch immer erstaunt.

»Was denkst du denn von mir? Ich kann nicht vergessen, aber gibt es eine Wahl? Darf ich unsere guten Zeiten einfach so verdrängen, ich habe ihn ja geliebt. Davon muss irgendwo etwas übrig sein.«

»Bist du dir nicht sicher?« Für Helene hatte das alles flehend geklungen, voller Angst und so hatte sie ihre Schwester provoziert. »Ich meinte, du wüsstest es besser.«

Doch Johanna hatte sie nur angestarrt und wortlos den Raum verlassen. Dass sie danach für einige Tage nur das absolut Notwendigste mit ihr gesprochen hatte, war ein Novum für sie beide gewesen.

Bei diesen Gedanken an ihre große, einst mutige Schwester, schauderte es Helene und obwohl sich ihr Schwager August seither um einen liebevollen Umgang mit Johanna und der kleinen Esther bemühte, gar seine Besuche in den Gasthäusern der Stadt einschränkte, nahm sie ihm den geläuterten Mann für keine Sekunde ab. Er könnte nach außen als treu sorgender Familienvater durchgehen, resümierte Helene und schüttelte angewidert den Kopf. In manchen Momenten öffnete sich hinter seinem zugewandten Blick jedoch ein dunkler Abgrund für sie, gab ihr Zugriff auf sein berechnendes Wesen. Ob er wollte oder nicht, sie durchschaute ihn. Doch sie war genötigt, sich mit ihm zu arrangieren. Wegen Esther und um Johannas Willen.

Vater und Mutter waren profaner zufriedenzustellen als sie selbst. In der Ehe der ältesten Tochter scheint rein äußerlich alles erfreulich, bemerkte ihre Mama neulich und Details wollte sie nicht wissen. Nachdem im vergangenen Jahr mehrere Erpresserbriefe im Hause zu Hohenlinden auftauchten, war die Familie in Aufruhr gewesen und mit dem tätlichen Angriff auf Johanna erreichte die unheilvolle Stimmung einen unschönen Höhepunkt. Helene stellte Augusts Machenschaften offen an den Pranger, Johanna spionierte ihren Mann aus, doch der Vater hatte sich erst spät dem Problem gestellt. Dann war er rücksichtslos vorgegangen, hatte versucht, aufzuklären, was schon so lange im Argen lag. August konnte nicht mehr umhin, sich vor der gesamten Familie zu erklären, und war genötigt, endlich mit seinen Spielchen aufzuhören.

Es war ein unschöner Abend gewesen. Der Schwager wand sich, hatte sich in Ausflüchten versucht und man hatte Johanna angesehen, wie sie unter dieser Situation litt. Zusammengekauert saß sie auf ihrem Stuhl und sah niemanden an. Die Schultern eingezogen, hielt sie den Kopf gesenkt und der Anblick ihrer in sich verlorenen Schwester trieb Helene noch immer die Wut in die Adern.

Ihre liebevolle Johanna, bis vor dem Unfall unerschrocken und auf der Suche nach der Wahrheit, hatte sich für ihren Mann geschämt, anstatt sich aufzulehnen oder ihn anzuprangern. Die nicht zu übersehende Abgebrühtheit ihres Gatten, der einen ehemaligen Angestellten hatte niederschlagen lassen, verletzte ihre geliebte Schwester in ihrer reinen Seele. Was August in seiner Hinterlistigkeit sonst noch angerichtet hatte, war keinem klar und niemand in dieser Familie hatte die Courage, es herauszufinden. Für ihre Eltern war der berühmte Mantel des Schweigens auch hier probates Mittel für den Frieden unter ihnen. Man war peinlich darauf bedacht, alles ruhen zu lassen, hoffte auf Normalität und ging zur Tagesordnung über.

Ich hatte damals mit mir zu tun, kaum dass ich meine eigenen Gefühle einschätzen und leiten konnte, grübelte sie und griff nach dem Bernstein, der sie seit ein paar Jahren begleitete und schützte.

Helene bezweifelte, ob es Johanna gelingen würde, zu einem leichten, beschwingten, ja erfüllten Eheleben zurückzufinden, doch sie wünschte ihr nichts mehr als das. Mehr noch, sie war sich ihres ureigensten Interesses bewusst, dass sie antrieb, auf einen erfreulichen Ausgang für die beiden zu hoffen.

Was würde sonst aus ihr und Esther, wenn sich Johanna und August nicht arrangierten? Diese Frage hatte sie in den vergangenen Monaten viele Nächte beschäftigt, doch das Schlimmste schien abgewendet. Ihre Schwester erwartete endlich ein eigenes Kind. Nun würde alles gut werden.

Gedanklich verweilte sie kurz beim Antlitz der kleinen Esther, erinnerte sich an den gestrigen Ausritt mit ihr. Es schien, als könne sie die Wärme des schmalen Körpers verspüren. Einzig zu sehen, wie sie danach aufgeregt auf Johanna zugelaufen war und freudig mit ihr geplappert hatte, ließ sie jetzt zusammenfahren.

»Mama, schau. Tante Lene hat mich mitgenommen. Oben auf Gold durfte ich sitzen und sie hat mir die Kürbisbäume gezeigt, die tief im Wald wachsen«, hatte sie mit geröteten Wangen gesagt und sich dabei an ihre Schwester geschmiegt und mit den kleinen Fingerchen auf den Hengst gedeutet. Johanna hatte fragend die Stirn gekräuselt, doch Helene schüttelte kaum merklich den Kopf. Von Nale, der Maus, Lulu, dem Küken und deren Behausung in den verwunschenen Bäumen der Sternengalaxie würde sie ihrer Schwester später erzählen. Dieser Moment aber, wenn sich die Kleine zu ihrer nicht leiblichen Mama rettete, fiel ihr selbst nach zwei Jahren noch schwer. Und doch lächelte sie über den unbeholfen ausgesprochenen Namen des Pferdes.

»Er heißt Golden, mein Schatz«, hatte sie geduldig erklärt und nichts als ein entwaffnendes Lächeln bekommen. Und doch war das eine Menge. Sie war gesegnet, ihr uneheliches Kind in solch unmittelbarer Nähe aufwachsen zu sehen und der gesellschaftlichen Schmach entgangen zu sein. Das war so viel mehr, als sich andere Frauen in ihrer Situation wünschen durften.

Und doch haderte sie mit ihrer Rolle als Tante. Du bist selbst schuld, schalt sie sich, verfluchte ihre Dummheit, die sie in die Arme des talentierten, aber untreuen Stargeigers Curt Blasewitz getrieben hatte. Die Frucht dieses amourösen Abenteuers war über zwei Jahre alt und ihre Schwester für Esther eine liebevolle Mutter geworden.

Obwohl sie das Kind täglich sah, mit ihr sprach und spielte, sie hochnahm, an sich drückte und jeden Moment genoss, war sie nicht ihre Mutter, sondern nur Tante Helene. Der Tag, an dem ihr bewusst wurde, dass sie für immer ein Zuschauer bleiben würde, keine Entscheidungen für ihr Kind treffen würde, war hart gewesen. Es hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen, ihn buchstäblich in ein Eisfeld verwandelt. Sie würde ein Leben lang darauf schlittern, ausrutschen, sich die Knie blau schlagen und immer am Rand stehen. Denn das Geheimnis um Esthers wahre Herkunft musste gewahrt werden. Ihr Verstand packte all das in eine luftdichte Kiste, sie zog den Schlüssel ab, doch bevor sie ihn wegwerfen konnte, meldete sich ihr kindisches kleines Herz. Es klopfte nicht an, es schrie so laut, dass es jeder hören sollte. Wenn sie es mit Erpressung versuchte, verbündete es sich mit ihrem Magen, schoss Verzweiflung als stärkste aller Emotionen in alle Fasern ihres Körpers.

Sie blieb gelähmt zurück, außerstande, die Kiste für immer zu schließen. Sie würde den Schlüssel niemals wegwerfen, das hatte sie mittlerweile verstanden.

