Leseprobe Der Earl und die eigenwillige Erbin | Eine leidenschaftliche Regency Romance

Kapitel 1

Brooks’s Gentlemen’s Club, London, Juni 1823

Zusammen mit seinen beiden besten Freunden – Leo, Duke of Chandos, und Bennet, Earl of Rochford – saß Charles, Earl of Stanwood, lässig auf einem der roten Samtsofas, das sich in dem exklusiven Salon von Brooks’s befand. Dieser Club stand ausschließlich ausgewählten Mitgliedern wie ihm offen. Er war ein Zufluchtsort, der hauptsächlich von Whigs genutzt wurde. Darin unterschied er sich vom White’s, das von Tories frequentiert wurde. Charlie bewunderte die Gewölbedecke und die hellen blaugrünen Wände. Hier konnte er endlich einmal in Ruhe durchatmen – im Gegensatz zu den überfüllten Ballsälen und Versammlungsräumen, in denen er sich die ganze Saison über aufgehalten hatte. Und trotzdem war es hier nicht so still wie in seinem Stadthaus am Berkeley Square. Obwohl dieser Salon eigentlich dazu gedacht war, dass man dort las, gab es dennoch einige Spieltische. Charlie hielt lässig sein Brandyglas zwischen zwei Fingern und beobachtete eine Partie Whist, die gerade an einem davon stattfand.

Vor ihm, zwischen dem Sofa und dem Tisch, standen zwei weitere Herren, die sich ebenfalls das Spiel anschauten.

„Ach herrje, will Ognon etwa sein Haus verwetten?“, fragte der größere der beiden Männer, Sir Raymond Shields.

Sein Begleiter, Lord Westerly, nahm eine Prise Schnupftabak. „Ich glaube schon.“

„Ich dachte, eine seiner Schwestern oder Cousinen würde dort leben“, merkte Shields an.

„Ich frage mich, ob man sie gleich zusammen mit dem Anwesen gewinnen kann.“ Westerly lachte laut auf.

„Das könnte es wohl nur wert sein, wenn sie einigermaßen ansehnlich wäre.“ Shields grinste.

Charlie umklammerte sein Glas nun fester. Was für widerliche, unmoralische Typen! Wie sie sich selbst als Gentlemen bezeichnen konnten, war für ihn unbegreiflich.

„Sie wird wohl nicht mehr lange dort wohnen. Schauen Sie sich doch nur an, wie Ognon spielt“, sagte Westerly.

Charlie konnte einfach nicht verstehen – und würde es wohl auch nie –, wie Männer, die sich doch selbst als Gentlemen sahen, ihre Angehörigen derart in Gefahr bringen konnten. Vor allem ihre weiblichen Verwandten. Er stellte sein Glas vor sich auf den Tisch.

Rochford legte eine Hand auf Charlies Arm. „Sie können nicht jeden retten.“

„Nein, aber diese eine kann ich retten.“ Und das würde er auch.

„Stanwood, Sie spielen doch überhaupt nicht.“ Rochfords Stimme klang nun eindringlich.

Charlie legte seine Hand auf die Sofalehne. „Nur weil ich es normalerweise nicht tue, heißt das nicht, dass ich es nicht kann.“

„Sie haben offensichtlich noch nie mit seiner Familie Whist gespielt“, sagte Chandos gedehnt. „Wären die Einsätze höher, als nur ein paar Pennys gewesen, hätte ich mich noch an einen Geldverleiher wenden müssen.“

Charlie stand auf.

„Stanwood, wie heißt Ihre Schwester noch mal, die mich fast in den Ruin getrieben hätte?“

„Theo.“ Er ging zum Spieltisch hinüber und warf einen Blick auf den Gentleman, der als Bank fungierte. „Seien Sie so nett und geben Sie mir Karten.“

„Dazu brauche ich einen Wechsel über viertausend Pfund.“

Charlie zog ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche, schrieb den Schuldschein aus und reichte ihn dem Bankhalter. Nachdem die Karten von dem Spieler, der die Rolle der Bank übernommen hatte, neu gemischt waren, wandte er sich an den Spieler zu seiner Rechten, damit dieser sie abheben konnte. Dann teilte die Bank die Karten aus und legte drei Karten offen auf den Tisch. Charlie nahm seine Karten, ordnete sie und wählte eine weitere Karte von denen, die auf dem Tisch lagen. Er merkte sich die Anzahl der Karten, die die anderen nahmen. Sieben Runden später waren schließlich nur noch er und Ognon übrig. Charlie legte seine Hand auf den Tisch: König, Dame und Herzbube. Er hatte gewonnen, aber das war eigentlich nicht überraschend. Er spielte vielleicht nicht oft, aber er hatte von den Besten gelernt.

Der andere Mann warf seine Karten auf den Tisch. „Verdammt sei Euer Glück, Stanwood!“

„Ognon, ich nehme Ihren Schuldschein für das Grundstück an mich und erwarte Sie dann morgen um ein Uhr in meinem Haus, um die Übereignung vorzunehmen.“ Er stand auf und verbeugte sich kurz. „Meine Herren, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Bis dahin werde ich das Geld schon zusammenhaben“, wandte Ognon ein.

