Leseprobe Der Reiseführer für Schwindler und andere Herzensdiebe | Eine prickelnde Regency Romance

Kapitel 1

Mitte September 1889

Früher einmal war Lady Wilhelmina Bascombe davon überzeugt, sie werde einst mit einem Lachen auf den Lippen und einem Glas Champagner in der Hand sterben. Doch nun hielt Willie es für möglich, dass sie mit nichts als verwässertem Wein und einem ebenso schwachen Lächeln vor ihren Schöpfer treten müsste. Ein trauriger Gedanke für eine Frau, die vor nicht allzu langer Zeit an der Seite ihres Mannes zur jungen, flotten, eleganten High Society gehört hatte. Aber es ließ sich nun einmal nicht ändern. Schließlich konnte man die Zeit nicht zurückdrehen, und so blieb einem nichts weiter übrig, als tapfer und hocherhobenen Hauptes seinen Weg weiterzugehen.

„Und daher, Tante Poppy –“, Willie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, „– bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ein Szenenwechsel das Beste wäre. Ich dachte da ans Mittelmeer. Südfrankreich zum Beispiel. Möglicherweise Italien. Oder, ach, ich weiß nicht, vielleicht Venedig?“

„Venedig liegt nicht am Mittelmeer, meine Liebe“, erwiderte Mrs. Persephone Fitzhew-Wellmore – die nicht Willies leibliche Tante, sondern ihre Patin war – in heiterem Ton. „Es liegt an der Adria.“

„Adria, Mittelmeer –“, Willie machte eine wegwerfende Handbewegung, „– ein Gewässer ist so gut wie das andere.“

„Meinst du?“ Über den Rand ihrer Teetasse hinweg bedachte Poppy ihr Gegenüber mit einem trotz ihres fortgeschrittenen Alters scharfen Blick.

„Ja, ich finde schon. Schließlich geht es nur darum, mit meinem Leben weiterzumachen.“ Willie stieß einen Seufzer aus, der aufrichtiger war, als sie selbst gedacht hätte. „George endgültig hinter mir zu lassen – etwas in der Art.“

„Und das würde dir hier in England schwerfallen?“

„Du weißt ja, wie das ist, Poppy. Hier zu Hause wird mein Leben von all den Dingen überschattet, die George und mich verbanden. Selbst unser Freundeskreis erinnert mich ständig daran, was wir hatten und was ich verloren habe.“ Sie brauchte nicht hinzuzufügen, dass sich keiner von diesen Freunden in den zwei Jahren hatte blicken lassen, seit George bei einem dummen Bootsunfall ums Leben gekommen war. Gewiss, anfangs waren sie sehr besorgt um Willie gewesen, doch kaum war George, wie es sich gehörte, unter der Erde, hatten ihre Besorgnis – und ihre Freundschaft – ein abruptes Ende gefunden.

Ein Mangel an freundschaftlichem Interesse war allerdings zu erwarten gewesen, da Willie sich nach Georges Tod aus der Gesellschaft zurückgezogen hatte und nach Wales zu einer Freundin ihrer verstorbenen Großmutter geflüchtet war. Die liebe Margaret – Lady Plumdale – hatte sie mit offenen Armen aufgenommen, und so war Willie bis vor wenigen Monaten dort geblieben, um ihren Verlust zu verarbeiten und über ihre Zukunft nachzugrübeln. Das war schon erschreckend genug, da Willie nie besonders viel gegrübelt hatte. Doch wenn man seinen Ehemann unversehens verlor, konnte man durchaus ins Grübeln geraten. Völlig überraschend war hingegen, was Willie über ihr Leben herausfand, unter anderem durch eine unablässige Briefflut von Anwälten und Geldeintreibern.

Willie hatte wirklich keine Ahnung gehabt, dass sie und George in den vergangenen Jahren praktisch auf Pump gelebt hatten. Wie hätte sie auch auf so etwas kommen sollen? Schließlich war er Viscount Bascombe gewesen, Spross der Suffolk Bascombes, einer altehrwürdigen Familie. Willie hatte ihren Mann für sehr flott gehalten, und das Leben mit George war nie langweilig gewesen, sondern angefüllt mit Spaß und Abenteuer. Nie schien es auch nur eine Atempause zwischen all den Hauspartys ihrer damaligen Freunde, den Maskenbällen, üppigen Dinners, Pferderennen, Jagden und allen möglichen anderen Belustigungen zu geben. Jetzt fragte sie sich, ob dieses Dasein voller Scherz und Vergnügen sie nur von ernsteren Dingen hatte ablenken sollen. Denn wenn man einem Vergnügen nach dem anderen nachjagte, blieb einem keine Zeit, sich mit den ernsten Seiten des Lebens – wie Finanzen und Verantwortung – zu befassen. Und Spaß hatte es außerdem gemacht.

Nach Georges Tod war es dann mit dem immerwährenden Fest ihres gemeinsamen Lebens zu Ende gewesen, und es wurde Zeit, wie es so schön heißt, die Zeche zu bezahlen. Eine Zeche, die man ihnen offensichtlich schon eine ganze Weile gestundet hatte. Leider fehlten Willie die Mittel dazu.

„Das ist durchaus verständlich, meine Liebe.“ Die Stimme der älteren Frau war voller Mitgefühl. „Aber hast du nicht die meiste Zeit seit Georges Tod fern von London verbracht und dich in diesem reizenden kleinen Dorf in Wales versteckt?“

Poppy wusste sehr gut, wo sich Willie aufgehalten hatte, da sie als einzige regelmäßig Briefe mit ihr gewechselt hatte. „Verstecken würde ich es nicht direkt nennen, aber nun ja, obwohl –“

„Man sollte meinen, du hattest lange genug Zeit, dich mit der traurigen Tatsache abzufinden, dass dein gemeinsames Leben mit George vorüber ist.“ Poppy tätschelte Willie die Hand. „Ich weiß, es ist schwer, aber wir Engländerinnen sind aus festem Holz geschnitzt. Wir müssen tapfer unseren Weg gehen, auch wenn er ins Ungewisse führt. Ich weiß noch, wie es war, als ich meinen lieben Malcolm verloren habe. Es dauerte eine geraume Zeit, bis ich mich damit abgefunden hatte, dass mein Leben nie wieder wie vorher sein würde.“ Sie seufzte betrübt. „Offen gestanden vermisse ich ihn noch immer, und ich wage zu behaupten, dass es dir mit George genauso ergehen wird.“

„Ja, sicher“, antwortete Willie mit schwacher Stimme. Dabei hätte sie es niemandem – und schon gar nicht Poppy – gegenüber zugegeben, dass sie sich weniger nach George als nach dem Zustand seliger Unwissenheit zurücksehnte, in dem sie die zehn Jahre ihrer Ehe verbracht hatte.

Abgesehen von den Erkenntnissen über Georges – oder besser gesagt ihre – Finanzlage musste sich Willie zu ihrem Leidwesen eingestehen, dass sie George zwar wirklich geliebt hatte, er jedoch weder ihre große Leidenschaft noch ihr Seelenverwandter gewesen war, obwohl sie viele Interessen geteilt hatten. Zu dieser Erkenntnis wäre sie vermutlich nicht gekommen, wenn er noch am Leben gewesen wäre. Denn dann hätte sie bis ans Ende ihrer Tage so weitergemacht, ohne zu erkennen, dass der Mann, den sie geheiratet hatte, nicht ihre große Liebe war, mochte er auch noch so aufregend, abenteuerlustig und unterhaltsam gewesen sein. Für derartige Überlegungen hatte sich Willie nie die Zeit genommen, und nun fragte sie sich, was geschehen wäre, wenn sie es getan hätte.

„Aber George ist nicht mehr da, und ich muss, wie du schon sagtest, tapfer voranschreiten. Und genau zu diesem Zweck möchte ich England verlassen.“

Poppy nickte. „Obwohl dir das Geld dafür fehlt.“

Willie starrte sie entgeistert an. „Wie kommst du darauf?“

Poppy zog wissend eine Augenbraue hoch.

„Selbst wenn es so wäre.“ Seufzend ließ sich Willie in die geblümten Kissen des voluminösen Sofas sinken, das viel zu groß für Poppys bescheidenes Häuschen in einer von Bäumen gesäumten Straße in Bloomsbury war. „Woher weißt du es?“

„Erstens, liebe Wilhelmina, ist dein Kleid schon seit zwei, drei Jahren aus der Mode, und soweit ich weiß, war deine Garderobe immer der letzte Schrei.“

Für die Witwe eines mäßig erfolgreichen Forschers, Abenteurers und Gelehrten hatte Poppy in punkto Mode und Dekor schon immer ein erstaunlich gutes Auge gehabt, auch wenn ihre Geldmittel mit ihrem Geschmack nicht immer mithalten konnten.

„Ich war schließlich in Trauer, Poppy“, protestierte Willie. „Da kann man nicht immer mit der Mode gehen.“

„Mag sein. Aber vergiss nicht, dass ich dich praktisch vom Tag deiner Geburt an kenne“, erwiderte Poppy mit strengem Blick. „Als eitel würde ich dich nicht unbedingt bezeichnen, aber du hast schon als junges Mädchen großen Wert auf modische Kleidung gelegt.“

„Ach, manche Dinge sind mir heute einfach nicht mehr so wichtig“, behauptete Willie, obwohl sie der Blick in den Spiegel mittlerweile ziemlich schmerzte. Die umfangreiche Garderobe, die sie vor Georges Tod besessen hatte, war zwar immer noch brauchbar, zeigte jedoch allmählich leichte Abnutzungserscheinungen. Trotzdem hatte sie nur zu gerne das triste Schwarz abgelegt, das einer frisch verwitweten Frau zukam. Willie hatte nie so recht verstanden, warum es strikte Regeln dafür gab, wie sich eine Witwe zu benehmen hatte und was sie tun und lassen sollte. Ihrer Meinung nach sollte die Trauer um einen Ehemann, ein Elternteil oder eine Freundin aus dem Herzen kommen und nicht von der Gesellschaft diktiert werden. Mit ihrem blonden Haar und den blauen Augen sah sie in Schwarz erstaunlich gut aus, doch Willie hätte sich für diese Farbe lieber freiwillig statt unter Zwang entschieden.

