PROLOG
WALDENMERE LAKE
November 1918
Beinahe lautlos gurgelnd begann das metallene Ungetüm zu sinken. Das Wasser schloss sich über ihm, die Wellen glätteten sich und kurze Zeit später war keine Spur mehr zu sehen – nichts, was darauf hinwies, dass es je da gewesen war. Der Waldenmere Lake lag wieder still und friedlich da, als hätte er nie etwas verschlungen.
Die Soldaten beobachteten, wie der Mann sich ans Ufer kämpfte. Seine Uniform war vom Schlamm durchtränkt und er hatte Mühe, sich im hüfthohen Wasser aufrecht zu halten. Ein Fluch riss durch die Stille, als das Licht seiner Taschenlampe erst flackerte und dann vollends erlosch.
Als er verschwunden war, krochen die Männer aus ihrem Versteck und machten sich wortlos auf den Weg zurück ins Lager. Sie würden nichts von dem erzählen, was sie gesehen hatten. Schon bald würden sie fort sein und in ihr altes Leben zurückkehren.
Der Krieg war vorbei – doch der Frieden fühlte sich noch fremd an.
Kapitel 1
WALDEN, HAMPSHIRE
Mai 1921
„Der Waldenmere Lake steht nicht zum Verkauf.“ Entrüstet stürmte General Cheverton ins Büro und winkte mit der neuesten Ausgabe des Walden Herald. „Guten Tag, Miss Woodmore.“ Ohne mich wirklich wahrzunehmen, marschierte er an meinem Schreibtisch vorbei, wobei sein silberbeschlagener Gehstock auf den Holzboden klackte.
Elijah, der in seinem Stuhl eingenickt war, schreckte hoch. Er rappelte sich mühsam auf, als der General die Zeitung auf seinen Schreibtisch niedersausen ließ. Sie enthielt einen Artikel, in dem behauptet wurde, dass die Armee im Begriff war, den Waldenmere Lake an den Meistbietenden zu verkaufen.
Der Hauptsitz des Walden Herald bestand aus zwei Räumen über der Druckerei Laffaye. Der Herausgeber, Elijah Whittle, leitete den Betrieb von seinem verrauchten Arbeitszimmer aus, von wo aus er mich und jeden, der das Hauptbüro betrat, im Auge behalten konnte. Ich war die einzige festangestellte Reporterin. Der Rest des Personals der Zeitung war in der Druckerei beschäftigt.
„Der Waldenmere Lake ist im Besitz der britischen Armee.“ General Cheverton ließ seine hochgewachsene Gestalt in einen Stuhl sinken.
„Er sollte aber den Einwohnern von Walden gehören.“ Auf der Suche nach seinen Zigaretten wühlte Elijah in den Papieren, die er auf seinem Schreibtisch ausgebreitet hatte.
Ich hatte aufgehört zu tippen, um dem Gespräch der beiden zu lauschen.
„Ich weiß, dass die Leute in der Stadt sentimental reagieren, wenn es um den See geht.“ Der General holte seine Pfeife heraus, und Elijah reichte ihm eine Schachtel Streichhölzer. „Aber unsere Pläne werden keinen Aufruhr verursachen. Wir wollen unseren Kriegshelden lediglich einen friedlichen Ort bieten, an dem sie sich erholen können.“
„Ich habe gehört, dass die Armee gar nicht die Mittel für ein Genesungsheim hat.“ Elijah nahm die Streichhölzer zurück und zündete sich eine Zigarette an.
„Das ist in Arbeit.“ Ein Rauchschleier umgab General Chevertons graue Haarmähne. „Solche Dinge brauchen immer ihre Zeit.“
„Warum lässt man die Gemeinde den See nicht kaufen? Auf diese Weise wäre seine Zukunft gesichert.“ Elijah verschwand in kürzester Zeit hinter seiner eigenen Rauchwolke.
„Keine Sorge. Die Städter werden am Waldenmere Lake immer willkommen sein.“
„Während des Krieges waren sie jedenfalls gezwungen, sich von dort fernzuhalten.“
Ich hüstelte, als Tabakrauch in Richtung meines Schreibtisches waberte.
„Aber es gibt doch wohl einen Unterschied zwischen aktiven Soldaten und Veteranen. Jetzt, wo das Ausbildungslager nicht mehr existiert, können die Einheimischen den See doch wunderbar gemeinsam mit den genesenen Soldaten nutzen.“
Der General paffte zufrieden an seiner Pfeife, während Elijah lange Züge von seiner Zigarette nahm. Sie schienen ihre Unterhaltung zu genießen.
Mit einer Fläche von 52 Hektar offenen Gewässers war der Waldenmere Lake der perfekte Ort für ein Genesungsheim. Vor dem Krieg wurde der See für die Erprobung von Wasserflugzeugen genutzt, und in den umliegenden Sümpfen wurden Prototypen von Kampfpanzern getestet. Im Jahr 1914 hatte man an den Ufern des Sees ein Militärlager errichtet, das dort fünf Jahre lang unterhalten wurde.
Die Einheimischen standen diesem Ausbildungslager ablehnend gegenüber, und die meisten sprachen sich dafür aus, dass die Gemeinde den Waldenmere Lake kaufte. General Samuel Cheverton war jedoch eine beliebte Persönlichkeit in Walden, und viele ließen sich von seiner Meinung beeinflussen.
Ich war hin- und hergerissen zwischen meiner persönlichen Verbundenheit mit dem See und einem Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Männern, die so viel für ihr Land gegeben hatten. Tief in meinem Inneren wünschte ich mir, dass der Waldenmere Lake wieder so werden würde wie ich ihn aus meiner Kindheit kannte – und der Gedanke an ein Heim für Kriegsversehrte, das sich nun an seinem Ufer erheben würde, erfüllte mich mit Unbehagen. Der See war für mich ein alter Freund, und ich wollte nicht, dass er sich veränderte.
Elijah hievte sich aus seinem Stuhl und fischte eine Whiskyflasche und zwei Gläser aus dem Aktenschrank. Ich begann zu tippen. Er lächelte müde über meinen vergeblichen Versuch, so zu tun, als hätte ich nicht zugehört, und versetzte seiner Bürotür einen Fußtritt.
Das einzige nun noch vernehmbare Geräusch war der Lärm der Druckmaschinen unter uns. Ich beschloss, die Herren ihrem Whisky zu überlassen und Elijah am nächsten Morgen die wichtigsten Informationen zu entlocken. Es war fast sechs und George wartete vielleicht schon unten auf mich.
Ich öffnete meine Puderdose und überprüfte mein Make-up in dem kleinen Spiegel. Dann nahm ich meine Jacke und meine Tasche und wollte gerade gehen, als Elijah noch einmal den Kopf durch die Tür steckte.
„Sieh zu, dass du morgen um neun Uhr hier bist. Wir haben einen Termin mit Mrs Siddons in der Stadtverwaltung.“ Damit schlug er die Tür wieder zu, bevor ich irgendwelche Fragen stellen konnte.
***
Ich ging die Treppe hinunter und trat in die schwüle Hitze der Queens Road hinaus. Der scharfe Geruch chemischer Druckfarben stieg durch die Gitterroste der Druckerei empor und verdrängte den an mir haftenden Tabakdunst.
„Endlich.“ George stand im Eingangsbereich der Druckerei, die Jacke über den Arm gehängt und die Krawatte locker um den Hals gebunden. Er warf seine Zigarette auf den Boden und wir schlenderten die Straße entlang, bis wir die Abkürzung zum See erreichten. Auf einem Fußweg, der durch den Wald führte und dann eine Kurve entlang des Grebe Stream beschrieb, konnten wir dem Wasserlauf folgen, bis er sich in den Waldenmere Lake ergoss.
„Du bist spät dran. Erzähl mir nicht, dass in Walden etwas Wichtiges passiert ist.“ George arbeitete bei der Stadtverwaltung in der Main Road. Wenn er um fünf Uhr dreißig fertig war, spazierte er die Queens Road hinunter und wartete auf mich. Er hatte es nie eilig, den Zug nach Basingstoke zu erreichen. Stattdessen schlenderten wir gemeinsam am See entlang und kamen dann irgendwann am Bahnhof an.
„Es geht um diese Sache mit dem See. General Cheverton hat uns einen Besuch abgestattet, um uns über die Pläne der Armee aufzuklären.“
„Was hat er denn darüber gesagt?“
„Offenbar hat die Militärverwaltung in Aldershot, die im Besitz der Grundstücksrechte ist, nicht die Absicht, den Waldenmere Lake an irgendjemanden zu veräußern.“
„Na, ob das tatsächlich stimmt?“, meinte George skeptisch.
„Er gab zu, dass sie noch nicht über die Mittel für den Bau des Genesungsheims verfügen. Aber er ist fest davon überzeugt, dass es weitergehen wird. Ich glaube, er wollte nur ein wenig mit Elijah plaudern. Die Whiskyflasche war schon fast leer, als ich ging. Weißt du etwas über diese Sache?“
„Nichts, was ich einer Reporterin verraten dürfte“, stichelte George lächelnd. „Du solltest deine Freundin Mrs Siddons fragen.“
„Das werde ich auch. Wir haben morgen ein Treffen mit ihr in der Stadtverwaltung. Hat sie sich dort schon häuslich eingerichtet?“ Ich konnte mir lebhaft vorstellen, dass sie sich bereits ein ganzes Büro einverleibt hatte.
„Ja, das hat sie. Ich bin völlig fertig.“
Ich bemerkte, dass er ein wenig steif ging, und versuchte, mein Tempo zu verlangsamen, ohne dass er es bemerkte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mansbridge darüber sehr erfreut ist“, sagte ich und grinste spöttisch.
Im Jahr zuvor war Mrs Siddons Abgeordnete für Aldershot geworden und die dritte Frau, die einen Sitz im Unterhaus einnahm. Sie kandidierte als Vertreterin der Liberalen bei den örtlichen Nachwahlen und siegte über den Kandidaten der Konservativen, Stadtrat William Mansbridge.
Er gähnte müde. „Sie hat uns alte Landkarten heraussuchen lassen, damit wir uns über Grenzverläufe informieren.“
„Bedeutet das, dass sie den Plan der Gemeinde unterstützt, den See zu kaufen?“
Er nickte.
„Ausgezeichnet. Das heißt, dass eine gute Chance besteht, dass er umgesetzt wird.“
Er schien nicht überzeugt zu sein, aber ich wusste, wie einflussreich Mrs Siddons sein konnte. Schon bevor sie ins Parlament einzog, bewegte sie sich in politischen Kreisen und stieß selbst bei Premierminister Lloyd George auf ein offenes Ohr.
„Wie ist deine Freundschaft zu ihr eigentlich entstanden?“, wollte George wissen.
Wir verließen den Wanderweg und bahnten uns einen Weg durch das Gestrüpp, bis wir die Sumpfmyrten-Lichtung erreichten, wo unsere Bank in aller Abgeschiedenheit auf uns wartete.
„Sie war für mich da, nachdem meine Mutter gestorben war“, antwortete ich knapp. Darüber wollte ich jetzt nicht sprechen. Ich schaute zum See hinüber. Er war wunderschön, wie er da so im Sonnenschein lag. Es war windstill und das einzige Geräusch, das aus dem Schilf zu uns drang, war der Gesang einer Grasmücke.
„Wird Elijah morgen dabei sein?“ George streckte sein Bein aus. Ich vermutete, dass es ihn schmerzte, aber es war besser, nicht darauf einzugehen.
Ich nickte.
„Weiß er …“ Er brach ab. Vermutlich wusste er nicht so recht, wie er unsere Beziehung beschreiben sollte.
„Nein. Niemand weiß davon.“ Bei dem Gedanken an die morgen bevorstehende Begegnung wurde mir etwas mulmig.
„Soll ich so tun, als würde ich dich nicht kennen?“ Seine dunklen Augen funkelten amüsiert.
„Natürlich nicht. Nur nicht …“ Jetzt war ich an der Reihe, nach den richtigen Worten zu suchen.
„Was nicht?“, flüsterte er mir ins Ohr, wobei seine Nase mein Gesicht berührte.
„Lass dir einfach nicht anmerken, dass wir so viel Zeit miteinander verbringen.“ Um ihn zu besänftigen, gab ich ihm einen leichten Kuss auf die Nasenspitze.
„Schon verstanden.“ Mit einem gespielt beleidigten Gesichtsausdruck setzte er sich von mir weg an das andere Ende der Bank und verkündete dann gestelzt: „Ich möchte nicht, dass jemand den Eindruck bekommt, wir wären mehr als nur flüchtige Bekannte.“
„Ich mache mir nur Sorgen um deinen Ruf“, gab ich in gleicher Weise zurück.
Er lachte und rutschte zurück, um seine Arme um mich zu schlingen. Nur wenige Menschen wussten, dass unsere Bank existierte. Sie stand schon so lange dort am Fuße einer uralten Eiche, dass deren Ausläufer sich bereits über ihre Eisenbeine gelegt hatten. Das ausladende und tief auf die Erde reichende Blätterdach des Baumes verbarg uns vor unerwünschten Blicken – wir konnten den See in der Ferne erahnen, aber niemand konnte uns sehen.
„Das Wasser gibt seine Geheimnisse nicht preis", bemerkte George mit Blick auf den See.
„Wie meinst du das?“ Behutsam berührte ich seine Wange und zeichnete die Linie einer schwachen Narbe nach, die an seiner linken Schläfe entlanglief, bevor sie unter einem Wirrwarr von dunklen Locken verschwand. Die gleichen Granatsplitter, durch die sein linkes Bein verletzt worden war, hatten auch diese Seite seines Gesichts gestreift.
„Wenn man sich das Land ansieht, findet man überall noch verräterische Zeichen des Krieges, aber das Wasser verschluckt alles. Als dieser Ort ein Armeelager war, bestand er nur aus Schlamm und Maschinen.“ George deutete auf das Schilfrohr. „Man kann immer noch Spuren davon sehen – hier und da ein paar Metallstücke, alte Grenzsteine. Aber der See liegt wieder völlig unberührt da. Er bewahrt seine Geheimnisse.“
„Als ich in London lebte, träumte ich vom Waldenmere Lake.“ Ich folgte seinem Blick über das Wasser. „Es hat mich über vieles hinweggetröstet. Der See hatte immer so etwas Konstantes, Unveränderliches. Inmitten des ganzen Chaos empfand ich ihn als beruhigend.“
„Bist du deshalb zurückgekommen?“ Er nahm meine Hand und legte sie um seine Taille. Ich rückte näher heran.
„Es war die Idee meines Vaters. Er dachte, wir wären hier glücklicher. Ich war mir da nicht so sicher, aber ich konnte bei keiner der Londoner Zeitungen eine Stelle bekommen. Elijah ist ein alter Freund der Familie und er bot mir an, mich beim Walden Herald einzustellen.“
„Vermisst du London denn nicht?“
Ich lächelte. George konnte nicht verstehen, warum jemand die Stadt verlassen wollte, um sich in einer Kleinstadt in der Grafschaft Hampshire niederzulassen.
„Manchmal schon“, gab ich zu. „Aber ich bereue nicht, dass wir zurückgekommen sind.“
„Ich auch nicht, sonst wären wir uns vielleicht nie begegnet.“ Er fuhr mit dem Finger meine Wange entlang und lenkte meinen Blick behutsam zu sich.
***
„Worum geht es bei diesem Treffen?“, fragte ich Elijah. „Um den See?“
„Ich nehme an, dass Mrs Siddons hinter dem Vorschlag steckt, dass der Gemeinderat den Waldenmere Lake kaufen soll. Zweifellos wird sie Mansbridge aber glauben lassen, es sei seine Idee.“
Durch die Spaziergänge mit George hatte ich gelernt, unauffällig langsamer zu werden, wenn ich sah, dass sein Bein schmerzte. In der Begleitung von Elijah fiel es mir deutlich schwerer, nicht vorwärts zu stürmen. Trotz unseres eher gemütlichen Tempos war er rot im Gesicht, als wir bei der Stadtverwaltung ankamen.
„Da ist George Hale“, sagte Elijah und schnaufte vor Anstrengung. „Ich werde ihn nachher auf ein Bier ins Drunken Duck einladen und sehen, was er zu all dem zu sagen hat.“
„Elijah, wie geht es Ihnen?“ George schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken.
„Guten Tag, George. Sie kennen Iris, nicht wahr?“
George nickte förmlich in meine Richtung, und ich erwiderte sein Nicken mit einem höflichen Neigen meines Kopfes. Er konnte das Lachen in seinen Augen nicht verstecken.
„Mrs Siddons ist mit Stadtrat Mansbridge bereits im Sitzungssaal. Ich bringe Sie hinauf.“
Elijah stützte sich auf das polierte Eichengeländer, während er schwer atmend die geschwungene Treppe hinaufstieg. George und ich folgten ihm und tauschten ein flüchtiges Lächeln aus.
„Sehen wir uns heute Abend?“, wisperte er.
Ich hielt sechs Finger hoch, um die Zeit anzuzeigen. Er nickte.
Elijah drehte sich am oberen Ende der Treppe um und erhaschte gerade noch einen Blick auf unser stilles Einvernehmen.
„Ich werde nachsehen, ob sie Sie jetzt empfangen.“ George ließ uns in einem kleinen Vorraum warten.
„Du und George, ihr seid Freunde?“ Elijah hob verwundert die Augenbrauen.
„Wir haben ein paar Mal miteinander geplaudert.“ Ich tat so, als würde ich das Porträt eines bärtigen Mannes betrachten, der ein bisschen wie König George aussah. Die Inschrift verriet, dass es sich um Alderman Redvers Tolfree handelte.
„Hmm, nun, sei vorsichtig. Er ist zwar ein sympathischer Kerl, aber ich bin mir nicht sicher, ob dein Vater diese Beziehung gutheißen würde.“
Da mein Vater viel auf Reisen war, hatte Elijah wohl irgendwie das Gefühl, in eine Art Vaterrolle schlüpfen zu müssen – und zum Glück keinerlei Ahnung, was diese ausmachte.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe nicht vor, ihn zu heiraten“, wollte ich ihn beruhigen und bereute es sofort, denn Elijahs Augenbrauen schossen wieder hoch.
„Was hast du denn dann mit ihm vor?“ Sein Ton war zynisch.
„Wir genießen einfach die Gesellschaft des anderen.“ Ich spürte, wie die Röte in meine Wangen schoss. Auch wenn ich nicht vorhatte, jemanden zu heiraten, so genoss ich es doch, einen Freund zu haben – vor allem einen heimlichen.
„Ich weiß, du denkst, dass du die gleichen Rechte hast wie ein Mann, aber ich fürchte, so funktioniert die Welt nicht.“
„Die Welt verändert sich gerade.“ Ich hielt meinen Blick auf das Porträt von Alderman Tolfree gerichtet.
„Aber nicht so schnell, wie du es dir wünschst. Riskiere deinen Ruf nicht für einen Mann wie George Hale. Walden ist eine kleine Stadt mit vielen klatschsüchtigen Menschen.“
Zu meiner Erleichterung tauchte George in diesem Moment wieder auf. Er führte uns in einen nüchternen Sitzungssaal, der von einem riesigen Mahagonitisch dominiert wurde. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet und mit Porträts ehemaliger Ratsmitglieder dekoriert.
„Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Ratsmitglied William Mansbridge stand auf, um uns zu begrüßen. Mit seiner Größe von einem Meter achtzig, seinem schwarzen Haar und dem Bart war er eine imposante Gestalt, die sich unausweichlich ins Gedächtnis brannte „Danke, George.“
George verließ den Raum, und Mrs Siddons kam sofort zur Sache. In ihrem dunkelblauen Satinkleid mit glitzernden Saphirohrringen und einem Saphirring aus ihrer berühmten Schmucksammlung war sie eine geradezu strahlende Erscheinung. „Sicher haben Sie schon von den Gerüchten über die zukünftigen Besitzer des Waldenmere Lake gehört. Wir möchten Sie bitten, Ihre Leser über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren.“
Ich nahm mein Notizbuch heraus. Ich wusste aus Erfahrung, dass Mrs Siddons in kurzer Zeit eine Menge Informationen übermitteln konnte.
