Leseprobe Der Marquess und seine Braut

Kapitel eins

„Hüja!“ Lady Anwen Astoridge ritt ihre robuste, über ein Meter sechzig große Stute im Galopp, lehnte sich im Sattel nach vorn und trieb sie über eine hohe Hecke.

Der Wind peitschte durch ihre Haare, die letzte ihrer Haarnadeln, die ihr Dienstmädchen nur Stunden zuvor strategisch und sorgfältig dort hineingesteckt hatte, fiel zu Boden und war für immer auf dem schlammigen Feld verloren. Ihr flaschengrüner Reitanzug war von oben bis unten mit Laub und Schlamm beschmutzt. Er schmiegte sich perfekt an ihren Körper an, auch wenn sie sich so nicht mehr blicken lassen sollte.

Wenn ihre Mutter sie sah, würde sie einen Herzanfall erleiden, durch das Haus brüllen und verlangen, dass ihr Bruder das eigensinnige Gemüt seiner Schwester besser im Griff behalten sollte. Aber Dominic würde es nicht tun. Er liebte Anwen und erlaubte ihr, zu genießen, was das Leben ihr zu bieten hatte.

Und genau in diesem Moment bot es ihr einen Tag abseits von zu Hause, an dem sie über die Hunderte von Hektar ritt, die ihnen gehörten, und ein abgeschiedenes Picknick genoss, während das Wetter wolkenlos und warm blieb.

Anwen ließ Luna langsam traben, bevor sie das letzte Stück bis zum schnell fließenden Fluss an der Außengrenze ihres Landes im Schritt zurücklegte. Es war ein Ort, den Anwen vor vielen Jahren entdeckt und zu ihrem eigenen bestimmt hatte. Ein Ort, den sie nicht einmal ihrer Zwillingsschwester gezeigt hatte, weil sie sich so sehr wünschte, dass es der einzige Ort auf Erden blieb, an dem sie sitzen und sinnieren, nachdenken und planen konnte.

Insbesondere darüber, wie es ihr gelingen würde, sich von der Londoner Saison fernzuhalten.

Sie runzelte die Stirn. Sie wusste, dass ihre neueste List nicht mehr lange Bestand haben würde. Ihre Familie ging davon aus, dass sie noch immer im Bett lag und sich von einer grässlichen Sommererkältung erholte.

Und obwohl all das der Wahrheit entsprochen hatte, war es durchaus möglich, dass sie ihren Husten und die anderen Symptome viel mehr in die Länge gezogen hatte, als es notwendig gewesen wäre. Aber welche Freude sie doch verspürt hatte an dem Tag, an dem sie ihrer Schwester dabei zugesehen hatte, wie sie mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer neuen Schwägerin nach London aufgebrochen war, während Anwen selbst in Nettingvale geblieben war.

Eine List, von der sie wusste, dass sie nicht ewig anhalten würde.

Das Geräusch des über die Steine rauschenden Wassers drang durch das Unterholz der Bäume, und Anwen stieg von ihrem Pferd ab, lockerte Lunas Zügel, gestattete der Stute, zu grasen, und schlenderte mit ihrer Schultertasche in Richtung des Flusses.

Der Anblick ihrer kleinen Oase zauberte Anwen ein Lächeln auf die Lippen, und sie setzte sich auf ihren flachen Stein und durchstöberte die Tasche auf der Suche nach dem Mittagessen, das Mrs Florence ihr eingepackt hatte.

Die armen Bediensteten waren nicht gerade erfreut darüber, dass Anwens Krankheit sich so in die Länge zog. Sie machte sich nichts vor. Sicherlich wussten sie alle, dass Anwen ihre Familie mittlerweile nur noch zum Narren hielt. Die Angestellten würden es jedoch ebenso wenig wagen, der Schwester eines Viscounts zu sagen, dass sie ihre hübschen Füße durch ihr teuflisches Verhalten auf der falschen Seite der Tafel platzierte.