„Wenn dem so ist, hätten Sie die Wette gar nicht erst eingehen sollen.“ Charlie hob sein Lorgnon und richtete seinen kritischen Blick auf den anderen Mann. „Von daher – nein, danke. Sie haben das Haus als Einsatz geboten, und ich verspüre gerade Lust auf ein weiteres Grundstück. Wir sehen uns morgen.“

Ognon wurde kreidebleich, dann lief er tiefrot an. „Wie Ihr wünscht.“

„Das ist typisch Stanwood“, sagte Sir Raymond. „Er spielt die ganze Saison nicht mit und holt sich dann den Pot.“

„Zum Glück spielt er nicht regelmäßig“, antwortete Lord Westerly mit Nachdruck, „sonst hätten wir alle das Nachsehen.“

„Herzlichen Glückwunsch.“ Rochford klopfte Charlie auf den Rücken, als dieser zu seinen Freunden zurückkehrte.

Charlie faltete den Schuldschein und steckte ihn in seine Westentasche. „Ich werde in ein paar Tagen nach Stanwood aufbrechen. Vielleicht möchten Sie mich begleiten? Die Familie wird in etwa drei oder vier Wochen ebenfalls dort sein.“

„Was werden Sie mit dem Haus machen?“, fragte Rochford.

„Ich werde es der Dame überschreiben, die dort wohnt. Sie sollte nicht noch einmal Gefahr laufen müssen, ihr Zuhause zu verlieren.“

„Das würde sie auch nicht, wenn Sie es behielten“, merkte Chandos an und stand auf.

„Hätten sich ihre Angehörigen nicht derart verhalten, wäre es nie in meine Hände gelangt. Und daher wird es an sie gehen.“

Sein Freund nickte. „Dieser Meinung schließe ich mich an. Haben Sie eine Ahnung, wo es liegt?“

Charlie hatte eine vage Idee. Ognons Hauptanwesen war nicht mehr als einen Tagesritt von Stanwood entfernt. „Ich glaube schon. Morgen werde ich mehr wissen.“

„Ich komme mit Ihnen nach Stanwood.“ Rochford trank seinen Brandy aus. „Ich habe die Stadt satt.“

„Ich komme auch mit.“ Chandos kippte seinen Wein hinunter. „Meine Geliebte wird mir langsam zu besitzergreifend.“

Charlie wollte am liebsten die Augen verdrehen. Der Duke war dafür bekannt, dass er sich jede Saison eine neue Geliebte aussuchte und sie dann stolz zur Schau stellte. Doch er hatte noch nie eine gesehen, die bis zum Ende der Saison geblieben war. „Sie können die Zeit nutzen, um ein Abschiedsgeschenk für sie auszusuchen.“

„Ich schicke meinen Sekretär. Ich weiß nie, was ich kaufen soll. Und er macht das ohnehin viel besser als ich.“

Sie ließen sich ihre Hüte und Spazierstöcke bringen und traten schließlich hinaus auf den Bürgersteig. Chandos wünschte ihnen eine gute Nacht und schlenderte dann zu seinem Haus am St. James Square, während Rochford und Charlie die St. James Street entlang in Richtung Piccadilly weitergingen.

***

Am folgenden Nachmittag wurde ein schlicht gekleideter Mann in Charlies Arbeitszimmer im Stanwood House geführt.

Sein Butler verbeugte sich. „Mylord, Mr Withers möchte Euch im Namen von Lord Ognon sprechen.“

„Mr Withers, bitte nehmen Sie Platz. Als Erstes würde ich gerne wissen, warum Ognon nicht selbst hier ist.“

Der Mann setzte sich auf einen der Stühle vor Charlies Schreibtisch. „Das weiß ich leider nicht, Mylord. Als ich heute Morgen in mein Büro kam, fand ich eine Nachricht von Lord Ognon vor, in der er mir kurz schilderte, was gestern Abend passierte. Und er bat mich, Euch davon zu überzeugen, anstelle des Anwesens eine Auszahlung zu akzeptieren.“

Charlie unterdrückte einen Seufzer. „Ich habe nur mitgespielt, weil ich das Haus wollte. Daher werde ich auch nur das Anwesen zur Einlösung der Spielschulden akzeptieren.“

Der Mann nickte mehrmals, bevor er tief Luft holte. „Was das angeht, so habe ich Seine Lordschaft noch nie in Anliegen, die ein Grundstück betreffen, vertreten. Ihr seid im Besitz seines Schuldscheins. Und ich nehme an, Ihr seid Euch bewusst, dass die Übertragung ordnungsgemäß erfolgen muss.“

Charlie neigte leicht den Kopf. „Sie müssen die Details bei Seiner Lordschaft einholen und mit der rechtmäßig ausgefertigten Übertragungsurkunde zurückkommen.“ Withers machte Anstalten, aufzustehen, hielt dann aber inne. „Darf ich fragen, warum Ihr das Haus haben möchtet?“

Es ging den Anwalt zwar nichts an, aber Charlie beschloss, seine Frage dennoch zu beantworten. „Ich kann es nicht gutheißen, wenn die Häuser von Angehörigen als Spieleinsatz herhalten müssen. Ich werde das Haus also an die Dame übertragen, deren Zuhause es ist.“

