Leseprobe Der Duft der Mandelblüte

Prolog

Freiburg, Mai 2005

»Es gibt diese Momente im Leben, in denen du glaubst, alles im Griff zu haben und dir vielleicht sogar einredest, zufrieden zu sein. Vertrau mir, du kannst dich darauf verlassen, dass sie schneller rum sind, als du gucken kannst.«

Das Licht flackerte in den Neonröhren an der Decke, surrte leise und sorgte für ein permanentes Ohrgeräusch, während Liza Blüm durch den Flur der Volkshochschule eilte, die Worte ihrer Mutter im Kopf. Im Grunde passte dieser Ausspruch nicht zu ihr. Anatolia Blüm war keine übertrieben pessimistische Frau. Was sie anpackte, gelang ihr, weil sie mit Entschlossenheit und Eifer dahinter war, und diesen Wesenszug hatte sie an Liza weitergegeben. Ihr Lachen hallte in jeder Erinnerung mit, begleitete Lizas Leben. Nichtsdestotrotz verklang jener Hall schnell. Ohne es je angesprochen zu haben, wusste Liza, dass ihre Mutter etwas in sich trug, das dunkel war, ihre Laune ab und an verschleierte. In den vergangenen Monaten seit ihrem siebzigsten Geburtstag hatten diese Tendenzen zugenommen. Sie begrüßte Liza nur noch selten mit einem Lachen und gleichzeitig strahlten ihre Augen eine schwermütige Note aus.

Als Liza an diesem Abend aus einem Interview mit der Badischen Zeitung gerissen wurde, weil ihre Mutter vom Lörracher Elisabethen-Krankenhaus aus anrief, fühlten sich ihre Worte so wahr wie nie zuvor an. Bedachte man, dass sich Liza eben noch mit dem Journalisten über ihr regional hochgefeiertes Backbuch Vom Weckmann und anderen Genüssen unterhalten hatte und nun um ihre Mutter bangen musste.

Sie ließ sich von der Rezeptionistin das Telefon reichen und trat in den ungelüfteten Gästeraum. Fast wurde ihr dabei übel. Sie brachte ihre feine Nase zum Verstummen – seit sie sich erinnern konnte, war es ihre Nase, die den ersten Eindruck einer neuen Situation bestimmte. Was jetzt unbedeutend war. Jetzt zählte einzig ihre Mutter.

»Mama? Was ist passiert?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang so jung und unbeschwert wie immer. Einzig an ihrer gedämpften Lautstärke erkannte Liza, dass ihre Mutter nicht bei voller Kraft war. Sie war gut darin zu verbergen, wenn es ihr schlecht ging. Und sie war noch besser darin, einen tadellosen Schein zu wahren. Ihr Aussehen half ihr dabei. Hätte man sie als Unbekannte gefragt, wie alt sie Anatolia Blüm schätzte, hätte Liza ihr knappe fünfzig Jahre gegeben, fast faltenlos wie sie war und mit lediglich einer Handvoll ergrauten Haaren. Erst als sie nun sprach, hörte Liza plötzlich ihr Alter heraus. »Ich bin gestürzt, Schätzchen.«

»Was?«, fragte Liza und stöhnte. Sie verfluchte sich innerlich dafür, dass sie ihre Mutter nicht schon früher aus dem alten Haus in Haltingen geholt hatte, das viel zu viele Treppen und Stolperfallen barg. Seit dem Tod ihres Vaters lebte ihre Mutter dort allein und behauptete, sie käme zurecht. Nicht, dass Liza ihr widersprechen wollte, sie fand ihre Mutter bemerkenswert eigenständig und bewunderte sie für die vielen Dinge, die sie, jegliche Hilfe ablehnend, immer noch selbst meisterte. Trotzdem war das Haus nicht für das Alter geschaffen, mochte sie noch so gut in Schuss sein.