Mit all dem könnte ich mich langsam arrangieren, schoss es ihr durch den Kopf, wäre da nicht Mutters permanente Nörgelei. Sie streckte sich ausgiebig auf der Bank und rückte in die Sonne. Die ständige Erwähnung ihres heiratsfähigen Alters und der vielen Vorteile, die eine standesgemäße Bindung für sie hätte, betrübte Helene. Auch ihr Vater war mittlerweile von Mutter auf den Plan gerufen und bedrängte sie.

»Ich werde mich nicht mit deinen Fabrikantensöhnchen treffen, Papa«, hatte sie ihm erst vor wenigen Tagen an den Kopf geworfen und sich sogleich für ihr ungestümes Verhalten gescholten.

»Ich bin mir nicht sicher, mein Kind, wie das zu verstehen ist. Du bist eine hervorragende Partie und das sage ich nicht, weil du aus unserem Hause stammst«, hatte er seine Phrase sofort abgemildert. »Aber deine Weigerung, am Leben teilzunehmen, ist für Mutter und mich gelinde gesagt, schwer auszuhalten.«

Helene war sich nicht sicher gewesen, worauf er hinauswollte, denn anders als noch vor ein paar Monaten ging sie derzeit fast täglich aus. Sie spazierte ausgiebig im angrenzenden Park, hinauf zum Schloss oder hinüber in die Auen unterhalb des Streitsberges. Sie stattete der Fabrik jeden Tag einen Besuch ab und das ließ sie ihn auch wissen.

»Aber das ist ja das Problem, Lenchen, du musst nicht arbeiten. Ich bin mir sicher, Stickmeister Gröber wird über kurz oder lang den Trick für die neue Spitze raushaben. Wir würden es begrüßen, wenn du ausgehst, auf Bälle, Einladungen annimmst.« Seine Gesichtszüge wurden weich, als er ihr davon erzählte, wie Mutter und er sich kennengelernt hatten, wie er wochenlang um sie warb und sie sich als Paar fanden.

»Das wünsche ich mir so für dich. Genieße deine Jugend«, schob er leiser hinterher und nahm ihre Hand.

»Jetzt da alles geregelt ist, kannst du wieder unser quirliges, lebenslustiges Hottehü sein.« Ihr Vater hatte sie erfreut angesehen, so als ob ihm gerade der Coup des Jahrhunderts eingefallen wäre.

Helene hasste es, wenn er von alles geregelt sprach, meinte, sie könne mir nichts, dir nichts alles vergessen. Er verstand sie nicht, und sie antwortete ihm harsch und aufmüpfig. »Du meinst, das gefallene Mädchen solle zur Tagesordnung übergehen, endlich den richtigen Schritt tun, damit man mit alldem abschließen kann? Hast du Angst, dein angeschlagenes Porzellan käme in die falschen Hände, wenn du zu lange wartest, es abzutreten?« Er war schockiert gewesen und hatte sie sanft an der Schulter gefasst. Etwas in ihr versteifte sich, glaubte gar, er wollte sie schütteln und so machte sie sich frei. »Wie viel Zeit bekomme ich? Gibt es eine Schonfrist im Umgang mit gefallenen Mädchen oder habe ich die schon überschritten?« Damit hatte ihr Vater nicht gerechnet, sein Gesicht schien wie eingefroren und man sah ihm an, wie unangenehm die Situation für ihn war. Doch Helene konnte nicht aufhören. »Wollt ihr mich loswerden, solange ich stabil erscheine?«

»Nein, mein Kind, niemand will dich loswerden. Wir gingen davon aus, dass du dich arrangiert hast. Deine Zukunft liegt offen vor dir, du brauchst unsere Einwilligung nicht, kannst tun, was dir beliebt, heiraten, wen du willst, ich …« Er stockte und schloss für eine Sekunde die Augen. Aufmerksam beobachtete sie ihn und war sich nicht sicher, wohin das Gespräch sie führen würde. Hatte er einen passenden Heiratskandidaten im Sinn oder sprach er nur hypothetisch? Sie musste ihm zuvorkommen.

»Es ist schwer vorstellbar, mit meinem Geheimnis eine Ehe einzugehen, Vater. Unbeschwert tanzen, flirten, mir einen Mann aussuchen, das ist so weit weg.«

Sie hatte gehofft, ihn zum Schweigen zu bringen, oder nachdenklich zu stimmen, aber er hatte sich nicht mit ihrem wütenden Ausbruch zufriedengegeben. Ihr Papa, ihr lieber Papa, hatte mühsam versucht, sie davon zu überzeugen, dass das Leben noch viel für sie in petto hatte. Dass es nicht vorbei war und schon gar nicht für sie – seine talentierte, kluge Tochter.

»Es ist undenkbar für uns, dich allein zu wissen, mein Kind. Sollte ich einmal nicht mehr sein, wer wird sich dann kümmern? Du unverheiratet und …«

»Du willst mich beschützen und das ehrt dich, Papa. Aber ich habe Johanna, Gustav, Hannelore. Ich bin nicht allein, werde es nie sein und außerdem kann ich gut auf mich selbst aufpassen. Und wer weiß, vielleicht kommt irgendwann der Prinz auf einem Schimmel am Gut vorbei und reißt mich von den Füßen.« Sie hatten gelacht und Vater hatte ihren humorigen Einfall als Zeichen gedeutet.

»Wenigstens glaubst du noch an Prinzen und das einer auf dich wartet, du scheinst also nicht ohne Hoffnung zu sein«, hatte er in ihr Ohr geflüstert.

Das Abstruseste daran waren ihre eigene Gefühle, denn sie war ganz und gar nicht unglücklich. Gerade lüftete sich der Schleier der Schwere, der Ausweglosigkeit. Dass sie auf die anderen so wirkte, betrübte sie und dass ihr Papa darunter litt, umso mehr.

Es scheint, meine Schonzeit ist vorbei, sann Helene missmutig und rieb den goldfarbenen Bernstein an ihrer Halskette. Wie so oft, wenn sie auf dem Landgut erwachte, hatte sie den Stein am Morgen auf ihr Fensterbrett gelegt und sich vorgestellt, wie er die Kraft der Sonne einfing und sie tagsüber an sie abgab. Die Vorstellung, so mit der Natur verbunden zu sein und die Stärke des gleißenden Lichts in sich zu spüren, erfüllte sie mit einer tiefen Ruhe.

Einer Ruhe, die anders als vor Monaten einen beschwingten Gleichmut in ihr auslöste. Ach, wenn sie doch in der Lage gewesen wäre, diese Gefühle in Worte zu fassen. Ihr Papa wäre weniger verzagt aus ihrem Gespräch gegangen.

 

Sachte bemerkte sie Goldens Maul an ihrem Arm. Der Hengst, ihr seit Kindertagen vertraut, stupste sie an und Helene riss ihm ein Büschel frisches Gras ab. Sie hielt es dem Braunen vor die Nüstern, der schnaubte zufrieden, öffnete sein Maul und schon zupfte er ihr das Grün aus der Hand und man hörte seine kräftigen Zähne mahlen.

Ihr Blick schweifte in den Himmel über ihr und mit einem tiefen Atemzug sog sie die frische Luft ein, zog dabei die Schultern hoch und krauste genüsslich ihre Nase. Die Wölkchen im endlosen Blau tanzten eine wilde Choreografie und schienen ihr eine Geschichte erzählen zu wollen.

Doch Helene war nicht bereit fürs Wolkenkuckucksheim, ihre neu gewonnene Sicherheit war fragil. Deutlich spürte sie die Narben und Blessuren an Körper und Seele, die sie erfahren hatte.

Eben erst war sie aus einem tiefen Tal herausgestiegen und verstand zaghaft, dass ihre Schwester etwas Unglaubliches für sie getan hatte. Johanna hatte die kleine Esther aufgenommen und umhegte diese wie ihr eigen Fleisch und Blut, bemutterte und hütete sie und gab ihr Bestes, um Helene mit einzubeziehen. Der Schwager hatte ihrer beider Unterbringung in der Abgeschiedenheit der Schweizer Berge arrangiert, unbehelligt hatte sie entbinden können und August und Johanna gaben die Kleine seither als ihr Kind aus.