„Richtig ist, dass der Gemeinderat von Walden sein Interesse am Kauf des Sees bekundet hat. Mit Aldershot Military Estates wurde jedoch noch keine Einigung erzielt. Die Armee möchte den Waldenmere Lake vielleicht behalten, wenn sie die Mittel für den Bau eines Genesungsheims für Kriegsveteranen aufbringen kann.“ Sie legte eine dieser kunstvoll gesetzten Pausen ein, wie man sie von Politikern kannte. „Das mag eine noble Idee sein, aber sie berücksichtigt nicht die Auswirkungen, die eine solche Einrichtung auf die Stadt haben könnte. Der Gemeinderat würde Einwände gegen eine derartige Entwicklung erheben.“
Stadtrat Mansbridge schien nicht ganz so überzeugt wie Mrs Siddons, hielt sich aber zurück und überließ ihr weiterhin die Führung.
„General Cheverton glaubt, dass er genügend Investoren auftreiben kann, um das Genesungsheim zu verwirklichen“, berichtete Elijah.
Mrs Siddons seufzte. „Er sollte besser bald seine Kontakte nutzen, um das Geld zusammenzubekommen, denn die Zeit wird knapp. Eine dritte Partei ist daran interessiert, den Waldenmere Lake zu kaufen, und sie hat tiefere Taschen als der Gemeinderat und die Armee zusammen.“
„Wer?“, entfuhr es mir überrascht. Selbst Elijah sah erschrocken aus. Davon war vorher noch nie die Rede gewesen.
„LSWR, die London and South Western Railway. Sie planen den Bau eines vierstöckigen Hotels auf der Nordseite des Sees, direkt neben dem Bahnhof.“
„Nein“, stöhnte ich entsetzt auf.
Kapitel 2
„Du machst dir nur Notizen! Stell keine Fragen! Und keine Feindseligkeit gegenüber dem Mann. Verstanden?“ Elijah saß in der Ecke des Abteils, den Hut auf dem Schoß.
Zu meinem Erstaunen war es ihm gelungen, kurzfristig ein Treffen mit Sir Henry Ballard von der London and South Western Railway zu arrangieren. Wie viele Menschen unterschätzte auch ich meinen Chef manchmal. Sein schlurfender Gang und sein zerstreutes Auftreten täuschten über die Tatsache hinweg, dass er äußerst scharfsinnig war und über ein umfangreiches Netzwerk von Kontakten aus allen Bereichen des Lebens verfügte.
„Ich werde die Bedenken der Bewohner von Walden erwähnen; damit rechnet er sicher auch. Aber wir sollten ihm auch versichern, dass wir ebenso seine Argumente darlegen werden.“ Elijah fuchtelte mir mit seiner Zigarette vor der Nase herum. „Auf diese Weise werden wir ihm mehr Informationen entlocken können.“
Der Zug nach London verließ den Bahnhof von Walden, und ich starrte auf den schimmernden See hinaus. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sich ein Hotel über den Waldenmere Lake erheben würde. Während der gesamten zweistündigen Fahrt beschäftigte mich die absurde Idee und verschwand erst aus meinen Gedanken, als diese durch unsere Ankunft in London abgelenkt wurden.
Die Hauptverwaltung der London and South Western Railway befand sich im Bahnhof Waterloo. Eine Sekretärin führte uns in einen tristen Raum mit schmutzigen Fenstern, von denen man die Bahnsteige überblicken konnte. Der Geruch von verbrannter Kohle schien die Tapete zu durchdringen. An einer Wand hing eine große Karte, auf der die wichtigsten Bahnhöfe im Süden des Landes verzeichnet waren. Sie zeigte, wo bereits Hotels der Bahngesellschaft gebaut worden waren, und wies auf geplante Standorte für neue Hotels hin. Das Waldenmere Lake Hotel war darauf bereits eingezeichnet.
Im Gegensatz zu dem schlicht und sachlich eingerichteten Büro, war Sir Henry Ballard mit einer karierten Weste und einer gepunkteten Fliege extravagant, wenn auch nicht unbedingt geschmackvoll gekleidet. Er folgte meinem Blick und zeigte auf die Karte. „Die neueste Ergänzung unserer Hotelkette.“
„Wenn es Ihnen gelingt, den See zu kaufen“, korrigierte Elijah.
„Natürlich.“ Sir Henry hob zustimmend die Hände. „Wir haben noch einige Dinge zu regeln. Aber ich gehe davon aus, noch vor Jahresende ein Team von Männern vor Ort zu haben.“
„Sie werden verstehen, dass Ihr Plan für einige Unruhe gesorgt hat. Die Anwohner sind besorgt über den Schaden, der dem Waldenmere Lake zugefügt werden könnte. Und sie machen sich Gedanken über die Besucherzahlen, die ein großes Hotel in die Stadt spülen wird.“ Elijah gab diese Fakten ohne Emotionen wieder. „Walden ist ein ruhiger Ort.“
‚Und wir wollen, dass das so bleibt‘, drängte es aus mir raus, aber ich schwieg.
„Dafür habe ich großes Verständnis, Mr Whittle. Veränderungen jeglicher Art verursachen zunächst Unruhe. Aber wenn das Hotel erst einmal in Betrieb ist, werden sich die Einheimischen bald an seine Anwesenheit gewöhnen.“
„Aber die meisten Ihrer Hotels sind in Städten oder Küstenorten gebaut worden. Walden ist eine kleine und relativ neue Stadt. Wir haben erst seit etwa zwanzig Jahren einen Stadtrat“, sagte Elijah.
„Mr Whittle, seien Sie versichert, dass ich sowohl die Geschichte von Walden kenne als auch die Rolle, die die Eisenbahn bei seiner Entstehung gespielt hat.“ Sir Henry steckte die Daumen in seine Westentaschen. „Waldenmere Lake ist ein wichtiger Anziehungspunkt für Besucher. Das Letzte, was wir tun wollen, ist, seine Attraktivität zu schmälern. Aber … ein paar Änderungen könnten notwendig sein.“
„Von welchen Änderungen sprechen Sie?“, hakte ich nach. Das hörte sich gar nicht gut an. Elijah hüstelte in meine Richtung.
„Nichts, was Sie beunruhigen müsste, Miss Woodmore. Ich weiß, dass große Bauvorhaben beängstigend wirken können, wenn man sie zum ersten Mal mit ihnen konfrontiert sieht.“ Sir Henry lächelte mich an. „War das nicht schon immer so, seit es die Eisenbahn gibt? Doch wo wären wir heute, wenn wir keine Züge hätten, die uns von einem Ende des Landes zum anderen bringen, nicht wahr?“
„Ich bin nur neugierig, wie Sie einen See verändern wollen.“ Genervt von seiner herablassenden Art, zwang ich mich zu einem Lächeln.
„Eine ausgezeichnete Frage. Lassen Sie mich Licht ins Dunkel bringen.“ Er breitete eine Karte auf seinem Schreibtisch aus. Sie zeigte den Waldenmere Lake mit einem Hotel, das neben dem Bahnhof stand. „Wie Sie sehen können, fließt auf der Südseite das Wasser des Grebe Stream an der Heron Bay in den See. Auf der Nordseite des Sees, nicht weit von der Bahnlinie, befindet sich ein Wehr mit einem Absperrschieber, den man anheben kann, um das Wasser in den Walden Brook und weiter in den Fluss Hart abfließen zu lassen. Indem wir den See vorübergehend trockenlegen, können wir eine nördliche Bucht schaffen, ähnlich der Heron Bay.“
Dieser Mann maßte sich doch tatsächlich an, den See kaufen und ihn einfach nach seinem Gutdünken umgestalten zu können.
„Unser Hotel wird sich in der Nähe des Bahnhofs befinden und die neue Bucht wird davor liegen. Wir können einen flachen Badebereich schaffen, indem wir das vorhandene Schilf abtragen und tonnenweise Sand aufschütten. Entlang der Bucht wird eine Promenade verlaufen, die zu einem Bootshaus an der nordöstlichen Ecke des Sees führt. So können wir auch Bootsfahrten anbieten. Sobald die Arbeiten abgeschlossen sind, werden wir den Wasserstand dann wieder normalisieren.“
Ich hatte Mühe, meine Bestürzung über den Gedanken zu verbergen, dass mein geliebter See in ein mondänes Seebad verwandelt werden sollte.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meinem Gerede über die Bauplanung erschrecke.“ Er strich sich über den Schnurrbart. „Als die Eisenbahn in Großbritannien Einzug hielt, wurden – sehr zum Schrecken der Anwohner – weite Landstriche verwüstet. Als die Gleise aber erst einmal gebaut waren, kehrte alles bald zur Normalität zurück.“
Auf seinem Schreibtisch stand ein Foto einer gut gekleideten Frau mit zwei jungen Mädchen, vermutlich seine Frau und seine Kinder. Sie standen auf einem tadellos gemähten Rasen vor einem palastartigen Herrenhaus. Ich fragte mich, wie sich die Familie Ballard wohl fühlen würde, wenn die LSWR beschlösse, eine Eisenbahnlinie durch ihren Garten zu führen.
„Wollen Sie damit sagen, dass wir uns auf die Vorteile konzentrieren sollten, die das Hotel für die Stadt bringen könnte?“, fragte Elijah.
Sir Henry strahlte ihn an. „Genau, Mr Whittle. Denken Sie an all das Positive, das ein Hotel bieten würde. Es wird neue und spannende Arbeitsplätze schaffen, und die örtlichen Kaufleute werden sich über den Anstieg des Handels freuen. Ich bin sicher, dass die Bürger Ihrer Stadt in Scharen in die Bar und das Restaurant des Hotels strömen werden.“
Es wollte mir partout nicht gelingen, mir die Einwohner von Walden in Anzügen und Abendkleidern vorzustellen, wie sie in der Lounge des Waldenmere Lake Hotels Cocktails schlürften.
„Gegen eine Gebühr können Tagesgäste in den Sommermonaten zusammen mit unseren zahlenden Gästen im Schwimmbad schwimmen oder im See baden.“
„Die Einheimischen baden das ganze Jahr über kostenlos im See.“ Diese Bemerkung konnte ich mir trotz Elijahs Seitenblick nicht verkneifen.
„Aber im Hotel können sie sich auf Liegestühlen zurücklehnen, Getränke an der Bar bestellen und die Schönheit des Sees in luxuriöser Umgebung genießen.“
„Sie scheinen zuversichtlich zu sein, dass Aldershot Military Estates dem Verkauf zustimmen wird.“ Elijahs Finger zuckten, ein untrügerisches Zeichen dafür, dass er sich nach einer Zigarette sehnte.
„Ich habe mit meinen Vorstandskollegen hier bei LSWR gesprochen. Sie stehen voll hinter dem Projekt. Daher bin ich> zuversichtlich, dass wir in der Lage sein werden, Aldershot ein Angebot zu machen, das sie nicht ablehnen können.“
„Was ist mit Mill Ponds?“ Ich sah mir die Karte an. „Ist das nicht der Ort, an dem Sie Ihre Promenade bauen wollen?“
„Das alte Haus, das eine Militärakademie war? Ich bin sicher, dass wir die Armee dazu bringen können, es als Teil des Deals zur Verfügung zu stellen.“
„Die Armee ist aber nicht Eigentümerin von Mill Ponds.“ Ich freute mich, dass ich eine Schwachstelle in seinem Plan gefunden hatte.
Und tatsächlich schien Sir Henry verblüfft. „Sind Sie sicher? Aber es wurde doch während des Krieges für die Ausbildung von Offizieren genutzt, nicht wahr?“
„Das ist richtig“, bestätigte Elijah. „General Cheverton hat es für die Kriegsanstrengungen zur Verfügung gestellt. Von 1916 bis 1918 war dort ein Offizierskadettenbataillon stationiert. Aber der General ist nie ausgezogen und wohnt immer noch in Mill Ponds.“
Das Lächeln auf Sir Henrys Gesicht war plötzlich wie weggewischt. „Dem werde ich nachgehen müssen.“
„Haben Sie eventuell schon eine Zeichnung, wie das Hotel aussehen soll?“, fragte Elijah.
Sir Henry nahm eine Fotografie von der Wand. „Dies ist das South Eastern Hotel in Deal in Kent. Es hat achtzig Zimmer, Aufzüge zu den oberen Etagen und überall elektrische Beleuchtung. Es liegt direkt am Meer und hat eine eigene Promenade. Wunderschön, nicht wahr? Können Sie es sich an den Ufern des Waldenmere Lake vorstellen?“
Ich konnte mein Entsetzen nicht verbergen, als sich vor meinem geistigen Auge ein derart riesiges Gebäude über unseren See erhob. Es war ungeheuerlich.
Sogar Elijah, der die ganze Zeit über teilnahmslos geblieben war, wirkte schockiert über dessen Dimensionen. Und so ließen wir Sir Henrys Frage unbeantwortet, bedankten uns für seine Zeit und verabschiedeten uns, da er bereits über der Karte brütete und die Stirn über das Problem ‚Mill Ponds‘ runzelte.
***
„Wie kann man so etwas zulassen?“, explodierte ich. Elijah bedeutete mir, leiser zu sprechen. Wir waren über die Waterloo Bridge gegangen und hatten einen Tisch im Lyons Corner House an der Londoner Strand gefunden.
Er nahm die Kaffeekanne in die Hand und füllte unsere Tassen. „Ich bin verblüfft, dass die LSWR den Waldenmere Lake für einen geeigneten Standort für ein Eisenbahnhotel hält. Normalerweise bevorzugen sie Großstädte oder Küstenorte.“
Ich kaute auf meinem Fischpastensandwich herum und schüttelte ungläubig den Kopf. „Kann der Rat denn nichts dagegen tun?“
„Mrs Siddons mag ihre Verbindungen haben, aber die Eisenbahngesellschaften sind zu mächtig. Ich bin mir nicht sicher, ob sie genug Einfluss hat, um das zu verhindern.“
„Und LSWR wird wahrscheinlich der Höchstbietende sein, nicht wahr?“
„Vermutlich.“ Er trank seinen Kaffee auf und füllte seine Tasse erneut. „Selbst mit Horaces Hilfe wird der Rat kaum in der Lage sein, die Finanzkraft der Eisenbahn zu erreichen.“
„Mr Laffaye?“ Horace Laffaye war der Eigentümer des Walden Herald und der Laffaye Printworks.
Ich schob den Teller mit den Sandwiches zu Elijah rüber. Er würde sich mit Kaffee und Zigaretten begnügen, wenn er nicht dazu gezwungen würde, etwas zu essen. Mit wenig Begeisterung aß er ein Schinkensandwich.
„Er hat sich mit dem Stadtrat getroffen, um ihm zu helfen, einen Deal mit Aldershot Military Estates auszuhandeln.“
„Wie?“ Ich stürzte mich auf ein Stück Obstkuchen. Im Gegensatz zu Elijah war ich am Verhungern.
„Er nutzt seine Verbindungen zum Militär, um Druck auf Aldershot auszuüben, damit die an die Stadtverwaltung verkaufen.“
Er und Horace hatten viel gemeinsam. Beide verfügten über Kontakte in hohen Positionen, wobei Elijah auch einige eher zwielichtige Verbindungen in deutlich niedrigeren Kreisen hatte.
„Mr Laffaye wird es nicht mögen, wenn Touristen vor seiner Haustür stehen“, mutmaßte ich. „Oder gar ein Hotel, das seine wundervolle Aussicht beeinträchtigt.“
Das Haus von Horace Laffaye lag mit Blick auf die Heron Bay. Er war bereits gegen die Pläne für ein benachbartes Genesungsheim gewesen. Ein Hotel auf der anderen Seite des Sees wäre ihm sicher noch weniger willkommen. Horace wollte, dass Walden und der Waldenmere Lake so blieben, wie sie waren.
„Er wird es verabscheuen. Er mag keine Störungen. Davon hatte er während des Krieges mit dem Militärlager bereits genug.“ Elijah blickte finster in seine Kaffeetasse. Eine Wolke der Düsternis schien sich auf ihn herabzusenken.
Ich konnte mir denken, warum. Horace war nicht nur sein Chef. Die beiden hatten eine enge persönliche Beziehung zueinander. Mir war klar geworden, dass sie sowohl Geschäfts- als auch Lebenspartner waren, auch wenn das nie öffentlich bekannt werden durfte. Wenn Horace beschloss, wegzuziehen, würde es Elijah das Herz brechen. Und wenn der Walden Herald eingestellt werden würde, wäre auch er arbeitslos. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass Horace sich von Elijah trennen würde. Er würde wollen, dass er mitkam. Und was würde dann aus mir werden?
Wir hüllten uns in Schweigen, während ich das restliche Essen verzehrte und er die Kaffeetasse leerte.
Nach dem Mittagessen traf sich Elijah mit einem alten Kollegen auf einen Drink, und ich nutzte die Gelegenheit, um zum Friseursalon von Dolly Dawes zu gehen. Mein Kurzhaarschnitt wurde als zu modern für das provinzielle Walden angesehen, und ich konnte keinen Friseur in der Nähe finden, der ihn beherrschte.
Um vier Uhr traf ich Elijah an der Waterloo Station wieder.
Er beäugte mein Haar misstrauisch. „Hast du vor, dich später mit George zu treffen?“
„Nein.“
„Was ist eigentlich aus dem jungen Baverstock geworden?“ Er öffnete die Tür zum Abteil und ließ sich auf die Sitzbank sinken.
„Nichts ist aus ihm geworden“, entgegnete ich verärgert. „Er war nur ein Freund.“ Ich war in Percy Baverstock vernarrt gewesen, aber er hatte sich als unzuverlässig erwiesen, was seine Zuneigung anging.
„George ist demnach mehr als nur ein Freund?“ Elijah schmunzelte.
„So habe ich das nicht gemeint.“
Zu meiner Erleichterung machte er nur ein undefinierbares Geräusch, das man wohlwollend als Zustimmung deuten konnte, zog sich die Mütze über die Augen und war keine drei Minuten später eingeschlafen.
Ich weckte ihn, als wir in die Walden Station einfuhren. Als wir aus dem Zug stiegen und den Fuß auf den Bahnsteig setzten, fühlte es sich an, als würden wir nach der Hektik Londons eine sanftere, ruhigere Welt betreten. Wir schlenderten hinaus in die Bahnhofshalle und blieben beide gleichzeitig stehen.
Unisono drehten wir uns um und blickten in Richtung Mill Ponds.
„Glauben Sie, dass der General sein Anwesen verkaufen wird?“, fragte ich.
Rund um den See gab es nur vier Häuser. Auf der Südseite befand sich Heron Bay Lodge, das Haus von Horace Laffaye. Seine Nachbarin war Mrs Siddons in Grebe House. Im Osten befand sich Sand Hills Hall, das Colonel Thackeray gehörte. Und an der nordöstlichen Ecke lagen die Mill Ponds.
„Ich kann es mir nicht vorstellen. Gerüchten zufolge hat Colonel Thackeray versucht, den alten Knaben zu überreden, Mill Ponds in ein Genesungsheim umzuwandeln, statt in Heron Bay ein neues zu bauen. Aber der General ist fest entschlossen, dort wohnen zu bleiben.“
„Dann wird er sich auch wohl kaum von der Eisenbahngesellschaft überreden lassen.“ Mein Optimismus nahm wieder zu.