»Hast du dir etwas gebrochen? Was sagt der Arzt? Hast du …«

»Gemach, Schätzchen, gemach. Das ist es nicht, das mich umbringen wird.«

Liza hielt inne. »Was soll das heißen?«

»Dass ich sterben werde. Da sitzt ein Tumor in meinem Kopf. Seit letztem Herbst.«

Die Welt hörte auf, sich zu drehen, die Zeit stoppte. Liza starrte mit unbeweglicher Miene an die kahle Wand ihr gegenüber, sämtliche Gerüche entzogen sich ihrer Nase, sämtliches Licht verdunkelte sich um sie herum. Ihr war, als überwiege plötzlich nur das Surren der Neonröhren oben an der Decke. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis sie endlich glaubte, sich regen zu können. Sie sollte etwas sagen, aber es wollte nichts kommen. Stattdessen spürte sie das Kitzeln in ihrer Nase, das Ziehen am Gaumen und den Moment nahen, in dem sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Nein«, entfuhr es ihr schließlich.

»Doch«, erklärte ihre Mutter, »so ist es.«

Wie konnte sie dabei so gelassen bleiben? »Warum hast du mir nicht längst etwas gesagt?«, fragte sie.

Ihre Mutter lachte. »Was hätte das denn geändert? Du hattest so viel um die Ohren und dich gerade verlobt. Ich wollte lieber die letzte gemeinsame Zeit genießen, statt sie mit etwas zu überschatten, das unaufhaltsam ist. Glaub mir, es ist in Ordnung.«

Wie konnte das in Ordnung sein? Liza erschauderte angesichts der Abgeklärtheit, die ihre Mutter in sich trug. Es ruhte eine Friedlichkeit in ihren Aussagen, die ihr zeitlebens nicht gegeben war. Als hätte sie sich mit allem abgefunden, als erleichterte sie diese Erkenntnis. Liza hingegen konnte und wollte sich nicht damit abfinden. Sie war nicht bereit, ihre Mutter gehen zu lassen. Wie konnte ein Mensch je für so etwas bereit sein? Siebzig Jahre, das war ein Klacks. Niemand starb mit siebzig, niemand verlor seine Mutter mit dreißig. Sie hatten noch ihr halbes Leben vor sich – gemeinsam!

»Aber ich will nicht.« Plötzlich klang sie wieder wie eine Zwölfjährige.

»Wer will das schon?«, fragte ihre Mutter. »Trotzdem hatten wir unsere Zeit und sie war wunderschön. Das ist das Wichtigste. Wir haben beide Großes vor. Du hier und ich an einem anderen Ort. Jetzt hör mir zu. Ich habe alles in die Wege geleitet. Du musst nur noch unseren Familiennotar kontaktieren. Er wird dich über alles in Kenntnis setzen.«

»Mama, hör auf. Ich komme sofort runtergefahren. In einer Stunde bin ich da und dann können wir das vor Ort besprechen.«

Ihre Mutter hustete. »Ja, ich weiß. Einzig für den Fall, dass es vorher mit mir zu Ende geht, muss ich dich noch um eine Sache bitten.«