Sie packte das Stück Kuchen aus, biss hinein und schloss die Augen, als der Geschmack von Himbeeren und Mrs Florences süßem Teig in ihrem Mund explodierte. Die Frau war eine wahre Meisterin des leckeren Essens. Sie sollte wirklich mehr sein als nur die Köchin eines Viscounts.

Natürlich würde Anwens List nicht für immer andauern. Es bestand nur wenig Zweifel daran, dass ihr Bruder einen Brief schicken würde, in dem er Antworten bezüglich ihrer Gesundheit fordern würde – vielleicht bereits am nächsten Tag. Daraufhin würde ihm die Haushälterin Auskunft erteilen, und Anwen würde schon bald in die Stadt geschickt werden.

Wie sehr sie doch hoffte, der Brief würde sich so lange wie möglich verspäten oder noch besser nie ankommen. Vielleicht könnte sie ihn abfangen.

„Guten Tag“, drang es von einer männlichen Stimme am anderen Ufer des Flusses zu ihr herüber.

Vor Schreck zuckte Anwen zusammen und verschluckte sich beinahe an ihrem Kuchen, bevor sie ihn hinunterschluckte und ihren Blick über die Bäume am anderen Ufer schweifen ließ, um nach dem Ursprung der für sie noch nicht greifbaren Stimme Ausschau zu halten.

Normalerweise war Anwen keine Person, die einem hübschen Gesicht erlag, aber selbst sie spürte, dass sich beim Anblick des Mannes vor ihr ihre Brauen hoben und ihre Augen weiteten.

Beim Anblick eines sehr großen, kräftigen, breitschultrigen Mannes mit einem Kopf voller Locken, die ihm über die Ohren und den Nacken fielen und dabei so aussahen, als wären sie nur schwer zu bändigen.

Anwen klappte den Mund zu und versuchte, einen möglichst arroganten und geringschätzenden Gesichtsausdruck aufzusetzen. Wenn man eine Person loswerden musste, die man nicht kannte oder deren Gesellschaft man nicht wünschte, war das Mittel der Wahl, sie wie Luft zu behandeln.

Das wäre jedoch deutlich leichter gewesen, wenn der Mann nicht das ansteckendste Lächeln auf den Lippen gehabt hätte.

Er wirkte tatsächlich hinreichend harmlos.

„Vielleicht haben Sie mich nicht gehört, Miss, aber ich wollte Sie lediglich begrüßen. Ich bin –“

„Ich weiß, wer Sie sind“, platzte sie heraus und betrachtete seine abgenutzte Kleidung, an der vermutlich noch mehr Dreck haftete als an ihrer eigenen. Er erschien ihr wie jemand aus der Arbeiterklasse. Sie schaute an ihm vorbei und erblickte sein Pferd, ein wunderschönes Wesen genau wie ihres, und die Identität des Mannes wurde offensichtlich. „Sie müssen Lord Orfords neuer Stallbursche sein. Ich habe gehört, dass er bald nach Surrey reisen wird, und ein Großteil seiner Angestellten wird ihn begleiten, nun, da er sich endlich aufraffen konnte, auf das Anwesen zu ziehen, das er geerbt hat.“ Sie biss in das verbliebene Stück Kuchen und beobachtete ihn, während sie den letzten Happen genoss.

„Nun, ich nehme an, sein Leben in London hat ihn aufgehalten …“, wich der Bedienstete aus.

„Wie ist der neue Marquess so?“, unterbrach sie ihn. Sein Leben in London interessierte sie nicht. In dieser Stadt passierte nie auch nur irgendetwas Interessantes. „Erzählen Sie mir von ihm? Ich habe gehört, dass er jung ist und nicht erwartet hat, zu erben.“ Ihre eigenen Gedanken brachten sie zum Schmunzeln. „Wissen Sie, ob er belesen ist? Manche sagen, dass er einer so entfernten Linie der Familie entstammt, dass er keine Bildung genossen hat.“

Das Gesicht des Stallburschen wurde ganz blass, bevor er sich räusperte und augenscheinlich über ihre Frage nachdachte. Anwen musste ihm zugutehalten, dass er die Fassung bewahrte, nachdem sie ihn so bedrängt und gereizt hatte, aber das war auch schon alles. Wie viel einfacher es doch war, Informationen über eine Person herauszufinden, wenn man Vermutungen aufstellte, die von vorneherein unwahr waren.