Ein gezwungenes Lächeln, das eher schon einer Grimasse glich, huschte über das Gesicht des anderen Mannes. „Ich verstehe. Ich werde Euch die Dokumente morgen bringen, wenn Euch das recht ist, Mylord.“

„Ich möchte, dass Sie sie meinem Anwalt bringen – Mr Throckmorton von Throckmorton & Throckmorton. Ich nehme an, Sie kennen die Kanzlei.“

Diesmal stand der Mann auf. „In der Tat, Mylord. Ich wünsche Euch einen angenehmen Tag.“

Royston, Charlies Butler, stand schon bereit, um den Mann hinauszubegleiten. Charlie lehnte sich zurück und trommelte mit einem Stift auf seinem Schreibtisch. Warum um alles in der Welt sollte Ognon das Haus setzen, wenn er doch offenbar genug finanzielle Mittel hatte? Irgendetwas stimmte hier nicht.

Es klopfte an der Tür und Augusta Carter-Woods, besser bekannt als Lady Phineas Carter-Woods, seine angeheiratete Schwester, trat ein. Zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn lebte sie bei ihm. „Phinn und ich würden gerne wissen, wann du planst, die Stadt zu verlassen.“

„In ein paar Tagen. Möchtest du hierbleiben?“ Noch bevor Charlie seinen Satz beendet hatte, sah er die Erleichterung in ihren Augen.

„Überhaupt nicht. Wir würden gerne mit dir kommen, zumindest bis nach Stanwood.“ Sie runzelte die Stirn und ihr Gesicht verdunkelte sich. „Ach, ich kann dir auch gleich alles erzählen.“ Er bedeutete ihr, sich zu setzen, und sie ließ sich anmutig auf einen Stuhl gleiten. „Wir waren mit seinem Bruder und seiner Schwägerin zum Mittagessen verabredet.“ Der Marquess und die Marchioness of Dorchester – das Paar hatte jahrelang vergeblich versucht, einen Sohn zu bekommen, doch waren sie nur mit Töchtern gesegnet worden. Augusta und Phinn hatten einen Sohn, der nun fast zwei Jahre alt war. „Alles lief gut, bis wir gerade gehen wollten und eine ihrer jüngeren Töchter plötzlich fragte, wann Anthony zu ihnen ziehen würde. Ich sagte ihnen, dass das noch nicht entschieden sei.“ Sie blickte auf ihre Hände hinunter. „Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie sie überhaupt auf die Idee kam, dass unser Sohn bei ihnen leben würde.“

„Hast du herausgefunden, ob Phinn davon wusste?“

Augustas Gesichtsausdruck wurde kämpferisch. „Ja. Anscheinend war das nicht das erste Mal, dass dieser Plan zur Sprache gekommen ist. Du wirst es nicht glauben, aber seine Schwägerin wollte ihn schon mitnehmen, als er sechs Monate alt war. Sie hatte sogar schon eine Amme engagiert!“

Charlie konnte nachvollziehen, wie der Gedanke entstanden war. Nach Phinn war Anthony der nächste Erbe des Titels. Charlie vertraute jedoch Matt Worthington genug, um zu wissen, dass dieser die Weitsicht gehabt hätte, etwas in die Abfindungsvereinbarungen mit Dorchester aufzunehmen, für eben den Fall, dass Phinn und Augusta einen Sohn bekommen würden. Matt war nicht nur der Ehemann seiner ältesten Schwester Grace, sondern auch ein Earl und das Oberhaupt ihrer weitverzweigten Familie. Zudem war er einst sein Vormund gewesen. Außerdem war er Augustas Bruder und ebenfalls ihr ehemaliger Vormund. „Wo ist Phinn jetzt?“

„Bei Matt.“ Augusta zupfte besorgt an einer Franse ihres bunten Schultertuchs.

„Ich gehe davon aus, dass er sich bereits um alle Probleme gekümmert hat.“

„Ja.“ Sie nickte, doch ihre Miene blieb verkniffen. „Ich würde mich einfach besser fühlen, wenn wir nicht in der Stadt blieben. Abgesehen davon planen wir auch, diesen Sommer nach Schottland zu reisen, um dort Forschungen zu betreiben.“

„Sehr gut. In zwei bis drei Tagen können wir abreisen. Mach dich bereit.“ Da er schon mit seiner Schwester und ihrem Mann gereist war, wusste Charlie, dass sie durchaus in der Lage war, auch bei einer so kurzfristigen Abreise alles Notwendige für seinen gesamten Haushalt zu organisieren.

Sie wandte den Blick von ihrem Schal und sah ihn an. „Ich werde alle Vorbereitungen treffen, einverstanden?“

Eine Sache weniger, um die er sich kümmern musste. „Ja, sehr gerne.“

Augusta stand auf. „Dann sehen wir uns beim Abendessen, wenn du gedenkst, zu Hause zu speisen?“

Noch bevor er antworten konnte, war sie schon aus der Tür. Er starrte ihr hinterher. „Ich werde hier sein, zusammen mit zwei Freunden.“

***

Am nächsten Nachmittag besuchte ihn Throckmorton im Stanwood House. „Mylord, diese Eigentumsübertragung ist höchst ungewöhnlich. Das gefällt mir überhaupt nicht.“

Royston brachte Tee und Charlie schenkte zwei Tassen ein. Das war nicht überraschend. Ognon schien ein noch viel liederlicherer Bursche zu sein, als Charlie schon vermutet hatte. „Inwiefern?“

„Es findet sich keine genaue Beschreibung des Grundstücks, nur der Name und Standort werden genannt.“

Das war wahrlich seltsam. „Diese Informationen fehlen auf dem Übertragungsdokument?“

Sein Anwalt nickte.

„Ist das legal?“

„Da das Grundstück so klar benannt wird, ja, aber es besteht kein Verfügungsrecht. Wie gesagt, das gefällt mir nicht.“ Throckmorton nippte an seinem Tee. „Da ist noch mehr. Ich kann es nur nicht genau benennen.“ Offensichtlich konnte man Ognons Anwalt keinen Deut mehr trauen, als Ognon selbst.

„Wo befindet sich das Haus?“ Charlie hoffte, dass er nicht quer durch das halbe Land reisen musste, um dorthin zu gelangen.

„Tatsächlich ist es nicht weit von Stanwood entfernt. Im Nachbarort.“

Seltsam. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Ognons Ländereien den seinen so nah waren. „Wie heißt es?“

„Rose Hill, im Dorf Liliford.“

Liliford lag wirklich in der Nähe. Tatsächlich betrachtete Charlie es als seine Aufgabe, sich um den Ort zu kümmern, so wie es schon sein Vater und sein Großvater vor ihm getan hatten. „Ich verlasse die Stadt übermorgen. Ich werde die Papiere mitnehmen und mich dann dort über den Stand der Dinge informieren.“

Sein Anwalt trank seinen Tee aus, legte die Dokumente auf den Schreibtisch und stand auf. „Habt Dank, Mylord. Ich wüsste es zu schätzen, wenn Ihr mich über alles Weitere auf dem Laufenden halten würdet.“

„Ja, natürlich.“

„Ich begleite Sie hinaus.“

Throckmorton stand auf und verbeugte sich. „Vielen Dank, Mylord.“

Sie traten in den Flur und Charlie verabschiedete sich von seinem Anwalt. Um ihn huschten Bedienstete herum, trugen Gegenstände hin und her, putzten und brachten dicke Wachsschichten auf den Holzoberflächen auf. Irgendwann würde er wohl mehr Personal einstellen müssen, um sich standesgemäß in der Stadt aufhalten zu können. Er hatte geplant, das seiner Ehefrau zu überlassen – obwohl er aber schon seit zwei Jahren nach einer suchte, war er immer noch unverheiratet. Er ging die Treppe zu seinen Gemächern hinauf. Jetzt war jedoch nicht der richtige Zeitpunkt, sich Gedanken über seinen Junggesellenstand zu machen. Wie Grace immer sagte, alles hatte seine Zeit. Heute Abend würde er sie bei einem ihrer vielen gemeinsamen Abendessen sehen, zusammen mit dem Rest der Familie. Sie wüsste bestimmt schon, dass sie die Stadt verlassen würden. In dieser Familie gab es keine Geheimnisse.

Ein tiefes Bellen hallte aus dem Obergeschoss. Minerva. Augustas Deutsche Dogge. Es wurde von einem noch tieferen Bellen beantwortet. Apollo. Seine Dogge, die, kurz nachdem Augusta Anthony geboren hatte, zur Welt gekommen war. Die beiden waren schnell Freunde geworden. Also, Anthony und Apollo. Minerva kümmerte sich um beide wie ein Kindermädchen. Doch worüber stritten sich die Hunde?

Da kam eines der echten Kindermädchen die Treppe heruntergesaust. „Warum bellen die Hunde?“

„Apollo hat versucht, zu Master Anthony ins Bett zu krabbeln, als dieser gerade aus seinem Mittagsschlaf aufwachte. Und Minerva hat ihn vertrieben. Er ist zu groß geworden. Apollo, meine ich.“

„Danke.“ Vielleicht brauchte Anthony einfach ein größeres Bett. Und das warf wiederum die Frage auf, wie lange Augusta und ihre Familie noch bei Charlie wohnen würden.

Das Mädchen machte einen Knicks und setzte dann ihren Weg fort.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast Zeit, sich für das Abendessen fertig zu machen. Das würde heute Abend im Worthington House stattfinden. Und dafür musste er nur den Square überqueren.

Als er dort ankam, war bereits seine gesamte Familie versammelt: alle seine Schwestern – sowohl leibliche als auch angeheiratete –, ihre Ehemänner und älteren Kinder, seine Nichten und Neffen sowie seine angeheirateten Cousins und deren Kinder. Sogar die Babys waren da. Während er alle begrüßte, kamen aber die Kindermädchen, um die Kleinen abzuholen. Er nahm eine seiner beiden älteren Schwestern, Charlotte, Marchioness of Kenilworth, beiseite. „Ich brauche eine Gastgeberin für all die Gesellschaften, die ich veranstalten muss, wenn wir uns diesen Sommer in Stanwood versammeln. Und auch die Nachbarn sollten dann eingeladen werden. Wirst du mir helfen?“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und lächelte. „Natürlich.“ Sie sah sich nach ihren anderen Schwestern um, die sich ebenfalls in dem Raum tummelten. „Ich gehe davon aus, dass ich viel Unterstützung haben werde.“