„Außerdem …“, Poppy schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen, „waren die Gläubiger deines Mannes wohl wenig zuversichtlich, dass sie ihr Geld jemals wiedersehen würden.“

Willie starrte sie an. Sie war keineswegs sicher, ob sie sich das weiter anhören wollte. Doch ihre jüngsten Erfahrungen hatten sie gelehrt, dass es wesentlich besser war, Bescheid zu wissen, als ahnungslos zu bleiben. „Ach je“, sagte sie, „erzähl mir nicht, dass sie dich belästigt haben. Ich habe sie alle bezahlt. Es sei denn, ich hätte ein paar vergessen, was durchaus möglich wäre. Aber du hast doch auch nicht viel Geld.“

„Zurzeit ist meine Lage mehr als auskömmlich“, erwiderte ihre Patin.

Willie errötete. „Tut mir leid, Poppy. Ich wollte nicht –“

„Gewiss nicht, meine Liebe, und du hast ja vollkommen recht. Ich habe noch nie ein nennenswertes Vermögen besessen, und daher wäre ich die Letzte, an die sich Gläubiger mit ihren Forderungen wenden würden. Aber du weißt ja, wie hartnäckig diese Leute sein können, wenn man ihnen etwas schuldet.“

„Das weiß ich leider nicht“, antwortete Willie und bedauerte wieder einmal, dass sie sich nicht im Geringsten um Georges Finanzen gekümmert hatte. Aber welche Frau kannte sich schon genau mit den Geldangelegenheiten ihres Mannes aus?

In der Rückschau musste sie zugeben, dass es Anzeichen für Geldprobleme gegeben hatte. Ihr war aufgefallen, dass am Landhaus einige Reparaturen anstanden, doch jedes Mal, wenn sie es George gegenüber erwähnte, sagte er, er würde sich darum kümmern. Dann fuhren sie nach London oder zu einer Party bei Freunden nach Essex oder Kent oder wo auch immer, und bei ihrer Rückkehr war alles noch unverändert. Mehr als einmal hatte Willie vorgeschlagen, das von ihrer Großmutter ererbte Reihenhaus in Mayfair zu verkaufen und dafür ein größeres Haus zu erwerben, da es fast unmöglich war, das jetzige richtig instand zu halten. George widersprach mit dem Argument, dass sie so selten in London seien und es doch viel schöner sei, bei anderen Leuten zu Gast zu sein, anstatt die Kosten und Mühen für eigene Feste aufzuwenden. Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht, doch heute glaubte sie, dass er wohl mehr die Kosten als die Mühen gescheut hatte.

„Nein, meine Liebe“, fuhr Poppy fort, „bei mir würden die Gläubiger nicht anfragen, zumal wir beide nicht blutsverwandt sind. Allerdings …“

Willie erschrak. „Vater?“

„Das befürchte ich“, antwortete Poppy gequält. „Er hat mich vor ungefähr einem halben Jahr besucht, als du noch in Wales warst. Es schien nur eine Höflichkeitsvisite zu sein, aber da ich ihn seit deiner Taufe nur ein paarmal gesehen habe, kam es mir doch ziemlich seltsam vor.“

„Das kann ich mir vorstellen“, bemerkte Willie leise.

„Er wollte wissen, ob ich von dir gehört hätte, was ich natürlich verneinte.“ Sie warf ihrer Patentochter ein süffisantes Lächeln zu. „Ich hatte keine Ahnung, warum er es wissen wollte, und bot ihm auch nicht meine Hilfe an.“

„Danke.“ Willie und ihr Vater, der Earl of Hillborough, hatten seit fast elf Jahren kein Wort mehr miteinander gesprochen. Hin und wieder sehnte sie sich nach dem Vater, der er hätte sein können, doch nicht ein einziges Mal vermisste sie den Vater, der er war.

„Ein Mann, der sein einziges Kind enterbt, nur weil die Tochter es wagt, ihrem Herzen zu folgen und gegen den Willen ihres Vaters zu heiraten, hat von mir keine Hilfe zu erwarten“, stellte Poppy entschieden fest. „Zumindest hätte er dir deine Mitgift auszahlen können.“

„Das hätte mir geholfen.“

„Es war einfach ungehörig, es nicht zu tun. Schließlich bist du sein einziges Kind“, bemerkte Poppy entrüstet. „Kinder sind ein Segen, und man darf sie nicht einfach so verstoßen, nur weil sie ihren eigenen Willen haben. Wenn der gute Malcolm und ich das Glück gehabt hätten, Kinder zu bekommen, hätten wir uns nicht wegen irgendeiner Meinungsverschiedenheit von ihnen abgewandt.“

Willie brachte nur ein halbherziges Lächeln zustande. Neben allem anderen hatte ihre Grübelei in Wales zu dem unausweichlichen Ergebnis geführt, dass ihr Vater durchaus recht gehabt haben könnte, als er sich gegen ihre Ehe mit George stellte. Doch das hätte Willie niemals laut gesagt. Außerdem hatte das Zerwürfnis mit ihrem Vater nur wenig Einfluss auf ihr Leben gehabt, da er sie eigentlich schon deshalb enterbt hatte, weil sie kein Junge geworden war.

„Nach einigem Hin und Her“, fuhr Poppy fort, „gab dein Vater schließlich zu, dass Georges Gläubiger an ihn herangetreten seien und er es dir mitteilen wollte. Du solltest wissen, dass er nicht für die Schulden eines Mannes aufkommen würde, den er nicht mochte.“ Poppy presste die Lippen zusammen. „In diesem Punkt war er unnachgiebig.“

„Das hätte ich auch nie von ihm verlangt.“ Willie reckte das Kinn in einer trotzigen Geste, die ihren Vater, seit sie denken konnte, zum Wahnsinn getrieben hatte. „Eher ginge ich auf der Straße betteln, bevor ich ihn um etwas bitten würde.“

So weit würde es natürlich nicht kommen. Zumindest noch nicht. In den Monaten seit der Rückkehr aus ihrem selbst gewählten Exil hatte Willie widerstrebend das Landhaus verkauft und mit dem Erlös Georges sämtliche Schulden beglichen. Außerdem hatte sie entdeckt, dass die meisten Schmuckstücke, die sie von ihrem Ehemann bekommen hatte, nur Talmi waren – hübsch anzusehen, aber praktisch wertlos. Sie hoffte nur, dass der Schmuck, den er zweifellos im Laufe der Jahre seinen diversen flüchtigen Affären geschenkt hatte, auch nicht mehr wert war.

Willie hatte schon lange vermutet, dass George es mit der Treue nicht so genau nahm, aber in diesem Punkt war sie feige gewesen und hatte ihn nie auf seine Techtelmechtel mit anderen Frauen angesprochen. Sie wusste selbst nicht so genau warum, außer dass eben ein großer Unterschied zwischen einem vagen Verdacht und der Gewissheit bestand. Hin und wieder war sie selbst in Versuchung geraten, ihren Treueschwur zu brechen, hatte es dann aber doch nicht fertiggebracht. Sie mochte ja viele Fehler haben, doch Unehrlichkeit und Mangel an Loyalität gehörten nicht dazu. Dennoch war eine glatte Lüge etwas ganz anderes als eine Taktik des Ausweichens, Umgehens und Verschweigens.

„Wie schlimm ist deine finanzielle Situation genau?“, wollte Poppy wissen.

„Na ja …“ Willie suchte nach den richtigen Worten. Zwar brauchte sie Poppys Hilfe, wollte jedoch das alte Mädchen auf keinen Fall beunruhigen. „Sie ist lange nicht mehr so schlimm, wie sie mal war.“ Willie holte tief Luft. „Ich habe das Landhaus verkauft. Zum Glück gehörte es nicht zur Erbmasse, und so konnte ich damit verfahren, wie ich wollte. Und jetzt bin ich schuldenfrei.“

„Ein schwerer Schritt, aber ich muss sagen, ich bin beeindruckt von deiner Entschlossenheit.“

„Ich habe das Haus so geliebt.“ Willies konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht ganz verbergen. Schon beim ersten Blick auf Bascombe Manor, ein fantastisches Gemisch aus allen Baustilen der letzten dreihundert Jahre, dessen Gärten ebenso apart waren wie das Haus selbst, hatte sie sich Hals über Kopf in das Anwesen verliebt. Es war ein glücklicher, einladender Ort, ganz im Gegensatz zum Landsitz ihrer eigenen Familie. Hillborough Hall war eine imposante, abweisende Festung aus Marmor und Granit, der man schon von außen ansah, dass dort ein Mensch von unerbittlicher Korrektheit und sturer Entschlossenheit das Zepter schwang. So etwas wie Freude hatte in diesen Mauern keinen Platz.