***

Venosa, August 1955

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten die Dächer einer erwachenden Stadt, schenkten den Vögelchen ein warmes Bad und luden sie dazu ein, ihren Gesang zu eröffnen. Wer gut hinhörte, konnte die knarzenden Betten aus Olivenholz in den engen Wohnstuben erahnen, aus denen sich die arbeitende Bevölkerung schälte, jeden Morgen aufs Neue und zu jeder Stunde bestens gelaunt. Hier pfiff ein Signore sein Liedchen, da trällerte eine Signora eine Canzone und dazwischen ein Dutzend Kinderstimmen, die hinaus in die Straßen riefen, sich auf Plätzen versammelten und dann in alle Himmelsrichtungen auseinanderstieben. Von der Via Degli Zoccolanti strömte bereits der Duft von frischem Panettone und süßen Fior di Mandorla, denn in der Nummer zweiundzwanzig herrschte seit vier Uhr in der Nacht Hochbetrieb. Lorenzo Di Nero öffnete seine Panetteria Zuccheroso pünktlich mit dem siebenten Glockenschlag eines jeden Morgen. Bis dahin musste seine Backstube heiß und vom mehligen Nebel durchtränkt sein, die Stirn übersäht mit Schweißperlen und die Hände rau vom Teigkneten. Draußen im Geschäft türmten sich unterdessen die Leckereien, trugen ihren betörenden Duft hinaus in die Straßen Venosas. Die Panetteria befand sich seit Jahrzehnten im Familienbesitz. Immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben, einmal sogar an die Tochter, und erfreute sich seit jeher größter Beliebtheit. Besuchte man die Provinz Potenta, so war der erste kulinarische Tipp, der einem Neuankömmling erteilt wurde, er möge in Venosa bei den Di Neros in der Via Degli Zoccolanti vorbeischauen. Niemals in der Geschichte der Familie gingen die Geschäfte allerdings so gut wie in diesem Jahr. Zu verdanken hatte das der stolze Vater von sechs Kindern seinem Zweitgeborenen, Tynano Di Nero, dessen Geschick in der Backstube das eines gewöhnlichen Bäckergesellen überstieg. Ein Panettone wurde nicht bloß ein Panettone in seinen Händen. Er erfand wöchentlich neue Zutaten, die das Gebäck zu einem Gaumenschmaus werden ließen. Mochte er zuweilen auch mit dem Kopf in den Wolken hängen, seine Backkunst litt niemals darunter. Lorenzo Di Nero liebte ihn dafür, wie er gleichfalls seine anderen Söhne und die beiden Töchter liebte, dazu seine Mama, möge sie selig ruhen, und seine zweite Frau Gaia, ein Herzstück hinter der Theke seiner ebenso heiß geliebten Zuccheroso. Den ganzen Vormittag dominierte ihr Liebreiz die Straße, machte seinen Besitzer zum glücklichsten Mann der Stadt.

Erst am Nachmittag durchzog etwas die Via Degli Zoccolanti, das sich höchst unfein mit dem Duft süßen Gebäcks vermengte, ihn sogar beinahe vertrieb. Dem Geruch folgte der Lärm der trällernden Aurora Lavoratori, von der alle behaupteten, ihre Gesänge verrieten bereits die Gourmandise ihres Abendangebots. Lorenzo dagegen empfand ihre Stimme als disharmonisch und störend. Letzteres vor allem in Bezug auf sein Geschäft. Pepe Lavoratori und seine singende Frau hatten sich vor einigen Jahren in den Kopf gesetzt, mit ihrer Pizzeria In un Pezzo seine Straße zu verunglimpfen. Dabei waren dieser Pepe und seine überschaubare Familie ursprünglich nichts anderes als Bauern aus dem Umland gewesen. Schon immer hier und schon immer unangenehm, nur niemals so nah in direkter Nachbarschaft. Manch einer lobpreiste ihn dafür, dass er innerhalb kürzester Zeit und ohne einen einzigen Centesimi in der Tasche eine der beliebtesten Pizzerien Süditaliens aufgebaut hatte. Lorenzo dagegen dachte für sich, dass Pizzabacken ja wohl jeder simplen Hausfrau gelang und der Emporkömmling seinen Ruhm allein dem Casa Principessa verdankte. Es war das schönste Gebäude der Straße, aus hellem Werkstein erbaut, im Ansatz wie eine Miniaturburg entworfen und daher mit seinen turmähnlichen Rundungen und dem märchenhaften Außenbereich durchaus charmant. Wer würde darin nicht gerne essen? Dabei hatte er sich die Pacht damals erlogen, im Glücksspiel, erinnerte sich Lorenzo. Zu viel Glück für seinen Geschmack. Er hörte noch die Worte seines Vaters, die Lavoratoris hätten nie gewusst, wo ihr eigentlicher Platz sei. Doch Pepe, der schoss eindeutig übers Ziel hinaus! Seit sich Lorenzo erinnern konnte, befanden sie sich in einem ständigen, mal mehr, mal weniger aufflammenden Zwist. Die Geburtsstunde ihrer Feindschaft konnte niemand so genau benennen. Vielleicht war sie entstanden, weil der eine Urgroßvater es einst versäumt hatte, den anderen zu grüßen. Vielleicht, weil ein Jungspund dem anderen das Mädchen ausgespannt hatte. Oder vielleicht, weil langjährige Familienfehden hier unten im Süden dazugehörten. Lorenzo war es einerlei. Er mochte diesen Pepe nicht und dasselbe galt für seine nichtsnutzigen Neffen. Zwillinge überdies, die man partout nicht auseinanderhalten konnte. Einer rotzfrecher als der andere. Selbst die Namen klangen fast gleich: Manilo und Manlio. Welcher Spaßvogel hatte die denn getauft? Das einzige Kind, das dem Schoß Auroras entschlüpft war, studierte angeblich in Neapel. Kaum vorstellbar. Die Lavoratoris wirkten nicht wie die hellste Sorte. Es zeugte gleichwohl nicht von einer starken Familie, wenn die einzige Tochter dem Heim so schnell wie möglich entfloh. Besser war es. Je weniger von der Sippe durch seine Straße schlichen, umso sicherer fühlte er sich.