Es war schwer gewesen, die Gefühle beider Seiten in Einklang zu bringen. Wäre es nur um die Schwestern gegangen, hätten sie ein anderes Zusammenleben arrangiert. Doch August, die Eltern, die Gesellschaft hatten einen gewissen Abstand eingefordert, der Helene an die Grenze ihrer emotionalen Belastbarkeit gebracht hatte. Der tiefe Riss, der seither in ihr war, teilte ihr Leben in Vorher und Nachher, wobei sich die Zeiten vermischten, verwoben und aneinander aufrieben. Narbengewebe hatte sich gebildet, war über die Risse gewandert, zog und zerrte an ihr, denn geheilt war sie nicht.

Zum Wohle aller, verstand sie heute, musste sie ihre Narben schützen, sie pflegen, jedoch nicht an ihnen reißen. Denn sie durfte dem fragilen Glück ihrer Schwester und somit ihrer Tochter nicht im Wege stehen.

Ich bin die mit den unsichtbaren Narben, die zusieht, an der Seite steht und ab und an ein wenig Tante spielen darf. Mehr nicht. Das hatte sie auswendig gelernt. Wie ein Mantra wiederholte sie diese Sätze: Ich bemühe mich, dankbarer zu sein, atme den Frieden meines kleinen Glücks und höre auf, alles zu wollen.

Grübelnd bestieg Helene ihren treuen Hengst und ritt hinunter zum Gut. Sie murmelte das Mantra vor sich hin und die gleichförmige und vertraute Bewegung versetzte sie wieder in eine abgeklärte Ruhe. Entspannt schaute sie zum Haus, bemerkte offene Fenster, wehende Gardinen, hörte Rufe aus dem Innenhof. Doch kurz vor dem Tor schweifte ihr Blick hinüber zum Weiher und ganz spontan lehnte sie sich leicht seitlich in den Sattel, zog die Zügel an und wendete. Der Gaul trottete genügsam unter dem Druck ihrer Schenkel und wackelte sachte mit dem Kopf.

Kurz darauf sah sie die glänzende Oberfläche des Weihers, bückte sich unter herabhängenden Ästen hindurch und ein Lächeln zog in ihre Mundwinkel. Die Sonne beschien die hiesige Seite des glitzernden Wassers, der hölzerne Steg lag grau und ausgebleicht im güldenen Licht. Es war perfekt wie immer, nichts schien diesen Ort jemals aus dem Takt zu bringen. Hier waren alle Narben einfach nur Teil ihrer Geschichte. Sie fühlte die Zerrissenheit, doch sie vertraute ihrem Gefühl. Mit einem Sprung ins kühle Nass würde sie heilen.

Schwungvoll stieg sie ab und geleitete das Pferd unter den Weiden entlang, bis sie aus dem Sichtfeld des Gutes heraus war. Dann band sie das Tier fest und beobachtete, wie es sofort von dem saftigen Gras fraß. Schnell sah sie nach, ob noch immer der kleine Eimer am vorderen Pfosten des Steges angebunden war und schöpfte damit frisches Wasser für Golden.

Leichtfüßig raffte sie ihre Röcke und überlegte nur kurz, bevor sie sich ihrer Schuhe und Strümpfe entledigte. Barfüßig tapste sie über die warmen, wettergegerbten Holzplanken, krümmte die Zehen und ohne es herbeizusehnen, kamen die Eindrücke ihrer unbeschwerten Kindheit zurück.

Die Wellen erzählten Geschichten, wie kurz zuvor die Wolken. Doch im Unterschied zu vorhin empfand sie die rauschenden Blätter, die sacht übers Wasser strichen und die Libellen, die tanzend ihre durchsichtigen blauen Flügel bewegten, als sehr poetisch. Es schien ihr wie ein Gedicht, vorgetragen mit leiser, zärtlicher Stimme, das in ihrer Erinnerung die Geschichte ihrer Jugend spann. Deutlich spürte sie den Riss, der ihre unbeschwerten Jahre vom Heute trennten, und sie schüttelte missmutig den Kopf.

Tief seufzend ließ sie sich am Rand des Steges nieder und tauchte zuerst nur ihre Zehen in das kühlende Nass. Das Wasser war lauwarm und samtig. Wie ein pflaumenblauer Seidenschal, der sich wellenförmig um ihre Füße schlang und ihre Haut kitzelte. Aufgeheizt von einem warmen Sommertag, lockte es sie und sofort überkam sie diese unbändige Lust.

Sie schaute prüfend zurück, blickte nach rechts und links und versicherte sich, dass niemand draußen vor dem Gut auf den Feldern arbeitete. Dann entledigte sie sich kurz entschlossen ihres Rockes und der Bluse. Nur in ihren Unterkleidern stieg sie langsam Schritt für Schritt durch das moorige, glibberige Ufer und glitt schnell in das kühlende Nass. Das Wasser umspülte ihren aufgeheizten Körper, die Tropfen webten jede Faser ihrer Haut wie in ein erfrischendes Laken aus gestärktem Batist. Dann war da kein Boden mehr unter den Füßen, sie schwamm einige zaghafte Züge und merkte zu ihrer Freude, dass sie getragen wurde.

Eine langvergessene Schwerelosigkeit, die Körper und Geist gleichermaßen erfasste, beschied ihr ein sachtes Kribbeln auf der Haut und sie prustete vor Freude. Fast gleichzeitig entströmte ihren Muskeln eine versteckt gewesene Kraft. Mit jedem Meter, den sie schwamm, empfand sie mehr Energie. Wassertropfen spritzten auf ihr Gesicht. Vor ihr verwandelten Sonnenstrahlen die Wasseroberfläche in eine silberne Scheibe. In wildem Reigen vereint, schwangen sich einige wenige Mücken andächtig auf und nieder. Es schien Helene, als würden sie von unsichtbaren Fäden gezogen und sie tanzten einzig für sie.

Sie lächelte, angetan von der Virtuosität, tat ein paar kräftige Züge, drehte sich herum, legte sich auf den Rücken und tauchte verwegen ihren ganzen Kopf mitsamt ihrem Haar in das kühlende Wasser. Es war fulminant, so prustend und erfrischt wieder aufzutauchen. Das hatte sie vermisst. Warum habe ich das aufgegeben?, fragte sie sich erschrocken, um mit jedem Atemzug intensiver und klarer das Bild ihrer Tochter vor sich zu sehen. Für sie lohnte es sich, tüchtig und robust zu werden, mit den Gezeiten zu kämpfen und den Wassergeistern zu widerstehen. Für sie allein würde sie das Beste dieser beiden Welten suchen, in denen sie lebte. Sie würde sie an die Schönheit der Natur heranführen, ihr zeigen, wie sie alles bestimmt und wie unerlässlich es war, sie zu bewahren. Doch über dem stand ihre Begeisterung für die aufregende Welt in der Stadt. Die wachsenden Metropolen, Technik, die es zu beherrschen und zu gestalten galt, Fortschritte in der Wissenschaft, die man nutzen und beeinflussen konnte. Kultur, die unseren Geist nährt, das Arsenal an Möglichkeiten war unendlich und sie wollte für ihre Tochter nichts mehr als das Beste aus beiden Welten.

Sie lachte befreit und mit ausgebreiteten Armen paddelte sie, nur leicht mit den Füßen schlagend, dahin. Ihr Blick glitt nach oben, an den Weiden und den Bäumen, die das Ufer säumten, entlang, hinauf in den kristallblauen Himmel. Kein Wölkchen war mehr zu sehen. Nicht wie vorhin oder damals, als auf dem Fest auf einmal die Wolken aufzogen und dann … Nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

Sie schüttelte den Gedanken an den Tod ihrer Großmama Karoline ab und paddelte weiter. Immer auf dem Rücken. Atemzug für Atemzug sog sie die warme Sommerluft ein, presste sie wieder heraus und dann drehte sie sich erneut. Sie schwamm mit der Nase kurz über dem Wasser und entdeckte abermals tanzende Mücken. Sie glitten auf und ab, wie tausend glitzernde Sternchen schwebten sie vor ihr über die Wasseroberfläche, spiegelten sich in den kleinen Wellen, die durch ihre Bewegung vor ihr aufsprangen.

Ein warmes Gefühl durchströmte sie. In diesem Augenblick war ihr Leben atemberaubend. Auf einmal mutmaßte sie, wie Freiheit schmeckte und wie sie mit den Zwängen, den Erwartungen umgehen konnte. Sie wollte sie selbst sein, ihrer Arbeit nachgehen, neue Muster entwerfen und für ihre Familie da sein. Ein Leben ohne jegliche Ambition auf dem Landgut kam nicht infrage.