„Und dein Stadthaus?“

„Das konnte ich retten, zumindest vorerst.“ Sie erzählte Poppy lieber nicht, dass das Haus in Mayfair praktisch leerstand. Willie hatte sich verpflichtet gefühlt, den Dienstboten in Bascombe Manor und dem Londoner Haus ihren ausstehenden Lohn zu zahlen, bevor sie ihnen schweren Herzens kündigte. Ihr Butler und die Köchin – Majors und seine Frau Patsy – hatten sich geweigert zu gehen mit der Begründung, dass sie zur Familie gehörten und man seine Familie in harten Zeiten nicht im Stich ließ. Obwohl Willie die beiden sehr mochte, hatte sie nicht mit einer so großen Loyalität gerechnet, bei der ihr warm ums Herz wurde. Willie und Patsy hatten einander umarmt und ein wenig miteinander geweint. Selbst Majors, der ebenso gut geschult war wie jeder andere Butler, schien sich eine Träne verdrücken zu müssen. „Ich möchte das Haus nicht auch noch verlieren. Schließlich muss ich ja irgendwo wohnen“, erklärte Willie ihrer Patin.

„Vielleicht –“, Poppy wählte ihre Worte mit Bedacht, „– wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Auslandsreise.“

„Im Gegenteil, Poppy. Es ist nicht nur die rechte Zeit, sondern unbedingt erforderlich, dass ich so bald wie möglich aufbreche.“

„Bist du irgendwie in Gefahr?“ Poppy runzelte die Stirn. „Haben diese abscheulichen Geldeintreiber dich etwa bedroht?“ Immer finsterer wurde ihre Miene. „Ich glaube, Lady Blodgett, Mrs. Higginbotham und mir würden die Namen von ein paar zwielichtigen Typen einfallen, die fähig wären –“

„Nein, nein, nichts dergleichen“, beeilte sich Willie zu antworten. „Wie ich schon sagte, habe ich Georges Schulden bezahlt, und mir bleibt noch genug Geld übrig, um ein Darlehen zurückzuzahlen und etwas einzufordern, das für mich – und meine Zukunft – von großer Bedeutung ist.“ Willie überlegte. Es ging ihr gegen den Strich, George noch schlechter dastehen zu lassen, als er gewesen war, doch es half nichts. Aber er war ja tot und würde sich vermutlich über ihre Enthüllungen eher amüsieren als ärgern. Und außerdem musste Willie jetzt an sich selbst denken, denn bis auf zwei treue Dienstboten und eine ältliche Verwandte hatte sie niemanden auf der Welt. „Als ich mit dem Verkauf, äh, der Bestandsaufnahme der Einrichtung in unserem Londoner Haus begann – was ich zugegebenermaßen schon längst hätte tun sollen –, fiel mir auf, dass mehrere Gegenstände von einigem Wert verschwunden sind. Eine kleine Ming-Vase aus China, eine erlesene Schnupftabakdose, die einer französischen Königin gehört haben soll, und ein Gemälde, das mir meine Großmutter hinterlassen hat.“

Poppy keuchte erschrocken. „Doch nicht etwa der Portinari!“

Willie rümpfte die Nase. „Ich fürchte doch.“

„Deine Großmutter hat dieses Bild geliebt.“

Poppy und Willies Großmutter Beatrice waren zusammen zur Schule gegangen und bis zum Tod der Großmutter gute Freundinnen geblieben, obwohl ihr Leben einen völlig unterschiedlichen Verlauf genommen hatte. Großmutter hatte den Earl of Grantson geheiratet, der viel zu früh gestorben war, als sein einziges Kind – Willies Mutter – erst drei Jahre alt war. Poppy ihrerseits hatte Malcolm Fitzhew-Wellmore geehelicht und eine – laut Willies Großmutter – schockierende Unabhängigkeit entwickelt, da ihr Mann sich ebenso oft im Ausland wie zu Hause aufhielt. Da die Worte ihrer Großmutter verdächtig nach Neid klangen, zog Willie den Schluss, dass Unabhängigkeit bei einer Frau keine schlechte Eigenschaft war, mochte sie auch in der feinen Gesellschaft als etwas anrüchig gelten. Beatrice und Poppy besuchten einander mehrmals im Jahr, und die Treffen der beiden alten Freundinnen gehörten zu Willies schönsten Kindheitserinnerungen.

Als Willie zehn Jahre alt war, starb ihre Mutter. Daraufhin wurde das Mädchen auf Miss Bickleshams Akademie für vornehme junge Damen geschickt und verbrachte die Sommermonate und die übrigen Ferien bei ihrer Großmutter. Auch wenn ihr Vater in jenen Jahren nicht viel mit ihr anfangen konnte, war sich Willie der Zuneigung ihrer Großmutter, ihrer Patentante und der lieben Lady Plumdale gewiss.

„Hast du eine Ahnung, was mit den Sachen passiert sein könnte? Ob sie wohl gestohlen wurden?“

„Eher nicht.“ Wieder fiel es Willie schwer, die Sache George in die Schuhe zu schieben, obwohl sie von seiner Schuld überzeugt war. Wenn er noch lebte, würde sie ihn ohne zu zögern damit konfrontieren, doch es war nicht leicht, schlecht über einen Verstorbenen zu sprechen, selbst wenn er es verdient hatte. „Einige Briefe und eine Quittung, die ich in Georges Arbeitszimmer gefunden habe, waren der Beweis dafür, dass er den Portinari als Sicherheit für ein Darlehen von einem italienischen Herrn eingesetzt hat. Es handelte sich, glaube ich, um einen Conte aus Venedig, der ein leidenschaftlicher Sammler von Renaissancekunst ist. Aus dem Verkauf des Landhauses habe ich genug übrigbehalten, um das Darlehen mit den aufgelaufenen Zinsen zurückzuzahlen.“ Sie atmete tief durch. „Was mir fehlt, sind die Mittel für eine Reise nach Venedig.“

„Ich verstehe.“

„Wenn ich das Bild wiederhabe, werde ich es zum Kauf anbieten. Ich habe sonst keine Einkünfte, Poppy“, fügte sie betrübt hinzu.

„Du könntest wieder heiraten.“

„Dagegen hätte ich nicht das Geringste einzuwenden.“ Doch diesmal wollte Willie es sich gut überlegen, wem sie ewige Treue schwor. Am besten wäre zur Abwechslung ein reifer, verantwortungsbewusster Mann. Einen solchen hätte sie früher nie in Betracht gezogen, doch da war sie auch noch nicht dreißig Jahre alt und nahezu mittellos gewesen. Allerdings würde es nicht einfach werden, einen Mann mit diesen Eigenschaften zu finden, der nicht zugleich entsetzlich öde war. Ein solcher Mann heiratete nicht aus einer Laune heraus, und zu allem Überfluss wollte Willie auch noch einen, den sie lieben konnte. Sie musste zugeben, dass es leichter gewesen wäre, nach Venedig zu schwimmen, als einen solchen Mann zu finden.

„Aber auf keinen Fall möchte ich nur deswegen heiraten, weil mir nichts anderes übrigbleibt“, fügte sie mit Bestimmtheit hinzu. „Das Bild ist meine Rettung. Ich verkaufe es nur ungern, aber es wird meinen Unterhalt für mehrere Jahre sicherstellen.“

Poppy sah sie lange an. „Deine Großmutter würde es nicht anders wollen.“

Willie war erleichtert. „Du meinst also, es würde ihr nichts ausmachen?“

„Oh, ich glaube, es würde ihr sogar sehr viel ausmachen.“ Poppy zögerte einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: „Du weißt wahrscheinlich nicht, wie sie zu dem Bild gekommen ist, aber es war ein Geschenk von einem Herrn, den sie sehr gern hatte und der, wie ich glaube, ihre Gefühle erwiderte. Genaueres weiß ich nicht – deine Großmutter konnte überaus diskret sein, wenn sie wollte –, aber ich weiß, dass er verheiratet war und ihre Gefühle daher zu keinem Ziel führen konnten. Er gab ihr das Bild als eine Art Abschiedsgeschenk.“

„Ich hatte ja keine Ahnung“, murmelte Willie. In der Tat fand sie die Vorstellung, dass ihre respektable Großmutter ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hatte, etwas schockierend.

„Daher würde es ihr schon etwas ausmachen, aber nicht so viel wie der Gedanke, du könntest ohne einen Penny dastehen oder einen Mann heiraten müssen, nur um zu überleben.“

„Mich würde das auch stören“, erwiderte Willie ironisch und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: „Du hast mir in deinen Briefen vom Verein für reisende Damen erzählt, wie du und deine Freundinnen ihn gegründet und schließlich verkauft haben. Aber wie du sagtest, seid ihr drei noch immer in dem Verein aktiv.“

Poppy nickte. „Aber gewiss doch. Wir veranstalten Lesungen, geben Broschüren heraus und beraten die Mitglieder bei allen Reiseproblemen. Wir sind Reiseberaterinnen.“ Ein selbstzufriedenes Lächeln trat auf ihre Lippen. „Und darin sind wir ziemlich gut.“

„Das bezweifle ich nicht“, sagte Poppy, obwohl sie sicher war, dass Poppy, abgesehen von einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris als Mädchen, niemals größere Reisen unternommen hatte.

„Lass dir gesagt sein, Wilhelmina, die herrlichsten Dinge im Leben kommen oft völlig unerwartet. Wir drei amüsieren uns prächtig. Wer hätte das in unserem Alter für möglich gehalten?“

„Niemand verdient es mehr als du“, antwortete Willie voller Überzeugung. „Ich habe gehofft, da du und die anderen Damen den Verein gegründet habt und noch immer darin aktiv seid, könntet ihr mich vielleicht beraten, wie ich nach Venedig komme, und zwar so preisgünstig wie möglich“, fügte sie eilig hinzu. Auf ihrem Dachboden fanden sich wohl noch ein paar Antiquitäten, die ihr vielleicht genug einbrachten, um zumindest die Fahrt nach Italien zu bezahlen. Wie sie wieder nach Hause kommen sollte, wusste sie allerdings noch nicht.