Sprach man vom Teufel, lungerte er auch meistens in unmittelbarer Nähe herum. Manlio und Manilo schlenderten mit den Händen in ihren abgewaschenen Hosen vergraben an seiner Panetteria vorbei.

»Na los, macht, dass ihr verschwindet. Euch wollen wir hier nicht!«, schrie seine Jüngste, Chiara, ein Goldschatz, der es beinahe gelang, burschikoser aufzutreten als ihre älteren Brüder.

»Sieh mal, Manlio«, rief in dem Fall Manilo, »das kleine Hündchen kläfft uns an. Sollen wir zurückbellen?«

Der Beschützerinstinkt des Vaters schwoll in Lorenzo an und seine Kundschaft nur für einen winzigen Moment vernachlässigend, stürmte er hinaus auf die Straße. »Wagt es nicht, ihr Rotzlöffel!«, tobte er und zog Chiara am Arm ins Geschäft. »Verzieht euch und lasst euch nicht mehr blicken. Erst recht nicht bei meiner Tochter.«

Selbstverständlich erntete er bloß ein Lachen von den beiden Burschen. Seine Stirnader pulsierte, und doch vermied er es, noch einmal laut zu werden. Immerhin warteten die Liboninos auf ihre Zuckerspeisen. Er kehrte zurück und nickte ihnen mit unterdrückter Gereiztheit zu. »Verzeiht mir, was darf es sein?«

Für Signora Libonino durften es die Mandel Cantuccini sein und für ihren lieben Gatten, dem ein aufrichtiger Freund besser geraten hätte, es der Gesundheit zuliebe dabei zu belassen, eine schokoladige Sfogliatelle. Der Kerl war gerade mal Ende dreißig. Seine Körperfülle machte ihm das Gehen nicht leicht und beeilte er sich, so hörte sich sein Atem wie der eines sterbenden Tieres an. Doch wo käme Lorenzo hin, würde er seinen Kunden davon abraten, sich von ihm verwöhnen zu lassen? Er war gut Freund mit ihnen allen, aber eben als Bäcker, nicht als Apotheker.

»Was ist das mit euch und den Lavoratoris, hm, Lorenzo?«, fragte Andrea Libonino mit seiner rauen Stimme und strich über seinen gezwirbelten Schnauzer. »Lass doch diese Burschen. So übel sind sie nicht. Obendrein nicht mal Konkurrenz. Wer vergleicht schon Pasticcini mit Pizza?«

Ich, dachte Lorenzo und war froh, dem fetten Sack kein aufrichtiger Freund gewesen zu sein. Wer nicht erkannte, was für ein Pack die Lavoratoris waren, verdiente seine Freundschaft nicht. Und der Tag, an dem Pizza Pasticcini ebenbürtig wird, ist der letzte der Menschheit!

