Leseprobe Den Tod in den Händen | Ein Whodunit Cosy Krimi in den 1930ern

1

Als sich die Tür zur Pathologie knarrend öffnete, hoffte Dr. Haley Higgins, dass es sich nicht um eine weitere Leiche handelte. Seit dem Tag, an dem der leitende Gerichtsmediziner Dr. Angus Brown von einer Straßenbahn erfasst und getötet worden war, hatte sich ein Rückstau an Autopsien gebildet. Sie hatte gerade erst das Nähen des Y-Schnitts an dem Körper beendet, der auf dem Tisch lag. Heute sollte der neue Gerichtsmediziner, ein Dr. Peter Guthrie, kommen und in ihren Augen konnte er nicht früh genug hier auftauchen.

„Bleib dort, Bursche!“ Der Besitzer der schroffen Stimme schlug die Tür auf seinem Weg hinein zu. „Verdammter Praktikant, der glaubt, dass ich mich nicht allein zurechtfinde. Es ist nicht mein erstes Mal in Amerika. Ich weiß, wie diese Wilden denken.“

Der Arzt war außergewöhnlich groß mit langen, gertenschlanken Extremitäten sowie spitzen Ellbogen und Knien. Seine Schultern fielen nach vorne, was ihm den Eindruck verlieh, als führen ihn sein Kopf und die nicht zu bändigende Masse an weißen Haaren – beides kam ein, zwei Zentimeter vor dem Rest seines Körpers.

Er ging eine Runde durch die Pathologie und kniff die Augen zusammen, während er die Ausrüstung und das Zubehör betrachtete. Der Mann warf Haley nur einen flüchtigen Blick zu, tat so, als verdiene sie genauso wenig seine Aufmerksamkeit oder einen Kommentar wie die anderen Gegenstände.

Haley bemerkte, dass ihr der Mund offen stand, und schloss ihn ruckartig. Ihr Verstand versuchte, den Mann vor ihr zu verstehen. Warum zum Teufel würde die Krankenhausleitung den verstorbenen Gerichtsmediziner mit einem Mann ersetzen, der offensichtlich so alt war wie die Berge? Und was noch schlimmer war, Haley erkannte den schrulligen englischen Gentleman. Jahre zuvor hatten sie gemeinsam in England an einem Fall gearbeitet.

Haley wischte sich die Hände an ihrem Arztkittel ab, bevor sie den Raum durchquerte. „Dr. Guthrie?“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Dr. Higgins, Ihre Assistentin.“

Der Mann besaß ein Fünkchen der gutes englischen Manieren und erwiderte ihren Gruß. „Wie geht es Ihnen?“ Seine hellen Augen blinzelten, als er sich endlich einen Moment Zeit nahm, sie zu betrachten. „Ein weiblicher Pathologe, hm? Das gibt es nicht häufig. Ich bin bisher nur einem begegnet.“

„Könnte ich das gewesen sein?“, erkundigte sich Haley. „Wir haben uns schon einmal getroffen.“

Seine Lippen bewegten sich. „Ja, in Chesterton. Ich erinnere mich an Sie. Für eine Frau sind Sie groß gewachsen, nicht wahr?“

Haley unterdrückte ein Grinsen. Wenn sie jedes Mal fünf Dollar bekäme, wenn jemand ihre Größe erwähnte – diese oder ihren Beruf – dann wäre sie eine reiche Frau.

„Sie waren mit der Familie Gold von Bray Manor befreundet“, fuhr Dr. Guthrie fort.

„Das ist korrekt.“

„Wie außergewöhnlich, dass wir einander erneut begegnen und diesmal auf dieser Seite des Globusses.“

Haley hätte nicht mehr zustimmen können. „Das ist es.“

Dr. Guthrie drehte sich abrupt um und marschierte zu dem Keramiktisch, der sich unter der grellen Lampe in der Mitte des Raumes befand. Er nickte mit seinem spitzen Kinn in Richtung der blassen Leiche, die dort lag. „Nun gut, erzählen Sie mir etwas zu diesem armen Tropf.“

Haley begann mit ihren Ausführungen. „Männlich, kaukasisch, Mittdreißiger. