Leseprobe Der Stiefsohn | Ein absolut fesselnder und unvergesslicher Psychothriller

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Polizeirevier Armonk

„Wie konnte er nur?“

„Mrs Winter?“

„Ich weiß einfach nicht … ich verstehe das nicht.“

Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen, dann blicke ich zu dem Detective auf, der mir in einem Verhörraum gegenübersitzt, der nicht ganz so groß ist wie ein Studio-Apartment in Manhattan.

„Solche Dinge passieren leider.“

„Solche Dinge passieren? Verzeihen Sie, Detective, aber da muss ich Ihnen widersprechen. Solche Dinge …“ – ich male Anführungszeichen in die Luft – „passieren nicht einfach.“

Aber er hat wohl nicht ganz unrecht: Solche Dinge passieren sehr wohl; aber sie passieren nicht hier. Zumindest nicht, bis Bennetts Sohn TJ bei uns aufgetaucht ist.

„Unfassbar, was er getan hat.“ Ich schüttle den Kopf angesichts der misslichen Lage, in die wir geraten sind. „Das ist einfach krank.“

Der Detective sieht schweigend zu, wie ich in Gedanken versuche, das Geflecht der letzten Woche zu entwirren. Es liegt wie eine Schlinge um meinen Hals.

Ich hole tief Luft, während sämtliche Emotionen, die der Menschheit bekannt sind, in meinem Kopf miteinander ringen.

„Das fühlt sich alles nicht real an“, sage ich schließlich, auf so etwas wie Bestätigung von dem Mann hoffend, der mir gegenübersitzt.

Sagen Sie mir, dass alles gut werden wird. Sie konnten das nicht wissen. Es ist nicht Ihre Schuld. Sagen Sie etwas. Irgendetwas.

Als ich die Stille nicht mehr ertragen kann, wird mir die Tragweite dessen, was geschehen ist, bewusst und dann kommen die Tränen.

„Ich kann nicht glauben, dass er tot ist.“

Der Detective sieht mich aus verengten Augen skeptisch an.

„Sie können nicht glauben, dass er tot ist?“, wiederholt er und faltet die Hände auf dem Metalltisch zwischen uns.

„Das sagte ich, ja.“ Ich wische mir mit dem Handrücken über das Gesicht. Es ist die Wahrheit. Es ist schwer zu glauben, wie sehr sich das Leben, wie ich es kannte, in den letzten Tagen verändert hat.

„Sie sollten es glauben, Mrs Winter. Immerhin sind Sie diejenige, die ihn getötet hat.“

Ich rutsche unbehaglich auf dem Stuhl herum. Die Metallbeine knarren auf dem Betonboden wie Nägel auf einer Kreidetafel.

„Ich wollte nicht, dass das passiert. Ich schwöre es. Ich …“

Der Detective schiebt eine Schachtel Taschentücher über den Tisch. Ich nehme schnell eins und tupfe mir die Augenwinkel ab.

„Fangen wir einfach am Anfang an.“

Kapitel 1

Eine Woche früher

Als Bennett und ich auf einer Jacht in Südfrankreich heirateten, dachte ich, ich hätte das große Los gezogen. Das Wasser war kristallklar und das Wetter absolut perfekt. Umgeben von Freunden und Familie blickte ich in Bennetts karibikblaue Augen und fragte mich, womit ich ein solches Glück verdient hatte.

Es passiert nicht jeden Tag, dass man buchstäblich den Mann seiner Träume heiratet.

„Carrie?“ Die Stimme meines Mannes hallt die Treppe hinunter aus unserem Schlafzimmer, wo ich ihn vor ein paar Minuten zurückgelassen habe, damit er sich für die Arbeit fertig machen konnte. Ich weiß, dass ich manchmal eine ziemliche Ablenkung sein kann, also hielt ich es für das Beste, ihn sein Ding machen zu lassen. Denn der Himmel weiß, wäre ich auch nur eine Sekunde länger da drin geblieben, hätten wir unser Ding gemacht.

Ich laufe unsere gewundene Doppeltreppe hinauf, der Marmor glatt unter meinen bestrumpften Füßen. Ich bin außer Atem, als ich oben ankomme. Aber es ist nicht die Anstrengung, die mir den Atem raubt. Es ist der Umstand, dass ich Bennett ganz aufgewühlt vorfinde, der Verdruss steht ihm in das hübsche Gesicht geschrieben.

„Was ist los?“, keuche ich, während ich unser Schlafzimmer in Augenschein nehme, das jetzt eher einem Kriegsgebiet ähnelt. Der Boden und das Bett sind mit roten Streifen übersät, wie Striemen dunkler Farbe auf einer weißen Leinwand. Es ist, als wäre ich über einen Tatort gestolpert.

„Meine rote Power-Krawatte, Carrie. Hast du meine rote Power-Krawatte aus der Reinigung geholt?“

Bennett deutet auf seinen Kleiderschrank, wo dreißig rote Krawatten an seinem Krawattenständer baumeln. Sie sehen den anderen dreißig, die auf dem Boden unseres Schlafzimmers verstreut liegen, ziemlich ähnlich. Der Kerl hat so viele rote Krawatten, dass man ihm verbieten sollte, auch nur eine weitere zu kaufen.

„Entschuldige, welche rote Power-Krawatte?“ Ich versuche, versöhnlich zu klingen, aber ich kann meine Verwirrung nicht verbergen.

Bennett blinzelt ein paarmal, dann wird seine Miene sanfter. „Entschuldige. Ich wollte dich nicht anschreien. Du tust alles für mich … und … es tut mir wirklich sehr leid, Carrie. Meinst du, du kannst mir noch einmal verzeihen?“ Er klimpert mit seinen unfassbar dichten, dunklen Wimpern und ich bin einfach nur hin und weg.

Oh ja, ich bin die glücklichste Frau der Welt.

Ich nehme Bennett gierig in mich auf, wie ein eiskaltes Glas Limonade an einem heißen Sommertag. „Ist schon okay“, sage ich und meine es auch so. „Ich weiß, wie nervös du bist.“

Bennetts Lippen verziehen sich zu einem Lächeln und um seine strahlend blauen Augen herum bilden sich kleine Fältchen. „Das ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.“

Ich schenke ihm ein mitfühlendes Lächeln. An seiner Stelle wäre ich auch nervös. Ich bin nicht an seiner Stelle und bin trotzdem nervös. Für Bennett steht heute die größte Mediation seiner Karriere an, eine Sammelklage wegen Fentanyl. Wenn alles nach Plan läuft, kann er sich mit vierzig zur Ruhe setzten. Was sage ich, wenn er den Prozess gewinnt, kann er sich vierzigmal zur Ruhe setzen. Das Prestige allein reicht aus, um Druck wie in einem Schnellkochtopf aufzubauen.

Mein Mann hatte in letzter Zeit so viel um die Ohren. Ich weiß, dass ich stolz auf ihn sein sollte, nicht wütend. Trotzdem muss ich gegen einen plötzlichen Anflug von Groll ankämpfen, der sich seinen Weg durch meinen Körper bahnt.

Hat er es etwa vergessen?

Ich streife Bennett, als ich seinen begehbaren Kleiderschrank betrete. „Diese hier?“, sage ich und wähle eine Krawatte mit winzigen blauen Kreisen aus, die die Augen meines Mannes betonen und wunderbar zu dem eigens für ihn entworfenen marineblauen Anzug passt.

Als ich ihm die Krawatte um den Hals lege, presst Bennett seine Lippen auf meine. Dann nimmt er den Kopf gerade so weit zurück, dass ich noch die Hitze seines Atems spüren kann.

„Womit habe ich dich verdient, Carrie?“

Meine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. „Ich schätze, du hattest einfach Glück, was?“

„Glück, mir nicht Verbrennungen dritten Grade zugezogen zu haben.“

Ich unterdrücke ein Kichern. „Was musstest du auch in mich reinlaufen, während ich mit einem Tablett voll heißem Kaffee hantiere?“

„Was musstest du auch einen so kurzen Rock bei der Arbeit tragen?“

Meine Wangen färben sich.

„Es muss Schicksal gewesen sein“, fährt Bennett fort. „Wenn das nicht passiert wäre, hätten wir uns vielleicht nie gefunden.“

Ich lächle breit.

Wohl kaum.

„Ich wünschte, ich müsste dich nicht allein lassen. Ausgerechnet heute.“ Bennett streicht mit einer Hand über mein Gesicht. Seine Finger sind glatt wie ein Babypopo, die Nägel perfekt manikürt. Ich atme tief aus und lege meine Wange in seine Handfläche. Dieses Gefühl werde ich den ganzen Tag in mir tragen, bis mein Mann heute Abend von der Arbeit nach Hause kommt.

Er hat es nicht vergessen.

Natürlich nicht. Bennett vergisst nie etwas. Der Mann hat das Gedächtnis eines verdammten Elefanten.

„Wir werden heute Abend viel zu feiern haben. Der Vergleich …“ sage ich, während ich die Finger vor meiner Brust verschränke. „Ein Jahr eheliches Glück.“ Diesmal sind es meine Lippen, die seine treffen. Selbst nach einem Jahr Ehe fällt es mir schwer, die Hände von meinem Mann zu lassen.

Bennett fährt mit einer Hand durch mein Haar und bündelt es locker in einer Faust. „Vorsicht“, warnt er scherzhaft. „Wenn du mich erst mal in Fahrt bringst, kann ich für nichts mehr garantieren.“

„Wenn dein kleines Meeting nicht wäre“, gebe ich zurück, „würde ich es gerne darauf ankommen lassen.“ Ich zwinkere verschwörerisch und gebe Bennett dann einen Klaps auf seine wohlgeformte Brust. Mein Mann ist wie die sprichwörtliche Flasche guten Weins: er wird mit dem Alter einfach immer besser. Wenn man ihn sieht, würde man nicht vermuten, dass er mehr als zehn Jahre älter ist als ich.

„Ich habe Brenda eine Reservierung im La Mer machen lassen.“

Bis man mich wie ein kleines Mädchen quieken hört. „Oooh, mein Lieblingslokal!“

„Und …“ Bennett öffnet die Tür zu meinem Kleiderschrank. Ich falle beinahe hinten rüber. „Woher wusstest du?“ Auf einem Samtbügel hängt das ausgeschnittene Givenchy-Kleid, das mir bei Neiman Marcus ins Auge gefallen ist. Es ist eine Spur zu schick für ein Dinner, aber ein Jahr beste Ehe aller Zeiten feiert man schließlich nur einmal.

„Ich weiß alles, Schatz.“ Bennett zwinkert mir zu, was mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagt.

Denn, mal ehrlich, niemand weiß alles.

„Ich schätze, ich sollte mich auf den Weg machen.“ Mein Mann lächelt mich mit einem schiefen Grinsen an.

Ich ziehe ihn näher zu mir heran und binde seine Seidenkrawatte zu einem perfekten Knoten.

„Du siehst umwerfend aus, Babe. Mach sie kalt.“ Ich verziehe das Gesicht angesichts meines schrecklich unpassenden Wortspiels. „So habe ich das nicht gemeint.“

Auf Bennetts Wangen bilden sich Grübchen, als er eine Reihe perfekt gerader, funkelnd weißer Zähnen aufblitzen lässt. „Ich kann heute Abend kaum erwarten, mein Schatz.“

„Gut, ich nämlich auch nicht, Mr Winter.“

„Bis dahin, Mrs Winter.“

Ein letzter sanfter Kuss und ich sehe zu, wie mein Mann aus unserem Schlafzimmer verschwindet.

***

Während ich darauf warte, dass die Uhr sechs schlägt und unsere Feier beginnt, zerstreue ich mich mit allerlei einfallsreichen Dingen im Haus. Ich räume den Geschirrspüler ein und aus, wische die Böden, um unserem iRobot eine Pause zu gönnen, und kümmere mich um die Gemüsebeete in unserem Garten. Trotz eines ziemlich plötzlichen und unerwarteten Kälteeinbruchs sind die Paprikas unfassbar grün, saftig und prall. Ich werde sie morgen in einen Salat geben.

Ich muss mich mit irgendwas beschäftigen, solange Bennett bei der Arbeit ist.

Ich hätte nie gedacht, dass ich mich vor dreißig zur Ruhe setzen würde, aber Bennett bestand darauf, dass meine Finger zum Tippen zu schön seien. Ich werde meinem Mann nicht widersprechen, der es mir ermöglicht, mein Leben zu genießen, ohne jeden Tag zur Arbeit in die Stadt pendeln zu müssen.

Und im Gegensatz zu den meisten Tagen, die sich wie ein endloses Garnknäuel hinziehen, vergeht dieser mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit. Ich sollte mich fertig machen.

Also hüpfe ich um vier Uhr unter die Wasserfalldusche in unserem Master-Bad. Dort verwende ich eine unverschämt lange Zeit darauf, meine Haut zu peelen und mich zu rasieren, bis ich wie eine haarlose Katze aussehe. Ich trage genug teure Feuchtigkeitscreme auf, um die Haut einer Neunzigjährigen dauerhaft zu rehydrieren. Ist das alles ein bisschen übertrieben mit achtundzwanzig?

Vielleicht, aber Bennett Winter ist nicht dorthin gekommen, wo er ist, indem er sich gehen ließ.

Und ich auch nicht – Mrs Bennett Winter. Klingt gut, finden Sie nicht?

Ich blättere in der neuesten Ausgabe der Vogue und warte darauf, dass die Lotion trocknet, als es an der Tür läutet. Ein breites Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit. Mein verliebter Mann hat mir sicher Blumen oder ein anderes romantisches Geschenk zu unserem besonderen Tag schicken lassen. Manchmal wird mir ganz schwindelig, wenn ich nur daran denke, wie aufmerksam er ist.

Ich öffne die Ring-App auf meinem Handy. Ein junger Mann steht vor der Tür, die Hände tief in den Taschen vergraben, und starrt auf seine Füße.

Ich kneife die Augen zusammen und sehe mir die Bilder auf dem Monitor an. Hmmm, komisch, ich sehe weder Blumen noch romantische Geschenke.

Ich werfe mir meinen seidenen Morgenmantel über und laufe die Treppe hinunter, um zu schauen, was der junge Mann will, und ihn dann seines Weges zu schicken. Ich muss mich noch anziehen, mir die Haare machen, mich schminken …

Mit vorgelegter Kette öffne ich die Tür einen Spalt. „Kann ich Ihnen –“

Er sieht zu mir auf und mein Herz rutscht mir in die Hose. Sämtliches Blut fließt mir aus dem Gesicht. Plötzlich ist unser Hochzeitstag das letzte, woran ich denke.

Kapitel 2

Ich bin sprachlos.

Ich starre den jungen Mann an, der verlegen auf unserer Fußmatte steht, und warte darauf, dass er etwas sagt. Die Ähnlichkeit ist unheimlich, bis hin zum exakt gleichen Blauton seiner Augen.

Wer ist er? Ein lange verschollener Cousin? Ein Neffe? Aber Bennett ist ein Einzelkind. Und seine Eltern sind auch Einzelkinder. Also … wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass dieser Besucher Bennetts Sohn ist. Aber nein, das ist nicht möglich. Das kann nicht sein. Ich versuche, meine schnellen Atemzüge zu beruhigen. Immer mit der Ruhe.

„Hey, entschuldigen Sie die Störung. Ist Bennett Winter zu Hause?“

Ich hatte fast vergessen, dass dieser junge Mann vor der Tür steht. Ich öffne den Mund, um zu sprechen, bringe aber keine Worte heraus. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren – es ist, als säße ich in einer verdammten Zeitmaschine.

Er streckt eine Hand aus: „TJ. TJ Winter.“

Großer Gott. Er ist Bennetts Sohn. Mein Mann ist ein verlogener, hinterhältiger … Nein, nein, nein. Es muss eine logische Erklärung dafür geben, obwohl mir beim besten Willen kein guter Grund einfällt, etwas von dieser Größenordnung seiner Frau vorzuenthalten.

Ich schüttle den Kopf und wende mich wieder unserem unerwarteten Besucher zu. Wie sollte man auch jemanden erwarten, von dem man nicht einmal weiß, dass er existiert.

„Carrie Winter.“ Ich lasse zu, dass TJ Winter seine Hand um meine legt. Ein kalter Schauer kriecht mir den Rücken hinauf. Selbst seine Finger fühlen sich vertraut an. „Ich bin Bennetts Frau“, sage ich. „Und Sie sind sein …“ Meine Stimme bricht ab. Ich kann das Wort nicht laut aussprechen. Nicht, wenn Bennett ganz klar gesagt hat, dass er keine Kinder haben will. Nicht, wenn Bennett mir nichts davon erzählt hat, dass er bereits eins hat.

„Sein Sohn“, beendet TJ den Satz, meine schlimmsten Befürchtungen bestätigend. Die Welt um mich herum dreht sich wie ein Karussell.

Sein Sohn. Wie konnte ich nicht wissen, dass Bennett einen Sohn hat? Wie konnte der Mann, der nie etwas vergisst, vergessen zu erwähnen, dass er ein Kind hat? Ein männliches Kind. TJ muss mindestens achtzehn Jahre alt sein. Vielleicht zwanzig. Scheiße, er ist einen halben Kopf größer als sein Vater.

Ich frage mich, ob in der Ausgabe der Vogue, die ich gelesen habe, bevor mein Leben auf den Kopf gestellt wurde, ein Artikel über das hier war. Was tun, wenn der Stiefsohn, von dem man nicht wusste, dass es ihn gibt, plötzlich vor der Tür steht? Mann, ich hätte weiterlesen sollen. Ich hätte niemals die Tür öffnen sollen. Aber es ist ja nicht so, dass ich die Tür einfach wieder schließen kann. Ich kann nicht so tun, als wüsste ich nicht, dass Bennett einen Sohn hat.

Und selbst wenn, würde es nichts daran ändern, dass Bennett dich belogen hat.

Wir stehen schweigend an der Tür, während ich überlege, was zu tun ist. Es ist ja nicht so, als könnte ich TJ einfach wegschicken und so tun, als hätte er nie vor unserer Tür gestanden.

Kann ich?

Was für ein Mensch tut so etwas?

Kann ich?

Unsere Ring-Kamera zeichnet alles auf. Im Jahr 2024 kommt man mit nichts mehr davon. Es würde mich nicht wundern, wenn TJs Gesicht schon auf Nextdoor zu sehen wäre, auch wenn er erst seit ein paar Minuten hier ist. Die kurze Antwort lautet also Nein; ich kann nicht überzeugend so tun, als hätte dieser kleine Besuch nie stattgefunden. Was ihn zu vergessen angeht – zu behaupten, dass das ziemlich unwahrscheinlich ist, wäre eine krasse Untertreibung.

Ich hole tief Luft und kämpfe gegen das Wackeln in meinen Knien an. Ich kann TJ nicht wegschicken.

„Bitte, komm rein“, sage ich also.

Ich trete beiseite, damit TJ in unser Haus eintreten kann. Er bückt sich, um eine große Tasche aufzuheben, und drückt sich dann an mir vorbei. Es ist die Art Tasche, die man für einen mehrwöchigen Aufenthalt in einem Ferienlager packen würde. Aber etwas sagt mir, dass TJ, anders als die privilegierten Kids in unserer Siedlung, noch nie in einem Ferienlager oder dergleichen war.

„Wow“, sagt er und nimmt sogleich unser riesiges Foyer in Augenschein. Er fährt mit den Fingern über einen lebensgroßen Marmorschwan, seine Augen groß wie Tischtennisbälle. Er lässt einen Fuß über den glänzenden Marmorboden gleiten, der mit einem leisen Quietschen antwortet, das durch den offenen Raum hallt. „Mom hat mir erzählt, dass Dad Geld hat, aber das hier – das ist der Hammer.“

Ich muss unwillkürlich lächeln. Ich hatte genau dieselbe Reaktion, als Bennett mich zum ersten Mal in sein – in unser – Haus einlud. Die Bude ist wie ein Museum, Marmor wohin man schaut und überall teure Kunst an den Wänden. Eine Doppeltreppe führt so hoch hinauf, dass es beinahe unmöglich ist, den Absatz an ihrem Ende zu sehen. Und direkt über uns hängt der gewaltigste und schnörkeligste Kristalllüster, den ich je gesehen habe. Es müssen mindestens vier Männer nötig gewesen sein, um ihn aufzuhängen.

Ich bräuchte nie wieder einen Fuß vor die Tür setzen und würde als glückliche Frau sterben. Von dem Moment an, als Bennett mich über die Schwelle trug, wollte ich nie wieder weg. Ich würde mein neues Givenchy-Kleid darauf verwetten, dass auch TJ nicht mehr wegwill. Wie zur Bestätigung wendet er sich nach rechts, verschwindet in unser Wohnzimmer und dringt noch tiefer in unser Haus, in unser Leben, ein.

Nun, immer herein mit dir.

Ich spüre einen scharfen Stich in der Seite, wie die Klinge eines Messers, als ich TJs Worte in meinem Kopf wiederhole. Mom hat mir erzählt. Ich bin nicht blöd; ich weiß, wie Babys gemacht werden, aber irgendwie geht mir die Erwähnung dieser anderen Frau an die Nieren.

Natürlich hat TJ eine Mom. Eine Mom, mit der mein Mann Sex hatte, um ihren Sohn zu zeugen. Eine Mom, von der ich nicht gewusst habe. Wer ist sie? Hat sie ihn geliebt? Hat er sie geliebt? Bei dem Gedanken, dass Bennett in eine andere Frau verliebt ist, krampft sich alles in mir zusammen. Meine Brust schmerzt. Ich muss jedes schmutzige Detail über diese geheimnisvolle Frau erfahren, selbst wenn es ein klaffendes Loch in meinem Herzen hinterlässt.

Ich weiß nichts über sie, aber ich fühle bereits, wie sich dieses Loch bildet. Sich in mich hineinbrennt.

Ich stoße zu TJ, der unser Hochzeitsfoto studiert, das auf dem Kaminsims steht. Es ist ein hinreißendes Bild – wie könnte es anders sein – wir hatten den besten Fotografen, den man für Geld kaufen kann. Mein blondes Haar weht im Wind, und Bennett blickt mir tief in die Augen. Wir sehen so verliebt aus. Wir waren so verliebt. Sind. Wir sind so verliebt. Der Knoten zieht sich noch enger zusammen.

Das Bild wurde in der New York Times und von ein paar lokalen Hochzeitsmagazinen veröffentlicht; ich habe die entsprechenden Ausgaben in meinem Nachttisch liegen. Ich stelle mich neben TJ und bewundere das fast lebensgroße Bild vor ihm.

„Das war der glücklichste Tag meines Lebens“, sage ich ebenso zu ihm wie zu mir selbst. Ich hole langsam Luft, um mich zu beruhigen, aber meine Gedanken sind in Aufruhr.

Ich muss es wissen.

„Deine Mom …“, sage ich und versuche, die richtigen Worte zu finden.

„Er hat dir nicht von uns erzählt, oder?“

Die Klinge bohrt sich in meinen Rücken.

„Nun, nein“, gebe ich zu.

„Tut mir leid“, sagt TJ und blickt wieder auf seine Füße. „Das muss ein ziemlicher Schock sein. Ich sollte gehen; ich komme wieder, wenn mein Vater zu Hause ist.“

„Nein, nein, bitte bleib.“ Ich will nicht, dass er geht. Nicht bevor ich weiß, was ihn hierhergeführt hat. Nicht bevor ich nicht sämtliche Details aus ihm herausbekommen habe, die mein Mann mir verschwiegen hat.

Ich deute mit einer Hand auf unsere Couch und versperre ihm mit meinem Körper den Weg nach draußen. TJ weiß es noch nicht, aber ich werde mich ihm buchstäblich vor die Füße werfen und meine Arme um seine Beine schlingen, wenn er versuchen sollte zu gehen.

Zum Glück kommt es nicht so weit. Denn, liebe Güte, davon hätte ich mich nur schwerlich erholt. Da mein Betteln scheinbar genügt, schwindet TJs Nervosität und ein Lächeln macht sich auf seinem Gesicht breit, während er in das weiche Leder unserer Couch sinkt. Ich studiere die Fältchen um seine Augen. Er sieht Bennett so dermaßen ähnlich, es ist beängstigend.

Mein Handy vibriert in meiner Tasche. Ich hole es heraus und werfe einen Blick auf das Display. Ich erwarte, eine SMS von meinem Mann bekommen zu haben, der sich mehrmals am Tag liebevoll nach meinem Befinden erkundigt.

Stattdessen:

Wer ist der Adonis, den du gerade in dein Haus gelassen hast? Spuck’s aus.

„Tut mir leid“, sage ich entschuldigend. „Ist nur meine Freundin Marnie von gegenüber.“ Ich lege mein Handy mit dem Display nach unten auf den Couchtisch, damit sie mich nicht weiter behelligen kann. Bewachte Siedlungen wie die unsere halten nicht nur Leute fern, sondern sie lassen auch keine Geheimnisse nach außen dringen, sodass sie schwären und sich ausbreiten können. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die ganze Nachbarschaft weiß, dass Bennett mit einer anderen als mir ein Kind gezeugt hat. Bennett und ich werden das Gesprächsthema der Siedlung sein, aber nicht auf eine gute Art. Definitiv nicht in der Art, wie ich es gewohnt bin.

Aber darüber kann ich mir im Moment keine Gedanken machen.

Ich hole noch einmal tief Luft. Mein Herz klopft in meinen Ohren. „Ich habe so viele Fragen an dich, TJ.“ Ich setze mich auf eine benachbarte Chaiselongue, meine Füße baumeln über den Rand. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“ Ich verschränke meine Finger und lege meine Hände in den Schoß, um sie am Zittern zu hindern.

„Kann ich mir denken, da du ja nichts über mich weißt. Über uns. Er hat gar nichts erzählt?“

Meine Wangen glühen. „Nun, nein. Ich meine, Bennett hat gesagt, er habe schon ein paar Freundinnen vor mir gehabt. Aber …“ Nichts Ernstes, hat Bennett beteuert. Ist es nicht ziemlich ernst, mit jemandem ein Kind zu haben? Scheint mir ziemlich ernst zu sein. Ich wüsste nicht mal, was noch ernster sein könnte. Ich versuche, mich an unsere frühen Gespräche in diese Richtung zu erinnern, aber ich bin mir sicherer denn je. „Weder über einen Sohn noch über eine Mom.“ Ich schüttle konsterniert den Kopf.

„Hast du dich nie gewundert?“

„Worüber denn?“

„Keine Ahnung – wie jemand, der so erfolgreich ist, mit vierzig noch Single sein kann.“

„Neununddreißig“, sage ich, was aber nichts daran ändert, dass er recht hat. Ich habe mich sehr wohl gewundert, dass sich noch niemand Bennett geschnappt hatte. „Es ist mir durch den Kopf gegangen, klar. Aber ich dachte, wenn es etwas zu erzählen gibt, wird er es mir schon sagen, verstehst du?“

So wie ich es ihm auch sagen würde, wenn es etwas zu erzählen gäbe.

TJ nickt verständnisvoll. „Schon klar. Ich weiß nicht so recht, was ich hier machen soll. Ich meine, ich sollte wahrscheinlich gehen.“

Nur über meine Leiche.

Ich kann ihn nicht gehen lassen. Ich beuge mich zu TJ hinüber, meine Augen glühen vor Verzweiflung. „Bitte, du kannst nicht einfach so eine Bombe platzen und mich dann mit den Folgen allein lassen. Ich muss wissen …“

TJ nickt, und ich atme scharf ein. Die Möglichkeiten dessen, was er gleich sagen wird, schwirren in meinem Kopf wie ein Heuschreckenschwarm.

Bennett würde mich nie belügen.

Aber er hat mich belogen.

Er hat einen verdammten Sohn!

„Sie waren ein Paar auf der Highschool.“

Ein Paar auf der Highschool? Ich glaube, ich muss mich übergeben. Genau hier, auf meinen tausend Dollar teuren Vorleger. Genau jetzt, vor Bennetts Sohn. Ich halte mir eine Hand vor den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der sich in mir aufbaut.

Denn wie um alles in der Welt kann man eine Highschool-Liebe, die man auch noch geschwängert hat, in der eigenen Lebensgeschichte unterschlagen?

„Alles okay, Carrie?“

Nein, es ist definitiv nicht alles okay.

Ich schüttle den Kopf und versuche, mich zu beruhigen. „Es geht mir gut“, lüge ich. „Bitte, erzähl weiter.“

„Meine Mom wurde in ihrem letzten Jahr an der Highschool schwanger. Und … sagen wir einfach, sie wollten unterschiedliche Dinge.“

„Weiß sie, dass du hier bist, TJ?“

„Wer, meine Mom?“

Ich nicke erwartungsvoll. Warum bist du nach all der Zeit jetzt hierhergekommen? Was wollen du und deine Mutter von meinem Mann?

TJ beugt sich vor und blickt mir mit ernster Miene in die Augen. Er räuspert sich. Dann verdunkeln sich seine Augen und werden feucht, als wollten sie einen Sturm entfesseln.

„Nun, nein, Carrie. Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin.“

„Oh?“

„Meine Mutter ist tot.“

Oh.