Die Pasticcini verließen Lorenzos Geschäft und verbreiteten ihren süßen Duft in der Via Degli Zoccolanti, indem er dem Packpapier entschwebte und den Liboninos vorauseilte. Vorbei an Signora Lunas rosa gestrichenem Häuschen, das an das gelbe der Familie Svera anschloss, deren Balkon mit dem ihrer Nachbarn über eine gespannte Wäscheleine verbunden wurde. Signore Sveras Hemden trockneten neben Signora Vinos Küchenschürzen und manch einer behauptete, es seien nicht nur ihre Kleidungsstücke, die sich zueinander hingezogen fühlten. Was weder Signore Sveras liebe Gattin störte, die ihm als Sechzehnjährige versprochen worden war und entgegen allen Behauptungen nie gelernt hatte, ihn zu lieben, noch den alten Vino, der seit Jahren nichts anderes tat, als den gesamten Tag seine Zeitung zu lesen. Gerade stieg ihm das Aroma der Cantuccini und Sfogliatelle in die Nase – verschwendet, versteht sich. Denn er war so vertieft in den bereits drei Mal gelesenen Sportartikel, dass er es nicht zu schätzen wusste und den Gruß der Liboninos überhörte. Gleichwohl zog das Odeur weiter, zauberte ein Lächeln auf das Gesicht von Gina vor dem Zeitungshäuschen und brachte Pippo, den Briefträger, dazu, sich einmal kurz umzuwenden. An der Ecke Via Campania vermengte es sich mit dem des Negozio di fiori von Zia Alva, deren Rosensträuße heute in allen Farben erstrahlten. Ebenso wie die kleine Isabella, der sie eine davon ins Haar setzte. Juchzend rannte das Mädchen weiter die Straße hinunter. Sein Lachen fegte dem Hopserlauf vorweg, die Füße sprangen über das Pflaster und hätten sich gewiss nicht aufhalten lassen, wäre nicht die summende Signora Lavoratori auf die Straße hinausgetreten, einen gewaltigen Kübel voller Pizzateig im Arm haltend. Es waren nicht allein die erwachenden Gelüste auf eine Pizza am Stück oder die Melodie, die der Kehle der Signora entwich, die Isabella stumm und staunend machten, sondern das stolzeste Haus der Straße, vor dem sich beides feilbot. In der Tat: Das Casa Principessa sah ein bisschen aus wie ein verträumter Märchenturm, der an ein helles Fachwerkhaus anschloss und von Rosenhecken umrankt wurde. Ein liebliches Bild, das durch den kleinen Springbrunnen auf dem Platz davor verfeinert wurde, an dessen Rand Isabella und die anderen Mädchen so manche Stunde verbrachten und sich vorstellten, sie seien die verfluchte Prinzessin Liebseelchen auf der Suche nach ihrem Prinzen Röhropp.

»Röhropp ist kein feiner Prinz. Er hat sich täuschen und zum Narren halten lassen. Somit verdient er die Prinzessin nicht.«

»Was redest du für einen Unfug?«, fragte Isabella ihre Freundin Maria, wenn diese ihr wie so oft das frohe Ende zerstören wollte. Das, in dem Prinz und Prinzessin einander unsterblich verfielen. »Er hat sich nicht täuschen lassen, er wurde getäuscht. Wie hätte er es besser wissen sollen?«

»So was weiß man nun mal, sofern man ein wahrer Liebender ist.«

Isabella furchte die Stirn, stemmte die Hände in die noch nicht gerundeten Hüften. »Weißt du, ich habe gestern einen Kuss von Lino bekommen. Hier auf den Mund.« Sie deutete mit dem Finger auf ihre gespitzten Lippen. »Wie eine wahre Liebende.«

Die Augen ihrer Freundin weiteten sich. Lino war der schönste Zwölfjährige im Viertel, weil er lange Wimpern besaß und von der Sonne gold melierte Haare auf dem Kopf trug. »Ehrlich?«

»Mhm.« Isabella nickte.