„Zweifellos.“ Sein Blick fiel auf Theo – Lady Theodora Vivers –, siebzehn Jahre alt und die jüngste seiner angeheirateten Schwestern, die sich mit Mary – Lady Mary Carpenter – unterhielt. Diese war erst vierzehn Jahre alt und seine jüngste leibliche Schwester. Theo würde nächstes Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden und freute sich bestimmt über die Erfahrung, die sie so gewinnen konnte. Mary hatte noch ein paar Jahre Zeit, aber sie würde bestimmt ebenfalls gerne helfen. Obwohl ein Altersunterschied von drei Jahren bestand, hatten die beiden schon vor Graces Hochzeit mit Matt eine enge Bindung zueinander aufgebaut. Charlie, seine Brüder und Schwestern hatten sich zusammen mit Matts Schwestern darauf geeinigt, dass sie alle zusammen eine einzige große Familie seien. Daher empfand Charlie für Louisa, Augusta, Madeline und Theo Vivers dieselbe brüderliche Liebe wie für Charlotte, Alice, Eleanor und Mary. Mit Ausnahme der beiden Jüngsten – die natürlich noch unverheiratet waren – hatten seine Schwestern Männer geheiratet, die er respektierte und gut leiden konnte. Und in etwa drei Wochen würden sie alle in Charlies Hauptanwesen, Stanwood Place, zum jährlichen Familientreffen zusammenkommen.

„Ich habe beschlossen, in zwei Tagen aufzubrechen, falls jemand mit mir nach Norden reisen möchte“, sagte er zu allen Anwesenden.

Mary warf Theo einen Blick zu, die zustimmend nickte. „Wir würden gerne mitkommen, wenn Grace einverstanden ist.“

„Ja, natürlich“, sagte Grace. „So habt ihr Zeit, euch mit euren Freunden in der Gegend zu treffen, bevor wir anderen ankommen.“

„Phinn, Anthony und ich reisen ebenfalls zusammen mit Charlie ab“, warf Augusta ein.

Matt blickte besorgt zu Phinn und nickte. Charlie würde auch mit Phinn sprechen müssen, um herauszufinden, was er und Matt wegen möglicherweise auftretender Probleme in Bezug auf Anthony beschlossen hatten.

Der Butler kündigte das Abendessen an und Dotty, die Marchioness of Merton, seine Freundin und Cousine durch Heirat, hakte sich bei ihm unter. „Dom und ich werden auch bald in der Gegend sein. Wir müssen Zeit mit meinen Eltern sowie mit Madeline und Harry verbringen.“ Dottys Bruder und seine Frau Madeline, die ebenfalls eine von Charlies angeheirateten Schwestern war.

Er grinste vor sich hin. Rochford und Chandos waren noch nie mit seiner ganzen Familie auf einmal konfrontiert gewesen. Das könnte interessant werden. Wahrscheinlich würde Rochford kein Problem damit haben. Chandos hingegen …

Kapitel 2

Miss Oriana Ognon ging in ihrem Arbeitszimmer auf und ab. Nur gelegentlich blieb sie stehen und starrte finster auf den zerknüllten Brief in ihrer Hand. Wäre ihr Cousin anwesend gewesen, hätte sie ihm den Schürhaken über den Kopf gezogen und den Brief in den Rachen gestopft! Dieses unnütze Blabla!

Sie las das Schreiben noch einmal durch.

Meine liebe Oriana,

leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie in Kürze ein Gentleman namens Stanwood aufsuchen wird. Er hat etwas bei sich, das er für die Überschreibungsurkunde Ihres Hauses hält. Ich habe ihm das Angebot unterbreitet, ihn auszuzahlen, aber das wollte er nicht akzeptieren. Ich bin zutiefst verstört bei dem Gedanken, dass Sie ihm allein gegenübertreten müssen. Selbstverständlich stände ich an Ihrer Seite, wenn es nur irgend möglich wäre. Aber im Moment sitze ich in der Stadt fest. Ich nutze diese Gelegenheit jedoch, um meinen Heiratsantrag zu wiederholen. Unsere Verbindung würde Sie vor solchen Vorfällen schützen.

Ihr Diener,

Ognon

„Du dreckiger Schuft!“ Sie blickte grimmig auf das Stück Papier. „Wenn ich dich heirate, würde ich mein Haus doch endgültig verlieren.“

Sie zerknüllte den Brief erneut und wollte ihn gerade gegen die Wand pfeffern, als sich die Tür öffnete.