„Ach, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie das gehen soll, meine Liebe. Aber …“ Poppy erhob sich. „Vielleicht fällt ja Gwen und Effie etwas ein. Wenn eine von uns nicht weiterweiß, kommen uns gemeinsam die besten Ideen. Das habe ich im Laufe der Zeit immer wieder festgestellt.“ Sie nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Ich will mich in ungefähr einer Stunde mit den beiden im Verein für reisende Damen treffen. Dann können wir dein Problem besprechen, und im Handumdrehen wird uns etwas einfallen, wie wir dich nach Venedig schaffen.“

„Also Poppy“, sagte Willie grinsend, „du klingst wirklich sehr überzeugend.

„Ich bin ja jetzt auch eine Geschäftsfrau“, erwiderte ihre Patentante förmlich.

„Ach, tatsächlich?“

„Ja. Und es ist alles vollkommen seriös. Ich kann dir versichern, dass kein Schwindel oder irgendetwas Illegales im Spiel ist.“

Willie sah sie erstaunt an. „Das hätte ich auch nie vermutet.“

„Ach so … gut.“ Poppy strahlte sie an, dann verblasste ihr Lächeln, als sie fortfuhr: „Allerdings wurde, nachdem Mr. Forge den Verein übernommen hatte, Miss Charlotte Granville als Geschäftsführerin eingesetzt. Sie ist außerordentlich tüchtig, erschreckend gut organisiert und wirklich ziemlich gescheit. Und sie stammt aus Amerika wie Mr. Forge. Ich finde das höchst interessant, da ich noch nie einen Amerikaner näher kennengelernt habe. Malcolm dagegen kannte viele Amerikaner. Sie sind recht zugänglich, würde ich sagen, auch wenn man bei Charlotte nie genau weiß, ob sie sich über dich amüsiert oder ärgert. Aber das ist wohl auch nicht so wichtig. Normalerweise ist sie recht freundlich, selbst in den schwierigsten Situationen.“

„Ich dachte, du und deine Freundinnen leiten den Verein.“

„Oh, nein. Jedenfalls nicht mehr. Wir sind sozusagen das Aushängeschild. Wir beraten die Mitglieder und geben ihnen Hilfestellung in Reisefragen. Ein Unternehmen dieser Größe könnten wir unmöglich führen.“ Poppy ging zur Tür. „Keine von uns besitzt auch nur eine Spur von Geschäftssinn.“

***

„Sie müssen zugeben, Charlotte, es ist eine geradezu geniale Idee, Lady Bascombe als Begleiterin für einen Trupp Amerikanerinnen nebst Töchtern auf ihrer grand tour zu engagieren“, sagte Lady Blodgett im Brustton der Überzeugung.

„Ich bin nicht sicher, ob genial das richtige Wort ist“, erwiderte Miss Charlotte Granville nachsichtig. Zweifellos hatte ihr das über siebzig Jahre alte Damentrio in der Vergangenheit schon jede Menge genialer Ideen geliefert. „Und es handelt sich auch eher um eine petit tour als um eine grand tour. Schließlich dauert die Reise nur knapp einen Monat und führt lediglich nach Paris, Monte Carlo und zu einigen italienischen Städten, darunter auch Venedig und Rom. Aber so wollten sie es nun einmal haben.“

Poppy und ihre Freundinnen hatten Miss Granville erklärt, dass Willie gerne reisen wollte, um über den bedauerlichen Verlust ihres Gatten hinwegzukommen. Da Willie schon seit einiger Zeit nicht mehr Schwarz trug, war sie nicht sicher, ob sie Miss Granville überzeugen konnten. Die älteren Damen hatten es vielleicht nicht bemerkt, aber Willie sah sofort, dass Charlotte Granville eine ernstzunehmende Person war, die sich nicht so leicht hinters Licht führen ließ.

„Ich fürchte jedoch, dass die Reise nicht wie geplant zustande kommt“, bemerkte Miss Granville mit unwillig gefurchter Stirn. „Eine Mutter und ihre Tochter haben bereits abgesagt. Seltsamerweise war es genau die Frau, die ursprünglich sehr an einer privaten Tour interessiert war und sich erkundigt hat, was die Reise alles beinhaltet. Jetzt sind auch die anderen nicht mehr sicher, ob sie wirklich fahren wollen.“ Sie lächelte Willie mitfühlend zu. „Es tut mir leid, aber ich bin beinahe so weit, die ganze Sache abzublasen.“

„Verständlich“, murmelte Willie, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr vor Enttäuschung das Herz schwer wurde.

„Ach, das wäre aber jammerschade“, sagte Mrs. Higginbotham mit einem tiefen Seufzer. „Ich könnte mir vorstellen, dass ihr bedauernswerten Amerikaner selten Gelegenheit habt, diese Orte zu besuchen, die ja sozusagen vor unserer Haustür liegen.“

„Und ich vermute, dass die armen, lieben Damen auch nur selten in den Genuss kommen, mit einer echten Viscountess zu reisen. Wirklich zu schade.“ Poppy sah zu Lady Blodgett hinüber. „In Amerika haben sie keine Titel, nicht?“

„Nein.“ Lady Blodgett schüttelte traurig den Kopf. „Nicht einen einzigen. Oder irre ich mich da, Charlotte?“

„Nein“, antwortete Miss Granville nachdenklich. „Wir haben keine Titel.“

„Man wünscht sich immer das, was man nicht hat“, bemerkte Mrs. Higginbotham mit weisem Nicken. „So sind die Menschen nun einmal.“

„Und besonders die Frauen“, fügte Poppy hinzu.

„Sind diese amerikanischen Mütter mit ihren Töchtern reich?“, erkundigte sich Lady Blodgett munter.

Miss Granville nickte. „Unser Arrangement für eine solche Privatreise ist nicht billig.“

„Aber wie Sie sagten, ist es ja nicht sicher, ob die Reise überhaupt zustande kommt“, bemerkte Poppy.

Wieder nickte Miss Granville.

„Man sollte meinen, die Gelegenheit, eine Viscountess kennenzulernen und sich vielleicht während der Reise mit ihr anzufreunden, damit sie ihre Töchter eventuell einem Earl oder sogar einem Duke vorstellt …“ Lady Blodgett zuckte die Achseln. „Nun ja …“

„Und du kennst doch wirklich fast jeden, der in der Londoner Gesellschaft etwas zählt, nicht wahr, meine Liebe?“ Poppy warf ihrer Patentochter einen aufmunternden Blick zu.

„Natürlich nicht jeden“, erwiderte Willie mit selbstbewusstem Lächeln. „Aber ich besitze wirklich einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Ich würde sagen, dass –“

„Und sind Sie weitgereist, Lady Bascombe?“

„Nun ja, ich –“, begann Willie.

„Meine Güte, Charlotte“, mischte sich Lady Blodgett in tadelndem Ton ein. „Die Familie von Lady Bascombes Ehemann kann ihren Stammbaum über viele Generationen zurückverfolgen. Wilhelminas Vater ist ein Earl von hoher und edler Abstammung, und Wilhelmina selbst hat Miss Bickleshams renommierte Akademie für vornehme junge Damen absolviert.“

„Nun, das ist ja schön und gut, aber –“

„Ich kann Ihnen versichern, Charlotte, keine der führenden Familien in England würde ihre Sprösslinge in die Welt hinausziehen lassen, ohne ihnen angemessene Kenntnisse über die Metropolen Europas mitzugeben“, erwiderte Poppy von oben herab. „Allein schon der Gedanke, Lady Bascombe sei nicht in der Lage, eine kleine Gruppe von Amerikanerinnen zu ebendiesen Metropolen zu begleiten, ist völlig absurd.“

Miss Granville wurde rot. „Ich bitte um Entschuldigung, Lady Bascombe.“ Reiche Amerikanerinnen waren offensichtlich nicht die einzigen, die sich von britischen Adelstiteln einschüchtern ließen. „Sie sind selbstverständlich mehr als qualifiziert.“

„Vielen Dank, Miss Granville.“ Willie lächelte, zuversichtlich, wie sie hoffte.

„Sie haben recht, meine Damen“, wandte sich Miss Granville an Poppy und die anderen. „Lady Bascombe als Reiseleiterin könnte die Interessentinnen endgültig überzeugen, die Reise zu buchen. Ihre Anwesenheit erweist sich vielleicht als unwiderstehlich.“

„Obwohl, Charlotte –“, Lady Blodgett neigte sich vertraulich zu der Amerikanerin hinüber, „– ich bin nicht sicher, ob Sie wirklich Begriffe wie leiten, führen oder begleiten verwenden sollten. Selbst wenn es das ist, was Lady Bascombe tun wird.“

Miss Granville Brauen hoben sich. „Ach, nein?“

„Ich glaube nur, wenn Sie es als Reise bezeichnen, die von der unvergleichlichen Lady Wilhelmina Bascombe ausgerichtet wird, klingt es mehr nach einer Gruppe alter Freundinnen, die gemeinsam einen herrlichen Urlaub verleben. Meinen Sie nicht auch, Charlotte?“, fügte Lady Blodgett mit vielsagendem Lächeln hinzu.

Die jüngere Frau betrachtete sie versonnen. „Sie schaffen es immer wieder, mich zu verblüffen, Lady Blodgett.“

„Danke, meine Liebe.“ Das selbstgefällige Funkeln in ihren Augen strafte ihren bescheidenen Tonfall Lügen.