»Ich wünschte, er würde mich nur einmal ansehen«, sagte Maria und seufzte. »Wie fühlt es sich an, von ihm geküsst zu werden?«

»Keine Ahnung.« Isabella lachte. »Es war gelogen. Ich habe dich getäuscht und zum Narren gehalten. Na, wie fühlt sich das an?«

In Marias Protest mischte sich das Gelächter von Signora Lavoratori ein, die vor dem Küchenfenster des Casa Principessa stand und ihren Pizzateig in den Händen knetete. »Da hat sie dich aber ganz schön erwischt, kleine Maria. Nimm es nie mit einer romantischen Seele auf. Die haben immer recht.«

»Stimmt nicht«, murrte Maria, vergaß ihren Groll jedoch bei der Aussicht auf frische Pizzabrote, die ihnen Signora Lavoratori anbot. Das war das Zweitschönste an dieser Frau: Sie geizte nicht mit ihren Waren, hatte stets ein Körbchen mehr in ihrer Küche stehen, um die hungrigen Kindermäuler aus der Nachbarschaft zu stopfen. Das ersparte ihr außerdem, dass die Jungs heimlich etwas aus der Backstube mitgehen ließen. Hinter denen herzujagen, wie es Lorenzo Di Nero hielt, wenn ihm einer davon sein Gebäck stibitzte, das lag nicht in ihrer Natur. Sie alberte lieber mit ihnen herum und ließ ihr Lachen als Echo von den Häuserfassaden widerhallen. Das war nämlich das Schönste an ihr. Sie konnte lachen, dass es einem warm ums Herz wurde und man mitlachen musste. Isabella mutmaßte, sie verarbeite diese Fröhlichkeit mit in ihre Pizzen – in die langen Stücke, die der Pizzeria ihren Namen gaben. Deshalb lachten ihre Gäste mit jedem Bissen und zahlten einen oder gar zwei Livre mehr.

Heute allerdings war Signora Lavoratoris Lachen verhalten. Sie stand zwar unterm Fenster, die große Schüssel voll mit Teig im Arm und summte, doch glänzten ihr die Schweißperlen auf der Stirn und ihre Haut wirkte ungewöhnlich blass. Mit Isabellas Auftritt glättete sich ihr Runzeln auf der Stirn und kehrte als lachende Fältchen um die Augen zurück. »Na, Prinzessin Liebseelchen, heute schon deinen Prinzen gefunden?«

»In meinen Träumen sind wir sogar vermählt«, sagte das Mädchen und die Signora lachte. »Da leben wir in einem Schloss am Meer mit Hunderten von Bediensteten.«

»Das würde mir auch gefallen. Lädst du mich mal in deine Träume ein?«

Isabella riss den Mund auf, sah an der Fassade des Casa Principessa entlang. »Signora, Sie leben ja längst in einem Schloss!«

Eine Bemerkung, die Signora Lavoratori doch noch zum Lachen brachte, so schön und voll, dass es die Via hinauf- und wieder herunterjagte und alle im Umkreis ansteckte. Isabella und Maria stimmten jedenfalls mit ein und einige Sekunden lang boten die drei einen herrlichen Anblick mit ihrer blendenden Laune. Keiner hätte geahnt, dass sie sich in der nächsten ins Gegenteil wandeln würde. Isabella bemerkte viel zu spät, dass sich die Augen der Signora weiteten, ihr Lachen einem Keuchen wich und sie gegen die Hauswand zurücktaumelte. Erst als ihr der Topf aus den Händen glitt und polternd über das Pflaster kullerte, während sich der Teig darüber verteilte, erstarrte Isabella und Maria schlug sich die Hand vor den Mund. »Signora? Was ist mit Ihnen?«

Doch Aurora Lavoratori gab keinen Laut mehr von sich und sank an der Fassade ihres Casa hinab.