Die Leute waren immer mehr als gewillt, unzutreffende Mutmaßungen zu korrigieren.

„Er ist gebildet. Das versichere ich Ihnen, Miss.“

„Lady Anwen Astoridge, Mister …“, erwiderte sie.

„Mr Clarence, zu Ihren Diensten und auch zu Lord Orfords, wie ich annehme“, sagte er und verbeugte sich. „Aber das haben Sie ja bereits erraten.“

Sie holte die Flasche Limonade aus ihrem Beutel, die die Köchin ihr mitgegeben hatte.

„Ich vermute, dass das der Moment ist, in dem Sie mir erzählen, dass wir nicht miteinander sprechen sollten, da ich ein einfacher Stallbursche bin und Sie eine Lady sind.“ Er blickte sich um, bevor er zu einem ihrem ähnlichen Stein hinüberging und sich setzte.

Sie zog die Schultern hoch. Sie hatte noch nie so sehr auf ihren Rang beharrt, auch wenn ihr Necken etwas anderes vermuten ließ. Tatsächlich kannte sie die Vornamen von allen Bediensteten ihres Bruders sowie die vieler ihrer Familienmitglieder. Außerdem war es ihr wichtig, dass die Angestellten bei jeglichen Problemen zu ihr und der Familie kamen, sobald sie sich damit wohlfühlten, damit sie Hilfe erhielten.

„Ich darf mich setzen und mit Ihnen sprechen. Daraus sollte kein Schaden entstehen.“ Sie schenkte sich ein Getränk ein. „Sie sehen nicht wie die Art von Mann aus, die mir schaden würde, und mein Pferd ist schnell, und ich bin eine gute Reiterin. Sie müssten flink sein, um mich zu erwischen, sollten Sie einen Überfall planen.“

Mr Clarence brach in Gelächter aus und wischte sich über die Augen, bevor er in der Lage war, eine Antwort zu formulieren. „Für eine Lady sprechen Sie sehr freimütig, muss ich sagen.“

„Und für einen Stallburschen sprechen Sie sehr förmlich. Sind Sie sicher, dass Sie ein Bediensteter sind?“ Sie stellte ihm diese Frage, da es für sie unklar war, ob das wirklich der Fall war. Vielleicht bildete der neue Marquess of Orford seine Angestellten aus. Das würde ihn auf jeden Fall zu einem viel angenehmeren Nachbarn machen, als der verstorbene Marquess – ein unleidlicher, alter Einsiedler – es gewesen war.

„Ich habe über meinen Namen nicht gelogen, das versichere ich Ihnen“, sagte er. „Ich bin jedoch neu in dieser Gegend, genau wie der Marquess of Orford. Ich habe Sie vor diesem Tag nie gesehen und nehme deshalb auch mit Sicherheit an, dass Sie Ihren neuen Nachbarn noch nicht getroffen haben, oder doch?“

Anwen schüttelte den Kopf. Sie wünschte sich, es wäre anders, wenn auch nur, um ihrer Zwillingsschwester Kate darüber schreiben zu können. „Nein, ich habe ihn noch nie getroffen. Alles, was wir wissen, ist, dass der ehemalige Lord Orford vor über einem Jahr im Schlaf verstorben ist und keinen Erben außer seinem entfernten Verwandten hatte. Da Sie jetzt vor mir sitzen, vermute ich, dass der neue Lord Orford sich auf seinem Anwesen aufhält. Wie ist er wirklich?“ Sie wollte unbedingt wissen, ob die Gerüchte, die sich um den Marquess rankten, der Wahrheit entsprachen.

Aber wenn Anwen einen Makel hatte, war es, dass sie neugierig war und viel zu viele Fragen stellte, die nicht unbedingt höflich oder zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen waren.