In ihren Traum aus Schwerelosigkeit drang ein Rufen. Nur leise, zögerlich und anfangs kaum wahrnehmbar. Sie reagierte mit einem Stirnrunzeln, tastete mit den Fingern nach ihrem Bernstein, der seit Jahren an der goldenen Kette um ihren Hals hing und beruhigte sich. Er war da, würde sie beschützen, nichts konnte geschehen.

Das Rufen wurde lauter und panisch drehte sie sich um ihre eigene Achse, suchte auszumachen, woher die Stimme kam. Tastete mit ihrem Blick die Wasseroberfläche ab. Doch in Richtung Steg blendete sie die Sonne, Fische sprangen in unmittelbarer Nähe zu ihr auf und schon war sie kurz abgelenkt. Dann begann sie zurückzuschwimmen. Leise hörte sie von dort drüben die Stimme. Und jetzt erkannte sie, wem sie gehörte.

»Bleib stehen«, rief sie Esther in heller Aufregung zu und sah, dass das Kind durch das Rufen auf dem Steg in ihre Richtung lief.

»Lene, wo bist du? Esther hört Lene.«

Das kleine Mädchen rief nach ihr, tapste immer weiter. Schon ging sie in die Knie und robbte über die blanken Bohlen. Sie war allein, hockte auf den Knien und streckte ihre Ärmchen aus. Helene hörte sie wieder rufen: »Tante Lene, Tante Lene.« Helene atmete ein paarmal hintereinander schnell ein und aus, strampelte energisch gegen das Gewicht ihrer nassen Unterkleider an. Sie meinte, ihr versage das Herz. Sie rief, sie prustete, sie tauchte unter, kam zurück an die Oberfläche und schwamm. Sie schrie Esther zu, stehen zu bleiben, nicht weiterzugehen. Paddelte hektisch und Zug um Zug kam sie näher ans Ufer. Ihre Muskeln spannten sich verzweifelt, sie setzte alle Kraft frei, die sie in sich hatte.

Doch Esther hörte nicht, blieb nicht stehen. Helene sah, wie sich das Kind jetzt am Ende des Steges angekommen, hinkniete und nach vorn beugte. Sie zeigte mit ihren kleinen Fingern auf irgendetwas, was sie im Wasser entdeckt hatte, und schon verlor sie das Gleichgewicht.

Das Kind, das bar jeder Angst zu ihr gelaufen war, fiel kopfüber in den Weiher. Ihr rosa Röckchen bauschte sich auf und Helene erkannte schemenhaft den Tüll, die Füßchen, dann nichts mehr.

Mein Kind hängt an dem rosa Rock, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf. Ein Ärmchen kam aus dem Wasser heraus und verschwand wieder. Ein Strudel entstand um das Röckchen und Helene presste ihre Augen zusammen, um genauer zu sehen, wo das Mädchen jetzt war. Jede ihrer eigenen Bewegungen schien hölzern und kraftlos, sie hatte den Eindruck, als käme sie kaum vom Fleck. Hartnäckig rief sie laut um Hilfe, während sie schwamm.

Nach einem weiteren kräftigen Zug war sie dann bei Esther. Sie griff in das dunkle Nass, erwischte ihr Kind bereits beim zweiten Mal am Arm, zog daran, bekam sogleich den Rumpf zu fassen, packte sie grob und hob sie hoch. Soweit sie konnte, schob sie das Mädchen aus dem tödlichen Wasser. Sie pustete Esther die Haare aus dem Gesicht und qualvolle Millisekunden lang, fürchtete sie um das Leben ihrer Tochter.

Sie drückte sie an sich, während sie verzweifelt einen Krampf unterdrückte. Die überbordende Anstrengung ließ sie japsen und dennoch schob sie ihre Arme wieder von sich. Esther war nicht bei Bewusstsein. Selbst hektisch mit den Beinen strampelnd und mit den nassen Kleidern kämpfend, ruderte sie gen Ufer. Das Mädchen hatte sie unter den Armen gefasst, hart an sich gepresst und peinlich darauf geachtet, dass ihr kleines Gesicht über dem Wasser blieb. Auf einmal öffnete Esther die Augen und sah sie erschrocken an. Dann atmete sie endlich und schrie krächzend.

Helenes nächster tiefer Atemzug flutete sie nicht nur mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff, sondern mit Energie und unbändigem Kampfgeist. Sie presste die steife Esther fest an sich, klopfte ihr auf den Rücken und watete auf das Ufer zu. Schon spuckte die Kleine Wasser. Sie hieb weiter auf den schmalen Oberkörper ein und sie spie noch immer. Mittlerweile waren sie durch den sumpfigen Morast auf die Wiese hinausgestiegen und sie legte Esther vorsichtig auf den warmen Holzbohlen des Steges ab. Sie schrie nicht mehr, sondern begann vor Aufregung wie Espenlaub zu zittern. Ihre unnatürlich weit geöffneten Augen sahen sie verblüfft an und schienen etwas zu fragen. Doch Helene rollte sie auf die Seite und rieb ihr instinktiv den Rücken. Dabei lief noch einmal Flüssigkeit aus dem Mund des Kindes. Von da ab beruhigte sich Esther und reckte Schutz suchend ihre Ärmchen nach ihr. Dann lächelte sie und sagte: »Tante Lene schwimmen im Wasser. Wie das Hupsilein.«

Wieder und wieder hatte Helene in den vergangenen Wochen der Kleinen das Märchen vom hässlichen Entlein vorlesen müssen. Zwar verstand Esther die ernsten Hintergründe in Andersens Geschichte noch nicht, doch rührte sie der einsame Schwan. Und sie drängte darauf, ihm diesen Namen zu geben.

»Warum denn Hupsilein?«, hatte sie vor nicht allzu langer Zeit wissen wollen, doch Esther hatte nur gemeint: »Wenn etwas dumm ist, sagt Oma Doro immer Hups, und schaut ganz lustig und bei dem Entlein geht viel schief.« Die aufgeweckte Zweijährige hatte bei der Erklärung angestrengt in Helenes Gesicht nach einer Reaktion gesucht, doch die hatte sie nur an sich gedrückt und gesagt: »Dann nennen wir ihn Hupsilein.«

Seither nutzten den Begriff alle Erwachsenen im Hause der zu Hohenlindens bei Missgeschicken oder anstatt von Flüchen in Gegenwart von Esther. Und siehe da, ein kleines Hupsilein hatte schon so manche Situation entschärft. So geschah es auch heute. Helene lächelte, als sie es hörte und konnte kaum glauben, dass Esther in Ordnung war, atmete. Sie lachte nervös auf und betrachtete das nasse Kind vor ihr, die sie aus blitzenden Augen ansah. Ewige Sekunden lang zog sie sie in ihre Arme und eine Welle großen Glücks durchflutete sie, bis sie realisierte, wie pitschnass sie beide waren.

Hektisch zerrte sie sich Rock und Bluse über die nassen Unterkleider, ohne den Blick von der Kleinen zu lösen. Ihre Finger hatten Mühe, die Knöpfe an ihrem Reitrock zu schließen. Ihr Puls raste auf einmal einen wilden Galopp, als sie sich barfüßig aufmachte, sie auf den Arm zu nehmen.

Erst jetzt wurde ihr schlagartig bewusst, dass Esther ohne sie den heutigen Tag nicht überlebt hätte. Ihrem eigenen Mut war es zu verdanken, dass sie noch bei ihr war. Diese Erkenntnis spülte unbändige Kraft in sie und sie dachte an die Wassergeister, denen sie insgeheim für diese Rettung dankte. In ein paar Jahren würde sie Esther von ihnen erzählen. Jetzt hieß es, die Kleine ins Haus zu bringen.