Tante Prudence, genauer gesagt Lady Prudence Atherton, schaute herein. „Ich habe gehört, wie du jemanden angeschrien hast.“ Sie sah sich vorsichtig um. „Aber es scheint niemand hier zu sein. Ist etwas nicht in Ordnung?“

Jetzt warf Oriana das Papierknäuel. Es traf das Fenster. „Nachdem er versprochen hatte, mit seinem dummen Spiel aufzuhören, hat Ognon das Haus nun einmal mehr verzockt.“

„Oje.“ Ihre Tante runzelte leicht die Stirn. „Das ist bedauerlich.“

Oriana ging zu ihrem Schreibtisch, schloss ihn auf, holte ein Dokument heraus und vergewisserte sich, dass es eine Abschrift ihrer Eigentumsurkunde für das Haus und das Grundstück war. „Ich muss mir etwas einfallen lassen, damit er endlich damit aufhört.“

Ihre Tante ging zum Fenster, hob das zusammengeknüllte Papier auf und glättete es. „Er schreibt, dass er den Gentleman auszahlen wollte. Und … Oh!“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. „Ich kann nicht glauben, dass er dir noch einen Heiratsantrag gemacht hat!“ Sie ließ die Hand wieder sinken. „Also wirklich, meine Liebe. Ich weiß, dass deine Mutter deinen Vater geliebt hat, aber seine Verwandtschaft lässt in der Tat zu wünschen übrig.“

„Das sind doch alles Spieler. Sogar Papa hatte eine Neigung zum Glücksspiel.“

„Aber er liebte deine Mutter genug, um damit aufzuhören.“

Genau bis zu ihrem Tod.

„Und er hat dafür gesorgt, dass du dir über nichts Sorgen machen musst“, sagte Tante Prue sanft.

„Das stimmt. Selbst wenn ich das Haus nicht geerbt hätte, wäre ich finanziell versorgt gewesen.“ Was vielleicht einer der Gründe war, warum ihr Cousin immer auf der Jagd nach Geld war. Nein. Er war einfach ein Spieler. Er würde immer in finanziellen Schwierigkeiten stecken.

Es klopfte an der Haustür, und nach einigen Sekunden klopfte es erneut. Oriana eilte von ihrem Arbeitszimmer im ersten Stock zur Treppe, die hinunter in die Diele führte. Aber niemand kam, um die Tür zu öffnen. Wo war Figgs, ihre Haushofmeisterin, oder eine der Dienerinnen? Gerade als Oriana selbst die Treppe hinuntergehen wollte, eilte Damry, die jüngste und neueste Magd, zur Tür, schob die Riegel zurück und öffnete sie mit einem Knicks.

„Ja, Sir?“

Oriana trat zurück, um zu sehen, wer es war. Doch sie achtete darauf, so zu stehen, dass derjenige sie nicht sehen konnte. Ein Gentleman reichte dem Dienstmädchen seine Visitenkarte. „Bitte teile deiner Herrin mit, dass ich sie sprechen möchte.“

„Ja, Sir.“ Damry schloss die Tür und wollte gerade weggehen, bevor sie es sich anders überlegte und wieder umdrehte. Sie öffnete die Haustür erneut. „Ich stecke Sie wohl besser in den vorderen Salon.“

Was mochte sich der Gentleman wohl gedacht haben, als man ihm erst die Tür vor der Nase zuschlug und ihm dann auch noch sagte, man würde ihn in den Salon „stecken“, als wäre er ein Möbelstück? Oriana unterdrückte das Lachen, das in ihr aufsteigen wollte. Wenigstens hatte das Mädchen noch die Geistesgegenwart gehabt, ihn in den Raum neben dem Eingangsbereich zu führen, der für die Besucher reserviert war, die nicht lange bleiben würden. Nachdem Damry die Tür zum Salon geschlossen hatte, kam sie mit der Karte in der Hand die Treppe herauf.

Oriana ging ihr auf dem ersten Treppenabsatz entgegen und die Dienerin reichte ihr die Karte. „Das ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe.“

Sie ignorierte die Bemerkung und las die Karte.

Earl of Stanwood.

Jetzt reichte es! Die Wut stieg erneut in ihr auf. Sie hatte genug. Es war nun wirklich an der Zeit, ihren nichtsnutzigen Cousin vor Gericht zu bringen.

„Danke, Damry.“ Oriana machte einen Schritt und blieb abrupt wieder stehen. „Wo ist eigentlich Figgs?“

„Sie poliert unten das Silber, Miss. Mrs Kerby ist einkaufen und brauchte beide Dienstmädchen zur Unterstützung. Ich konnte am schnellsten an der Tür sein.“

„Das hast du sehr gut gemacht.“ Oriana lächelte das Mädchen an. Sie würde ihre Majordomus daran erinnern müssen, der Magd beizubringen, wie man die Tür zu öffnen und Gäste zu behandeln hatte. Sie hätte beinahe wieder gekichert, als sie daran dachte, wie dem Gentleman wohl zumute gewesen war, als ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde.

„Ich hole Lady Prudence.“ Bevor Oriana ihr sagen konnte, dass sie ihre Tante nicht stören solle und der Gentleman eh nicht lange bleiben würde, huschte das Dienstmädchen schon den Flur entlang.

Sie lief die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Salon. „Ich bin Miss Ognon. Mir wurde mitgeteilt, Ihr wolltet mich sprechen.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Lasst mich die Urkunde sehen.“

Er runzelte die Stirn. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, er sei besorgt. „Woher wissen Sie …“

Sie wedelte erneut mit der Hand, und er tat, worum er gebeten worden war. „Ich nehme an, dass Ihr davon ausgeht, dass dieses Haus und das Grundstück nun Euch gehören, aber diese Urkunde ist wertlos. Denn ich bin bereits im Besitz von beidem. Ich habe sie von meiner Großmutter mütterlicherseits geerbt und daher war weder das Haus noch das Grundstück je Teil des Ognon-Vermögens oder seines Erbes. Ich kann Euch eine Abschrift der Urkunde zeigen”, sie betonte das Wort „Abschrift”, „wenn Ihr mir nicht glauben wollt. Ich werde Euch die Adresse meines Anwalts geben.”