„Er ist ein guter Mann. Ehrlich, jedoch auch zu Streichen geneigt, die nicht jeder als amüsant erachtet.“

„Wie traurig, wenn die Leute nicht lachen, obwohl jemand lustig ist oder etwas Amüsantes erzählt. Ein seltsames Leben, finden Sie nicht?“

„Das finde ich durchaus.“ Er lächelte, und tief in Anwens Magen begann etwas, zu flattern. Wie gut aussehend und höflich dieser Stallbursche doch war. Wie schade, dass er nicht ihrem Stand entsprach und es ihr nicht erlaubt sein würde, ihn besser kennenzulernen.

„Sie sprechen wirklich gut. Der Marquess hat, wie ich annehme, in Ihre Ausbildung investiert. Eine weitere bewundernswerte Eigenschaft, die die Ladys in London mit Sicherheit zu schätzen wissen werden. Wohltätige Projekte und die Versorgung der eigenen Bediensteten sind besonders ehrenhaft.“

Ein verächtlicher Ausdruck huschte über seine Gesichtszüge, bevor er ihr in die Augen blickte. „Ich habe eine gute Bildung genossen, jedoch dank der unermüdlichen Hingabe meines Vaters, mich zum besten Mann zu machen, der ich werden konnte. Lord Orford wird nur von der Anleitung meines Vaters profitieren.“

„Es freut mich für Sie, aber darf ich so frei sein, Sie zu fragen, warum Sie als der Stallbursche Seiner Lordschaft arbeiten, wenn Sie eine so hervorragende Ausbildung genossen haben? Vielleicht hätten Sie als Verwalter arbeiten, Ihre Bildung weiterverfolgen und schließlich Anwalt oder Arzt werden sollen.“

„Ich liebe Pferde, und ich kann mir nichts anderes vorstellen, dem ich mich in meinem Leben lieber hingeben würde.“ Er deutete auf ihr Pferd, das nicht weit von ihrem Sitzplatz entfernt graste. „Ihre Stute, Lady Anwen, ist eine Schönheit. Reiten Sie sie häufig?“

„Wenn ich hier auf dem Land bin, jeden Tag“, antwortete sie und verdrängte den Gedanken daran, warum sie ihm diesen kleinen Happen an Information verraten sollte. „Auch ich genieße den Zeitvertreib.“

„Also haben wir etwas gemeinsam, ungeachtet der verschiedenen gesellschaftlichen Kreise, in denen wir uns bewegen“, sagte er, und sein ansteckendes Grinsen brachte sie zum Lächeln.

Vermutlich hatte er recht.

Kapitel zwei

Lord Daniel Clarence, Marquess of Orford, sollte wohl das Richtige tun und erklären, dass Lady Anwen Astoridge voreilige Schlüsse gezogen und seine Identität falsch eingeschätzt hatte.

Ein Stallbursche also … Nicht dass es nicht Zeiten gegeben hätte, in denen er sich gewünscht hatte, er könnte ein so sorgenfreies, leichtes Leben führen wie das, von dem sie annahm, dass es seines war. Den Orford-Titel geerbt zu haben, war unter keinen Umständen eine kleine Sache, und viele erwarteten, dass er scheiterte – er am meisten.

Er war nicht dafür bekannt, der ehrenhafteste oder gerechteste Mann auf englischem Boden oder besonders umgänglich zu sein, aber er hoffte, dass er das Anwesen und das Leben, das ihm in den glücklichen Schoß gefallen war, nicht ruinierte.

Dass Lady Anwen seine Nachbarin war, war eine vielversprechende Wende des Schicksals. Besonders weil er den Bruder der jungen Frau kannte. Oder zumindest hatte es eine Zeit gegeben, zu der sich ihre Wege in Eton gekreuzt hatten, als seine Eltern versucht hatten, ihn ein oder zwei Monate lang ausbilden zu lassen.