Auch sie selbst begann nun am ganzen Leib zu zittern, sie presste Esther fest an ihr Herz und lief schnellen Schrittes die Wiese hinauf. Und wie sie so mit ihr auf dem Arm, patschnass und völlig durcheinander, durch die Obstplantage hastete, dachte sie: Ich habe ihr das zweite Mal das Leben geschenkt. Das ist ein Zeichen. Esther braucht mich. Ich muss für sie da sein, auf sie aufpassen. Denn wie es aussieht, wird das sonst keiner tun. Ich kann und will mich nicht hier auf dem Landgut verkriechen und sie in der Obhut der anderen lassen.

»Wäre ich nicht bei dir gewesen, wärst du, mein süßes kleines Mädchen, ertrunken. Dann hätte ich dich verloren, einfach so«, flüsterte Helene zärtlich.

Und so fasste sie einen einsamen Entschluss. Sie würde für Esther da sein. Ob als Mutter oder Tante, völlig egal. Eines war ihr klar geworden: Esther kann ohne sie nicht überleben. Ihr allein oblag die Aufgabe, für das Mädchen stark zu sein. Was immer notwendig war, um ihr beim Leben zu helfen, sie würde es tun. Wenn das hieß, dass ihre Narben reißen könnten oder sich ihr Schmerz ab und an bis zu ihrem Herzen zog, dann war das eben so. Und so gab sie ihrer Tochter ein Versprechen, als sie gedankenverloren an ihrem Bernstein rieb.

Kapitel 2, August 1881, Plauen

Wilhelm

Seine Mädchen machten Wilhelm zu Hohenlinden, dem Zweitgeborenen eines alten Gutsherrengeschlechtes, Sorgen. Zwar beteuerte Johanna immer wieder, sie fühle sich wohl, dennoch schien der Hausarzt Doktor Merk bei ihnen ein- und auszugehen. Das war kein gutes Zeichen.

Leider hielten die Frauen der Familie die Details der erneuten Schwangerschaft seiner Ältesten vor ihm geheim und er selbst traute sich nicht nachzufragen. Eines jedoch war sicher. Die Ruhe und er meinte damit Bettruhe, die Johanna einhalten sollte, schien sein Kind nicht zu bekommen. Trotz der Kinderfrau verbrachte sie viel Zeit mit seiner Enkelin Esther, aß mit ihr und las ihr vor, ja ging sogar hinaus in den kleinen Garten am Hang. Zwar hatte sie aufgehört, sie ständig herumzutragen, und er sah, dass Helene die Spaziergänge in den Park übernommen hatte, dennoch war das Mädchen zu oft auf den Beinen. Er musste wohl oder übel mit seinem Schwiegersohn August darüber sprechen.

»Papa, hast du kurz Zeit für mich?« Es war Helene, die ihn in seinen mürrischen Gedanken unterbrach und auf der Schwelle zu seinem heimischen Arbeitszimmer stand. Wie adrett sie heute wieder aussieht, dachte er. Es ist mir ein Rätsel, warum sich kein Freier in diesem Hause blicken ließ, um seiner Jüngsten den Hof zu machen. Dass sie nicht will, kann ja die Männer nicht abhalten, woher sollten sie das wissen?, fragte er sich und richtete die Papierstapel auf seinem Schreibtisch.

»Papa?« Schon wieder drang ihre Stimme an sein Ohr und er schüttelte die Gedanken an Schwiegersöhne und Schwangerschaften ab.

»Komm herein, mein Kind. Was kann ich für dich tun?« Er war aufgestanden und deutete Helene auf dem Sofa Platz zu nehmen, das vor den umfangreichen Bücherregalen aufgestellt worden war. Von dort hatte man einen unverbauten Blick nach draußen und er vermochte durch den Sonneneinfall, jede Regung im Gesicht seiner Kleinen zu sehen. Er selbst plumpste fast in den schweren Sessel und stöhnte leicht.

»Ist dir nicht wohl, Papa?« Ihre Stimme war besorgt, das hörte er. Er wusste, sie meinte es ehrlich und so nahm er sich vor, offen zu sein und sie nicht mit einer Floskel abzuspeisen.

»Es ging mir schon besser, Hottehü«, sagte er und lächelte sie entwaffnend an. Der Kosename war Helenes erstes Wort gewesen und lange das Einzige. Als Baby hatte er sie mit in den Stall genommen, ihr die Pferde gezeigt und seit sie laufen konnte, war das ihr Zufluchtsort. Auch in diesem Sommer verbrachte Helene die meiste Zeit auf dem Gutshof, der in vierter Generation von den zu Hohenlindens bewirtschaftet wurde. Er war froh, dass sie nach dem rechten sah, nun, da ihre Schwester in der Stadt ans Haus gefesselt war und er selbst nur zweimal für ein paar Tage mit Dorothea hinausgekommen war.

Schade eigentlich, dachte er. Das Stadtleben saugt uns förmlich auf, immer gibt es etwas zu tun. Wenn es nicht die Firma ist, die meine Aufmerksamkeit braucht, dann ist es ein gesellschaftlicher Anlass, bei dem wir laut Dorothea nicht fehlen dürfen. Ob mein Vater wohl wusste, worauf er sich einließ, als er vor Jahrzehnten die Spitzenmanufaktur gründete? Er beantwortete sich die Frage sofort mit einem ausdrücklichen Ja. Sein Vater, zu früh gemeinsam mit seinem Bruder, Opfer eines grausamen Unfalls, war ein talentierter Tüftler gewesen. Als kreativer Ökonom schien ihm das Landleben zu trist, die Möglichkeiten zu Reichtum zu gelangen, in der Stadt mannigfaltiger. Er witterte gute Geschäfte, als sich das Verlagswesen unter den Plauener Weißwarenproduzenten etablierte. Er kaufte die Rohware, bot den unzähligen eigenständigen Stickereibetrieben überall im Vogtland Arbeit an und bearbeitete die fertigen Stickwaren dann weiter. Sie mussten gebleicht, gespannt und für die Konfektion vorbereitet werden. Dies eröffnete einer neuen Sparte ein lukratives Geschäft, die Bleich- und Appreturanstalten schossen wie Pilze aus dem Boden.

Der Verkauf der fertigen und weltweit begehrten Ware wurde Quelle großen Reichtums, den sich auch der Vater erschloss. Er wurde Verleger und Produzent in einem, vermengte die gewinnbringendsten Teile dieser aufstrebenden Industrie und war bald ein angesehener Geschäftsmann. Das Gut ist seither nur noch Sommerfrische und Nebenerwerb, versorgte den städtischen Haushalt mit allem, was der Acker hergab, und blieb für seine Mutter der Hauptwohnsitz.

»Ich warte Papa, oder muss ich es aus dir herauspressen?« Helene wackelte ungeduldig mit den Beinen und spielte mit dem großen Bernstein, der an einer glänzenden Goldkette um ihren Hals baumelte. Sie schwor auf die heilenden Kräfte des gepressten Harzes und ging nie ohne ihn aus dem Haus. Zwar sprach sie nicht gern davon, doch seit dem Badeunfall der kleinen Esther beharrte sie mit Vehemenz darauf, dass nur der Stein ihr die Energie gegeben hatte, ihre Nichte zu retten. Bei diesem Gedanken schauderte es ihn und er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.

»Es ist meine Konstitution, mein Kind. Ich habe ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen und der Leib schmerzt ab und an. Doktor Merk meint, ich habe einen nervösen Magen und müsse mich mehr ausruhen, auf die Ernährung achten. Aber wie macht man das, frage ich?!«

»Ich dachte mir schon so was, Papa. Nie kannst du nein sagen und dich zurückzuhalten. Doch Gustav ist nun an unserer Seite und er kann helfen, ganz sicher.«

»Der große Durchbruch ist endlich da, die Tüllspitze steht kurz vor der Massenproduktion, da kann ich mich doch nicht zurücklehnen.« Wilhelm war aufgebracht, schon setzte er sich wieder in Bewegung und lief vor dem Fenster hin und her.

»Aber ja, gerade jetzt könntest du die Zügel abgeben. Dich auf deinen Erfolgen ausruhen. Wir haben es geschafft. Zugegeben, bei Mammen & Co. waren sie schneller und sind mit den Mustern schon vor uns in England bei den Großhändlern gewesen. Aber Vater, wir können mithalten. Der Markt wird uns die Sachen aus den Händen reißen, ganz sicher. Jede Frau wünscht sich, diese wunderschönen Motive zu tragen. Filigraner kann man Blüten heutzutage nicht abbilden. Unsere Tüllspitze wird es an die Weltspitze schaffen. Ich weiß das.« Sie hatte eindringlich gesprochen und Wilhelm beruhigte sich langsam.