„Das erfahren wir nur, wenn wir ihn fragen.“ Mit einem abrupten Richtungswechsel bog Elijah von der Straße ab, die in den Ort führte, und nahm den Seepfad zu den Mill Ponds.
Fünf Minuten später bewegten wir uns die lange Auffahrt hinauf auf das rote Backsteinhaus zu. Es war immer noch ein beeindruckendes Gebäude, obwohl es schon bessere Tage gesehen hatte. Das Dach und die Schornsteine waren reparaturbedürftig, aber das Haus hatte immer noch etwas Erhabenes an sich. Wenn diese Mauern sprechen könnten, würden sie spannende Geschichten über Kriegsverschwörungen und Staatsgeheimnisse erzählen.
Elijah klopfte an die Eichentür. Nachdem im Eingangsbereich alles still blieb, umrundeten wir das Haus, bis wir auf die offen stehenden Flügeltüren zum Arbeitszimmer des Generals stießen.
„General Cheverton“, rief Elijah laut, bevor er den Raum betrat und sich darin umschaute.
Ich drehte mich um und blickte in Richtung Waldenmere Lake. Stark duftende rosa- und lilafarbene Rosenbüsche setzten vor dem silbernen Hintergrund des Sees bunte Akzente. Bei einer solchen Aussicht konnte ich es General Cheverton nicht verdenken, dass er seinen Wohnsitz nicht aufgeben wollte.
Ich vernahm ein seltsames Keuchen und richtete meinen Blick wieder in das Hausinnere.
„Bleib draußen!“ Elijah hob seine Hand, um mich davon abzuhalten, näher heranzutreten, aber meine Neugier war stärker. Ich trat zu ihm in den Raum – und das grelle Rot, das sich über die Dielen ergoss, verschlug mir für einen Moment den Atem.
Der Körper des Generals lag auf dem Boden und versperrte so den Zugang zum Arbeitszimmer. Seine Gliedmaßen waren unnatürlich verrenkt, der Mund stand offen, als hätte ihn jemand mitten im Satz unterbrochen. Auf dem weißen Hemd zeichneten sich dunkle Flecken ab, dort, wo das Blut durch den Stoff gedrungen war. Neben ihm lag eine Schrotflinte, als wäre sie ihm einfach aus der Hand geglitten.
Kapitel 3
Ich presste mir die Hand vor den Mund. Elijah ging zu der am Boden liegenden Gestalt, kniete sich hin und fühlte nach dem Puls. Ein dünner, kaum noch wahrnehmbarer Blutfaden rann aus der Brust des Generals.
„Er ist tot.“ Im Gegensatz zu mir, deren Herz vor lauter Aufregung doppelt so schnell schlug als sonst, strahlte Elijah eine an Empathielosigkeit grenzende Ruhe aus. Er ging zum Telefon, wählte die Vermittlung und bat darum, mit der Polizeiwache verbunden zu werden.
Um mich abzulenken, ließ ich währenddessen meinen Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Schreibtisch lagen Papiere verstreut, und bei einem der Schränke war eine Schublade aufgezogen. Es machte den Eindruck, als hätte der General nach etwas gesucht. Oder auch jemand anders.
Elijah legte den Hörer auf und scheuchte mich zurück in den Garten. „Ben Gilbert kommt vorbei.“
„So viel Blut.“ Ich atmete aus und merkte erst jetzt, dass ich die Luft angehalten hatte.
„Gott weiß, was er mit der Schrotflinte vorhatte.“
Wir gingen zurück zur Einfahrt. „Allem Anschein nach ist es noch nicht lange her.“
Er schaute mich überrascht an. „Hast du schon einmal Leichen gesehen?“
„Einige beim Freiwilligendienst im Militärkrankenhaus von Lewisham. Und ich habe die Leiche meiner Mutter gesehen“, fügte ich hinzu und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan, weil ich nun ihr Bild wieder vor Augen hatte.
Er griff in seine Jackentasche, um seine Zigaretten herauszufischen. Mit zitternden Händen zündete er sich eine an und inhalierte gierig. Er bot mir das Päckchen an, aber ich lehnte kopfschüttelnd ab.
„Glauben Sie, er hat sich erschossen?“ Mein Blick ging wieder zum Haus zurück.
„Wahrscheinlich war es eher ein Unfall. Er war geistig nicht mehr so auf der Höhe wie früher. Oder vielleicht war etwas mit der Waffe nicht in Ordnung. Sie sah schon sehr alt aus.“ Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
Ich versuchte, die Szene im Arbeitszimmer auszublenden, und wandte mich dem See zu. Ein Schwanenpaar glitt durch das Wasser, beobachtet von einer Krähe, die auf dem Ast einer Weide hockte. Der Anblick war geradezu lächerlich friedlich im Vergleich zu der Gewalt, mit der wir uns soeben konfrontiert sahen.
Ein Schrei riss mich in die Gegenwart zurück und wir rannten zum Haus. Betty Akers, die Haushälterin von General Cheverton, stand an der Tür zum Arbeitszimmer und starrte entsetzt auf seine Leiche.
Elijah lief zu ihr, nahm ihre Hand und führte sie schnell an dem Toten vorbei in den Garten. Ich konnte nicht umhin, noch einmal einen Blick auf die blutüberzogene Leiche zu werfen, bevor ich ihnen folgte.
„Der General“, murmelte Betty entsetzt.
Ich nahm ihre Hand aus Elijahs Hand und strich beruhigend darüber. „Wir warten darauf, dass die Polizei kommt. Wir hatten angenommen, dass niemand sonst im Haus sei.“
„Ich bin gerade erst zurückgekommen und direkt in die Küche gegangen“, begann Betty aufgeregt zu plappern. „Ich war in der Stadt, um etwas Leckeres zum Abendessen zu besorgen. Ich bin ein bisschen spät dran, weil ich mit Ihrer Lizzy geplaudert habe. Ich habe die Einkäufe ausgepackt und wollte sehen, ob er eine Tasse Tee möchte, und …“
Ein Fahrrad bog in die Einfahrt ein und Wachtmeister Ben Gilbert stieg ab. „Der Arzt ist auf dem Weg. Superintendent Cobbe kommt von Aldershot herüber. Elijah, zeigen Sie mir bitte die Leiche? Iris, könntest du Mrs Akers in die Küche bringen?“
Angesichts der Seltenheit schwerer Verbrechen in Walden war ich beeindruckt, wie strukturiert Ben vorging. Im Ort gab es keine Polizeistation, sondern nur das kleine Wachhaus, das Ben sich mit Wachtmeister Sid King teilte.
Ich nahm Betty am Ellbogen und führte sie zur Tür der Küche. In dieser vertrauten Umgebung schien sie wieder aufzuleben.
„Setzen Sie sich, Miss Iris. Ich werde uns Tee kochen.“ Sie machte sich am Herd zu schaffen und erhitzte dann einen Kessel mit Wasser.
Die Küche war geräumig, und von ihr gingen eine Reihe kleinerer Räume ab, darunter die Spülküche, die Speisekammer und die Waschküche. Töpfe und Pfannen jedweder Form und Größe füllten die Regale, aber die meisten sahen aus, als wären sie schon eine Weile nicht mehr angerührt worden. Dem Geruch von Obstkuchen nach zu urteilen, waren die Backformen jedoch noch regelmäßig in Gebrauch.
„Lassen Sie mich das doch machen!“ Trotz der Größe des Raumes konnte ich erkennen, welche Gegenstände Betty in der Küche bevorzugte. Auf dem untersten Regal der Anrichte standen eine Reihe verblasster Teller mit Rosenmuster und dazu passende Tassen und Untertassen.
Betty zögerte, dann sank sie auf einen gut gepolsterten Stuhl und schluchzte. Um ihr Zeit und Raum zum Trauern zu geben, beschäftigte ich mich am Herd.
„Er ist wirklich tot, nicht wahr?“ Sie schnäuzte in ihr Taschentuch.
„Ich fürchte ja.“ Ich goss kochendes Wasser in eine mattierte silberne Teekanne, nahm Tassen und Untertassen von der Anrichte und betrachtete die vielen Rezeptbücher im Regal. Ich fragte mich, wie oft Betty jetzt in der Nachkriegszeit wohl exotische Gerichte zubereiten konnte.
„Es war seine schreckliche alte Schrotflinte. Er hätte sie schon vor Jahren loswerden sollen. Sie muss aus Versehen losgegangen sein.“
„Es sah tatsächlich aus wie eine Schusswunde, aber Genaueres kann man erst sagen, wenn der Arzt ihn untersucht hat.“ Ich dachte daran, wie verstreut die Papiere auf seinem Schreibtisch lagen, aber das konnte auch am Luftzug gelegen haben, der durch die offenen Türen geströmt war. „Hat er heute in seinem Arbeitszimmer gearbeitet?“
„Er macht dort nicht viel, außer ab und zu einen Brief zu schreiben. Die meisten dieser Schränke sind seit dem Krieg nicht mehr geöffnet worden.“
„Die Schublade eines Schrankes wurde herausgezogen. Vielleicht hat der General nach etwas gesucht?“ Ich stellte ihr eine Tasse Tee hin.
„Er war in der Regel ein ordentlicher Mensch, auch wenn er hin und wieder ein Durcheinander anrichtete, wenn er etwas nicht gleich finden konnte. Er neigte dazu, zu vergessen, wo er etwas hingelegt hatte. Meistens waren es seine Brille oder seine Pfeife. Dann krempelte er alles auf links, um sie zu finden.“
„Was befindet sich in diesen Aktenschränken?“
„Militärakten. Über die Soldaten, die hier waren. Die Unterlagen sollten nach Aldershot gebracht werden, aber es ist nie jemand gekommen, um sie abzuholen. Ich glaube, die Armee dachte, man würde ihr diesen Ort ohnehin zusprechen und der General würde in eine kleinere Unterkunft ziehen, aber davon wollte er nichts wissen.“ Sie hob die Teetasse an die Lippen, aber die Tränen liefen ihr über die rosigen Wangen, und sie stellte die Tasse zurück auf die Untertasse.
„Leben nur Sie und der General hier?“
Sie nickte. „Alle Offiziersanwärter sind bei Kriegsende gegangen. Es gab Zeiten, da war das ganze Haus voll von ihnen. Und zusätzlich gab es noch behelfsmäßige Schlafsäle auf dem Gelände.“
Ich stellte mir vor, wie in der Küche das Personal herumwuselte, um Dutzende von Soldaten zu verpflegen.
„Ein Mädchen kommt morgens vorbei, um mir beim Putzen zu helfen …“ Sie sah plötzlich verwirrt aus. „Was soll ich denn jetzt nur tun? Was wird mit Mill Ponds passieren?“
„Machen Sie sich darüber erst einmal keine Gedanken. Sobald die Polizei hier fertig ist, kommen Sie mit mir nach Hause.“
Betty brach erneut in Tränen aus.
Ben Gilbert steckte seinen Kopf durch die Tür. „Ist sie bereit, ein paar Fragen zu beantworten?“, flüsterte er.
Ich ging zu ihm hinüber. „Sie wird zunehmend verzweifelter. Ich möchte sie nach Hause zu Lizzy bringen.“ Unsere Haushälterin, Mrs Elizabeth Heathcote, war mit Betty befreundet, seit sie Kinder waren.
Er nickte und verschwand. Einige Minuten später kehrte er zurück, um mir mitzuteilen, dass er dafür gesorgt hatte, dass wir in Superintendent Cobbes Auto nach Hause gefahren würden.
Betty und ich setzten uns auf den Rücksitz, während Elijah vorne einstieg. Das Auto fuhr los, und ich blickte zurück auf die hochgewachsene Gestalt des Superintendenten, die vor den offenen Türen des Arbeitszimmers stand. Ich erschauderte bei dem Gedanken, dass in kurzer Entfernung zu ihm die Leiche des Generals auf dem Teppich lag.
Den kurzen Weg zur Chestnut Avenue 9 legten wir schweigend zurück, nur Bettys verzweifeltes Schluchzen war zwischendurch zu hören.
„Komm mit mir nach oben“, befahl Lizzy. „Du wirst dich erst einmal auf meinem Bett ausruhen, während ich das Gästezimmer herrichte.“
Elijah ließ sich in einen der hochlehnigen Ledersessel im Salon fallen. Ich ging zu Vaters Barfach und schenkte uns beiden einen Brandy ein, bevor ich mich in den Sessel ihm gegenüber sinken ließ. Ich fröstelte. Draußen war es zu warm, um das Feuer anzuzünden, aber hier drinnen war mir kalt.
„Es tut mir leid, dass du das sehen musstest.“ Elijah rieb sich die Augen. „Das ist nichts, was eine Frau in deinem Alter miterleben sollte.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Im Militärkrankenhaus habe ich Schlimmeres gesehen. Ich war beim Freiwilligendienst, als Sie und Vater in Frankreich waren.“
„Das muss eine erschütternde Erfahrung gewesen sein.“
„Ja, manchmal war es fast unerträglich, aber das war es auch, wenn man zu Hause saß und nichts tat. 1916 trat ich ein und begann mit der Betreuung von Flüchtlingen im Park Fever Hospital in Hither Green. Dann wurde ich in das Lewisham Military Hospital versetzt. Das war tatsächlich ein Schock.“ Ich zwang mich zu einem Lachen.
„Das kann ich mir vorstellen.“ Er fuhr sich mit nikotinverschmierten Fingern durch sein schütteres graues Haar.
Die Betreuung der Flüchtlinge war eine harte, aber lohnende Aufgabe gewesen. Allerdings hatte sie mich nicht auf die Schrecken eines Militärkrankenhauses vorbereitet. Ich schauderte, als ich mich an meine Zeit auf den Stationen erinnerte. Manche Tage waren mir wie ein blutiger Alptraum vorgekommen, ein unablässiger Strom zerfetzter Gliedmaßen, die auf Bahren an mir vorbeizogen.
„Ich dachte, meine Aufgabe sei es, mit den Männern zu reden, Briefe für sie zu schreiben oder so etwas in der Art, aber sie ließen mich die Schmutzeimer ausleeren und Wunden säubern. Ich fühlte mich die meiste Zeit elend. Ich war eine ganz schreckliche Krankenschwester.“ Das Gefühl des Brandys, der brennend meine Kehle hinunterrann, war gar nicht so unangenehm.
Er lächelte schwach. „Ich war auch nicht gerade dafür geschaffen, Soldat zu sein. Untauglich geschrieben und über fünfzig, schloss ich mich deinem Vater beim Geheimdienst an. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einließ. Offiziere wie Colonel Thackeray zeigten sich nicht gerade begeistert von uns Nicht-Militärs, aber General Cheverton war immer freundlich. Ich werde den alten Knaben vermissen.“ Seine Stimme war rau. „Ich bin nicht sicher, ob ich den Krieg ohne ihn und deinen Vater überlebt hätte.“
„Vater hat mir erst nach dem Krieg erzählt, dass er einige Zeit in Mill Ponds verbracht hatte. Das war wohl der Grund, warum er beschloss, nach Walden zurückzukehren.“ Ich nahm einen weiteren Schluck Brandy, dessen Wärme allmählich die Kälte zu vertreiben begann.
„Wir waren nicht lange dort. Der Ort platzte aus allen Nähten. Sie hatten Offiziere im Haus einquartiert, während die unteren Ränge in Zelten auf dem Gelände untergebracht waren.“
„Das war aber nett von dem General, sein eigenes Haus zur Verfügung zu stellen.“
„Ja, der alte Knabe liebte es, wenn die Räume von Soldaten regelrecht überrannt wurden. Damals war jeder Tag ein Abenteuer für ihn. Ich habe ihn nie wieder so lebendig gesehen. Und er kümmerte sich um seine Männer. Nicht so wie Thackeray. Aber Thackeray war derjenige, der die Ausbildungskurse für das Bataillon leitete.“
„Ich habe Vater sagen hören, dass er manchmal ziemlich hart sein konnte“, tastete ich mich vorsichtig vor. Mein Vater hatte bisher wenig über seine Kriegserlebnisse erzählt, aber ich hatte immer eine unterschwellige Feindseligkeit zwischen ihm und Colonel Thackeray gespürt, wenn sie sich trafen. Ich konnte an Vaters steifem Auftreten erkennen, dass er den Colonel nicht mochte, obwohl sie immer sehr höflich miteinander umgingen. Ich war mit der Tochter des Colonels, Alice Thackeray, eng befreundet, und ich wusste, dass auch mein Vater sie mochte.
Elijah rümpfte die Nase. „Thackeray ist ein Snob. Und zwar nicht irgendeiner – sein Standesdünkel ist tiefverwurzelt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Zu Beginn des Krieges bekam nur eine Offiziersstelle, wer aus einem Universitäts-Ausbildungskorps stammte oder zumindest eine öffentliche Elite-Schule besucht hatte. Doch ab 1916 brauchten sie dringend Offiziere – also richtete man das Offiziersanwärter-Bataillon ein. Wenn man ein bisschen klüger war als die Kameraden, hatte man plötzlich eine Chance – was Thackeray natürlich ganz und gar nicht gefiel.“ Er leerte sein Glas. „Wenn es um die Ausbildung von Kadetten ging, beurteilte er die Männer nicht nach ihren Fähigkeiten, sondern nach ihrer sozialen Herkunft. Wer aus der Arbeiterklasse kam, wurde direkt als Kanonenfutter nach Frankreich geschickt.“
Ich schloss meine Augen und erinnerte mich an die Briefe meines Vaters. Bestimmte Dinge, die er damals geschrieben hatte, begannen einen Sinn zu ergeben. Oder besser gesagt, Dinge, die er angedeutet hatte, aber nicht auszusprechen vermochte. „Vater wollte das publizieren, nicht wahr?“
Mein Vater und Elijah waren viele Jahre lang Journalisten für den Daily Telegraph gewesen. In den Kriegszeiten war Vater von der Propaganda der Regierung und des Militärs – und vor allem der Zeitungsbesitzer – frustriert. Er verließ die Zeitung, um als freiberuflicher Autor für verschiedene Nachrichtensyndikate zu arbeiten.
„Das wollten wir beide. Aber wir hatten schwere Verluste zu beklagen und brauchten dringend Offiziere. Thackeray wusste, wie man sie ausbildet. Es wäre als Verrat angesehen worden, etwas gegen die Kriegsanstrengungen zu schreiben.“ Er seufzte. „Das hätte sowieso niemand veröffentlicht.“
„War das der Zeitpunkt, als Sie beschlossen, den Telegraph zu verlassen?“
„Ich wusste, dass dein Vater sich nach dem Krieg selbstständig machen wollte. Und ich hatte vor, mich zur Ruhe zu setzen. Ein bisschen herumgärtnern oder so.“ Er lächelte. „Horace hatte bereits die Druckerei und dachte, dass eine Lokalzeitung ein profitables Geschäft wäre. Er beschloss, den Walden Herald zu gründen, und fragte mich, ob ich ihn leiten würde.“
Wie General Cheverton war auch Elijah kein Mann für den Ruhestand. Er war am glücklichsten, wenn er arbeitete, und ich hatte lange vermutet, dass Horace den Walden Herald nur aus Zuneigung zu ihm gegründet hatte.
Ich stand auf und füllte unsere Gläser nach. Es war ein langer Tag gewesen. Kaum zu glauben, dass wir an diesem Morgen noch bei Sir Henry im Büro gesessen und über seine Hotelpläne gesprochen hatten.
„Was glauben Sie, wird jetzt mit Mill Ponds passieren? Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass es in Sir Henrys Hände fällt.“
Elijahs Gesicht legte sich in Falten. „Der Zeitpunkt könnte nicht schlechter sein.“
„Wenn LSWR Mill Ponds kauft, könnten sie ein Hotel bauen, selbst wenn es ihnen nicht gelänge, den Waldenmere Lake zu bekommen, oder?“
„Das wäre möglich. Es würde Sir Henrys Plänen für Promenaden und Bootshäuser zwar einen Strich durch die Rechnung machen, wenn er den See nicht bekommen kann. Aber ja, das Hotel könnte trotzdem gebaut werden.“
„Der Tod des Generals kommt Sir Henry also sehr gelegen?“
„Wenn er davon erfährt, wird er alles daran setzen, um Mill Ponds und den Waldenmere Lake zu ergattern.“ Elijah starrte mürrisch in sein Glas.