Er ging weiter auf das Wasser zu und setzte sich, zog seine Stiefel und Strümpfe aus und tauchte die Füße in den kühlen Fluss. Ein erfrischender Augenblick und ein angenehmer noch dazu, angesichts des Anblicks vor seinen Augen.

Lady Anwen war eine der hübschesten Frauen, die er je gesehen hatte. Ihre Reitkleidung deutete auf einen vollständig entwickelten Frauenkörper hin – üppige Brüste und die ideale Form eines Hinterns.

Er leckte sich über die Lippen und mahnte sich selbst zur Vorsicht, sich nicht wie ein Rüpel zu verhalten. Immerhin war er ein Stallbursche und kein Mann auf Augenhöhe mit Ihrer Ladyschaft vor ihm. Zumindest glaubte sie das. Er durfte nicht mit dem Mädchen spielen.

So sehr er sich auch wünschte, es tun zu dürfen.

„Was haben Sie noch in Ihrem Beutel, Lady Anwen“, fragte er. „Möchten Sie teilen?“ Er bemerkte, dass ihre Augen sich bei seiner mutigen Bitte geweitet hatten.

Anstatt ihn jedoch zu tadeln, durchstöberte sie lediglich ihre Tasche und zog etwas Kleines, Eingewickeltes zum Essen heraus. Ohne Vorwarnung warf sie es über den Fluss, und er fing es auf. Der Duft nach gekochtem Hühnchen durchzog die Luft.

„Oh, vielen Dank. Was auch immer das ist: Es riecht himmlisch.“

Sie machte sich an ihrem eigenen Päckchen mit Essen zu schaffen und kümmerte sich nicht darum, in seine Richtung zu blicken. „Es ist bloß Brot mit Hühnchen. Unsere Köchin hat es zusammen mit anderen köstlichen Dingen für mich vorbereitet. Ich weiß jedoch nicht, warum sie zwei zubereitet hat.“

„Vielleicht hatte sie eine Ahnung, dass Ihr Schicksal sich heute ändern würde und Sie einen undurchsichtigen, gut aussehenden Fremden treffen würden.“

„Sie sind weder undurchsichtig noch gut aussehend, Sir.“ Sie verengte den Blick auf ihn. „In jedem Fall sollten Sie vermutlich zügig essen. Ich denke nicht, dass Stallburschen eine besonders lange Mittagspause zusteht.“

Er schmunzelte. Er hatte so viel Zeit, wie er wollte, nicht dass er ihr eine solche Wahrheit verraten würde. Nicht wenn sie so ehrlich und offen war. „Ich sollte bald auf das Anwesen zurückkehren. Nun, da ich Sie getroffen habe, möchte ich meine Anstellung nicht verlieren. Das werde ich aber vielleicht, wenn wir uns hier wiedertreffen und ich erwischt werde.“

„Und wie schade das doch wäre.“ Die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme entging ihm nicht. Wie herrlich dieser Tag sich doch entwickelt hatte, seit er vor nur einer Stunde aus dem Haus geflohen war, weil er frische Luft und Abstand von dem Durcheinander benötigt hatte, das sein entfernter Verwandter auf dem Anwesen hinterlassen hatte. Ein Mann, den er nie getroffen hatte. Etwas, um das er froh war, seit er wusste, was er in all den Jahren mit dem Anwesen angestellt hatte.

„Geben Sie es zu, Lady Anwen, Ihr Tag ist viel heiterer, seit Sie mir begegnet sind. Sie werden nach Hause zurückkehren und besser verstehen, wie wir einfachen Angestellten unsere Arbeit auf Ihren großen Anwesen verrichten.“

Sie hob kritisch eine Augenbraue. „Bezeichnen Sie mich etwa als elitär, Mr Clarence?“

„Fühlen Sie sich wie eine hochnäsige Schnöselin? Ich nehme an, ich sollte Ihnen zugutehalten, dass Sie mir einen Teil Ihres Mittagessens überlassen haben.“ Er unterdrückte ein Lachen, als sie ihn anstarrte, so als hätte er den Verstand verloren.