Miss Granville richtete ihre Aufmerksamkeit auf Willie. „Wir werden Ihnen natürlich Ihre Ausgaben vergüten, als da wären Unterkunft und Transport. Darüber hinaus erhalten Sie eine Sonderzahlung für unerwartete Ausgaben und das normale Honorar, das wir unseren Reiseleitern zahlen.“

„Oh, ich denke, ein bisschen mehr sollte es schon sein. Schließlich handelte es sich um Lady Bascombe, ohne die Ihre Tour wahrscheinlich gar nicht stattfinden würde.“

Miss Granville überlegte einen Moment. „Ich verstehe Ihren Standpunkt und werde sehen, was sich machen lässt. Lady Bascombe, zusätzlich zu der Sonderzahlung erhalten Sie die Hälfte Ihres Honorars bei Antritt der Reise und die andere Hälfte bei Ihrer Rückkehr. Wäre das für Sie annehmbar?“

Willie musste sich beherrschen, um nicht breit zu grinsen. „Das geht schon.“

„Eigentlich sollte die Reise in drei Wochen beginnen. Obwohl noch einige Formalitäten zu erledigen sind, wäre das wohl immer noch möglich. Könnten Sie dann bereit sein?“

„Also, ich –“

„Natürlich kann sie das“, warf Poppy ein.

„Nicht nur bereit, sondern auch willens und absolut fähig“, fügte Mrs. Higginbotham hinzu.

„Ich muss sagen, ich bin ein wenig neidisch“, bemerkte Lady Blodgett mit triumphierendem Blick. „Mein lieber verstorbener Charles äußerte sich immer sehr lobend über die Amerikaner. Er fand, es seien äußerst interessante Leute. Und mit Amerikanern auf eine wenn auch recht kurze Reise zu gehen, verspricht, ein aufregendes Abenteuer zu werden. Finden Sie nicht auch, Lady Bascombe?“

Aller Augen richteten sich auf Willie – drei Paar mit ermutigendem Blick, das vierte ein wenig skeptischer. Für einen Moment wusste Willie nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte noch nicht ganz begriffen, was eigentlich geschehen war, aber offensichtlich war es ihrer lieben, guten Poppy und deren ebenso harmlosen Freundinnen gelungen, die intelligente und kompetente Miss Granville davon zu überzeugen, dass sie, Wilhelmina Lady Bascombe, absolut fähig war, junge Amerikanerinnen nebst ihren Müttern auf einer Tour durch Europa zu begleiten – sei diese nun petit oder grand.

Darüber hinaus hatten die Dame sie überredet, Willie mehr als das gewöhnliche Honorar zu zahlen. Und das, obwohl Poppy bekannt war, dass Willie noch nie auch nur einen Fuß über die Grenzen Englands gesetzt hatte.

Doch wie schwierig konnte es mithilfe von aktuellen Karten, Broschüren und Reiseratgebern schon sein, eine solche Tour zu führen – oder vielmehr auszurichten?

Plötzlich ging Willie auf, dass Poppy und ihre Freundinnen, ja selbst Miss Granville ihr Vertrauen auf sie setzten, und eine merkwürdige Entschlossenheit, sie nicht zu enttäuschen, überkam sie. Noch nie zuvor hatte sie eine größere Verantwortung übernehmen müssen, doch nun war es soweit. Sie würde es schaffen, und zwar besser als sie selbst – oder sonst jemand – es erwartet hätte. Denn war es nicht höchste Zeit, dass Willie Erwartungen erfüllte und ein zuverlässiger, erwachsener Mensch wurde?

„Ja, Lady Blodgett“, erwiderte Willie strahlend. „Das finde ich auch.“

Kapitel 2

Zwei Wochen später …

„Mein Gott, Dante.“ Rosalind Lady Richfield, seufzte gequält. „Ich habe keine Lust, einen Monat auf dem Land zu verbringen, und durch Europa reisen möchte ich schon gar nicht. Ich weiß nicht, wie du auf die Idee kommst, dass mir so etwas gefallen könnte.“

„Ach, komm schon, Rosa.“ Dante Augustus Montague betrachtete seine Schwester mit finsterer Miene. „Du brauchst dich gar nicht so anzustellen. Schließlich will ich dich ja nicht in irgendeinen unzivilisierten Winkel der Erde schleppen, wo Kopfjäger, Kannibalen und Giftschlangen auf uns lauern. Ich rede von Paris, Monte Carlo, Venedig und Rom.“

„Ich will auch nicht dahin“, bemerkte Rosas Tochter Harriet, die gerade ihre erste und nach Aussage ihrer Mutter äußerst erfolgreiche Saison hinter sich gebracht hatte. Ihr Onkel fand, dass sie danach ziemlich eingebildet und nervtötend geworden war. In vielerlei Hinsicht genau wie seine Schwester.

„Das ist mir schon klar, lieber Bruder“, entgegnete Rosa und blickte ihn mit schmalen Augen an. „Doch was du da vorhast, ist keine Reise, um uns in punkto Bildung, guten Umgangsformen und Kultur den letzten Schliff zu geben, sondern eine Posse.“

„Eine französische Posse genau genommen“, bemerkte Harriet mit selbstgefälligem Lächeln und blickte erwartungsvoll zwischen ihrer Mutter und ihrem Onkel hin und her. „Weil die Reise auch nach Paris führt“, fügte sie erklärend hinzu.

„Ach so, verstehe“, antwortete Dante mit schwachem Lächeln.

Seit jemand zu Harriet gesagt hatte, sie sei sehr witzig, war sie selbst davon überzeugt. Dabei vermutete Dante, dass der Betreffende sich nur bei der hübschen jungen Frau einschmeicheln wollte. Seine Schwester hatte ihm erzählt, dass sich in ihrem Salon ständig junge Männer drängten, die um die Hand von Lady Harriet wetteiferten. So stolz Rosa auf den gesellschaftlichen Erfolg ihrer einzigen Tochter auch war, kam er doch ein wenig überraschend für sie.

„Es ist keineswegs eine Posse.“ Dante zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen, denn das hätte seine Schwester nur noch mehr auf die Palme gebracht. Er war gut fünf Jahre jünger als sie und konnte es auch als Erwachsener nicht lassen, sie ständig zu triezen. Unter anderen Umständen hätte er auch jetzt seinen Spaß daran gehabt, doch er benötigte ihre Hilfe. „Vielleicht hast du nicht verstanden, wie wichtig das ist, und ich sollte es dir noch einmal erklären.“

„Ich glaube, wir wissen beide, für wie wichtig du es hältst“, antwortete Rosa. „Du brauchst nicht schon wieder davon anzufangen.“

„Meine Güte, Onkel Dante, wir sind doch nicht blöd.“ Seufzend zählte Harriet die Punkte an den Fingern ab. „Erstens – ein wertvolles Gemälde, das Urgroßvater gehörte, wurde schon vor langer Zeit durch eine Kopie ersetzt, und niemand hat es gemerkt, bis du es vor kurzem herausgefunden hast. Zweitens – in den Aufzeichnungen von Montague House findet sich kein Hinweis auf den Austausch des Bildes – ein Portinari, glaube ich – weshalb du annimmst, dass es nicht offiziell ausgewechselt, sondern möglicherweise gestohlen wurde. Drittens – mit Hilfe eines Ermittlers hast du herausgefunden, dass sich das Original einmal im Besitz eines Viscount Bascombe befand, der leider tot ist.“

„Gott hab ihn selig“, bemerkte Rosa mit fester Stimme.

„Gott hab ihn selig“, echote Harriet, dann fuhr sie fort: „Viertens – derselbe Ermittler hat erfahren, dass ebendieser Viscount das Bild als Sicherheit eingesetzt hat, um von einem Mann in Venedig ein Darlehen zu erhalten. Fünftens – die verwitwete Lady Bascombe wird eine Reisegruppe, bestehend aus amerikanischen Debütantinnen und ihren Müttern, auf einer Reise begleiten, die sie unter anderem nach Italien führt. Und du bist davon überzeugt, dass sie bei dieser Gelegenheit die Schulden ihres Mannes begleichen und im Gegenzug das Bild zurückfordern will oder so ähnlich. Und sechstens – du willst, dass Mutter und ich an dieser Reise teilnehmen, damit du auch mitkommen kannst. Denn alleine könntest du das wohl kaum. Stimmt’s?“

Dante schaute sie verdutzt an. „Ich wusste gar nicht, dass du mir zugehört hast.“

„Wir hören dir ständig zu“, mischte sich Rosa ein. „Es lässt sich nämlich nicht vermeiden. Seit du bemerkt hast, dass das Bild ausgetauscht wurde –“

„Und seit du die Verwaltung von Montague House übernommen hast“, fügte Harriet hinzu.

„– redest du kaum noch von etwas anderem. Du bist ganz schön langweilig geworden.“

„Bin ich nicht“, protestierte Dante, doch das klang selbst in seinen Ohren unecht. Aber es ließ sich nicht ändern.

Sein Großvater, der verstorbene Marquess of Haverstead, hatte sein frei vererbbares Vermögen zu gleichen Teilen seinen drei Söhnen vermacht. Sein jüngster Sohn – Dantes und Rosas Vater – hatte sich als erstaunlich geschickt in Finanzdingen erwiesen und durch kluge Investitionen und solide Geschäftsführung seinen Anteil verdoppelt. Dante, der in dieser Hinsicht seinem Vater nachschlug, hatte im Alter von dreiunddreißig Jahren ein Vermögen angehäuft, welches bedeutend größer war als das seines Vaters. Das war zwar schön und gut, doch es gab noch andere Dinge im Leben als Geld zu verdienen – und nach diesem Prinzip hatte sein Großvater sein Leben ausgerichtet.