»Du hast recht, die ersten Muster, die Gustav von der Tüllspitze mitgenommen hat, sind wirklich gut angekommen.«

»Wir haben so unablässig an der Vervollkommnung der Schablonen gearbeitet, Vater, das wird sich auszahlen. Ich kann nicht mehr sagen, wie viele Muster ich gezeichnet habe, um den perfekten Entwurf zu erstellen, aber jetzt wissen wir, worauf es ankommt. Die Tüllspitze wertet unser Sortiment immens auf und Gustav wird sie verkaufen.«

Wilhelm wackelte mit dem Kopf und strich sich den Bart. Sie hatte ja recht, sein Mädchen, besann er sich und lächelte.

»Du könntest dir die Zeit nehmen und öfter nach Freiberg fahren. Man vermisst dich auf dem Gut. Unternimm Spaziergänge, geh fischen, reiten, jagen …«, zählte seine Tochter auf und zog dabei fragend ihre Brauen hoch.

»Alles Dinge, die deine Mutter hasst, wie du weißt.«

»Und wenn schon, es geht um deine Gesundheit. Das versteht sie. Ziehst du in Erwägung, nach Bad Elster zu gehen? Für ein paar Wochen nur? Du könntest dich im Badehaus erholen, die Quellwasser genießen, Mama flaniert im Kurpark, besucht Konzerte oder ist mit ihren Freundinnen im Café. Das sollte ihr Ablenkung genug verschaffen.«

Wie klug mein Kind doch ist, dachte Wilhelm und lächelte. »Sicher hast du recht, Helene. Ich sollte uns für den Frühling in Elster einmieten. Entschuldige, aber das neumodische Bad kommt mir noch immer nicht über die Lippen, obwohl sich das Städtchen diese Ehre verdient hat. Mit etwas Vorlauf sollte es möglich sein, in einem Hotel unterzukommen.«

»Nicht nur das, Papa. Einen anständigen Arzt musst du finden. Wart ihr nicht letzten Sommer auf einer Soiree bei Ferdinand Flechsig, dem berühmten Badearzt? Er ist doch der hochgelehrte Kopf hinter dem Wissen um die heilende Kraft von all den Wässerchen, habe ich gehört.«

»Du meinst Hofrat Flechsig, den allseits bekannten Balneologen?«, mahnte Wilhelm und Helene stöhnte auf.

»Meinetwegen auch Hofrat, Papa. Ich bin da nicht so bewandert wie du und was genau Balneologie ist, weiß ich nicht, aber es hat wohl mit der heilenden Wirkung der Wässer in Bad Elster zu tun. Flechsig ist dort seit der Gründung Badearzt und du könntest sicher von seinem Wissen profitieren.« Wilhelm winkte ab und schon setzte seine Tochter zur nächsten Tirade an. Bald wird sie wie ihre Mutter ständig an mir herumkritteln, nahm er verdrossen zur Kenntnis und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Hast du in Erwägung gezogen, Doktor Merk zu fragen, was du sonst tun kannst? Ich meine, er ist bewandert, ihm fallen sicher irgendwelche Kuren ein, die der alte Fincher nie verordnet hätte.« Wie immer, wenn ihr etwas wichtig war, sprudelte es aus Helene heraus, konnte man sie kaum bremsen. In letzter Zeit war seine Tochter agiler und aufgekratzter, bemerkte er erstaunt.

Sicher hat sie recht, seine Hottehü, dachte Wilhelm und machte sich gedanklich eine Notiz. Er würde Hofrat Flechsig schreiben und Doktor Merk noch mal zu dieser neuartigen Pflanzenkost befragen, mit der er auffallende Erfolge bei seinen Patienten zu haben schien.

Gleichzeitig bedauerte er, seine Tochter nicht öfter in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Missmutig sah er ein, dass ihm dabei seine konservative Erziehung im Weg stand. In Firmenfragen war das für ihn selbstverständlich, doch wenn es um Privates ging, benahm er sich manchmal wie sein eigener Vater. Er beschwichtigte Helene, sich bald schon an die Planung für einen Kuraufenthalt zu machen und erntete Zustimmung. Sie schien sich damit abzufinden und drangsalierte ihn nicht weiter.

»Nun, Papa, jetzt traue ich mich fast nicht, dich zu bitten … und doch. Ich muss. Kann ich ein paar Tage nach Dresden reisen? Gustav hat so geschwärmt und ich habe ihm mit großem Erstaunen zugehört, als er von den Museen sprach. Ich möchte die Kunstkammer des sächsischen Kurfürsten gerne selbst besuchen, die Architektur der Stadt bestaunen.«

»Auf keinen Fall, was denkst du dir, Helene? Nie und nimmer lasse ich dich dorthin. Du darfst allein nach Adorf, also nach Freiberg aufs Gut. Schon das ist ein Zugeständnis.«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Sie wusste, dass ihre Mutter noch immer Aufheben machte, wenn sie ohne Begleitung zum Hof fuhr. Sie konnte es ihr nicht verübeln. Denn immerhin hatte sich das Unfassbare damals unter ihren Augen im Dunstkreis des Gutshauses abgespielt und sie vertraute Helene noch immer nicht. Egal, was sie tat, wie sittsam sie sich benahm, Dorothea hätte sie am liebsten im Haus eingesperrt.

»Aber Papa, lass gut sein. Immerhin helfe ich auf dem Gut, ohne mein Zutun wäre es in diesem Sommer schwierig. Du warst nie oben, hast all deine Zeit in Gustavs Einführung in die Manufaktur gesteckt. Und Johanna … du weißt selbst, dass sie hier nicht wegkonnte. Also musste ich übernehmen.«

»Ich bitte dich mein Kind, das weiß ich alles. Aber Dresden … die Großstadt. Du kennst dich doch gar nicht aus.«

Sie lächelte, jetzt endlich verstand sie. »Ich würde nicht allein fahren, wo denkst du hin. Tante Hannelore hat geschäftliche Termine und bat mich, sie zu begleiten. Ihr Mann ist unabkömmlich, irgendeine neue Maschine, die er bestellt hatte, kommt an. Als sie letztens hier war, fragte sie Mutter, ob sie mitkommt.«

»Und Dorothea hat abgelehnt?« Helene nickte. »Warum um Gottes Willen?« Wilhelm verstand seine Frau nicht. Seit Jahren lag sie ihm in den Ohren und nun eröffnete sich ihr die Möglichkeit und sie lehnte ab?

»Nun, Mutter findet es unschicklich, ohne dich in eine Stadt zu reisen und sich zu vergnügen. Ohne männliche Begleitung in einem Hotel abzusteigen, das gehört sich nicht für eine Frau ihres Standes. In ein Ostseebad würde sie fahren, da dort viele Ehefrauen allein mit ihren Kindern sind, aber in eine Metropole? Das ist ihr dann doch zu modern … Also, darf ich?«

Wilhelm tat sich schwer abzulehnen. Warum sollte er dem Mädchen verwehren, sich etwas zu amüsieren? Sie hatte im vergangenen Jahr so hart in der Manufaktur gearbeitet, ja, ein Wunder vollbracht und ohne ihre Hilfe auf dem Gut, hätte er nicht ein noch aus gewusst. Sie war ihm eine große Stütze gewesen. Johanna, die sonst im Sommer viel Zeit auf dem Gut zubringt, hütete hochschwanger das Bett. Und so war alles an Helene hängen geblieben.

Warum also sollte er seinem Mädchen nicht die Freude machen? Hannelore würde ein Auge auf sie haben und außerdem wusste er, dass sie bald keine freie Minute mehr haben würde. Sobald der zweite Säugling im Haus wäre, gäbe es für Tante Helene jede Menge zu tun.

August

Es ist beachtlich, was mein Schwager da so schreibt, höchst erstaunlich, dachte er und faltete das Kabel, das der Postbote heute Morgen im Kontor abgegeben hatte, zusammen. Nachdem der Schwiegervater einen Termin beim Familienadvokaten hatte, war es an ihm, sich um das Tagesgeschäft zu kümmern und so hatte er die seltene Post geöffnet.