„Wenn ich so viel von meinem Stand halten würde, würde ich mich weder mit Ihnen unterhalten, noch würde ich mein Essen mit Ihnen teilen. Eine Seltsamkeit, da es sich doch um Ihre Mittagspause handelt und man vermuten würde, Sie hätten Ihren eigenen Proviant bei sich. Sollte ich jedenfalls so sein wie die meisten meines Geschlechts, wäre ich nicht einmal hier in Surrey. Ich wäre mit meiner Schwester und meiner Familie in London und würde den Höhepunkt der Saison genießen. Aber das tue ich nicht.“

„Merkwürdig. Sie haben mich neugierig gemacht. Erklären Sie mir, warum Sie hier sind und nicht in London.“ Er biss in das Brot mit Hühnchen, das Lady Anwen ihm zugeworfen hatte, und stöhnte auf. Die Köchin der Astoridges war ein Genie und stellte seinen betagten Koch in den Schatten. Vielleicht sollte er dem Astoridge-Anwesen einen Besuch abstatten und der Angestellten einen Lohn anbieten, den sie nicht ablehnen konnte.

„Das sollte ich nicht sagen“, wich sie aus, nahm selbst einen gesunden Bissen ihres Brotes und unterband damit ihre Fähigkeit, eine Antwort zu formulieren.

Er wartete, bis sie heruntergeschluckt hatte, und ergriff die Gelegenheit, ihren Mund und ihre vollen Lippen beim Kauen zu beobachten. Was für ein hübsches junges Mädchen sie doch war. Nein, das war nicht richtig. Sie war weit davon entfernt, ein Mädchen zu sein. Sie war eine junge Frau, die aus ihrer jugendlichen Verrücktheit ausbrach und geradeaus in die Zukunft schritt. Selbstverständlich würde sie einen hochrangigen Lord heiraten, der ihren Körper für die Zeugung seiner Kinder benötigen, sie tagsüber ignorieren und nachts für sich nutzen würde. Der Gedanke hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge, und er blickte hinaus in den Wald. Er wollte sich eine so unaufgeregte Zukunft ohne Feuer oder Freude – was sie jedoch offensichtlich zu genießen schien – für sie nicht vorstellen.

Eine Frau, die allein mit einem so umwerfenden Pferd wie dem, was sie ritt, an einem Fluss picknickte, hatte keine Angst vor dem Leben oder davor, was sie als nächstes erwartete.

Sie könnten zusammen eine Menge Spaß haben, wenn sie es zuließ.

Nicht dass er selbst es zulassen sollte. Er war nicht die Art Mann zum Heiraten.

„Kommen Sie schon, sind wir keine Freunde? Und wem könnten Sie Ihre Geheimnisse wohl besser anvertrauen als einem einfachen Stallburschen, der ohnehin niemanden hat, dem er auch nur irgendetwas verraten könnte?“

Mehrere Minuten lang sprach sie nicht, und er war kurz davor, aufzugeben, jemals herauszufinden, warum sie noch immer in Surrey und nicht in London war, als sie endlich zu reden begann.

„Vermutlich wäre es nicht von Bedeutung, es Ihnen zu erzählen. Es ist schließlich nicht so, als würden Sie meinem Bruder einen Brief schreiben und ihm mein Geheimnis offenbaren.“

„Natürlich nicht“, sagte er und legte sich zusätzlich eine Hand auf die Brust.

Sie spitzte die Lippen, und einmal mehr wurde er daran erinnert, wie küssbar sie doch waren. Nicht dass sie sich auch nur irgendwie darüber im Klaren war, wie umwerfend sie war …

„Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich das, was letztlich passiert ist, zunächst nicht so geplant hatte, sondern dass ich kürzlich krank war. Ich habe mir eine Erkältung eingefangen, die sich in meiner Lunge festgesetzt hat und nicht nachlassen wollte. Der Tag, an dem wir alle nach London aufbrechen wollten, kam immer näher, und ich war noch nicht gesund genug, um gemeinsam mit der Familie abzureisen. Zumindest hat mein Bruder das geglaubt. Ich war gesund genug, habe jedoch so getan, als wäre das nicht der Fall, um zu Hause zu bleiben. Ich habe kein Interesse an London oder daran, einen Ehemann zu finden. Zumindest nicht jetzt.“