Ich hatte wieder den auf dem Teppich liegenden, blutverschmierten Körper von General Cheverton vor Augen. „Was ist eigentlich passiert, als ich mit Betty in der Küche saß? War der Arzt da?“
Er nickte. „Ich war die meiste Zeit im Garten. Der Arzt und Superintendent Cobbe hielten sich eine ganze Zeit lang drinnen auf. Als sie wieder herauskamen, fragte der Superintendent, was wir im Arbeitszimmer angefasst hätten. Er wollte wissen, ob wir die Leiche oder die Waffe oder irgendwelche Papiere des Generals berührt hätten.“
„Wie kommt er darauf, dass wir irgendetwas anfassen würden?“
„Weil eindeutig Spuren vorhanden sind. Er vermutet, dass jemand in der offenstehenden Schublade nach etwas gesucht haben könnte.“ Er stellte sein Glas auf den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.
„Wahrscheinlich der General selbst. Betty sagte, er verliere ständig seine Pfeife oder seine Brille. Er könnte nach einem Brief oder etwas anderem gesucht und die Schublade geöffnet haben, um ihn zu finden. Und dann griff er nach der Schrotflinte, und die ging versehentlich los.“ Jetzt, da ich es laut aussprach, klang es doch ein bisschen weit hergeholt.
Elijah beugte sich vor und senkte seine Stimme. „Cobbe sagte, die Schrotflinte habe ihn nicht umgebracht.“
Ich starrte ihn an. „Aber es muss die Schrotflinte gewesen sein. Sogar ich konnte erkennen, dass es eine Schusswunde war. Warum glaubt er nicht, dass es die Flinte war?“
„Weil sie gar nicht abgefeuert worden ist.“
Kapitel 4
„Ich habe gehört, was passiert ist, und wollte sehen, ob Betty etwas braucht.“
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück herunter kam, fand ich meine Freundin Alice Thackeray am Küchentisch sitzend vor.
„Ich habe sie überredet, noch eine Weile im Bett zu bleiben.“ Lizzy stand am Herd und füllte unsere alte braune Teekanne mit kochendem Wasser. „Sie ist immer noch völlig niedergeschlagen.“
Wenn mein Vater nicht da war, nahm ich meine Mahlzeiten üblicherweise zusammen mit Lizzy in der Küche ein. Hätte ich geahnt, dass wir Alice und Betty zum Frühstück zu Gast haben würden, hätte ich vielleicht vorgeschlagen, das Esszimmer zu benutzen. Aber Alice schien dort, wo sie war, glücklich zu sein.
„Du siehst furchtbar aus, Liebes“, sorgte sich Lizzy. „Warum gehst du nicht wieder ins Bett?“
Ich rieb mir die Augen und versuchte wach zu werden. In der vergangenen, unruhigen Nacht hatte ich von General Cheverton geträumt, der in der einen Sekunde lebendig und lachend vor mir stand, nur um sich in der nächsten in eine steingraue Leiche zu verwandeln. Kein Wunder also, dass mein Gesicht selbst nach der Morgentoilette blass und fleckig blieb. Einzelne Strähnen meines Bubikopfs stellten sich widerspenstig in alle Richtungen und ich hatte meine liebe Mühe und Not, aus dem Durcheinander eine Frisur zu formen, die diesen Namen auch verdient.
„Ben Gilbert kommt vorbei. Betty war gestern zu aufgeregt, um Fragen zu beantworten, aber Superintendent Cobbe möchte, dass er eine Aussage von ihr aufnimmt. Und von mir.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Er würde bald hier sein.
„Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Alice schenkte mir eine Tasse Tee ein. „Armer Onkel Samuel.“
Für Alice war er eher wie ein Großvater gewesen als ein Onkel, aber die Anrede aus der Kindheit war geblieben.
„Hat er, ich meine, hatte er eine Familie?“ Ich wollte wissen, wer Mill Ponds erben würde.
„Zumindest keine eigenen Kinder“, antwortete Alice. „Nur Nathan, seinen Neffen.“
„Die Frau des Generals starb 1911. Betty pflegte sie in ihrem letzten Jahr.“ Lizzy setzte sich zu uns an den Tisch. „Sie betete ihre Herrin an.“
„Betty und der General liebten es, wenn das Haus voller Menschen war. Sie kochte und putzte für alle Soldaten, die in Mill Ponds stationiert waren.“ Alice Stimme wurde weinerlich. „Was wird jetzt aus ihr werden? Betty kümmert sich doch so gerne um andere Menschen.“
Lizzy nickte. „Sie war mir ein großer Trost, als ich meinen Albert verloren habe. Ich weiß nicht, was ich ohne sie getan hätte.“
Lizzys Mann war 1912 gestorben. Wir waren im Jahr nach seinem Tod nach London gezogen, und sie hatte sich entschieden, mit uns zu kommen. Aber mit dem Leben in der Stadt konnte sie sich nie anfreunden und war daher von unserer Rückkehr nach Walden begeistert gewesen.
„Ich frage mich, was nun mit Mill Ponds passieren wird?“ Ich hoffte, dass es in der Familie von General Cheverton bleiben würde, vor dem Einflussbereich Sir Henrys geschützt.
„Ich vermute, es wird an Nathan übergeben“, ließ sich Alice vernehmen. „Vater schlug vor, es in ein Genesungsheim umzuwandeln, aber Onkel Samuel war nicht begeistert.“
Es läutete an der Tür und Lizzy schob ihren Stuhl zurück. „Iris, führe Ben doch bitte in den Salon. Ich gehe nach oben und sehe nach, wie es Betty geht.“
„Richten Sie ihr bitte aus, dass ich mich später noch einmal bei ihr melden werde.“ Alice folgte mir auf den Flur.
Ich ließ Ben herein und tat so, als bemerkte ich den geflüsterten Austausch und die kurze Berührung ihrer Hände nicht, als Alice und er sich auf der Türschwelle begegneten.
Ben setzte sich in den Ledersessel und nahm sein Notizbuch heraus. „Erzähl mir, was gestern Nachmittag geschah, als du mit Elijah in Mill Ponds ankamst. Um wie viel Uhr war das genau?“
Ich erzählte von den Ereignissen des Vortages, von unserem Treffen mit Sir Henry Ballard und unserem plötzlichen Entschluss, General Cheverton aufzusuchen. „Der Zug kam um Viertel nach fünf an. Vom Bahnhof aus gingen wir zu Fuß nach Mill Ponds. Ich schätze, es war etwa zwanzig nach fünf, als wir an die Tür klopften.“
„Habt ihr auf dem Weg dorthin jemanden gesehen?“
„Ein paar Leute stiegen aus dem Zug. Soweit ich mich erinnern kann, sind sie aber alle in Richtung Stadt gelaufen. Wir waren die einzigen, die den Bahnhofsvorplatz überquerten und den Weg am See entlang nahmen.“
„Ihr habt niemanden am See oder in der Nähe des Hauses gesehen?“, hakte Ben noch einmal nach.
Ich schüttelte den Kopf. „Es war ruhig. Betty sagte, sie habe gegen halb vier das Haus verlassen, als der General nach oben ging, um ein Nickerchen zu machen.“
Er runzelte nachdenklich die Stirn und tippte mit seinem Stift auf seinen Notizblock.
„Glaubst du, dass es ein Einbrecher war?“, fragte ich. „Vielleicht hat er Betty weggehen sehen, die offen stehende Terrassentür entdeckt und die Chance ergriffen?“
„Es sieht zumindest so aus, als sei der General erschossen worden, als er den Raum betrat.“ Er kräuselte seine Stirn.
„Warum zweifelst du an dieser Theorie?“
„Weil sich im Schreibtisch des Generals Geld und im Arbeitszimmer einige wertvolle Gegenstände befanden. Aber es wurde nichts entwendet, soweit wir das bisher beurteilen können.“
„Überhaupt nichts?“, wunderte ich mich.
„Das ist noch nicht sicher. Mrs Akers muss sich erst noch umsehen. Ein paar Papiere lagen auf dem Boden herum. Die Schublade eines Schrankes war herausgezogen worden. Wir gehen davon aus, dass jemand etwas gesucht hat und der General ihn dabei gestört haben muss.“
Ich musste wieder an Sir Henrys Gerede von Promenaden und Bootshäusern denken. „Glaubst du, dass das mit dem Verkauf des Sees zusammenhängen könnte? Vielleicht versucht jemand, Mill Ponds auf diese Weise in die Hände zu bekommen?“
„Superintendent Cobbe hält es für wahrscheinlicher, dass jemand herumgeschnüffelt hat, um zu sehen, was es dort zu holen gibt, und in Panik geriet, als der General mit seiner Schrotflinte auftauchte.“ Bens Ton wurde härter. „Aber derjenige muss eine Waffe bei sich gehabt haben.“
„Warst du auch auf Mill Ponds, als es noch eine Offiziersschule war?“
„Klar. Viele Männer aus der Gegend haben diese Räume damals bevölkert.“
„Dann musst du General Cheverton kennengelernt haben.“ Ich begann zu begreifen, wie anders Walden zu jener Zeit gewesen sein musste, überfüllt mit Soldaten aus dem Waldenmere Lake Camp und Mill Ponds.
Ben nickte. „Er war ein netter Mann. Er sagte mir, ich hätte das Zeug zum Anführer, und drängte mich, Offizier zu werden.“
„Was ist passiert?“ Ich hatte den Verdacht, dass Colonel Thackeray seine Finger im Spiel hatte.
Er zuckte mit den Schultern. „Einige Zeit wurde ich herumgeschoben. Dann wies mich der General auf die Militärpolizei hin. Zuerst war ich mir nicht sicher, aber am Ende wurde mir klar, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.“
Bei meiner Rückkehr nach Walden musste ich überrascht feststellen, dass sich der kleine Junge mit dem ernsten Gesicht, mit dem ich als Kind gespielt hatte, in einen stämmigen jungen Polizisten verwandelt hatte. Ich konnte verstehen, warum Alice sich in ihn verliebt hatte. Er war ehrlich und verlässlich, und sie hatte in ihrem Leben schon genug Unbeständigkeit ertragen müssen. Aber da waren einfach zu viele unüberwindbare Hindernisse für ihre Beziehung.
„Ich werde herausfinden, wer das getan hat.“ Bens sonst so warme braune Augen waren kalt vor Wut. „Das bin ich ihm schuldig.“
***
Ich stellte meine Tasche auf meinem Stuhl ab und betrat Elijahs Arbeitszimmer. Sein Aschenbecher quoll beinahe über und auf seinem Schreibtisch standen drei leere Kaffeetassen. Er fügte dem sich vor ihm auftürmenden Stapel von Notizen gerade ein weiteres Blatt Papier hinzu.
„Schreiben Sie über den Mord an dem General? Ben meinte, es handelt sich möglicherweise um einen Einbruch, der schiefgelaufen ist.“
„Nein, ich schreibe den Nachruf auf General Cheverton.“
„Oh, natürlich. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Ich hatte vergessen, dass wir einen Nachruf veröffentlichen mussten. „Haben Sie denn genug Informationen über ihn?“
„Eine ganze Menge. Er war Berufssoldat, war sein ganzes Leben lang in der Armee. Er stieg im Rang auf und wurde mit mehreren Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Er war fast vierzig Jahre verheiratet, als seine Frau starb. Seitdem lebte der General allein.“
„Was wird Ihrer Meinung nach mit Mill Ponds geschehen?“
„Sehr wahrscheinlich wird sein Neffe es erben. Ich kenne Nathan Cheverton. Wir haben einige Zeit zusammen in Frankreich verbracht.“
„Wie ist er denn so?“ Neugierig ließ ich mich unaufgefordert auf einem der Stühle nieder.
Seufzend nahm er meine erneute Unterbrechung hin. „Er war damals in keiner guten Verfassung – und was er im Krieg erlebte, hat es nicht besser gemacht. Er war nicht wie sein Onkel. Er hätte nie Hauptmann werden dürfen. Das Militärleben passte so gar nicht zu ihm.“
Ich fragte lieber nicht, was genau er damit meinte. Die meisten Männer, die ich kannte, darunter auch mein Vater, sprachen nicht gern über den Krieg. „Aber er wurde Offizier, während fähigere Männer wie Ben Gilbert übergangen wurden?“
Elijah lächelte. „Du erinnerst mich manchmal an deinen Vater. Ja, das bringt es auf den Punkt. Es war nicht Nathans Schuld. Er wollte kein Offizier werden, aber als Neffe eines Generals hatte er keine andere Wahl. Er hasste es, Männer in die Schlacht zu schicken. Das verfolgt ihn bis heute.“
„Kommt er schon mal nach Walden? Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals mit dem General hier gesehen zu haben.“
„Nathan ist seit dem Krieg nicht mehr hier gewesen. Er will Mill Ponds nie wieder betreten. Nicht, dass er seinem Onkel die Schuld gibt, aber er hasste seine Zeit dort und das, was er tun musste.“
„Warum wurde Ben Gilbert nicht zum Hauptmann ernannt?“ Ich erahnte die Antwort schon.
„Man munkelt, Thackeray sei dagegen gewesen. Er meinte, man könne nicht zulassen, dass der Sohn eines Hufschmieds Männern Befehle erteile, die gesellschaftlich höhergestellt seien.“ Er zündete sich eine Zigarette an. „Das ‚gehöre sich nicht‘, sagte er.“
„Hat General Cheverton zugestimmt?“
„Er ließ Thackeray freie Hand, wenn es um die Ausbildung der Männer ging. In einigen Fällen griff der General ein und nutzte vor allem seine Kontakte oder seinen Einfluss, um Soldaten zu helfen. Ich glaube, er sorgte für die Versetzung des jungen Gilbert zur Königlichen Militärpolizei. Der General hatte ein Gespür dafür, wo das Talent eines Menschen lag, und leitete ihn in diese Richtung.“ Er hustete keuchend. „Leider war er, was Nathan betraf, blind.“
„Wo ist Nathan Cheverton jetzt?“
„Er lebt in London. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er versucht, seine Bilder zu verkaufen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.“
„Er ist Künstler?“ Ich hatte mir vorgestellt, dass er in einer Bank oder etwas ähnlichem arbeitete.
„Ein talentierter sogar. Aber seine Bilder werden sich die meisten Leute nicht an die Wand hängen wollen.“
„Warum? Wovon erzählen sie?“
„Krieg. Explodierende Granaten, Stacheldraht und gefallene Männer.“
Einen Moment lang verstummte ich. Jeden Tag war ich dankbar gewesen, dass mein Vater unversehrt zu mir nach Hause gekommen war. „Kann ich Ihnen nun mit dem Nachruf helfen?“
„Ja, ich möchte, dass du ein paar Fakten für mich überprüfst.“ Er drückte seine Zigarette aus. „Hast du heute mit Ben Gilbert gesprochen?“
„Er ist nicht davon überzeugt, dass es ein Einbruch war. Er sagte, dass Geld in der Schreibtischschublade zurückgelassen wurde und dass es im Arbeitszimmer wertvolle Gegenstände gab, die man leicht hätte stehlen können. Kann es sein, dass ein Soldat einen Groll gegen den General hegte? Verbittert war über die Art und Weise, wie er behandelt wurde?“
„Dafür gibt es keinen Grund. Er war sehr beliebt. Bei Thackeray wäre das etwas anderes gewesen, aber der General kümmerte sich um seine Männer. Und dafür haben sie ihn stets respektiert.“
Zögernd fragte ich: „Sie glauben doch nicht, dass die Tat etwas mit dem Verkauf des Waldenmere Lake zu tun hat?“
Er strich sich über das Kinn. „Ich sehe da keinen Zusammenhang. Du hast Sir Henrys Überraschung gesehen, als wir Mill Ponds erwähnten. Er wusste ja nicht einmal, dass es dem General gehörte.“ Er machte eine Pause, um sich eine weitere Zigarette anzuzünden. „So skrupellos die LSWR auch sein mag, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden nach Walden schicken, um zur Mittagszeit ein Attentat zu verüben, oder?“
Darüber hatte ich schon nachgedacht. „Wir verließen Sir Henry an jenem Morgen um 11.30 Uhr. Der General wurde zwischen Bettys Abreise um halb vier und unserer Ankunft um fünf Uhr zwanzig am Nachmittag getötet. In dieser Zeit könnte er etwas arrangiert haben.“
Elijah gab einen unwirschen Laut von sich. „Jetzt geht aber deine Fantasie mit dir durch. Das ist bestimmt nur ein Zufall.“
Ich war mir da nicht so sicher. „Ben möchte, dass Betty zurück nach Mill Ponds fährt, um nachzusehen, ob etwas fehlt. Ich denke, ich sollte sie begleiten.“
„Um dich dann unbehelligt im Arbeitszimmer des Generals umzusehen?“ Er fuchtelte mir verschmitzt lächelnd mit seiner Zigarette entgegen.
„Natürlich nur, um für Betty da zu sein. Aber ich hätte nichts dagegen, noch einen Blick in das Zimmer zu werfen, wenn ich schon mal da bin“, gab ich zu.
***
Ben Gilbert wartete im Arbeitszimmer auf uns. Der Raum roch nach dem würzigen Tabak, den General Cheverton immer geraucht hatte. Der Anblick seiner Pfeife, die auf dem Kaminsims lag, brachte Betty gleich wieder zum Weinen.
Alle Blicke richteten sich unweigerlich auf den blutverschmierten Teppich neben der Tür.
„Kommt außer Ihnen und dem General noch jemand hierher?“, wollte Ben von Betty wissen.
Betty schüttelte den Kopf. „Das Mädchen, das mir hilft, das Haus zu putzen, darf hier nicht rein.“
„Am besten fangen Sie an der Tür an und arbeiten sich durch den Raum“, schlug Ben vor. „Sagen Sie mir, wenn etwas fehlt oder sich am falschen Platz befindet.“
Betty fuhr mit ihrer Hand über einen Globus, der in der Ecke des Arbeitszimmers stand. Dann ging sie zum Kaminsims hinüber. „Das ist die Schnupftabakdose des Generals. Echtes Silber. Die würde einiges einbringen. Und dieser Dolch ist aus Indien. Das da auf dem Griff sind echte Rubine.“ Sie berührte alle Schmuckstücke im Zimmer und erzählte zu jedem eine Geschichte.
Als sie die Aktenschränke erreichte, blieb sie stehen und zeigte auf den Schlüssel im Schloss des einen. „Dieser sollte nicht aufgeschlossen sein. Er enthält die Unterlagen der Offiziere, die während des Krieges hier waren. Sie sollten inzwischen alle nach Aldershot überführt worden sein, aber niemand hat sie je abgeholt.“
Ben untersuchte den Schrank. „Können Sie feststellen, ob irgendwelche Papiere fehlen?“
Betty schüttelte den Kopf: „Ich wüsste ja nicht einmal, welche sich dort befinden sollten.“
Sie ging zum Schreibtisch hinüber und nahm ein Foto von Lady Cheverton in die Hand. „Sie war damals eine wunderschöne Frau. Der General hatte ihr Bild immer vor sich stehen, wenn er arbeitete. Der Rahmen ist aus Elfenbein; er ist ziemlich wertvoll.“ Sie warf einen Blick in die offene Schreibtischschublade. „Hier werden die Schlüssel zu den Aktenschränken aufbewahrt.“
„Wie viele Schlüssel gibt es?“
„Vier. Drei sind noch hier. Und da drüben ist der vierte.“ Betty zeigte auf den unverschlossenen Schrank.