Da Dante erst sechs Jahre alt war, als sein Großvater starb, konnte er sich kaum an ihn erinnern. Doch er vergaß nie, dass der alte Herr ihm erklärt hatte, wie wichtig Kunst und Schönheit waren, ob sie sich nun in einem Gemälde verkörperten, einer Marmorstatue oder der von Meisterhand geschaffenen, Jahrtausende alten Tonvase. „Kunst“, so hatte er zu seinem Enkel gesagt, „ist der greifbare Ausdruck der menschlichen Seele.“

Des Weiteren hatte er in seinem Testament verfügt, dass sein prachtvolles Londoner Haus zu einem Privatmuseum werden sollte, zugänglich nur für Wissenschaftler und jene, die Kunst und Altertümer zu schätzen wussten und bereit waren, sich mit einem Mitgliedsbeitrag an den Kosten für das Museum zu beteiligen. Eine Stiftung wurde gegründet und ein Kurator eingestellt, der die Erwerbungen des verstorbenen Marquess katalogisieren, sie in einer Ausstellung präsentieren und sich um die Verwaltung der Mitgliedschaften und weitere Aufgaben kümmern sollte, die mit einem derartigen Unternehmen einhergingen. Im Laufe der Jahre wechselten die Direktoren, von denen jeder auf seine Art befähigt war, ein kleines Museum zu leiten, und bald gehörte Montague House zu den kleineren Sehenswürdigkeiten in London.

Leider war Dante der einzige unter Lord Haversteads zahlreichen Nachkommen, der dessen Begeisterung für die schönen Künste und die Relikte der Antike teilte. Als Junge verbrachte er viel Zeit in Montague House, wo er die Kunstwerke der Renaissance betrachtete, die alten Bände in der reich bestückten Bibliothek durchblätterte oder versuchte, die griechischen und lateinischen Inschriften auf den Münzen und anderen Metallgegenständen in den Glasvitrinen zu entziffern. Dantes Faszination für Montague House hielt während seiner gesamten Schulzeit an, und er erwog, Kunstgeschichte und Altertumswissenschaft zu studieren, bis Wirtschaft und Finanzen eine Leidenschaft in ihm weckten, die sich als ebenso stark, wenn auch wesentlich komplizierter erwies.

„Ich bin kein bisschen langweilig“, beharrte er, worauf Rosa und ihre Tochter einen einvernehmlichen Blick wechselten.

„Diesen Blick kenne ich“, sagte er und schaute seine Schwester grimmig an. „Nun sag schon, was du denkst.“

„Wir haben ja nicht behauptet, du wärst nur deswegen so langweilig geworden, weil du dich in Montague House begräbst“, antwortete Rosa.

„Auch wenn du dich dort im obersten Stockwerk häuslich eingerichtet hast“, ergänzte Harriet mit gesenkter Stimme.

„Das ist einfach praktisch“, entgegnete Dante verschnupft. „Außerdem hat der Direktor immer dort gewohnt.“

Angesichts des eher geringen Interesses, das die Familie für Montague House aufbrachte, war es kein Wunder, dass es schließlich ein Opfer von Misswirtschaft wurde – eine Tatsache, die erst zwei Jahre zuvor ans Licht gekommen war. Die Stiftung verlor Geld, sie blutete regelrecht aus, wie es einer der Onkel ausdrückte. Die Instandhaltung des Gebäudes und die Pflege der Ausstellungsstücke würden dafür sorgen, dass das Museum in absehbarer Zeit bankrott wäre. Und dann musste es entweder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden – eine Vorstellung, welche die konservativeren Familienmitglieder erschauern ließ – oder es würde geschlossen und Großvaters Lebenswerk würde in alle Winde zerstreut.

Dantes Onkel, der gegenwärtige Marquess, rief seine Brüder und ihre Kinder zusammen, um mit ihnen über die Zukunft von Montague House zu beraten. So wichtig es alle fanden, den Wünschen ihres Vaters beziehungsweise Großvaters zu entsprechen, war ihnen doch klar, dass etwas geschehen musste und es möglicherweise unklug war, die Lösung des Problems einem Fremden zu überlassen.

Dante wusste nicht mehr genau, wer als Erster die Idee hatte, dass er die Leitung von Montague House übernehmen sollte. Immerhin besaß er ein ausgesprochenes Talent für Unternehmensführung und zugleich Verständnis für die Welt der Kunst und Altertümer. In manchen Kreisen galt er sogar als eine Art Experte. Bestimmt würde es ihm gelingen, Montague House finanziell zu sanieren und dabei den guten Ruf des Hauses wiederherzustellen. Wenn nicht, war es vielleicht an der Zeit, Großvaters Sammlungen einer renommierteren Einrichtung zu übereignen und das Haus zu verkaufen oder es seinem ursprünglichen Zweck folgend als Wohnsitz zu nutzen. Mehrere von Dantes Cousins sprachen sich für diese Möglichkeit aus. Der Einzige, der fähig – und willens – war, Großvaters Erbe zu retten, war offenbar der einzige Sohn seines jüngsten Sohnes.

„Wir möchten nur darauf hinweisen, was für ein seltsamer Zufall es ist, dass du in Montague House eingezogen bist, kurz nachdem Miss Pauling dich in aller Öffentlichkeit hat abblitzen lassen.“

„Es ist tatsächlich ein Zufall, und sie hat mich nicht abblitzen lassen.“

„Da habe ich aber etwas anderes gehört“, entgegnete Harriet achselzuckend. „Alle haben es gesagt.“

„Klatsch und Tratsch entsprechen selten der Wahrheit“, erwiderte Dante in scharfem Ton. „Und ich bin schon deshalb nicht abgeblitzt, weil ich kein sonderliches Interesse an Miss Pauling hatte.“

Zugegeben, ihm – wie fast allen anderen Junggesellen in London – war Juliet Pauling hübsch und aufregend erschienen. Man wusste nie, was man von ihr zu erwarten hatte. Sie war abenteuerlustig, kapriziös und amüsant. Tatsächlich hatte er ihr einige Male seine Aufwartung gemacht, bis ihm klar wurde, dass sie eine fettere Beute im Auge hatte als den titellosen Enkel eines Marquess. Bedauerlicherweise war sie nicht nur charmant und entzückend, sondern auch berechnend und intrigant, und er hatte viel zu lange gebraucht, um zu merken, dass er bei ihrer Jagd nach einem Titel nur das Bauernopfer war. Jemand, den man benutzen konnte, um einen besseren Fang eifersüchtig zu machen. Leider hatten Klatschmäuler wie seine Schwester dafür gesorgt, dass sein Name und der von Miss Pauling in einem Atemzug genannt wurden. Als dann ihre Verlobung mit dem Sohn eines Dukes verkündet wurde, waren fast alle Mitglieder der High Society überrascht, niemand jedoch mehr als Dante. Er hätte nie gedacht, dass sie so hinterhältig wäre, ihm nicht einmal einen kleinen Warnhinweis zu geben.

„Wir sollten dich nicht damit aufziehen“, sagte Rosa mit einer Ernsthaftigkeit, die Dante ihr keine Sekunde lang abnahm. „Über ein gebrochenes Herz macht man keine Scherze.“

„Es ist wirklich furchtbar traurig.“ Harriet seufzte, wie nur eine romantische junge Frau seufzen konnte. „Die Liebe deines Lebens lässt dich für einen anderen Mann im Stich, selbst wenn es sich um den Sohn eines Dukes handelt.“

„Sie war nicht die Liebe meines Lebens. Und sie hat mir auch nicht das Herz gebrochen.“

„Da habe ich mich wohl geirrt.“ Die Augen seiner Schwester funkelten belustigt. „Wie dumm von mir, ein gebrochenes Herz mit verletztem Stolz zu verwechseln.“

„Ich bin sicher, es bereits mehrmals erwähnt zu haben, aber weder wurde mein Herz gebrochen noch mein Stolz verletzt“, erwiderte Dante bestimmt. Nur sich selbst gegenüber hätte er zugegeben, dass sein Herz wirklich um ein Haar gebrochen wäre und sein Stolz durchaus einige kleine Schrammen davongetragen hatte. „Außerdem ist das alles schon zwei Jahre her.“

„Und in diesen zwei Jahren hast du dich fast zum Einsiedler entwickelt“, bemerkte Rosa. „Wenn du nicht mit der Leitung deiner Geschäfte befasst bist, widmest du dich der Herkulesaufgabe, die Angelegenheiten von Montague House zu regeln. Allen gesellschaftlichen Kontakten bist du aus dem Weg gegangen, außer sie waren unvermeidbar. Und dann handelte es sich fast immer um familiäre Verpflichtungen.“

„Zum hundertsten Mal, liebe Schwester.“ Dante bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, was keineswegs leicht war. Denn Rosa wollte einfach nicht einsehen, dass sein Leben mit seinen Geschäften und Montague House vollständig ausgefüllt war. Es blieb ihm keine Zeit für Nichtigkeiten, und an romantischen Abenteuern war er zurzeit nicht interessiert. „Ich habe jede Menge Arbeit. Da müssen andere Dinge einfach zurückstehen.“

„Wie zum Beispiel die Suche nach einer Ehefrau?“

„Genau“, erwiderte er schroff. „Im Moment habe ich weder Zeit noch Lust, mich mit irgendwelchen Techtelmechteln abzugeben.“

Doch es brachte ja nichts, auf die offensichtlichen Versuche seiner Schwester, ihn zu reizen, einzugehen. Zumal er ja wusste, dass sie es im Grunde nur gut mit ihm meinte, ebenso wie seine Mutter und jedes andere weibliche Mitglied seiner Familie. Sie alle schienen einfach nicht zu begreifen, dass er zwar nicht grundsätzlich gegen die Ehe war, sie in seinem Leben jedoch keinen Platz hatte. Zumindest im Augenblick.