Gustav bat um neue Muster für die Tüllspitzen im bretonisch-maurischen Stil und teilte ihnen die Adresse des Hotels mit, wohin man das Päckchen schicken sollte. Ausdrücklich erbat er sich, dabei nicht die Kreationen von Helene zu vergessen, da die vielfältigen Blumenarrangements, Körbchen und Füllhörner, die sie verwandt hatte, bestens Anklang finden könnten. Er hätte wohl Zeichnungen dabei, diese schienen der Kundschaft aber nicht auszureichen.

Für August war es schwer einzuschätzen, ob der Schwager auf das richtige Pferd setzte, hatte er doch die Stadt seit Monaten nicht verlassen, um in den Metropolen nach der neuesten Mode Ausschau zu halten. Der Schwiegervater hatte dem Drängen Johannas nachgegeben, ihn nicht mehr so lange auf Reisen zu schicken und sich im Frühjahr höchstselbst mit seinem Filius auf den Weg gemacht. Seither ging er täglich ins Kontor und schon jetzt, langweilte ihn die monotone Arbeit.

Er verstand Johannas Besorgnis, denn immerhin war sie seit nunmehr vier Jahren endlich wieder schwanger und sie wollten nichts riskieren. Dennoch, auch andere Frauen gebären Kinder ohne diesen ganzen Zirkus, dachte er und lehnte sich mit einer Pfeife in seinem Sessel zurück. Er genoss diesen kleinen Luxus allzu gerne im Büro, obwohl sein Schwiegervater darauf bestand, einzig und allein daheim in der Bibliothek zu rauchen. Was solls, er konnte nicht auf alle Annehmlichkeiten verzichten.

In den letzten Monaten hatte er sich zurückgenommen, sich voll und ganz auf sein Verhältnis zu Johanna konzentriert. Er hatte seine Frau ausgeführt, war mit ihr in Konzerte und Theaterstücke gegangen, nahm an allen Vergnügungen teil, die die Familie unternahm.

Anfangs beanspruchten ihn die langen Abende, gingen ihm auf die Nerven. Die immer gleichen Themen langweilten. Doch es hatte ihnen gutgetan, stellte er fest. Zwar war es ihm schwergefallen, mindestens jede zweite Zusammenkunft mit Freunden abzusagen, sich tagsüber weniger in den Wirtschaften aufzuhalten als sonst und doch hatten ihnen die gemeinsamen Erlebnisse mit Frau und Kind rückblickend mehr geholfen als geschadet.

Mit Esther war er schon vorher in einem festen Band verwoben gewesen, doch wie schwer es sein würde, Johannas Respekt zurückzugewinnen, hatte er unterschätzt. Sie war misstrauisch und ihre ausgezeichnete Intuition erlaubte es ihm nicht, das sorgsam gewebte Lügengebilde um die Vorfälle beim Bau der Fabrik weiter zu spinnen. Sie mutmaßte, dass etwas an seiner sogenannten Beichte nicht gestimmt hatte, doch sie wusste nicht was, und er würde einen Teufel tun und ihren abstrusen Gedanken neues Futter geben. Die Sache war hoffentlich ein für alle Mal erledigt und er konzertierte sich darauf, seine Frau wieder als die devote und liebevolle Gattin hinzubekommen, wie sie es vor dem Zwischenfall gewesen war.

Er war auf einem guten Weg und hatte mittlerweile kein schlechtes Gewissen mehr, verbrachte er doch einmal einen Abend im Weinlokal. Ja, Johanna forderte ihn sogar dazu auf, seine Treffen mit den Männern des Industrievereins wieder aufzunehmen. Sie hatte jovial gelächelt, während sie das sagte. Als ob er ihre Zustimmung gebraucht hätte! So weit käme es noch.

Zuhause war alles in bester Ordnung, es gab keine Animositäten mehr. Der Schwiegervater schien sich beruhigt zu haben, Johanna hatte aufgehört, Fragen zu stellen, und sich im Sinne ihrer guten Kinderstube wieder ihrem Leben als brave Ehefrau und Mutter hingegeben. Einmal mehr zog er den Hut vor Dorothea, die sicher ihren Anteil an dieser erfreulichen Entwicklung hatte.

Mit dem zweiten Kind hätten endlich auch ihre Ausflüge ins Kontor ein Ende. Ja, er würde darauf bestehen. Es war sein gutes Recht, seiner Frau das Arbeiten zu verbieten, obwohl er wahrscheinlich seine Wortwahl in dieser Familie ein wenig anpassen müsste.

Als Gustav ins Geschäft eingestiegen war, hatte August anfangs skeptisch jeden seiner Schritte beobachtet. Insgeheim bangte er um seine Stellung, doch die offene, ja fast freundschaftliche Art des Schwagers zerstreuten seine Bedenken schnell. Der Junge war harmlos, musste noch so viel lernen und darin sah August seine große Sternstunde. Wenn er ihm alles beibrachte, würde Gustav dankbar sein und seine Erfolge würden auch als die Seinen gefeiert. Und so hatte er ihn unter seine Fittiche genommen, gar in seine Herrenrunden in der Erholungsgesellschaft eingeführt.

Nun aber, schien sich sein Erfolg schneller einzustellen als vorstellbar gewesen wäre. Mit einem Stirnrunzeln sah er sich wieder das Telegramm an und suchte den Brief von vorgestern heraus. Dieser hatte eine gewisse Zeit gebraucht, ehe er hier angekommen war, doch der Bruder seiner Frau hatte seitdem nicht auf der faulen Haut gelegen. Anscheinend arbeitete er in jeder Minute des Tages und nutze sogar die Abende, um in den Gaststätten und Hotels Englands Kontakte zu knüpfen.

Ihr werdet es nicht ahnen, verehrter Papa und August, aber die Lager in London bei Higgins, Eagle & Co. sind voll mit feinster Tüllspitze aus Plauen. Sicher wisst ihr, wem wir diesen Hype zu verdanken haben, denn du, lieber Vater, hattest ja von Anfang an dein Ohr am Puls dieser neuen Zeit. Im Real Lace Departement von Ortion und Higgins ist die Dentelles de Saxe DAS magische Wort. Doch sie kaufen nicht mehr, sind mit dem Vorrat, den sie haben, vollends zufrieden.

Nun denn, wir müssen reagieren, die Lager in Plauen sind voll und hier werde ich nichts von all der edlen Ware abschlagen können. Aber ich bin frohen Mutes, denn jetzt kommt unsere Stunde. Wir sind bereit, kreativ zu werden und dem englischen Markt alles zu geben, was die fleißigen vogtländischen Hände und Maschinen hergeben.

Bei diesen Zeilen schlug sein Herz merklich schneller, das hatten der Schwiegervater und er nicht erwartet. Jeder in Plauen wusste, dass es eine kleine Revolution war, was Theodor Bickel mithilfe von Helene und den erfahrenen Musterzeichnern da ausgeklügelt hatte. Schablonen von Musterentwürfen herzustellen, die man dann auf den feinsten Tüll ohne jeglichen anderen Musselineuntergrund stickt, das ist eine Revolution. Mittlerweile wurde in allen Manufakturen von Lorenz bis Berkling, bei Poppitz und auch Seidel eifrig an der Nachahmung getüftelt, doch keiner hatte geahnt, dass einer von ihnen den alleinigen Auftrag für die Dentelles de Saxe bei Higgins, Eagle & Son erhascht hatte. Und es waren nicht die zu Hohenlindens. Das war ein Paukenschlag.

»So eng scheint der alte Knabe dann doch nicht mit seinem Busenfreund zu sein«, murmelte August in seinen mittlerweile stattlichen Bart.

Der nächste Brief, der nur wenige Tage später eintraf, zeigte die Lösung für ihr Problem auf und sorgte für Erleichterung auf der Kontoretage. Denn der Schwager schien die Krux in einen Vorteil für sie umzumünzen und seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt.

Das alles soll mir Ansporn sein, unseren Lagerbestand auf andere Art und Weise abzuschlagen,

hatte er voller Tatendrang in seiner schwungvollen Jungmädchenschrift aufs Papier gebracht und August fragte sich, woher der Bursche seinen Optimismus nahm.