Er neigte den Kopf und Verwirrung lag auf seinem … oh, na gut … auf seinem wirklich sehr hübschen Gesicht. Aber kein Mann, der dem Glücksspiel frönte, würde sie jemals interessieren. „Nein. Nein, danke. Ihr Wort reicht mir. Ich hatte vor, Ihnen die Besitzurkunde zu überschreiben, damit so etwas nicht wieder vorkommt. Aber …“

Sie ließ ihn den Satz nicht beenden. „Es ist wahrlich bedauerlich, dass weder Ihr noch all die anderen Gentlemen sich je die Mühe machten, herauszufinden, ob der Besitz tatsächlich der Person gehört, die ihn verspielt.“

„Kommt das also öfter vor?“

„Oft genug.“ Sie sah zu ihm auf. „Ihr nehmt das recht gelassen auf. Besser als der Letzte.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich hatte sowieso nicht vor, das Haus zu behalten.“

„Möglich. Ich wünsche Euch eine gute Rückreise nach London. Damry wird Euch hinausbegleiten.“ Oriana öffnete das Dokument und warf einen Blick darauf. „Das ist ja überhaupt keine Besitzurkunde.“

„Das ist mir bewusst.“ Mit gerunzelter Stirn blickte Seine Lordschaft aus dem Fenster. „Er hat mir angeboten, den Wert des Hauses auszuzahlen, aber ich habe abgelehnt. Ich finde es verabscheuenswürdig, wenn jemand einen Besitz verspielt oder verkauft, und so seinen Angehörigen ihr Zuhause nimmt. Ich wollte herausfinden, was es zu erledigen gibt, wenn ich schon hier bin.“

Das war wirklich mal ein anderer Ansatz. Dennoch glaubte sie ihm immer noch nicht. „Es gibt hier nichts zu erledigen. Ich halte meine Besitztümer in einem ausgezeichneten Zustand. Wie ich bereits sagte, gehört meinem Cousin dieses Anwesen nicht und es hat ihm auch nie gehört. Es war nicht Teil seines Erbes.“

Lord Stanwood runzelte seine Stirn noch etwas mehr. „Gibt es denn keine Möglichkeit, dies in Zukunft zu verhindern?“

„Die einzige Möglichkeit wäre, dass ich heirate, aber ich habe hier keine Aussichten. Ich werde ihn also wahrscheinlich vor Gericht bringen. Auf Wiedersehen, Mylord.“ Sie öffnete die Tür und das Dienstmädchen erschien.

„Hier entlang, Mylord.“

Er folgte dem Mädchen zur Tür und wandte sich dann an Oriana. „Auf Wiedersehen.“

Seine blauen Augen zogen sie unweigerlich in ihren Bann. Er musste gehen. Jetzt! „Ich wünsche Euch eine gute Reise, wohin auch immer sie Euch führen mag.“

Glücklicherweise widersprach er auch dieses Mal nicht. Nachdem er sich verbeugt hatte, schlenderte er hinaus, und die Tür schloss sich hinter ihm. Damit war jedwede Verbindung gekappt.

„Meine Liebe“, Tante Prue kam gerade die Treppe herunter. In ihren hellblauen Augen spiegelte sich Verwirrung. „Ist dein Besucher schon so früh gegangen?“

„Es war nur ein weiterer Gentleman, der das Haus von meinem Cousin ‚gewonnen‘ hat.“

„Oje. Damry sagte, er sei sehr gut aussehend und dazu noch ein Earl. Ich hatte gedacht …“

Oriana wünschte sich wirklich, dass alle sofort damit aufhörten, von dem guten Aussehen des Earls zu schwärmen. „Nein. Und ich gehe auch nicht davon aus, ihn wiederzusehen.“ Sie nahm den Arm ihrer Tante. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass du möchtest, dass ich mich häuslich niederlasse, aber ich habe die Hoffnung darauf bereits aufgegeben.“

„Hat er auch so ein Theater gemacht wie der Letzte?“

Oriana hatte eigentlich gar keine Lust, dieses Gespräch zu führen, aber ihre Tante würde darauf bestehen, also konnte sie es genauso gut gleich jetzt hinter sich bringen. „Überhaupt nicht. Er behauptete sogar, er wolle mir das Haus und das Grundstück überschreiben und schauen, ob Reparaturen oder Ausbesserungen nötig seien.“

Tante Prue sah sich demonstrativ lässig von dem Treppenabsatz aus um. „Wie schrecklich. Gut aussehend, ein Adliger, freundlich und verantwortungsbewusst. Er muss wahrlich ein furchtbarer Mensch sein.“

Oriana presste die Lippen zusammen und atmete tief durch die Nase ein. „Er war nur hier, weil er eine große Summe Geld verspielt hat. Ich werde mich nicht von einem Spieler einwickeln lassen, egal welchen Rang er hat, wie gut er aussieht oder wie freundlich und verantwortungsbewusst er wirkt. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss mich noch um die Buchhaltung kümmern.“

„Wenn du meinst, Liebes.“ Ihre Tante legte den Zeigefinger auf die Lippen. „Wie war noch einmal sein Name?“

„Ich habe seinen Namen nicht erwähnt.“ Ihre Tante warf ihr einen Blick zu und Oriana seufzte. „Stanwood. Der Earl of Stanwood. Jetzt muss ich aber wirklich gehen. Die Buchhaltung erledigt sich nicht von selbst.“ Bevor Tante Prue noch etwas sagen konnte, hastete Oriana in ihr Arbeitszimmer und schloss die Tür fest hinter sich.