Um sich zu beruhigen, atmete er tief durch. „Wie du weißt, hat mir die Familie drei Jahre Zeit gegeben, um den guten Ruf von Montague House wiederherzustellen, oder besser gesagt, ihm einen solchen zu verschaffen, und diesem Ziel bin ich schon ein großes Stück nähergekommen. Ich habe eine Reihe von Objekten ausfindig gemacht, die entweder auf dem Dachboden verschwunden, in andere Häuser der Familie verbracht oder gänzlich verloren gegangen waren, was bei Letzteren besonders aufwendig war. Es war keine leichte Aufgabe.“ Gedankenverloren schritt er auf und ab. „Bei dem verschollenen Portinari handelt es sich um den Mittelteil eines Triptychons, also eines dreiteiligen Gemäldes.“

„Wir wissen, was ein Triptychon ist, Onkel Dante“, bemerkte Harriet mit der Ungeduld der Jugend.

„Was ihr aber vielleicht nicht wisst, ist, dass Galasso Portinari ein Schüler Tizians war und in dessen Werkstatt arbeitete. Ein zeitgenössischer Biograf Tizians war der Auffassung, Portinari sei der begabteste Schüler des Meisters und werde ihn an Kunstfertigkeit noch übertreffen. Bedauerlicherweise starb Portinari ziemlich jung, vermutlich an der Pest. Doch die Aussagen darüber sind vage. Originalwerke von ihm sind überaus selten, denn da er, wie alle Schüler Tizians, häufig dessen Gemälde kopierte, ist nur eine Handvoll seiner eigenen Werke nachgewiesen. Daher ist unser Bild außerordentlich wertvoll. Stücke wie diese drei Gemälde sind es, die den Ruf eines Museums ausmachen.“

„Und warum war es in diesem Fall nicht so?“ Rosas Stimme klang herausfordernd. Da sie weniger Begeisterung für das Erbe ihres Großvaters aufbrachte als er, war Dante davon ausgegangen, dass ihr das Schicksal von Montague House mehr oder weniger gleichgültig war. Allerdings erinnerte er sich, dass sie interessiert gewirkt hatte, als die Umwandlung des Gebäudes in ein Wohnhaus zur Sprache kam. „Es ist ja nicht so, als seien die Bilder gerade erst angekauft worden“, fuhr sie fort. „Gehörten sie nicht schon zur Sammlung, lange bevor das Haus ein Museum wurde?“

„Doch, aber die früheren Kuratoren wussten offenbar nicht, welchen Schatz sie da besaßen. Zum einen wurden die Gemälde nicht richtig präsentiert. Die drei Teile hingen versteckt zwischen Bücherregalen an drei verschiedenen Wänden in der Bibliothek, sodass man sie kaum bemerkte. Eigentlich jedoch gehören sie zusammen und bilden ein einziges Werk. Wenn man das berücksichtigt, sieht man den Zusammenhang zwischen den einzelnen Bildern, die Geschichte, welche der Maler in ihnen erzählt. Das alles – ebenso wie die Genialität des Künstlers – kommt nicht zur Geltung, wenn sie auseinandergerissen werden.“ Dante schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob Großvater überhaupt wusste, was er da besaß. Er hatte einen ausgezeichneten Blick für Kunst, neigte jedoch dazu, Dinge zu kaufen, die ihm gefielen, ohne darauf zu achten, ob sie eine gute Investition waren. Überhaupt bin ich nicht sicher, dass auch nur einer der Männer, denen wir die Leitung des Museums übertragen haben, den wahren Wert der Portinaris erkannt hat. Tatsächlich ist sein Werk erst in den letzten Jahren neu inventarisiert worden. Jedes der drei Gemälde für sich genommen ist hervorragend, doch alle drei zusammen sind ein wahres Meisterwerk.“

Rosa runzelte nachdenklich die Stirn. „Ich kann mich nicht einmal an sie erinnern.“

„Sie sind relativ klein – jedes misst nur ungefähr fünfunddreißig mal fünfundvierzig Zentimeter. Und außerdem hingen sie, wie gesagt, in der Bibliothek. Natürlich wurden sie regelmäßig abgestaubt und gereinigt, blieben ansonsten aber ziemlich unbeachtet. Es war, als würde man kostbare Erstausgaben sich selbst überlassen“, fügte er spöttisch hinzu.

Seine Schwester und ihre Tochter wechselten einen Blick.

„Wie aus den Aufzeichnungen des Hauses ersichtlich ist“, fuhr Dante fort, „begann der erste Direktor, die Bestände der Bibliothek zu katalogisieren, wandte dann aber seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Der nächste fing dort an, wo sein Vorgänger aufgehört hatte, doch auch er kam nicht weit.“ Dantes Stimme bekam einen harschen Unterton. Es war geradezu kriminell, wie sehr die früheren Museumsleiter die Sammlungen des Hauses vernachlässigt hatten, und man fragte sich, wie die Rechtsanwälte seines Großvaters nur derart unfähige Leute einstellen konnten. „Keiner der späteren Kuratoren machte auch nur einen Finger krumm, wenn es darum ging, die Bestände der Bibliothek zu ordnen und zu katalogisieren.“

Dante ärgerte sich ständig darüber, dass sich in den fünfundzwanzig Jahren, die zwischen dem Tod seines Großvaters und seiner eigenen Ernennung zum Kurator lagen, niemand aus der Familie auch nur im Geringsten für die Vorgänge im Museum interessiert hatte. In den Finanzunterlagen und weiteren Dokumenten klafften Lücken, was nicht nur auf Schlendrian, sondern auf Betrug oder gar Diebstahl hindeutete. In gewisser Weise war es ein Glück, dass man die Portinaris übersehen hatte, sonst wären sie jetzt vielleicht allesamt verschwunden.

„Was du uns also auf deine umständliche Art zu erklären versuchst, ist, wie wichtig es für das Museum wäre, dass das Bild gefunden wird.“ Rosa betrachtete ihren Bruder nachdenklich. „Und dass es erforderlich ist, um Ansehen und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen und letztlich Montague House zu retten.“

„Was wir brauchen“, entgegnete er nachdrücklich.

„Ich verstehe aber immer noch nicht, weshalb wir dafür durch ganz Europa ziehen müssen“, bemerkte Harriet ungehalten. „Warum bietest du Lady Bascombe nicht einfach an, ihr Bild zu kaufen, falls sie es besitzt?“

„Aber wenn du sie überreden willst, es dir zu verkaufen, wirst du dein Benehmen ändern müssen“, fügte Rosa hinzu.

Dante runzelte die Stirn. „Was stimmt denn nicht mit meinem Benehmen?“

„Du bist kurz angebunden, manchmal herablassend, besonders wenn du glaubst, du hättest recht oder wärst der Klügste weit und breit, und überhaupt bist du entschieden zu arrogant“, antwortete Harriet und sah ihre Mutter an.

„Das mag schon sein, aber man hätte es auch ein bisschen taktvoller ausdrücken können“, erwiderte Rosa.

Harriet zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur das wiederholt, was ich von dir gehört habe. Tut mir leid, Onkel Dante“, fügte sie entschuldigend hinzu.

Er starrte auf seine Schwester. „Ich bin nichts dergleichen.“

Rosa verzog das Gesicht.

„Findest du wirklich?“, fragte Dante. Zugegeben, er konnte eine Spur herablassend sein, wenn er sich im Recht fühlte, und seine Geduld ließ auch zu wünschen übrig. Und vielleicht war er ja wirklich ein klein wenig arrogant. „Na ja, ganz Unrecht hast du ja nicht.“

„Aber“, entgegnete Rosa, „wenn du willst, kannst du auch ziemlich charmant sein. Es ist ja schon eine Weile her, aber ich habe gesehen, wie du so einige nichtsahnende Frauen bezirzt hast.“

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Nichtsahnend?“

„Das war vielleicht nicht ganz das richtige Wort“, murmelte Rosa. „Aber auf deine ruhige Art bist du ein verteufelt gut aussehender Bursche und immer wie aus dem Ei gepellt. Außerdem besitzt du ein sehr beeindruckendes Vermögen. Du bist eine gute Partie, Dante, und die Frauen fühlen sich zu dir hingezogen. Ich weiß wirklich nicht, warum du dir das nicht zunutze machst?“

„Ich halte es für dumm, sich auf sein Aussehen und sein Geld zu verlassen anstatt auf seine Intelligenz.“

„Dumm ist, dass du nicht beides einsetzt“, bemerkte Harriet halblaut. „Aber es erklärt vieles.“

Er beachtete sie nicht. „Wie auch immer, deine Kritik ist angekommen. Ich werde mich bemühen, so charmant wie möglich zu sein.“

Harriet schnaubte.

„Wie schon gesagt, werde ich versuchen, den Portinari zu kaufen. Aber ich werde erst dann ein Angebot machen, wenn die Besitzverhältnisse geklärt sind.“ Mit harter Stimme fügte Dante hinzu: „Ich würde lieber nicht für etwas bezahlen, das von Rechts wegen unserer Familie gehört.“

Harriet bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. „Und wie willst du das herausfinden?“

„Mit der Hilfe von Vater und den Onkeln habe ich jede Akte, jede Rechnung, jedes bisschen Korrespondenz zusammengetragen, das ich finden konnte, um etwas über Verfügungen bezüglich des Portinari zu erfahren. Ich besitze die Originalrechnung für alle drei Gemälde, und bisher deutet nichts darauf hin, dass eins von ihnen veräußert wurde oder auf andere Weise den Besitzer gewechselt hat. Ich habe eine Firma, die auf solche Angelegenheiten spezialisiert ist, damit beauftragt, noch einmal alle Unterlagen zu prüfen, und außerdem Ermittler angewiesen, nach weiteren Belegen zu suchen. Bevor ich nicht selbst einen Beweis für mein Eigentumsrecht habe, kann ich Lady Bascombe nicht zur Rede stellen und von ihr einen Provenienznachweis für das Gemälde verlangen. Aber das kann ohnehin erst dann geschehen, wenn sie sich auf den Weg macht, um das Bild zu holen.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Dann habe ich die Absicht, dabei zu sein. Jetzt, da ich endlich weiß, wo sich das Gemälde befindet, werde ich nicht zulassen, dass es wieder verschwindet.“

„Traust du ihr nicht?“, fragte Rosa.