Ich sah mir die Etiketten an der Vorderseite der Schubladen der vier Aktenschränke an. Die Akten waren in alphabetischer Reihenfolge geordnet. Die offene Schrankschublade war mit A bis E beschriftet.
Betty kramte in der obersten Schublade des Schreibtisches. „Seine Waffe liegt nicht mehr hier drin.“
„Welche Waffe?“ Ben war im Nu an ihrer Seite.
„Er bewahrte seinen alten Dienstrevolver hier drin auf. Manchmal holte er ihn heraus und reinigte ihn.“
Ben bat Betty, zur Seite zu treten, und durchsuchte den Schreibtisch gründlich. „Hier ist tatsächlich keine Waffe.“
„Denkst du, dass das die Tatwaffe war?“, fragte ich Ben.
Betty unterdrückte ein Schluchzen. „Ich gehe in den Garten.“ Sie vergrub ihr Gesicht in ihrem Taschentuch.
„Also, was denkst du?“, wandte ich mich Ben erneut zu, als sie nicht mehr in Hörweite war.
Er ging zur Tür hinüber. „Der General war oben und hat hier unten jemanden gehört. Er holte seine Schrotflinte …“
„Und überraschte die Person“, fuhr ich fort.
„Diese geriet in Panik und zog die Waffe, die sie bei der Durchsuchung seines Schreibtisches gefunden hatte …“ Ben zeigte mit den Fingern darauf.
„Und erschoss den General mit seinem eigenen Revolver?“, beendete ich fragend seinen Gedanken.
Kapitel 5
Ich ging zügig den Hang zur Sand Hills Hall hinauf, als ich bemerkte, dass Elijah ein Stück hinter mir war.
Der Vater von Colonel Thackeray hatte das Anwesen 1854 gekauft, als sich die Armee erstmals in Aldershot niederließ. Es war ähnlich aufgebaut wie Mill Ponds, hatte aber den Vorteil, dass man von der Spitze des sandigen Hügels, der an ein dichtes Waldgebiet grenzte, den See überblicken konnte.
Ich wartete auf Elijah bei den Überresten einer hölzernen Schienenanlage, die einst zum Starten von Wasserflugzeugen benutzt worden war. Die Schienen verliefen von der Spitze des Hügels hinunter zu einem Steg, der in den See hinaus führte. Von der oberen Hälfte waren nur noch ein paar Holzpfosten übrig, aber der untere Teil war gut erhalten und ragte wie ein verlassenes Gerüst ins Wasser.
Holly, das Hausmädchen der Thackerays, öffnete die Tür und hinter ihr trat Colonel Charles Thackeray heraus, um uns zu begrüßen. Ich war im Laufe der Jahre eine häufige Besucherin in diesem Herrenhaus gewesen, nachdem ich mich im Alter von elf Jahren mit Alice angefreundet hatte.
„Mr Whittle, bitte, gehen Sie doch schon einmal in mein Arbeitszimmer. Iris, Alice ist mit ihrer Mutter im Salon, wenn Sie sich ihnen anschließen möchten.“ Er wies auf eine andere Tür, nicht ohne einen missbilligenden Blick auf die Hose zu werfen, die ich trug.
„Iris ist hier, um mich zu unterstützen und ein paar Notizen zu machen. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung?“
Elijahs Höflichkeit ließ keinen Zweifel daran, dass meine Anwesenheit nicht zur Diskussion stand. Er hatte das Treffen vereinbart, um zu erörtern, welche Bedeutung der Waldenmere Lake nach dem Tod des Generals für die Armee noch hatte.
„Aber ja, natürlich. Eine berufstätige junge Dame – das ist ja jetzt modern.“ Er machte eine einladende Geste in Richtung Arbeitszimmer.
Der Colonel setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Eine Schädigung des Innenohrs durch einen Granatenangriff hatte bei ihm eine Gleichgewichtsstörung hinterlassen. Aber er weigerte sich stoisch, einen Stock zu benutzen, also schlurften Elijah und ich unbeholfen hinter ihm her.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals zuvor im Arbeitszimmer gewesen zu sein. Die Tür war immer geschlossen, wenn ich Alice besuchte. Es war ein nüchterner Raum mit gerahmten Landkarten, die an dunkelgrün tapezierten Wänden hingen. Ein schwerer Bücherschrank aus Mahagoni-Holz war bis obenhin mit Werken zur Militärgeschichte gefüllt. Den Garten erreichte man über Flügeltüren, ähnlich denen in General Chevertons Arbeitszimmer.
„Wie geht es Ihrem Vater, Iris?“ Colonel Thackeray wies mit einer einladenden Geste auf zwei lederbezogene Stühle, bevor er sich hinter seinen großen Schreibtisch setzte. „Gut, hoffe ich?“
„Ich denke schon. Das letzte Mal, als ich von ihm hörte, war er in Deutschland. Das Land hat seit dem Ende des Krieges sehr gelitten.“
Er versteifte sich. Ich spürte sein Unbehagen und war froh, als Elijah das Gespräch übernahm.
„Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, uns zu empfangen, Colonel Thackeray. Der Tod des Generals muss ein schrecklicher Schock für Sie und Ihre Familie gewesen sein.“
„Ja, wir alle haben Samuel sehr gemocht. Es ist abscheulich, dass er auf diese Weise getötet wurde. Sie haben seine Leiche gefunden, wie der junge Gilbert sagt. Haben Sie eine Ahnung, was passiert ist?“
„Man geht davon aus, dass der General einen Eindringling gestört hat, der dann in Panik geschossen hat. Es sah nicht wie ein professioneller Mord aus.“ Elijah rieb sich das Kinn. „Nach meiner begrenzten Erfahrung mit solchen Dingen würde ich sagen, dass der Schuss unüberlegt abgegeben wurde, aber leider trotzdem sein Ziel getroffen hat. Es war ein tragisches Ende für ein so angesehenes Leben.“
„Erschossen von einem Feigling und Dieb.“ Colonel Thackeray schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. „Und das mit seinem eigenen Revolver.“
„Wissen Sie, was für ein Fabrikat es war?“, fragte Elijah.
„Eine Webley Mark IV. Sein alter Dienstrevolver. Er hatte ihn seit dem Burenkrieg. Ich beabsichtige, den Geheimdienst der Armee einzuschalten. Dieser Superintendent aus Aldershot scheint kompetent genug zu sein, aber der junge Gilbert hat nicht die nötige Erfahrung. Wir brauchen jemanden mit mehr Intelligenz, um der Sache auf den Grund zu gehen.“
Ich fragte mich, ob er diese Art von Kommentar auch im Beisein von Alice von sich gab. Wenn ja, würde sie es – wie ich gerade – schweigend über sich ergehen lassen müssen.
Elijah nickte diplomatisch und fuhr fort. „Lassen Sie uns von diesem traurigen Thema abkommen und uns der Sache mit dem See zuwenden. Kürzlich habe ich an einem Treffen mit Sir Henry Ballard teilgenommen, bei dem es um das Interesse der London and South Western Railway am Kauf des Waldenmere Lake ging.“
„Widerlicher Mensch.“
Ausnahmsweise stimmte ich dem Colonel zu.
„Sind Sie über die aktuellen Pläne von Aldershot Military Estates informiert?“
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mr Whittle. Nachdem ich mit einigen meiner Kollegen gesprochen habe, befinden wir uns in einer Art Zwickmühle.“ Er klopfte mit seinem Zigarettenetui auf den Tisch. Dann schien er sich zu erinnern, wofür es gedacht war, und hielt es Elijah hin.
„Heißt das, dass Sie vielleicht bald verkaufen werden?“ Elijah nahm dankbar eine Zigarette, nachdem er höflich darauf verzichtet hatte, eine seiner eigenen anzuzünden.
„Ich gebe es nur ungern zu, aber wir fassen diese Möglichkeit ins Auge.“ Die Hand des Colonels zitterte, als er ein Streichholz anzündete.
„Sie geben die Pläne für ein Genesungsheim auf?“ Elijah klang hoffnungsvoll.
Colonel Thackeray führte langsam eine Zigarette an seine Lippen. Er balancierte sie unsicher zwischen seinen zittrigen Fingern. „Es bedeutet nur, dass wir nicht wie geplant in der Heron Bay bauen können. Aber vielleicht können wir ein anderes geeignetes Grundstück finden.“
Ich hatte den Verdacht, dass er an Mill Ponds dachte.
„Wissen Sie von dem Vorschlag, ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs zu bauen?“, fragte Elijah.
„Ich denke, Sie sind da wahrscheinlich besser informiert als ich, Mr Whittle.“ Der Colonel stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich will nicht leugnen, dass Sir Henry Ballard wegen des Landes an uns herangetreten ist. Wir führten eine hitzige Diskussion. Ich hätte diesen widerwärtigen Kerl nur zu gern mit einer scharfen Abfuhr nach Hause geschickt, aber einige meiner Kollegen sahen das anders.“
„Sir Henry plant den Bau eines vierstöckigen Hotels mit achtzig Zimmern auf der Nordseite des Sees, direkt neben dem Bahnhof“, unterstrich Elijah das Ausmaß der geplanten Bauarbeiten.
Der Colonel ließ seine Zigarette fallen. „Ich hatte nicht mit etwas in dieser Größenordnung gerechnet.“
„Er zeigte uns ein Bild von dem, was er sich vorstellt.“
„Auf der Nordseite, sagten Sie?“ Colonel Thackeray drückte die heruntergefallene, noch glimmende Zigarette in einem Aschenbecher aus. „Vielleicht können wir noch auf der Südseite bauen. Hat er irgendwelche Pläne für Heron Bay erwähnt?“
Horace Laffaye würde das gefallen, dachte ich sarkastisch. Ein Hotel auf der einen Seite und ein Genesungsheim auf der anderen.
„Nein, davon war nicht die Rede. Er sprach lediglich davon, den Waldenmere Lake vorübergehend trockenzulegen, um auf der Nordseite eine Bucht mit einer Promenade, einem Badeplatz und einem Bootshaus zu bauen. Und ein erhöhtes Schwimmbad mit Blick auf den See“, warf Elijah zur Sicherheit noch ein.
„Großer Gott.“ Der Colonel wirkte geradezu entsetzt. „Den See trockenlegen? Warum in aller Welt sollte er so etwas tun?“
„Es wäre nur eine vorübergehende Maßnahme, um den Bau der neuen Bucht zu erleichtern. Er beabsichtigt, das Schilf zu entfernen und tonnenweise Sand aufzuschütten, um etwas Ähnliches wie die Heron Bay zu schaffen.“
„Lächerlich, völlig lächerlich.“ Der Colonel sank in seinem Stuhl zurück.
Im Stillen stimmte ich dieser Meinung zu.
Er schien einige Augenblicke zu überlegen, dann sprang er plötzlich auf. Erschrocken zuckte ich in meinem Stuhl zurück.
„Das muss verhindert werden. Ein vierstöckiges Hotel? Es würde den Waldenmere Lake zerstören und den Ruin von Walden bedeuten.“ Colonel Thackeray nahm eine Karte aus dem Regal und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus.
Ich versuchte, nicht auf die Wunden an seiner Hand zu starren, während er auf die Karte zeigte. Der gleiche Granatenangriff, der sein Innenohr beeinträchtigt hatte, hatte zum Verlust des Ringfingers und des kleinen Fingers seiner rechten Hand geführt.
„Was ist mit Mill Ponds? Wäre das nicht ein Hindernis für diese lächerliche Promenade und das Bootshaus?“
„Sir Henry war der Meinung, dass Mill Ponds der Armee gehörte und Teil des Geschäfts sein würde. Das war der Grund, warum ich General Cheverton an diesem Nachmittag aufsuchte. Um ihn über die Pläne der LSWR zu informieren“, erklärte Elijah.
„Und Sie glauben nicht, dass Ballard etwas damit zu tun haben könnte?“ Der Colonel starrte durch die Balkontür auf den See hinaus.
„Es sei denn, er kannte den Inhalt des Testaments des Generals“, antwortete Elijah. „Wissen Sie, wer erben wird?“
Colonel Thackeray schüttelte den Kopf. „Ich hatte gehofft, wir könnten ihn überreden, Mill Ponds der Armee zu vermachen, um es als Genesungsheim zu nutzen. Auf diese Weise hätten die Jungs von Military Estates einen größeren Anreiz, den Waldenmere Lake in ihrem Besitz zu behalten. Aber der General war in dieser Angelegenheit immer sehr zurückhaltend. Ich vermute, er hat es Nathan überlassen.“ Sein Gesichtsausdruck zeigte, was er von Nathan Cheverton hielt. Er ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. „Ich glaube, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“
Die plötzliche Energie, die der Colonel nur wenige Augenblicke zuvor an den Tag gelegt hatte, verschwand so schnell wie sie gekommen war. Ich war mir seiner sprunghaften Natur bewusst, aber es war das erste Mal, dass ich mit eigenen Augen sah, wie schnell seine Stimmung umschlagen konnte. Das Leben mit Colonel Thackeray war sicher nicht einfach.
Elijah nickte und wir erhoben uns. Weitere Erkenntnisse ließen sich aus dem heutigen Treffen wohl nicht schöpfen.
Kapitel 6
Alice erschien im Flur und ich vermutete, dass sie nur darauf gewartet hatte, dass wir aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters kamen.
„Danke, dass Sie eine so ehrenvolle Würdigung für General Cheverton geschrieben haben, Mr Whittle. Es war rührend zu lesen, wie er durch seinen vorbildlichen Charakter so viele Menschen beeinflusst hat, vor allem die jungen Männer unter seinem Kommando.“
„Ich habe nur geschrieben, was ich über den General wusste.“ Zu meiner Belustigung wirkte Elijah regelrecht schüchtern. „Wir werden ihn alle sehr vermissen.“
Alice nickte ernsthaft und sah ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag an. „Ich frage mich, ob Iris noch arbeiten muss, oder ob ich sie vielleicht für den Rest des Nachmittags entführen kann.“
„Ich glaube, wir haben für heute genug getan.“ Während er Alices Lächeln erwiderte, blaffte er mich an: „Du wirst die Zeit dann morgen nachholen.“
Ich grinste, als Holly die Tür hinter ihm schloss. „Alice Thackeray, du kannst die streitsüchtigsten Männer um deinen kleinen Finger wickeln.“
Ich folgte ihr in den Salon, wo Florence Thackeray am Fenster saß. Alices Spaniel, Bear, lag neben ihr.
„Iris“, begrüßte sie mich. „Wie gestaltet sich der Alltag beim Walden Herald denn so?“
„Na ja, langweilig wird es in letzter Zeit jedenfalls nicht.“
Als ich Florence zum ersten Mal begegnete, war ich von ihrer Erscheinung tief beeindruckt. Mit ihrem feuerroten Haar und den auffallend grünen Augen hatte sie alle Blicke auf sich gezogen. Als Kind hatte Alice mir einmal anvertraut, dass sie sich neben ihrer glamourösen Mutter wie Luft fühle. Aber die Jahre waren vergangen, und Alice war zu einer schönen jungen Frau herangereift, während das Leuchten aus den intensiven smaragdgrünen Augen ihrer Mutter verschwunden war und mattgraue Strähnen nun ihr einst glänzendes Haar durchzogen.
„Benimmt sich Mr Whittle? Trinkt er immer noch heimlich im Büro?“
„Mutter!“, mahnte Alice.
„Jeder weiß, dass Elijah Whittle gerne mal einen über den Durst nimmt.“ Florence winkte mit ihrer schlanken Hand ab. „Das ist allgemein bekannt. Da könnt ihr jeden in Walden fragen.“
„Elijah arbeitet immer sehr professionell.“ Widerwillig musste ich mir eingestehen, dass sie nicht ganz unrecht hatte, verteidigte ihn aber trotzdem. „Er ist ein erfahrener Journalist und ich lerne viel von ihm.“
„Oh, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Wer kann es ihm verdenken?“ Florence erhob sich von der gepolsterten Sitzbank in der Fensternische. Ihre Bewegungen waren langsam und wirkten angestrengt, und sie hatte einen trostlosen Ausdruck im Gesicht.
„Fühlst du dich wieder unwohl, Mutter?“ Alice griff nach unten, um Bear auf den Arm zu nehmen.
„Mir geht es gut, Liebling.“ Sie küsste Alice auf den Kopf. „Ich bin nur ein bisschen müde. Das ist der Schock über Samuels Tod. Ich lasse dich und Iris allein, damit ihr euch unterhalten könnt. Ich muss mit Cook über die Beerdigungsvorbereitungen sprechen. Wir werden danach hier einen Empfang geben.“ Sie verließ den Raum. Zurück blieb nur der Duft ihres blumigen Parfums.
„Wie hat sie die Nachricht verkraftet?“, erkundigte ich mich. Eines der Dinge, die Alice und mich in der Schule zusammengeführt hatten, war, dass unsere Mütter nicht so waren wie die der anderen Mädchen. Damals war Florence immer unterwegs – mal auf Reisen, mal auf Bällen oder Empfängen. Alice hatte als Kind manchmal Angst gehabt, sie könnte eines Tages einfach nicht zurückkehren. Aber im Laufe der Jahre war aus Florence die Lebensfreude gewichen und sie wirkte nur noch wie ein Schatten ihrer selbst.
„Sie ist seit dem Krieg nicht mehr dieselbe. Sie konnte nicht akzeptieren, dass es plötzlich keine gesellschaftlichen Veranstaltungen mehr gab. Und obendrein wurden die meisten unserer Hausmädchen zum Kriegsdienst herangezogen. Mutter und ich mussten beim Kochen und bei der Hausarbeit mit anpacken.“ Sie grinste. „Kannst du dir das vorstellen – Mutter und Hausarbeit? Sie hat es so gehasst.“ Alice kraulte Bears Ohren und der schaute sie aus seinen treuen Hundeaugen bewundernd an. „Wir haben Glück, dass wir Holly gefunden haben. Heutzutage ist es so schwierig, Hausmädchen zu halten.“
Verglichen mit dem Leid, das andere Familien ertragen mussten, fiel es mir schwer, allzu viel Mitgefühl für Florence zu empfinden. Nachdem ich jedoch gerade die seltsamen Stimmungsschwankungen von Colonel Thackeray erlebt hatte, vermutete ich, dass die Anstellung von Dienstmädchen das geringste ihrer Probleme war.
„Und dann wurden die Lebensmittel knapp. Sie hat nie wirklich verstanden, was Rationierung bedeutete“, fuhr Alice fort. „Onkel Samuel und Nathan halfen aus, wenn sie konnten, und brachten uns Schokolade und andere Leckereien.“
„Kennst du Nathan Cheverton gut?“, fragte ich.
Sie errötete leicht. „Ich denke schon. Wenn er hier war, haben wir zusammen gemalt. Er ist sehr gut darin. Er hat mir verschiedene Techniken beigebracht. Ich vermisse seine Besuche.“
„Stand er dem General nahe?“
„Sie mochten einander sehr. Aber Nathan passte nicht in das Bataillon. Also, ich meine, nicht zu den anderen Offizieren. Er wirkte immer so ein bisschen schusselig.“ Sie lachte. „Er schien nie zu wissen, was von ihm eigentlich erwartet wurde.“
„Was hat dein Vater von ihm gehalten?“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nathan den hohen Ansprüchen des Colonels genügte.
Sie lächelte schwach. „Er war enttäuscht. Ja, ich glaube das trifft es auf den Punkt. Er wollte, dass ich jemanden mit militärischen Verbindungen heirate, und sah Nathan zunächst als möglichen Kandidaten an. Zu meiner Erleichterung hat er diesen Plan aber bald wieder verworfen.“
„Ach du meine Güte“, rief ich aus. Ich war froh, dass mein Vater zu sehr in seine Arbeit vertieft war, als dass er jemals auf die Idee gekommen wäre, einen Ehemann für mich zu suchen. „Nathan wäre doch auch sicher zu alt gewesen?“
„Fast zwanzig Jahre älter als ich.“ Sie erschauderte.