„Stanwood“, sagte ihre Tante laut genug, dass Oriana sie hören konnte. „Ich kannte einmal eine Familie namens Stanwood. Sie lebten nicht weit von hier. Ich frage mich, ob er vielleicht mit ihnen verwandt ist.“

Oriana lehnte sich gegen die Tür und versuchte nicht die Beherrschung zu verlieren. Wenn das so weiterginge, würde sie den Kuppelversuchen ihrer Tante so lange ausweichen müssen, bis dieser lästige Mann die Gegend verlassen hatte. Sie hoffte, dass dies bald der Fall sein würde. Es musste einfach bald sein. Schließlich gab es hier in der Gegend keine richtigen Möglichkeiten zum Glücksspiel, sodass sich ein Gentleman schnell langweilen könnte. Oriana ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich in den blauen Ledersessel, der speziell für Damen entworfen worden war. Sie nahm die erste von mehreren Quittungen, die sie eintragen musste.

Farr’s Metzgerei, Stanwood Town.

Guter Gott! Handelte es sich bei ihm etwa um genau diesen Lord Stanwood? Nein, das konnte er nicht sein. Denn dieser Lord Stanwood war fort. Er reiste durch Europa. Sie hatte gehört, dass sich nun ein gewisser Lord Worthington um den Besitz kümmerte, bis Lord Stanwood zurückkehrte.

Es sei denn, er war bereits zurück.

Nun, das spielte keine Rolle. Sie würde dem Mann einfach aus dem Weg gehen. Oriana trug die Quittung ein. Ihn zu meiden, sollte nicht schwer sein. Er schien unverheiratet zu sein, was bedeutete, dass er keine gesellschaftlichen Veranstaltungen geben konnte. Sie würde einfach alle Einladungen zu Abendessen oder Tanzveranstaltungen ablehnen, die sie von anderen aus dieser Gegend erhielt. Zu denen würde er garantiert eingeladen werden, eben weil er ein unverheiratetes Mitglied des Hochadels war. Egal, ob er dem Glücksspiel frönte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein Gentleman, der in der Stadt lebte und auf dem Festland gewesen war, an den einfachen Picknicks und anderen Ausflügen interessiert sein würde, die die Damen aus der Umgebung hier planten. Nein, es würde überhaupt nicht schwer werden, diesem Mann aus dem Weg zu gehen. Schwieriger würde es dagegen sein, den sehr wahrscheinlichen Versuchen ihrer Tante, sie zu verkuppeln, zu entgehen. Oriana würde eben Maßnahmen ergreifen müssen, um Tante Prue immer einen Schritt voraus zu sein. Sie lehnte sich zurück und klingelte nach ihrer Zofe. Catherine Kerby, die Tochter von Orianas Haushälterin, wusste einfach alles, was im Dorf und auch im Haus vor sich ging.

Die Tür öffnete sich. „Miss?“

„Kerby, bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz. Ich möchte etwas mit Ihnen bereden.“

„Wenn es Euch nichts ausmacht, Miss, würde ich lieber stehen bleiben.“

Oriana unterdrückte einen Seufzer. Trotz all ihrer Versuche bestand Kerby stets darauf, einen angemessenen Abstand und Ehrerbietung zu wahren. „Wie Sie wünschen.“ Es dauerte nicht lange, ihr zu erklären, dass Lady Prue nur allzu begeistert von der Idee war, Lord Stanwood sei der ideale Ehemann für Oriana. Und dass sie gewarnt werden müsse, sobald Kerby von irgendwelchen Plänen höre, die beiden zusammenzubringen.

„Ja, natürlich, Miss. Ich werde es Euch sofort mitteilen, sollte mir etwas zu Ohren kommen. Ist das alles?“

„Ja. Danke.“

„Gern geschehen. Ich bin froh, Euch helfen zu können.“

Sobald sich die Tür hinter Kerby wieder geschlossen hatte, versuchte Oriana sich auf die Buchhaltung zu konzentrieren. Aber der Tag war so schön, dass es sie nach draußen in die Natur zog. Sie legte ihre Feder zurück in die Schreibtischgarnitur. Es konnte wohl nicht schaden, eine Weile hinauszugehen. Vielleicht würde ein Spaziergang ins Dorf ihren Kopf wieder frei machen. Oriana war seit über einer Woche nicht mehr dort gewesen. Wenn sie wollte, dass die Dorfbewohner ihr vertrauten und mit ihren Problemen zu ihr kamen, durfte sie sich nicht wie eine Einsiedlerin verhalten.