„Ich kenne sie ja gar nicht“, antwortete er. „Aber ich habe von ihr gehört. Ihr Ruf ist nicht gerade vertrauenerweckend.“

Rosa blickte verwirrt, dann fiel es ihr wieder ein: „Ach, du sprichst von Wilhelmina Bascombe?“

„Gibt es noch eine andere Lady Bascombe?“, fragte Harriet.

„Ich glaube nicht“, sagte Dante und fragte seine Schwester: „Kennst du sie denn?“

„Das würde ich nicht sagen, aber ich glaube, wir sind uns einmal flüchtig begegnet. Es ist aber schon eine Weile her.“ Rosa überlegte einen Moment. „Ich fand sie ganz nett, wenn ich mich recht entsinne. Aber du hast recht – sie und ihr Mann gehörten zu einer flotten Clique, die ständig mit irgendeiner Landpartie oder einer leicht frivolen Festivität beschäftigt war. Es gab auch Gerede über Seitensprünge ihres Mannes, doch über sie habe ich nie etwas derartiges gehört. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich seit dem Tod ihres Mannes gar nichts mehr von ihr gehört, und das muss mindestens zwei Jahre her sein.“

„Anscheinend lebte sie bis vor kurzem sehr zurückgezogen.“ Diese Aussage fand sich im Dossier des von Dante beauftragten Ermittlers, der auch einiges über Lady Bascombes Finanzen zutage gefördert hatte. Offensichtlich war die Witwe gezwungen gewesen, ihr Landhaus und weitere Besitztümer zu verkaufen, um die Schulden ihres Mannes zu begleichen, und besaß nun nicht mehr viel. Dante nahm jedoch an, dass sie noch immer genug Geld hatte, um das Darlehen ihres Mannes zurückzuzahlen und sich den Portinari anzueignen. Ihre finanzielle Situation erklärte auch, warum sie als Reiseleiterin eine Gruppe nach Venedig begleitete und nicht einfach auf eigene Faust dorthin fuhr.

„Man kann ihr nicht verdenken, dass sie das Land für eine Weile verlassen möchte“, sagte Rosa. „Den Erinnerungen an ihren Mann entfliehen und so weiter. Aber eine Gruppe Amerikanerinnen zu hüten, erscheint mir doch ziemlich beängstigend.“

„Ich glaube, sie will damit einer älteren Verwandten einen Gefallen tun, die eine Art Reiseverein für Damen gegründet hat. Soweit ich weiß, käme die Reise ohne Lady Bascombes Hilfe wohl gar nicht zustande.“

„Dann ist es doch sehr nett von ihr, oder?“ Rosa nickte nachdenklich. „Aber ich schätze, es würde sie auch von ihrem Verlust ablenken.“

„Das könnte ich mir auch vorstellen. Es ist bestimmt eine schwierige Zeit für sie. Nicht der beste Moment, um sie wegen des Bildes zur Rede zu stellen“, fügte Dante mit angemessen sorgenvollem Blick hinzu. Aber das war nicht nur gespielt, denn je mehr er über Lady Bascombe erfuhr, desto mehr faszinierte sie ihn. Doch so interessant, wie sie schien, konnte sie bestimmt nicht sein. Vermutlich ähnelte sie eher Miss Pauling, zumindest, was den Charakter anging. Und der war kein bisschen interessant. Jedenfalls nicht für ihn.

„Die arme Frau“, murmelte Rosa.

„Arme Frau?“ Harriet schaute ihre Mutter erstaunt an. „Die Dame und ihr Mann waren offenbar in alle möglichen windigen Aktivitäten verstrickt, sonst hätte es nicht so viel Gerede gegeben. In jedem Gerücht steckt ein Körnchen Wahrheit – das sagst du doch selbst immer.“

„Ja“, erwiderte Rosa, „aber –“

„Außerdem ist man selbst schuld, wenn der Ehemann auf Abwege gerät.“ Harriet fixierte ihre Mutter mit festem Blick. „Waren das nicht auch deine Worte?“

„Könnte sein, dass ich etwas in der Art gesagt habe“, erwiderte Rosa, mit einem Ausdruck gelinder Panik in den Augen.

„Und hast du mir nicht mein ganzes Leben lang gepredigt, dass etwas Schreckliches passieren kann, wenn man sich danebenbenimmt, und man sich deshalb immer tadellos verhalten soll?“ Harriet hörte sich an wie ein Inquisitor, der einen Ketzer verhört.

„Ja, schon, aber –“

„Ich glaube, es ist einfach der Preis, den man für ein lockeres Leben bezahlt“, bemerkte Harriet leichthin.

„Mein Gott, was habe ich nur getan?“ Rosa warf ihrer Tochter einen strengen Blick zu. „Egal, wie sie sich benimmt, ist es für eine Frau mit das Schlimmste im Leben, wenn sie ihren Ehemann verliert. Denn die finanzielle Situation einer Witwe ist in der Regel prekär, es sei denn, ihr Mann hätte ihr einen Haufen Geld hinterlassen. Ich kenne, wie gesagt, Lady Bascombe kaum, aber wenn sie bis vor kurzem so zurückgezogen gelebt hat –“, sie warf ihrem Bruder einen Blick zu, „– dann wird sie wohl sehr um ihren Mann getrauert haben.“

„Der Lohn der Sünde ist der Tod“, zitierte Harriet feixend.

„Nur in der Bibel, meine Liebe“, gab Rosa zurück. „Und so sehr ich mich auch freue, dass du jedes einzelne meiner weisen Worte aufgesogen hast, hoffe ich doch, du hast mir auch zugehört, wenn ich über Mitgefühl und Erbarmen sprach. Besonders anderen Frauen gegenüber, ob wir sie nun kennen oder nicht.“

Harriet besaß genug Anstand, um trotz ihrer aufsässigen Haltung zu erröten. „Ja, mag sein.“

„Vielleicht wäre es für Harriet von Nutzen“, bemerkte Dante beiläufig, „andere junge Frauen kennenzulernen und zugleich ein wenig von der Welt zu sehen.“

Rosa seufzte. „Dante, ich habe zu viel zu tun, um mich irgendwo in Europa herumzutreiben.“

„Außerdem hat Mr. Goodwin versprochen, mir einen Besuch abzustatten“, bemerkte Harriet mit vor lauter Vorfreude verklärtem Blick.

„Bertram Goodwin?“, fragte Rosa stirnrunzelnd.

„Ja“, antwortete Harriet lächelnd. „Er ist ziemlich flott und sehr klug.“

„Er ist der dritte Sohn eines Earls ohne alle Aussichten und mit einem zweifelhaften Ruf. Und das ist noch vorsichtig ausgedrückt. Und seine Mutter …“, fügte Rosa missbilligend hinzu, „sagen wir, sie gehört nicht zu denen, die ich besonders mag. Und ich mag fast jeden.“

„Unsinn, Mutter. Du bist einfach spießig.“ Harriet schnaubte abfällig. „Mr. Goodwins Ruf ist nicht schlechter als der der meisten jungen Männer, die ich kenne. Aber er ist amüsant und gut aussehend und …“ Sie reckte trotzig das Kinn. „Und ich mag ihn. Ich mag ihn sogar sehr. Vielleicht bin ich sogar in ihn verliebt.“

„Das wirst du schön bleibenlassen. Er ist völlig ungeeignet und hat einen schlechten Einfluss auf dich“, entgegnete Rosa mit strengem Blick. „Ich erlaube nicht, dass er dich besucht.“

„Ist mir egal.“ Harriet verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde ihn sehen, wann immer es möglich ist.“

Mutter und Tochter maßen einander mit wütendem Blick. Spannung lag in der Luft, und Dante hätte sich am liebsten vor dem in Sicherheit gebracht, was möglicherweise gleich geschah. Noch nie zuvor war er Zeuge einer Auseinandersetzung der beiden Frauen gewesen, und sein Blick wanderte zwischen seiner Schwester und seiner Nichte hin und her. So gerne er den Portinari auch wiederhaben wollte, fragte er sich, ob es klug war, sich einer Reisegruppe anzuschließen, die aus Müttern und Töchtern bestand. Aber es half alles nichts. Er nahm seinen Mut zusammen.

„Habe ich schon erwähnt, dass ich für alle Kosten aufkomme?“, fragte er in dem Bemühen, die Spannung zu lösen.

„Da wird sich dein Vater aber freuen“, erwiderte Rosa, den Blick noch immer auf ihre Tochter geheftet.

„Vater wird mich nicht zu der Reise zwingen, wenn ich nicht will“, entgegnete Harriet herausfordernd und mit geröteten Wangen.

„Mein liebes Kind, du bist seine Tochter.“ Ein triumphierendes Funkeln trat in Rosas Augen. „Aber ich bin seine Frau.“ Sie setzte ein süffisantes Lächeln auf, das Dante aus ihrer Jugendzeit kannte, wenn seine Schwester die Oberhand gewonnen hatte und es auch wusste. „Dante“, fragte sie, ohne den Blick von ihrem Sprössling zu wenden, „wann soll es losgehen?“