Er runzelte die Stirn. Er hatte nicht erwartet, dass sie eine solche Schauspielerin war. Außerdem verstand er nicht, wie es ihr in London nicht gefallen konnte. Er liebte die Stadt, die Geschäftigkeit, die Huren … „Und Ihr Bruder hat Ihnen Ihre List um Ihre langanhaltende Krankheit geglaubt. Ich bin überrascht, dass Ihre Familie Sie zurückgelassen hat.“

„Na ja, anfangs wollten sie es nicht tun, aber ich habe sie überzeugt, dass ich in einer oder zwei Wochen zu meinem gesunden Ich zurückfinden und zu ihnen stoßen würde. Diese Zeit ist nun fast vorbei, doch ich würde nur sehr ungern abreisen. Also musste ich Briefe schreiben, in denen ich erklärte, dass ich für die stundenlange Kutschfahrt noch immer nicht gesund genug bin. Ich hoffe, zumindest noch ein paar Wochen hier in Nettingvale bleiben zu dürfen. Vielleicht gelingt es mir sogar, der gesamten Saison fernzubleiben.“

„Unwahrscheinlich“, sagte er und schnaubte. „Nach dem zu urteilen, was ich über Brüder und ihre in London debütierenden Schwestern weiß, wollen sie, dass sie so schnell wie möglich heiraten und sich niederlassen.“ Er hielt inne, weil er sich nicht verraten wollte. „Ihr Bruder hat kürzlich geheiratet, nicht wahr?“ Nach einem Nicken von ihr fuhr er fort. „Nun, ein weiterer Grund, aus dem er Sie und Ihre Zwillingsschwester verheiraten möchte.“

„Ich habe Ihnen nicht verraten, dass ich eine Zwillingsschwester habe, Mr Clarence“, sagte sie und schaute ihn mit verengten Augen an.

„Ich bin der Stallbursche Ihres Nachbarn, des Marquess. Ich kenne die Familiendynamiken, Lady Anwen. Ich versichere Ihnen, dass meine Worte kein Geheimnis verbergen.“ Er hoffte, dass seine Erklärung ihre Furcht beruhigte, und machte sich damit gleichzeitig selbst zum Lügner. Ein weiterer Charakterzug, auf den er alles andere als stolz war.

Ihr gelangweiltes Seufzen machte den Anschein, als hätte es funktioniert. „Ich weiß, dass ich bald nach London reisen muss, aber vielleicht erst in ein paar Wochen. Ich möchte hier in Surrey bleiben. Ich bin viel zu jung, um zu heiraten.“

„Ich könnte Ihnen nicht mehr zustimmen.“ Er aß den Rest ihres Brotes auf und steckte den Abfall in seine Tasche.

„Wie alt ist der neue Marquess?“, fragte sie. „Es ist nur sehr wenig über ihn bekannt.“

Es überraschte ihn, dass sie sich dafür interessierte. Aber er war immerhin neu in der Gegend und ein Unbekannter. Die Leute neigten zur Neugier. „Er ist ein junger Lord, Lady Anwen, aber ein furchtbarer Langweiler, nicht so fein, wie die Ladys es sich wünschen würden, und er bringt gewisse Eigenschaften eines Schurken mit sich. Zumindest habe ich das gehört.“ Er ließ das letzte Häppchen an Informationen zwischen ihnen schweben und wartete, dass sie weitere Fragen stellte, wenn ihr danach war.

Sie biss sich auf die Lippe, und zum ersten Mal seit Ewigkeiten bildete sich ein warmer Knoten in seinem Magen. „Jetzt bin ich neugierig, Mr Clarence. Vielleicht sollten Sie mir erklären, was Sie damit meinen.“

Nun hatte er es getan.