Unsere kostbare Ware biete ich den Spitzen EnGros Händlern in mehreren anderen Städten an. Deren Abhängigkeit von Higgins wäre damit beendet. Ich habe meinen Besuch in Birmingham, Sheffield und Manchester avisiert. Und was soll ich euch sagen, man erwartet mich ungeduldig. Der Markt ist riesig, die Engländer haben vorzügliche Kontakte sogar bis nach Übersee und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man gar froh über unsere Offerten sein wird. Direkt zu ordern, den Zwischenhändler zu umgehen, nicht mehr von Higgins abhängig zu sein, treibt die Kaufmänner an, große Mengen bei mir zu bestellen. Alle meine Bestellungen werde ich per Telegramm an euch absetzen und hoffe inständig, wir bekommen all unsere Kostbarkeiten verkauft.

August hatte sich bisher auf den einfachen Absatzweg konzentriert, sich einzig und allein an Großhändler wie Higgins & Co. gehalten. Das Klein-Klein Geschäft mit Dutzenden Firmen in allen Ecken Englands hatte er anderen überlassen. Zu mühsam war es gewesen, landauf, landab an diverse Türen zu klopfen. Er hatte seine Kontakte bei Higgins gepflegt und damit die Absatzziele des Schwiegervaters noch immer übertroffen. Doch genau dieses Klinkenputzen schien dem Schwager den Respekt des Vaters einzubringen. Ganz nebenbei ließ es ihre Absatzprobleme über Nacht verschwinden.

Innerlich zog er vor dem Jungspund den Hut, aber es kochte Wut in ihm hoch. Dieser phänomenale Erfolg war allein Gustav zuzuschreiben, das würde auch Wilhelm auffallen. Das ursprüngliche Absatzziel hatte er nach nur wenigen Wochen geschafft und nun landete heute Morgen schon wieder ein Telegramm auf seinem Schreibtisch, dessen Orderumfang bei weitem das, was sie mit den bisherigen Kapazitäten leisten konnten, überstieg. Der Junge war ein exzellenter Verkäufer, konnte umschmeicheln und verhandeln, sich in der Sprache der Engländer frei bewegen und ab und an, wenn es angezeigt schien, sogar auf Französisch parlieren. Und er war umtriebig, mehr in den Geschäftsetagen als in den englischen Pubs, gestand sich August ein.

Doch was heute auf seinen Schreibtisch geflattert war, überstieg bei weitem, was sie leisten konnten. Jetzt musste erst einmal Schluss sein. Er würde mit Wilhelm reden und den Schwager zurückholen.

Bei Tisch ergab sich die Gelegenheit, über Gustav zu sprechen, recht schnell. Johanna verbrachte den Tag auf ihrer Chaiselongue, hatte wenig Appetit und seine Schwiegermutter lag mit Migräne im Bett. Nur sein Schwiegervater und er selbst sind zu Tisch erschienen. Ungestört ließ sich so übers Geschäft plaudern, während sie genussvoll die Rippchen verspeisten, die Josefa für sie zubereitet hatte.

»Du meinst, wir sollen ihn zurückbeordern? Ich weiß nicht, August, solch eine Gelegenheit kommt so bald nicht wieder. Diese Aufträge könnten uns dabei helfen, die Kredite für die neuen Maschinen in Rekordtempo abzubezahlen und einen beachtlichen Batzen für uns selbst übrig zu haben.«

»Mir wird angst und bange, wenn ich daran denke, wie wir die kurzen Lieferfristen einhalten sollen«, gab August zu bedenken. Doch Wilhelm beschwichtigte ihn.

»Lass uns nachdenken. Vielleicht ist es möglich. Die Entscheidung, Gustav zurückzuholen, schieben wir um, sagen wir zwei Tage auf. Fällt uns bis dahin nichts Passables ein, holen wir ihn zurück, ohne Wenn und Aber. Was hältst du davon?«

»Nun gut, ich habe schon darüber nachgedacht, wie wir die Liefer- und Produktionskette etwas straffen könnten. Es gibt da eine Idee.«

Wilhelm, dem der Saft der schmackhaften Rippchen aus dem Mundwinkel lief, merkte auf. Er legte das Stück Fleisch auf seinem Teller ab und wischte sich ausgiebig mit der Leinenserviette den Mund, bevor er August mit einem gemurmelten: »Sag schon, was geht dir durch den Kopf« zum Reden aufforderte.

»Dutzende unserer aushäusigen Lohnsticker kommen täglich zu Fuß ins Kontor, um fertige Ware zu bringen und neues Gewebe mitzunehmen. Diese Zeit könnten sie besser verwenden, wenn sie sticken würden und nicht durch die Gegend laufen müssten.«

»Das stimmt, daran habe ich auch schon gedacht. Aber was schwebt dir vor«, reagierte sein Schwiegervater sofort mit Interesse.

»Ich habe angefragt, ob wir feste Fahrten pro Woche buchen können.«

»Natürlich, Mietkutschen und Droschken gibt es jede Menge, aber auch Conrad könnte Fuhren übernehmen«, sagte Wilhelm, ohne von seinem Teller aufzusehen. Den beiden Männern sah man an, wie ihnen die Möglichkeit beim Essen über die Geschäfte sprechen zu können, behagte. Sie mussten keine Rücksicht auf die Damen nehmen, sondern konzentrierten sich einzig auf ein saftiges Stück Fleisch und auf die Arbeit. Das war im doppelten Wortsinn ganz nach ihrem Geschmack.

»Wir bieten unseren Stickern den Transport an, nehmen die Ware vorübergehend zum gleichen Preis ab wie bisher. Sie können mehr produzieren, wenn sie nicht herkommen müssen. Das wird ihnen Ansporn genug sein, denn damit verdienen sie besser.«

»Das wird nicht reichen, aber es ist ein Anfang. Kannst du mit den Direktricen einen Plan erarbeiten? Ich habe da noch eine Idee, aber dafür muss ich erst hinüber in die Schützenstraße zu Gottlieb Hornbogen.«

August hatte nur noch halb zugehört. Er war zufrieden mit dem Essen und der Lösung, die er kurzfristig umsetzen konnte. Allzu gerne hätte er dabei Johannas Hilfe in Anspruch genommen, die im Kontor oft die Fleißarbeiten übernahm, die er ungern verrichtete. Zwar war ihm ihre Mitarbeit generell ein Dorn im Auge, doch bei diesen Dingen hätte er gerne darauf zurückgegriffen. Auf sie konnte er heute leider nicht zählen.

Und so ging er nach dem Essen zurück in die neue Fabrik an der Wilhelmstraße. Alban Neumeister schickte er eine große Stadtkarte und eine Lagekarte der umgehenden Dörfer im Verlagshaus Neupert zu kaufen und dann machten sie sich gemeinsam daran, einige Routen für die Droschkenunternehmen zusammenzustellen.

Bis spät in die Nacht saß er an seinem Schreibtisch und war am Ende zufrieden mit dem, was er erarbeitet hatte. So könnte es gehen, jedenfalls für den Anfang, dachte er ermüdet und genehmigte sich ausnahmsweise ein Bier im Goldenen Löwen.

***

In den kommenden Tagen arbeiteten sie fieberhaft an den Berechnungen, die Order des Schwagers betreffend. Doch es nütze nichts. Alles Kalkulieren hatte am Ende immer das gleiche Ergebnis.

»Wir holen Gustav nach Hause. Die Abarbeitung der eingegangenen Aufträge muss unser Hauptaugenmerk sein. Ich konnte in der Maschinenfabrik Hornbogen nichts erreichen. Alle Maschinen, die er in den nächsten Wochen, ja Monaten baut, sind vorbestellt und anbezahlt. Selbst wenn ich eine geeignete Lokalität auftreiben könnte, hätten wir nichts zum Hineinstellen«, hatte Wilhelm realistisch einschätzen müssen.

»Er wird an uns denken, sollte jemand eine Order nicht abnehmen und ich werde vorsorglich mit der Bank sprechen«, sagte Wilhelm, doch sein Ton war wenig optimistisch.

»Gustav wird das nicht gefallen, aber wir müssen ihn zurückholen.« August setzte das Telegramm an den Schwager am selben Tag ab.