„Und mochte er dich? Also auf diese Weise, meine ich.“ Ich zwinkerte ihr zu.
„Nein, ich denke nicht.“ Sie wurde wieder rot. „Wir kamen gut miteinander aus, wenn wir malten. Aber bevor er in den Krieg zog, hatte ich eine unangenehme Begegnung mit ihm.“
„Hat er sich dir unsittlich genähert?“, fragte ich erschrocken und hatte sofort das Gefühl, sie beschützen zu müssen.
„Nein, jedenfalls nicht im üblichen Sinne. Es passierte hier im Salon. Vater war nicht zu Hause und ich hatte mal wieder keine Ahnung, wo Mutter war. Nathan war aufgeregt, weil er am nächsten Morgen an die Front nach Frankreich aufbrechen musste.“
„Was hat er getan?“, drängte ich sie.
„Er schlang plötzlich seine Arme um mich und drückte mich fest an sich. Er sagte, dass er jetzt sofort jemanden umarmen müsse und dass er seine Mutter vermisse.“
Ich widerstand dem Drang zu lachen nur schwer. „Wie hast du reagiert?“
„Ich konnte doch gar nicht viel tun. Meine Arme waren an der Seite eingeklemmt und ich konnte mich nicht bewegen. Ich war kurz vorm Ersticken. Und dann küsste er mich auch noch – auf die Schläfe.“
„Wie furchtbar für dich.“ Meine Stimme nahm einen höhnischen Klang an.
„Er war nicht aggressiv, eher aufgewühlt. Es dauerte wahrscheinlich auch nur eine oder zwei Sekunden, aber mir kam es wie eine Ewigkeit vor. Ich war so erleichtert, als er von mir abließ.“
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte ich und lachte leichthin. „Und hast du etwas zu ihm gesagt?“
„Ich glaube so etwas wie ‚Ich hoffe, dass Sie unversehrt zurückkehren‘. Er dankte mir und dann ging er einfach zur Tür hinaus.“
„Wie höflich du bist.“ Ich lächelte. „Du hast die Situation perfekt gemeistert. Der arme Mann war offensichtlich traumatisiert. Das ist mir im Krankenhaus auch schon ein paar Mal passiert, aber es waren immer Ärzte und Krankenschwestern da, um mir beizustehen. In seinem eigenen Wohnzimmer auf diese Weise umarmt zu werden, muss beängstigend gewesen sein.“
„Jedenfalls war es keine gesellschaftliche Situation, auf die man mich hätte vorbereiten können.“
Wir lachten beide.
„Und obendrein war es mir auch ziemlich peinlich. Ich beschloss, niemandem davon zu erzählen, um Nathans willen. Vater hätte sicherlich überreagiert, und ich wollte die gute Beziehung zwischen ihm und Onkel Samuel nicht belasten.“
„Aber warum hast du dich nicht wenigstens deiner Mutter anvertraut?“
„Weil sie ständig wie vom Erdboden verschluckt war.“ Alice lächelte resigniert. „Eine Zeit lang dachte ich wirklich, sie würde ganz verschwinden. Du kennst das ja noch aus unserer Schulzeit.“
Ich nickte. Ich hatte es gehasst, wie sehr Florence Alice vernachlässigt hatte. „Es tut mir leid, dass ich nicht hier war. Du musst sehr einsam gewesen sein.“
„Lustig war es nicht“, gab sie zu, „dass ich niemanden hatte, mit dem ich reden konnte.“
Wir schreckten auf, als eine Tür zuschlug. Bear jaulte erschrocken auf.
„Florence!“, brüllte Colonel Thackeray.
Alice schloss die Augen, als sie das Geräusch einer Vase vernahm, die auf den gefliesten Boden des Flurs aufschlug.
„Verdammte Eisenbahngesellschaft“, schrie der Colonel. „Gierige Bastarde, die ganze Bande.“
„Entschuldigung.“ Mechanisch streichelte Alice Bears Kopf. „Vater ist seit Onkel Samuels Tod nicht mehr er selbst.“
„Unser Gespräch hat ihn vielleicht verärgert. Sollen wir einen Spaziergang machen, bis er sich beruhigt hat?“ Ich hoffte, der Colonel würde nicht gleich ins Zimmer donnern. Einen seiner Wutausbrüche wollte ich ungern aus nächster Nähe erleben.
„Nein, ich muss nach ihm sehen.“ Sie setzte Bear auf dem Teppich ab und stand auf. „Du gehst jetzt besser.“
„Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?“
„Das ist nur eine von Vaters Launen.“ Sie lachte hohl und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hier entlang.“ Sie führte mich durch die Balkontür hinaus.
Ich konnte Colonel Thackeray immer noch brüllen hören, als ich über den Rasen ging. Instinktiv wollte ich zu Alice zurückkehren – ihr angstvoller Blick hatte mich beunruhigt –, aber ich musste ihren Wunsch respektieren.
Kapitel 7
Es war Markttag und die Main Road war überfüllt. Elijah murmelte Flüche vor sich hin, sobald es jemand wagte, sich ihm in den Weg zu stellen. Seine frühere Schwermut hatte ihn wieder erfasst, und ich ahnte, dass ihn die Vorstellung quälte, Horace könnte fortziehen und die Zeitung aufgeben.
Der Markt fand auf dem Platz vor dem Gemeindehaus statt, war aber wie üblich auf die Main Road ausgeweitet worden. Die Einwohner der Stadt waren es gewohnt, mit ihren Karren die Seitenstraßen zu nutzen, wenn die Lebensmittelstände ihren Weg versperrten, aber Besucher mit weniger Ortskenntnis fanden diese wöchentliche Umleitung sicher hinderlich.
Ich wich einem Händler aus, der einen Korb mit Fischen auf dem Kopf trug. Mit dem Geruch von Schellfisch in der Kleidung wollte ich nun nicht gerade im Versammlungsraum auftauchen. Wieder einmal waren wir von Mrs Siddons vorgeladen worden. Diesmal ging es um eine öffentliche Sitzung zum Verkauf des Waldenmere Lake.
Im Gemeindehaus begrüßten George und ich uns mit verlegenem Gemurmel und vermieden jeden Blickkontakt, während wir die geschwungene Treppe hinaufgingen. Elijah grinste amüsiert. So fröhlich hatte ich ihn den ganzen Morgen noch nicht gesehen.
Sobald wir Platz genommen hatten, ergriff Stadtrat Mansbridge das Wort, vermutlich um Mrs Siddons zuvorzukommen. „Im Interesse der Fairness beabsichtigen wir, eine öffentliche Sitzung im Gemeindehaus abzuhalten, um jedem Kaufinteressenten des Waldenmere Lake die Möglichkeit zu geben, den Bürgern sein Vorhaben zu präsentieren. Aldershot Military Estates hat uns mitgeteilt, dass sie noch keine Entscheidung über einen Verkauf getroffen haben. Einige hochrangige Offiziere haben versucht, Finanzmittel für das Genesungsheim zu generieren.“
„Sie meinen General Cheverton und Colonel Thackeray?“, warf Elijah ein.
William Mansbridge neigte den Kopf. „Ja, unter anderem. Aber der Tod des Generals hat die Dinge wohl auf den Kopf gestellt. Inoffiziell wurde mir mitgeteilt, dass die Armee an den Meistbietenden verkaufen wird, wenn das Geld nicht bald zusammenkommt …“
Mrs Siddons unterbrach ihn. „Damit stünden die Gemeinde und LSWR in direktem Wettbewerb. Indem wir die Frage öffentlich diskutieren, geben wir den Bürgern von Walden die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern. Und vielleicht bringen wir die Armee dann dazu, eine Entscheidung zu unseren Gunsten zu treffen.“
Stadtrat Mansbridge runzelte die Stirn.
„Ein Touristenhotel hätte erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität, die wir hier genießen.“ Die smaragdfarbenen Ohrringe von Mrs Siddons wackelten, als sie sprach. „Mehr Zugverbindungen und ein Ansturm von Besuchern würden die Beschaulichkeit unseres Städtchens empfindlich stören. Ich möchte, dass der Walden Herald darauf eingeht, wenn Sie die Einzelheiten der Sitzung veröffentlichen.“
„Das hat jetzt aber nichts mehr mit Fairness zu tun“, beschwerte sich William Mansbridge. „Die Zeitung sollte doch wohl unparteiisch sein und jeder Seite den gleichen Raum geben.“
Mrs Siddons ignorierte ihn. „Hier geht es darum, was das Beste für Walden und seine wachsende Bevölkerung ist. Der See hat die Menschen zuerst in diese Gegend gelockt, und er ist der Grund, warum die Stadt überhaupt entstanden ist. Und deshalb muss er genau so erhalten werden, wie er ist.“
Ich nickte zustimmend.
„Verfügt der Gemeinderat denn über ausreichende Mittel, um mit LSWR zu konkurrieren?“, wollte Elijah wissen.
Mrs Siddons Antwort war politisch gefärbt. „Das müssen wir erst noch sehen. Wir möchten ja, dass die Stadt floriert, aber sie muss auf die richtige Weise wachsen und darf nicht zu einem Touristenmagneten werden. Wir wollen neue Wohnungen, eine größere Schule und andere Annehmlichkeiten für Familien, jedoch keine großen Hotels, die den Charakter der Stadt verändern würden. Ich bin sicher, dass die Mehrheit Ihrer Leser dieser Meinung ist.“
„Bleibt immer noch die Frage, woher der Rat die Mittel für diese Einrichtungen und den Kauf des Sees nehmen soll.“ So schnell ließ sich Elijah nicht abspeisen.
„Die Regierung versucht, die Überbevölkerung in den Großstädten zu verringern, indem sie die Menschen ermutigt, in ländlichere Gegenden zu ziehen. Sie ist sehr daran interessiert, das Wachstum von Kleinstädten wie der unseren zu fördern, wenn dadurch nachhaltige Arbeitsplätze entstehen. Wir haben das Glück, dass wir in dieser Ecke des Nordostens von Hampshire viele florierende Industrien haben. Die Regierung ist sich bewusst, dass Walden vielen Familien ein adäquates Zuhause bieten könnte.“
Ich vermutete, dass sie im Parlament bereits die Fäden gezogen hatte, um das Geld aufzutreiben. Und aus meiner Erfahrung mit ihr im letztjährigen Wahlkampf wusste ich: wenn jemand die richtigen Leute kannte, dann Mrs Siddons.
„Würde die Gemeinde, wenn sie das Land erhält, Häuser um den Waldenmere Lake herum bauen?“, fragte Elijah, auch aus Eigeninteresse. Horace Laffaye liebte seine Privatsphäre und wäre über neue Nachbarn nicht gerade erfreut.
„Nein. Die Entwicklung der Wohnsiedlung in Crookham ist schon in vollem Gange, sodass wir damit bereits die Kriterien für die Bereitstellung neuer Wohnungen erfüllen.“ Mrs Siddons hatte demnach ihr Wahlversprechen vom letzten Jahr eingelöst. „Aber ich habe der Zentralregierung klargemacht, dass die Attraktivität der neuen Siedlung in ihrer ländlichen Lage und der Nähe zum Kanal und zum Waldenmere Lake liegt. Wäre der See in Privatbesitz, wäre das Gebiet für Familien, die sich ansiedeln wollten, weniger reizvoll.“
Elijah nickte zustimmend. William Mansbridge seufzte. Ihm wurde klar, dass der Walden Herald nicht unparteiisch berichten würde.
***
In der folgenden Woche schlenderte ich, die warme Abendsonne genießend, zum Gemeindehaus. Lizzy und Betty hatten beschlossen, mich zu begleiten, nur um Mrs Siddons zu sehen. Zu meiner und Alices Belustigung schienen sie einen Verein zur Bewunderung von Mrs Siddons gegründet zu haben und diskutierten gerne jedes Detail ihrer Kleider und ihres Schmucks.
Für den Monat Juni war es sehr mild, und ich hatte meine übliche Arbeitshose gegen ein hellgrünes Sommerkleid getauscht. Mein Kopf wollte es gern darauf schieben, dass ich den Walden Herald bei einer öffentlichen Sitzung vertrat, und nicht darauf, dass ich mich danach mit George davonschleichen wollte.
Lizzy und Betty suchten sich zwei Plätze im hinteren Teil des Saals, während ich draußen wartete und beobachtete, wie die Honoratioren von Walden langsam hinein strömten.
Als der Artikel über den geplanten Verkauf des Waldenmere Lake zum ersten Mal im Walden Herald erschienen war, hatte man in der Stadt über nichts anderes gesprochen. Aber das war vor dem Mord an General Cheverton. Die Stadtbewohner waren danach ausgesprochen beunruhigt, und ich war gespannt, welche Entwicklung die Ereignisse an diesem Abend nehmen würden.
Es wurde erwartet, dass Mrs Siddons den Rat von Walden vertreten würde, während Colonel Thackeray im Namen der Armee sprechen würde. Gerüchten zufolge sollte auch Sir Henry Ballard einen Auftritt haben.
Ben Gilbert wirkte entspannt, während er nach Anzeichen einer möglichen Störung der Veranstaltung Ausschau hielt. Die Versammlung sollte um sieben Uhr beginnen – zu früh für Pöbeleien seitens der Stammgäste des Drunken Duck.
„Bist du heute Abend beruflich hier?“, fragte er.
Ich nickte. „Ich warte auf Elijah.“
„Er ist über all das nicht glücklich, oder?“
„Wie kommst du darauf?“, fragte ich beunruhigt. Ich kannte den Grund für Elijahs Besorgnis, aber es wäre gefährlich, wenn jemand anderes die wahre Natur seiner Beziehung zu Horace erahnen würde. Vor allem ein Polizist.
„Es hat im Duck einige hitzige Debatten gegeben.“
„Nichts Ernstes, hoffe ich?“ Meine Sorge wuchs. Elijah konnte nach ein paar Drinks durchaus streitsüchtig werden.
„Nur ein paar kleinere Auseinandersetzungen. Jeder hat seine eigene Meinung zu diesen Hotelplänen. Und die Ermordung des Generals hat zu Gerüchten über eine Verschwörung geführt, in die die LSWR verwickelt sein soll.“
Ich war mehr als bereit, dieses Feuer zu schüren. „General Cheverton war ein Hindernis auf ihrem Weg. Ich denke, das Misstrauen dieser Leute ist durchaus berechtigt.“
„Wenn es ein Auftragsmörder war, dann war es nicht der professionellste Schuss, den ich je gesehen habe.“ Ben glaubte offensichtlich nicht an diese Theorie.
„Wenn sie jemanden gesucht haben, der den Job schnell und problemlos erledigte, hätte es jeder kleine Schurke getan. Der General war ein alter Mann. Sie dachten wahrscheinlich, er sei ein leichtes Ziel.“
„Aber wir sind ziemlich sicher, dass es sich bei der Waffe um den Dienstrevolver des Generals handelte. Möglicherweise hatten sie vor, ihn zu Tode zu prügeln, und sind dann auf die Waffe gestoßen.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Hey, Ben.“ George schlenderte auf uns zu, die Jacke über die Schulter gehängt und die dunklen Locken nach hinten gestrichen. „Sie sollten das Auto sehen, das gerade um die Ecke kommt.“
„Ich sehe, ihr beide kennt euch“, stellte ich leicht beunruhigt fest. Ben war einer meiner ältesten Freunde. Und obwohl er eine enge Beziehung zu Alice hatte, war sie wahrscheinlich nicht so intensiv wie die, die ich mit George pflegte. Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass Ben von meiner Verbindung zu George wusste.
„Stadtrat Mansbridge lädt Wachtmeister Gilbert regelmäßig ins Gemeindehaus ein, um ihn daran zu erinnern, dass er persönlich für die Wahrung der moralischen Werte der Stadt verantwortlich ist.“ George imitierte überzeugend die tiefe, pompöse Stimme von William Mansbridge.
Ben lachte, dann gab er einen leisen Pfiff von sich, als ein glänzender schwarzer Daimler vorfuhr. Der Chauffeur öffnete die hintere Tür und Sir Henry Ballard stieg aus. Ich sah zu, wie die beiden hinübergingen, um sich den Wagen genauer anzusehen, und war von ihrer kindlichen Begeisterung irritiert. George sah neben dem adrett gekleideten Ben noch verwegener aus als sonst.
„Sie sehen sehr hübsch aus“, erklang eine vertraute Stimme in meinem Ohr. Ich hob das Kinn und drehte mich mit einem kaum hörbaren Seufzen um.
Percy Baverstock wirkte in seinem grauen Flanellanzug sehr elegant, sein weiches Haar fiel ihm wie immer in die Stirn.
„Was tun Sie denn hier?“ Mein Atem beschleunigte sich.
„Ich bin natürlich hier, um den Waldenmere Lake zu retten.“
„Ach wirklich?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen versuchte ich, meine Fassung wiederzuerlangen. „Und wie wollen Sie das anstellen?“
„Begleiten Sie mich nachher zum Bahnhof und ich werde Ihnen alles erzählen.“
„Ich kann nicht.“ Er stand dicht neben mir, und ich konnte sehen, dass Georges Aufmerksamkeit nicht mehr auf das Auto gerichtet war.
„Sie haben auf meinen letzten Brief nicht geantwortet“, flüsterte er. Dann trat er einen Schritt zurück. „Da kommt der Chef.“
Elijah schlenderte keuchend auf uns zu. Er ignorierte die Menschenmenge um den Daimler und kam herüber, um Percy auf den Rücken zu klopfen. „Der junge Baverstock! Was führt Sie hierher?“
„Wichtige Angelegenheit, Sir.“ Percy machte eine Scheinverbeugung. „Ich werde Ihrer Starreporterin nach dem Treffen alles verraten.“
„Werden Sie? Tatsächlich?“ Elijah blickte zu George hinüber und lächelte. „Ich hoffe, meine Starreporterin schenkt Ihnen dann auch ihre volle Aufmerksamkeit.“
In der Halle hatten sich die meisten Leute nach hinten oder in die mittleren Reihen gesetzt. Elijah hingegen ging zielstrebig nach vorne.
„Oh, Mr Whittle.“ Horace Laffaye saß in der Mitte der ersten Reihe, tadellos gekleidet in einen blauen Anzug mit einer blassrosa Rosenknospe im Knopfloch. Ein Panamahut ruhte auf seinem Knie. Es war schwer vorstellbar, dass dieser sanftmütige Mann an der Wall Street tätig war. Er deutete auf den Platz neben sich.
Ich setzte mich auf die andere Seite von Elijah, während Percy, der entschlossen schien, an meiner Seite zu bleiben, den Platz neben mir einnahm. Als ich mich umblickte, um zu sehen, ob ich George entdecken konnte, musste ich feststellen, dass er sich direkt hinter uns platziert hatte. Während Percy sich zu mir beugte und mir etwas ins Ohr flüsterte, spürte ich, wie sich Georges Blick in meinen Rücken bohrte. Gleichzeitig bemerkte ich Elijah und Horace, die amüsiert zusahen.
Ich biss die Zähne zusammen und drehte mich nach vorne um. Das würde eine lange Sitzung werden.
Kapitel 8
Einige Minuten bevor die Uhr sieben schlug, füllte sich der Saal. Ich drehte mich um und ließ meinen Blick über das Publikum schweifen, ohne Georges Blicke zu beachten. Lizzy und Betty saßen in der letzten Reihe, und neben Miss Millicent Nightingale, einer Lehrerin der Walden-Grundschule, hatten noch ein paar andere Damen den Weg in das Gemeindehaus gefunden. Aber der Großteil der Anwesenden war männlich, die meisten von ihnen Geschäftsleute aus der Gegend.
Kurz nach sieben nahm die große Gestalt von Stadtrat William Mansbridge die kleine Bühne ein. Reihen von Gesichtern blickten erwartungsvoll zu ihm auf.
„Guten Abend. Es ist erfreulich, so viele von Ihnen heute hier zu sehen. Zunächst möchte ich meine Trauer über den Tod von General Cheverton zum Ausdruck bringen. Ich weiß, dass die ganze Stadt noch immer unter dem Schock dieses tragischen Ereignisses steht. Der General war nicht nur ein hervorragender Offizier und tapferer Soldat, er war auch ein beliebter und hochgeachteter Bürger von Walden. Wir werden ihn sehr vermissen.“ Er senkte kurz den Kopf, bevor er fortfuhr. „Nun zur Sache selbst. Diese große Beteiligung überrascht mich nicht. In den letzten Wochen habe ich – immer wenn ich in der Stadt unterwegs war – mit vielen von Ihnen gesprochen und viele Fragen über die Zukunft des Waldenmere Lake gestellt bekommen. Die heutige Versammlung soll Ihnen die Möglichkeit geben, alle am Kauf des Sees interessierten Parteien anzuhören und sie selbst zu befragen. Da sich der Waldenmere Lake aktuell noch im Besitz der Armee befindet, scheint es nur fair, den derzeitigen Eigentümer zuerst zu Wort kommen zu lassen. Daher möchte ich Colonel Thackeray bitten, das Wort zu ergreifen.“
Der Colonel stieg die wenigen Stufen zum Podium hinauf und erntete höflichen Beifall. An einer Stelle stolperte er. Florence beobachtete ihn von ihrem Platz aus mit zusammengepressten Lippen. Sie machte keine Anstalten, ihrem Mann zu helfen.
Der Colonel fing sich wieder und wandte sich dann dem Publikum zu. „General Cheverton sorgte sich um seine Männer und er sorgte sich um Walden. Ich weiß, dass ich mir bei dem, was ich jetzt sagen werde, seiner vollen Unterstützung gewiss sein kann.“ Seine Hand zitterte ein wenig, als er sich den vor ihm liegenden Notizen zuwandte. „Die Stadt Walden blickt auf eine stolze Geschichte im Dienste des Militärs zurück. Die britische Armee erwarb den Waldenmere Lake erstmals im Rahmen eines Landkaufs, der auf das Jahr 1854 zurückgeht. Seitdem war das Militär in der einen oder anderen Form auf dem See präsent, testete Wasserflugzeuge und den Prototyp eines Panzers. Wie Sie wissen, waren wir während des Krieges an seinen Ufern stationiert.“ Seine Stimme wurde ernst. „Wir haben während dieses langen Konflikts viele Männer verloren. Viele weitere leiden noch immer. Ich würde den Waldenmere Lake gerne nutzen, um etwas zurückzugeben. Die Ruhe, die von ihm ausgeht, macht ihn zum idealen Standort für ein Genesungsheim für unsere Kriegshelden.“
Aus dem Publikum ließ sich zustimmendes Gemurmel vernehmen.
„Ich möchte Ihnen versichern, dass das Heim die Einwohner Waldens in keiner Weise daran hindern wird, den See wie bisher zu genießen. Wir möchten lediglich unseren Veteranen die Möglichkeit geben, an seiner Schönheit teilzuhaben, und ihnen die Ruhe bieten, die sie zur Erholung brauchen.“
Vereinzelter Beifall ertönte, doch der Großteil der Menge verharrte in abwartendem Schweigen. Ich zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit des Colonels, und seine Ansprache hätte meine Feindseligkeit ihm gegenüber vielleicht etwas gemildert, wenn ich nicht seinen jüngsten Ausbruch und die Angst, die dieser bei Alice ausgelöst hatte, miterlebt hätte. Als ich nach fünf Jahren Abwesenheit nach Walden zurückkehrte, war ich schockiert, wie sehr der Colonel durch den Krieg gealtert war. Sein einst dunkles Haar war ergraut, seine große Gestalt gebeugt. Er war stets eine Respekt einflößende Erscheinung gewesen, und das hatte sich nicht geändert – doch seine frühere Vitalität schien einer Mischung aus tiefem Groll und Verbitterung gewichen zu sein.
„Verfügt die Armee über die Mittel, um geeignete Räumlichkeiten zu schaffen?“, ließ sich Elijah vernehmen.
„Der Stand der Dinge ist folgender“, erwiderte Colonel Thackeray mit der Autorität eines Mannes, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen. „Aldershot Military Estates hat die Situation geprüft und wird finanzielle Unterstützung benötigen, um den See zu erhalten und den Bau eines Gebäudes zu finanzieren, das unseren Anforderungen entspricht.“
„Wie viele Veteranen würde das Heim beherbergen können?“ Elijah zuckte nicht mit der Wimper, als der Colonel ihn anfunkelte.
„Bis zu fünfzig, wenn wir es vernünftig ausstatten. Um Spenden zu sammeln, werden meine Frau und ich eine Gartenparty in Sand Hills Hall veranstalten.“ Er warf einen Blick auf Florence, die sich zu einem gezwungenen Lächeln herabließ. „Ich hoffe, Sie kommen alle und spenden, was Sie können, um unseren Kriegshelden zu helfen. Lassen Sie uns unseren verwundeten Männern zeigen, wie dankbar wir ihnen für all das sind, was sie für unser Land geopfert haben. Ich bin davon überzeugt, dass der Bau eines Genesungsheims das Richtige ist, und ich weiß, dass viele von Ihnen genauso denken.“
Der Colonel schritt unter verhaltenen Beifallsbekundungen vorsichtig die Treppe hinunter. Die Resonanz war zwar nicht einvernehmlich, aber es gab durchaus Unterstützung für den Plan.
Stadtrat Mansbridge betrat erneut die Bühne. „Ich möchte Ihnen jemanden vorstellen, der Ihnen nicht bekannt sein wird. Sir Henry Ballard ist einer der Direktoren der London and South Western Railway. Obwohl er – wie Sie erahnen können – ein vielbeschäftigter Mann ist, hat er sich die Zeit genommen, nach Walden zu kommen, um uns heute Abend die Pläne seines Unternehmens vorzustellen, einen Teil des Sees zu sanieren und ein Hotel zu bauen. Sir Henry, dürfte ich Sie auf die Bühne bitten?“
Beim Gang durch die Mitte der Halle lächelte Sir Henry jedem zu, an dem er vorbeikam. Überraschenderweise hüpfte er trotz seiner etwas korpulenten Statur mit ein paar anmutigen Sprüngen leichtfüßig die Stufen hinauf.
„Guten Abend, allerseits. Ich möchte mich für die Gelegenheit bedanken, hier in Walden vor Ihnen sprechen zu dürfen. Sie müssen alle sehr stolz darauf sein, in einer so schönen Stadt zu leben.“ Er strahlte in die Menge, unbeeindruckt von den feindseligen Blicken, denen er begegnete. „Ich weiß, dass unser Plan, den Waldenmere Lake zu kaufen, ein Schock für Sie ist, aber es liegt uns fern, Sie zu beunruhigen. Es ist nicht unsere Absicht, diesen beliebten See zu verschandeln. Wenn überhaupt, dann wollen wir ihn noch attraktiver machen. Die Eisenbahn hat Walden in der Vergangenheit zu großem Wohlstand verholfen. Und hier wollen wir nun anknüpfen, indem wir in der Stadt das erste Hotel errichten.“
Falls Sir Henry gehofft hatte, dass sein Enthusiasmus ansteckend sein würde, wurde er bald eines Besseren belehrt. Je mehr er sich auf der Bühne hin und her bewegte, das Waldenmere Lake Hotel mit seinem Swimmingpool, seiner Cocktailbar und seiner Promenade beschrieb und den Zuhörern erzählte, wie es ihr Leben verbessern würde, desto lauter tönte der Chor der Missbilligung. Schließlich musste Stadtrat Mansbridge eingreifen. Er bat um Ruhe und fragte, ob es irgendwelche Fragen gäbe.
Elijah ergriff als Erster das Wort. „Bei unserem letzten Treffen erwähnten Sie, dass Sie Mill Ponds erwerben wollen. Ist das immer noch Ihre Absicht?“
„Diese Angelegenheit ist angesichts der tragischen Umstände auf Eis gelegt. Ich bedauere, General Cheverton nie kennengelernt zu haben. Er muss ja wohl ein bemerkenswerter Mann gewesen sein. Sein Tod ist natürlich ein großer Verlust für die Stadt, und ich möchte Ihnen allen mein tiefstes Beileid aussprechen.“ Seine feierliche Art vermittelte den Eindruck, dass er über den Tod des Generals ebenso schockiert war wie alle anderen. Dennoch war er derjenige, der möglicherweise am meisten davon profitieren konnte.
Ted Cox, der Wirt des Drunken Duck, erhob sich und polterte los: „Wir wollen kein Hotel. Oder ein Schwimmbad. Und auch keine Promenade. Das hier ist nicht die verdammte Küste. Walden ist kein Ferienort. Es ist eine ruhige Kleinstadt. Wir wollen hier keine Touristen mit Autos und dergleichen.“
Aus der Menge kamen Rufe wie: „Ganz genau.“
Ratsmitglied Mansbridge bat erneut um Ruhe. „Das ist zwar keine Frage, Mr Cox. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Möchte noch jemand etwas hinzufügen?“
Jim Fellowes, der Besitzer des Walden Emporium, dem einzigen Kaufhaus im Ort, stand auf. „Warum wollen Sie den See trockenlegen? Er ist gut so, wie er ist.“
Wenn Sir Henry erwartet hatte, dass die örtlichen Gewerbetreibenden die Idee eines Hotels begrüßen würden, lag er falsch. Ted Cox und Jim Fellowes waren die Wortführer der Waldener Geschäftswelt. Andere Geschäftsleute würden ihrem Beispiel folgen.
Sir Henry strahlte auf die unzugängliche Menge herab. „Wie ich bereits erklärt habe, wird die teilweise Entwässerung des Sees nur vorübergehend sein, während wir das Fundament für die Promenade errichten. Für kurze Zeit wird das Wehr dafür sorgen, dass der Pegel sinkt, während die Arbeiten laufen. Sobald der Sockel der Promenade fertig ist, wird der Wasserstand wieder auf seinen normalen Stand gebracht.“
„Da unten findet man sicher so Einiges“, ließ sich Ted Cox vernehmen und grinste. „Die Soldaten haben da ihren ganzen Müll reingeschmissen, bevor sie abgehauen sind. Vielleicht auch etwas Dynamit.“
Diese Vorstellung löste Gelächter im Publikum aus. Sir Henry hob die Augenbrauen und wirkte erstaunt. Colonel Thackeray wollte aufstehen, um zu antworten, schien es sich dann aber anders zu überlegen und setzte sich wieder hin.
„Ist das wahr?“, flüsterte ich Elijah zu. „Hat die Armee etwas in den See gekippt?“
„Ich war damals noch in Frankreich, aber ich habe Gerüchte darüber gehört. Augenzeugen haben berichtet, dass alles Mögliche hineingeworfen wurde.“
Ratsmitglied Mansbridge schien einen Moment lang unsicher zu sein, was er als nächstes tun sollte. Er beschloss, die Dinge weiter voranzutreiben, anstatt sich von dieser Enthüllung ablenken zu lassen, und winkte Mrs Siddons heran. In einem pflaumenfarbenen Seidenkleid, das Lizzy und Betty fast in Ohnmacht fallen ließ, wies sie ihn zur Seite, bevor er sie vorstellen konnte.
„Setzen Sie sich hin, William, und ruhen Sie sich aus! Ich bin der letzte Programmpunkt des Abends, Sie können sich entspannen.“
Dies löste weiteres Gelächter in der Menge aus.
„Ich denke, jeder hier kennt mich. Mein Name ist Sybil Siddons und ich bin stolz darauf, Ihr Mitglied des Parlaments zu sein. Ich bin keine gewählte Vertreterin des Rates von Walden. Zu Recht werden Sie sich also fragen, was ich heute Abend hier mache.“ Niemand antwortete darauf. Sie lächelte auf ihr Publikum herab. „Ich bin seit vielen Jahren in der Politik tätig und habe in dieser Zeit einige nützliche Kontakte geknüpft.“
Damit hatte sie absolut recht. Ich hatte mir davon im Jahr zuvor anlässlich eines gemeinsamen Besuches im Parlament ein Bild machen können.
„Die britische Regierung ist sehr daran interessiert, den Ausbau von Städten wie der unseren voranzutreiben . Aber wir müssen uns auf die richtige Weise weiterentwickeln. Wir brauchen ein größeres Schulgebäude, ein örtliches Krankenhaus und komfortable Wohnungen für Familien.“ Sie hielt inne und schüttelte den Kopf. „Nicht ein riesiges Hotel für die wenigen Privilegierten.“
Anders als Colonel Thackeray hielt sie keine Souffleurkarten in der Hand. Stattdessen blickte sie die Menschen im Saal direkt an und machte eine vereinende Geste in ihre Richtung.
„Der Waldenmere Lake muss Teil dieses Wachstums sein. Es ist unsere lokale Schönheit, das Juwel in unserer Krone. Er sollte uns gehören. Ich bin davon überzeugt, dass ich die notwendigen Mittel bereitstellen kann, damit der Waldenmere Lake öffentlich zugänglich bleibt. So wie es sein sollte.“
Ich schaute in den Saal. Die Menge nickte zustimmend.
Mrs Siddons Stimme nahm einen erklärenden Charakter an: „Im Hinblick auf die Besitzverhältnisse des Waldenmere Lake sollte es nicht darum gehen, wer die dicksten Taschen hat. Wir sprechen hier nicht von Mehl, das man pfundweise in Mr Fellowes wohlsortiertem Emporium kaufen kann.“ Sie lächelte Jim Fellowes an, der vor Verlegenheit zurückschreckte, und fuhr nun lauter und voller Inbrunst fort: „Hier sollte es darum gehen, was das Beste für Walden ist. Für seine jetzigen Bürger. Und für seine zukünftigen Bürger, unsere Kinder. Für sie müssen wir die Geschicke unserer Stadt und unseres Sees in die Hand nehmen.“
Zustimmender Jubel hallte durch den Saal.
„Ich bin heute Abend hier, weil mir die Menschen von Walden am Herzen liegen. Sie sind meine Nachbarn, meine Freunde. Ich möchte, dass wir alle weiterhin in dieser wunderbaren Stadt zusammen sein könne, um unser friedliches Leben hier gemeinsam zu genießen.“ Sie streckte den Zuhörern die Hände entgegen. „Und es so belassen, wie es ist. Wäre das in Ihrem Sinne?“
Spätestens jetzt war der ganze Saal auf den Beinen und applaudierte frenetisch.
„Dann sind wir uns einig“, rief sie in die Menge und verließ die Bühne, ohne weitere Fragen abzuwarten.
Ich beobachtete ehrfürchtig, wie sie den Mittelgang hinunterging und ihren Freunden und Nachbarn kräftig die Hand schüttelte. Percy ging zu ihr hinüber, um mit ihr zu sprechen, und ich nutzte schnell die Gelegenheit, ihn loszuwerden, indem ich Elijah und Horace diskret aus dem Saal folgte. Lizzy und Betty befanden sich in dem Pulk um Mrs Siddons.
Draußen war der Daimler von Sir Henry verschwunden, seinen Platz hatte der von Horace eingenommen.
„Möchten Sie mit mir einen Schlummertrunk nehmen, Mr Whittle?“, bot Horace an. Der Chauffeur öffnete die hintere Tür und Elijah kletterte hinein.
George wartete am Rande der Treppe und unterhielt sich mit Ben. Ich drehte mich in ihre Richtung, war aber nicht schnell genug. Percy erschien an meiner Seite.
„Ich bin gespannt, was Sie meiner Starreporterin zu sagen haben“, rief Elijah aus dem offenen Fenster des Autos, bevor es losfuhr.
Ben schlenderte herüber. „Hallo, Percy. Was führt Sie zurück in unsere Gegend?“
„Dieses entzückende Geschöpf.“ Percy legte seinen Arm um meine Schulter. „Es tut mir leid zu hören, dass Sie einen Mordfall zu bearbeiten haben, Wachtmeister Gilbert. Jetzt ist keine Zeit für Domino im Pub, was?“
Diese Anspielung bezog sich auf eine von Percys früheren Bemerkungen, dass die Stadt so ruhig sei, dass der örtliche Bobby den ganzen Tag nur im Pub sitze und Domino spiele. Bis zum Tod von General Cheverton war das gar nicht so abwegig gewesen.
Ben lächelte. „Ich habe immer noch Zeit für das eine oder andere Bierchen. Ich mache jetzt Feierabend – wenn Sie mitkommen möchten?“
„Leider muss ich jetzt zurück. Ich werde Iris nach Hause begleiten und dann zum Bahnhof gehen.“ Percy ergriff meinen Arm.
„George, kommen Sie mit?“, fragte Ben.
„Warum nicht?“, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu, bevor er mit Ben wegging.
„Endlich allein.“ Percy grinste verrucht.
„Was wollen Sie?“ Seufzend gab ich den Versuch auf, den Abend zu retten, und machte mich auf den Weg in die Main Road.
„Kennen Sie den Kerl?“ Percy eilte hinter mir her.
„Ben? Ja, natürlich kenne ich ihn.“
„Nein. Den anderen. George?“
„Er ist ein Freund von mir.“
„Er schien nicht sonderlich begeistert zu sein, dass ich Sie nach Hause begleite. Ich kann solche Dinge erkennen, wissen Sie.“
„Sehr scharfsinnig von Ihnen“, gab ich ironisch zurück.
„Sie haben auf meinen letzten Brief nicht geantwortet.“ Er beschleunigte seinen Gang, um mit mir Schritt zu halten.
„Ich hatte viel zu tun. Außerdem hatte ich nichts Interessantes zu schreiben.“
„Mit Constance hat es nicht geklappt, wissen Sie.“
„Das haben Sie mir in Ihrem Brief bereits mitgeteilt.“
„Ich dachte, vielleicht könnten wir beide wieder einmal ins Kino gehen, so wie früher.“ Er hielt inne. „Ich befürchte, dass ich an dem Abend, an dem wir uns im Foxtrott-Club getroffen haben, vielleicht etwas unsensibel war.“
„Habe ich gar nicht bemerkt“, sagte ich schnippisch. Das stimmte nicht so ganz. Ich war zum Tanzen gegangen, weil ich dachte, wir würden eine Romanze beginnen. Der Abend war dann allerdings nicht so verlaufen, wie ich es erwartet hatte.
„Es tut mir leid, wenn ich mich falsch verhalten habe. Ich möchte, dass wir wieder Freunde sind.“
„Wir sind Freunde.“
„Sie gehen also irgendwann mal wieder mit mir aus?“
„Derzeit bin ich zu beschäftigt.“ So einfach ließ ich mich nicht ködern. „Aber jetzt mal etwas anderes: Verraten Sie mir, wie Sie den Waldenmere Lake retten wollen?“
„Erinnern Sie sich an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal trafen? Als Sie zu einem Vortrag der Gesellschaft kamen?“ Percy war Mitglied der Gesellschaft zur Förderung von Naturschutzgebieten.
„Im Naturhistorischen Museum?“
„Ja, die Rednerin war Mrs Juliet Rendall.“
„Ja, sie war sehr gut“, kramte ich die Erinnerung hervor.
„Sie lebt hier in der Nähe. In Odiham. Der Waldenmere Lake ist etwas Besonderes für sie. Als ich erwähnte, dass ich Mrs Siddons getroffen hatte, sagte sie, ich solle herkommen und unsere Unterstützung anbieten.“
„Wie?“ Plötzlich interessiert verlangsamte ich meine Schritte.
„Die Idee ist, beim Parlament darauf hinzuwirken, dass der Waldenmere Lake rechtlich als Naturschutzgebiet deklariert wird. Mrs Siddons meint, das könnte funktionieren. Ich habe für Juliet ein Treffen mit ihr vereinbart. Könnten Sie Elijah eventuell dazu bringen, eine Kampagne in der Zeitung zu starten?“
Ich lächelte. „Ich glaube, das ließe sich arrangieren.“
Kapitel 9
Elijah zerrte an seiner Krawatte. Ich widerstand dem Drang, sie für ihn zu richten. Sein dunkler Tweedanzug war eindeutig zu warm für diesen milden Junitag – sein Gesicht war schon rot angelaufen.
Mein schwarzes Wollkleid war nur wenig besser geeignet, aber es war das einzige, das ich für einen solchen Anlass verwenden konnte.
Ich hatte meinem Vater geschrieben und ihm vom Tod General Chevertons berichtet. Daraufhin hatte er mich gebeten, ihn auf der Beerdigung zu vertreten. Obwohl der Gottesdienst in der vertrauten Umgebung unserer örtlichen Kirche, St. Marthas, stattfand, wurde der General mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Soldaten in Paradeuniform mischten sich mit Einheimischen in ihren Sonntagskleidern.
Auf dem Kirchhof kam Ben Gilbert zu uns herüber.
„Gibt es Neuigkeiten?“ Ich verschaffte mir mit dem Kirchenlieder-Zettel ein wenig Abkühlung.
Ben schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht. Wir haben das Gelände von Mill Ponds und den nächstgelegenen Teil des Sees abgesucht, aber es gibt keine Spur von der Waffe, mit der der General getötet worden ist. Und weitere Anhaltspunkte haben wir nicht.“
„Habt ihr Sir Henry Ballard befragt?“ Ich hätte gern gehört, dass ihn die Anschuldigungen aus der Fassung gebracht und ihn letztendlich vom Kauf des Waldenmere Lake abgehalten hätten.
„Nein. Dazu lag kein Grund vor.“
Ich war enttäuscht. „Ich weiß, es ist schwer zu beweisen, aber er könnte jemanden beauftragt haben, den General zu töten.“
„Nur weil du ihn für schuldig hältst, heißt das nicht, dass er es auch ist.“ Elijah warf einen Blick auf die Gottesdienstbesucher und notierte die Namen aller prominenten Anwesenden.
„Aber wer außer ihm würde noch vom Tod des Generals profitieren?“ Noch war ich nicht bereit, Sir Henry vom Haken zu lassen.
„Nur eine Person“, antwortete Ben. „Und die hat im Übrigen kein Alibi für die Zeit des Mordes.“
Elijah schaute abrupt auf. „Nathan Cheverton?“
Ben nickte. „Er könnte das Geld gut gebrauchen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas tut.“ Elijah steckte seinen Notizblock wieder in die Brusttasche. „Er war zu der Zeit wahrscheinlich in London. Hat er nicht jemanden, der für ihn bürgen kann?“
„Er war nicht in London. Er war in Wildmay Manor.“
Elijah seufzte. „Armer Nathan.“
„Leidet er an einer Kriegsneurose?“, erkundigte ich mich. Wildmay Manor war der Landsitz eines wohlhabenden Bankiers. Es befand sich inmitten eines großen Grundstücks in Privatbesitz. Während des Krieges war es in ein Krankenhaus für psychisch kranke Soldaten umgewandelt worden.
Ben nickte.
„Dann wird das Personal für ihn bürgen können.“ Elijah suchte in seinen Taschen nach seinem Zigarettenetui. Es war ein langer Gottesdienst gewesen und wir hatten noch eine Einladung zu Tee und Gebäck in Sand Hills Hall vor uns.
„Er war an jenem Nachmittag nicht dort. Als freiwilliger Patient kann er kommen und gehen, wie es ihm gefällt“, erklärte Ben. „Eine der Krankenschwestern sagte, er sei beim Malen gewesen. Nach dem Mittagessen hat ihn niemand mehr gesehen, bis etwa sieben Uhr am Abend.“
„Was hat er selbst denn angegeben, wo er gewesen sei?“, fragte ich. Wildmay Manor war nur sechs Meilen von Walden entfernt.
„Malen am See“, zuckte Ben mit den Schultern.
„Waldenmere Lake?“
„Er ist sich nicht sicher. Das Landgut hat einen eigenen See.“
„Er weiß nicht, an welchem See er gemalt hat?“, wunderte ich mich.
„Er ist eben verwirrt.“ Elijah nahm Nathan in Schutz. „Nicht verwunderlich, bei allem, was er durchgemacht hat.“
„Ist er hier?“ Ich war neugierig auf diesen Mann.
„Da drüben, im Gespräch mit Mrs Akers.“ Elijah wies mit seiner Zigarette in Bettys Richtung.
Nathan stand am Eingang der Kirche und sprach mit Betty und Reverend Childs. Er war ein großer Mann mit einem Schopf graubrauner Haare und einem tatsächlich leicht verwirrt wirkenden Gesichtsausdruck. Ich konnte eine vage Ähnlichkeit mit seinem Onkel erkennen, mehr in seiner Statur als in seinen Gesichtszügen.
„Wie kommt er damit zurecht?“, wollte ich wissen.
Elijah runzelte die Stirn. „Das ist schwer zu sagen. Auch vor dem Mord an seinem Onkel war er nicht gerade in bester Verfassung. Er mochte den alten Cheverton, auch wenn sie aus unterschiedlichem Holz geschnitzt waren.“
Colonel Thackeray ging auf Nathan zu, Florence und Alice folgten ihm. Nathan schien sich zu freuen, Alice zu sehen, und sie lächelte ihn ebenfalls freundlich an. Gleichzeitig warf sie einen Blick auf mich und zuckte leicht mit den Augenbrauen. Ich zwinkerte ihr zu.
„Ist das Finlay mit Superintendent Cobbe und Horace?“ Elijah deutete auf eine Ecke des Kirchhofs, wo die drei Männer anscheinend eine intensive Diskussion führten.
Ben nickte. „Captain Finlay Fortesque.“
Ich sah hinüber zu einem großen, schlanken Mann in Uniform mit einem kleinen, gepflegten Schnurrbart, der mit dem Superintendenten sprach. Er war mir schon einmal begegnet, als er im Gespräch mit Elijah und Horace war.
„Ein Offizier des militärischen Geheimdienstes, nicht wahr?“ Ich erinnerte mich. Er war einer von Horaces Kontakten.
„Ja, sie untersuchen die Möglichkeit eines Attentats. Eventuell durch einen deutschen Spion, der immer noch in unserem Land operiert“, erklärte Ben. „Der Superintendent glaubt nicht daran, aber es hält Colonel Thackeray erst einmal auf Abstand. Der ist nämlich der Meinung, dass wir Provinzbeamten der Aufgabe nicht gewachsen seien.“
„Ich hätte nichts dagegen, mit Finlay zu reden.“ Elijah ließ seine Zigarette fallen und ging mit Ben im Schlepptau hinüber.
Die Trauergemeinde schien sich nicht rühren zu wollen, also wanderte ich weiter über den Kirchhof. Zuvor hatte ich einige frische Blumen auf dem Grabstein meiner Mutter entdeckt. Ihr Grab lag versteckt in einer ruhigen Ecke in der Nähe einer alten Eibe. Auf dem Grabstein lag ein Zweig lila Flieder, der mit grünem und weißem Band gebunden war – den Farben der Suffragetten. Ich hob sie auf und sog ihren stechend-süßen Duft in die Nase.
In regelmäßigen Abständen fanden sich diese Blumen auf dem Grab, immer lila mit grün. Die alten Kameradinnen meiner Mutter ehrten sie. Zuerst hatte ich mich darüber geärgert, aber dann hatte ich akzeptiert, dass das ihre Form der Wertschätzung für die wichtige Rolle meiner Mutter in ihrem Kampf war.
„Iris“, weckte mich Elijah sanft aus meinen Gedanken, „es ist Zeit, nach Sand Hills Hall zu gehen.“
Ich legte die Blumen zurück auf den Grabstein und wir verließen gemeinsam den Kirchhof.
***
„Woodmore? Oh ja, ich kenne Ihren Vater, Thomas.“ Nathan streckte mir seine Hand entgegen, wobei sich einige Spritzer seines Whiskys auf den Webteppich der Thackerays ergossen. „Ein guter Mann. Was treibt er denn so?“
Ich erzählte, dass mein Vater durch Deutschland reiste, um für eine Nachrichtenagentur über die Lage im Rheinland zu berichten.
„Ich habe Freunde in Köln. Die hungern regelrecht. Es gibt kaum noch Fleisch oder Butter. Furchtbar, einfach furchtbar.“ Nathan sprach so laut, dass sich gleich mehrere Köpfe zu ihm umwandten. In einem Raum voller Militärs erntete eine solche Bemerkung prompt ein paar missbilligende Reaktionen. Ich war daran gewöhnt, sobald die Sprache auf Deutschland kam – umso mehr erstaunte mich Nathans Mitgefühl als Brite.
Damit die Situation nicht eskalierte, beschloss ich, das Thema zu wechseln. „Wohnen Sie in Mill Ponds?“
„Nein, ich war noch nicht einmal in der Nähe des Hauses. Ich nehme an, irgendwann muss ich wohl hingehen“, sagte er und schaute dabei ernsthaft entsetzt drein.
Ich fragte mich, warum er so viel Angst davor hatte, das Haus seines Onkels zu betreten.
„Ich glaube, ich fahre heute Abend zurück nach London.“ Nathan verschüttete noch mehr von seinem Getränk auf dem Teppich. „Warum kommen Sie nicht mit mir, Elijah? Wir können in einen Club gehen. Ein paar Drinks nehmen, ein bisschen Karten spielen.“
Seit er in Sand Hills Hall angekommen war, hatte sich Nathan an Elijahs Fersen geheftet und schien sich von ihm leiten zu lassen.
„Nicht heute Abend. Ein anderes Mal gerne.“
„Ich werde den alten Knaben vermissen, wissen Sie. Aber ich will nicht hier sein. Mich interessiert dieser Ort nicht im Geringsten.“ Es war nicht klar, ob er sich auf Sand Hills Hall oder Walden bezog. Seine Ausdrucksweise wurde allmählich sprunghaft und schwer zu verstehen. „Ich werde nicht mehr zurückkommen. Kann ich jetzt gehen, was meinen Sie? Ach nein, ich muss mich erst noch von Florence und der lieben Alice verabschieden.“
„Ich glaube, sie sind im Garten.“ Elijah führte ihn durch die Balkontür. Es schien wirklich angebracht, ihn zum Gehen zu ermutigen. Er sprach immer zusammenhangloser.
„Attraktive Mrs Florence.“ Nathan taumelte leicht und Elijah nahm seinen Arm. „Schade, was passiert ist …“ Der Satz brach ab und Nathan sah schuldbewusst aus. „Pst, mehr darf man nicht verraten.“ Er legte den Finger an seine Lippen.
Meine Neugier war geweckt, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, um nach der Bedeutung seiner Worte zu fragen.
Nathan entdeckte plötzlich Alice und ergriff ihre Hand. „Schönes Mädchen“, lallte er. Sie wich erschrocken einen Schritt zurück. „Ich möchte Sie porträtieren. Ich habe noch nicht viele Frauen gemalt, aber ich will es versuchen. In Öl.“
„Wie interessant.“ Alice rückte näher an ihre Mutter heran.
„Wir wollten gerade gehen.“ Elijah versuchte, Nathan wegzudrängen. „Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Mrs Thackeray.“
„Nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind, Mr Whittle.“ Florence unterstützte Elijahs Versuch, Nathan von Alice zu trennen und ihn zur Einfahrt zu geleiten. „Es war schön, Sie wiederzusehen, Nathan. Sie müssen aber besser auf sich achtgeben“, sagte sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Traurigkeit.
„In Weiß. Ich mag kein Schwarz.“ Nathan deutete auf Alices Kleid. „Mit offenem Haar.“ Mehrere Köpfe drehten sich um und starrten ihn an.
„Vielleicht haben Sie Zeit für einen schnellen Drink im Duck, bevor Sie Ihren Zug nehmen?“ Elijah zerrte an seinem Arm.
„Gute Idee. Feiner Kerl.“ Nathan klopfte ihm auf den Rücken.
Florence schien erleichtert, dass diese Ablenkung funktioniert hatte, und nickte Elijah dankend zu.
„Lass uns verstecken spielen, so wie früher“, schlug ich vor und nahm Alices Hand. Wir liefen zu einer Bank im Gemüsegarten, die außer Sicht- und Hörweite des Hauses lag, und hielten nur an, um unterwegs eine Handvoll Erdbeeren vom Wegesrand zu pflücken.
„Armer Nathan“, sagte Alice bedauernd.
„Er ist in einem erbärmlichen Zustand, nicht wahr? Ist mit dir alles in Ordnung?“
„Ich bin froh, dass du und Mutter anwesend waren. Und es war nett von Mr Whittle, ihn mitzunehmen.“
„Elijah wird sich um ihn kümmern. Oder, was wahrscheinlicher ist, sich mit ihm betrinken. Wie ist es mit deinem Vater gelaufen?“
„Er ist viel ruhiger geworden. Ich glaube, die Beerdigung hat das Ihre dazu beigetragen.“
„Du kannst jederzeit zu uns kommen und bleiben, wenn du eine kleine Auszeit brauchst.“ Ich bemühte mich, nicht zu viel zu versprechen. „Allerdings müsstest du dir dann mit mir das Zimmer teilen, da Betty jetzt im Gästezimmer wohnt.“
„Danke. Aber es ist alles in Ordnung. Vaters Temperamentsausbrüche sind normalerweise von kurzer Dauer. Er hat während des Krieges viel durchgemacht, weißt du.“
Ich bemerkte ihre Abwehrhaltung und versuchte, sie zu besänftigen. „Ja, dessen bin ich mir sicher. Und der Tod des Generals muss ihn zusätzlich erschüttert haben.“
Sie nickte: „Vater verbrachte früher viel Zeit in Mill Ponds. Ich glaube, es war ein Zufluchtsort für ihn, wenn er von Mutter weg wollte. Dass Onkel Samuel dort auf so grausame Weise sterben musste … Es muss furchtbar für dich gewesen sein, ihn so zu finden.“
„Heute kam das alles wieder in mir hoch", gestand ich. „Ich glaube, ich habe im Krankenhaus Schlimmeres gesehen, aber es ist etwas anderes, wenn es jemanden betrifft, den man persönlich kennt.“
„Ich wünschte, ich hätte freiwillig in einem Krankenhaus arbeiten dürfen.“
„Du hast hier wertvolle Arbeit geleistet“, beschwichtigte ich und war froh, dass sie das Grauen der Krankenstation nicht gesehen hatte. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es sie zu sehr gezeichnet hätte, mit dem Schmerz und dem Leiden anderer konfrontiert zu werden.
„Die Walden Women‘s Group kümmerte sich gelegentlich um verwundete Soldaten, aber hauptsächlich halfen wir Familien, die durch die Abwesenheit ihrer Männer in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren.“
„Wie bist du überhaupt auf die Gruppe aufmerksam geworden?“
„Mrs Gilbert hängte ein Plakat vor dem Gemeindehaus auf. Sie organisierte eine Sammlung von Lebensmitteln und Kleidung, um sie an bedürftige Familien zu verteilen. Ich fragte, ob ich helfen könnte. Mutter war zwar nicht begeistert, aber sie hielt mich auch nicht davon ab. Wir dachten, wir würden uns nach dem Krieg auflösen, aber wir haben weitergemacht. Jetzt helfen wir Soldaten mit Behinderungen. Für einige konnten wir Arbeit finden, andere können nicht arbeiten und wir versuchen, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Mrs Gilbert ist eine absolute Wundertäterin, wenn es darum geht, Spenden zu sammeln. Ohne sie wäre die Gruppe nie ins Leben gerufen worden.“ Alice nahm eine Erdbeere von dem kleinen Haufen auf ihrem Schoß und biss hinein.
„Seid ihr euch auf diese Weise näher gekommen, du und Ben?“
Sie errötete.
„Oder seid ihr nur zufällig immer zur selben Zeit am selben Ort am Waldenmere Lake?“ stichelte ich.
„Und wer war der Mann, mit dem ich dich neulich am See gesehen habe?“
Ich war es nicht gewohnt, dass Alice den Spieß umdrehte. „Wann soll das gewesen sein?“
„Am Dienstagabend. Ihr seid dicht nebeneinander gegangen und habt gelacht. Er hatte dunkles, gewelltes Haar. Du weißt genau, wen ich meine“, lächelte sie.
„Oh, das kann nur George gewesen sein.“
„Was macht er?“
„Er arbeitet in der Stadtverwaltung als Angestellter von William Mansbridge.“
„Und was ist sein gesellschaftlicher Hintergrund?“
Ich lächelte über die Frage. „Er wuchs in Basingstoke auf. Als er zur Schule ging, erhielt er ein Stipendium für das Winchester College. Er ging 1916 zur Armee und wurde nach Frankreich geschickt. Ein Jahr später wurde er verletzt, blieb aber in der Armee und arbeitete im Büro von General Bartlett.“
„Wie wurde er verletzt?“, fragte Alice erschrocken.
„Er geriet in Maschinengewehr- und Granatenfeuer, als er Verwundete zurück in die Schützengräben trug. Dafür wurde er mit einer Militärmedaille ausgezeichnet. Er spricht nicht darüber, aber ich habe mich über seine Ehrung in der Presse informiert. Die Bildunterschrift lautete: ‚Er suchte die ganze Nacht hindurch nach Verwundeten und schaffte es, viele Soldaten unter großem persönlichen Risiko von der Frontlinie zu evakuieren‘.“
„Wie vorbildlich,“ neckte sie mich mit einem Blick, der ausdrückte, dass sie mich durchschaut hatte. „Du hast dir tatsächlich die Mühe gemacht, aus der Zeitung herauszusuchen, was es mit seiner Auszeichnung auf sich hatte?“
Ich grinste. „Ich gebe es ja zu: Ich mag ihn. Aber es ist nichts Ernstes. Ich glaube nicht, dass er lange hier bleiben wird.“ Ich versuchte, so zu tun, als ob es mir egal wäre. „Er arbeitet für die Stadtverwaltung, um genug Geld zum Reisen zusammenzusparen.“
Sie zögerte, dann sagte sie: „Ich mag Ben. Sehr sogar.“
„Gegenüber Nathan stellt er eine große Verbesserung dar.“ Mich schauderte es bei dem Gedanken, dass Alice beinahe dem armen Nathan Cheverton zur Seite gestellt worden wäre. „Deine Mutter muss doch gemerkt haben, dass er für dich ungeeignet ist?“
„Sie hat es nie ernst genommen. Sie wusste, wie Nathan war. Nicht dass er damals so schlimm gewesen wäre. Er und Mutter hatten sich sehr gern. Ich nehme an, sie sind in einem ähnlichen Alter. Er war jemand, dem sie sich anvertrauen konnte, wenn Vater weg war.“
Nathan und Florence? Eine Erinnerung durchzuckte meine Gedanken und ich fragte mich, was Nathan hatte sagen wollen, als er sich selbst unterbrochen hatte. Könnten er und Florence in der Abwesenheit des Colonels eine Affäre gehabt haben? Wenn General Cheverton das herausgefunden hätte, wäre es zu einer Szene gekommen. Allerdings wäre es unwahrscheinlich, dass Nathan die ganze Zeit gewartet hätte, um erst jetzt Vergeltung zu üben. Noch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, aber irgendwann würde auch dieses Geheimnis gelüftet werden.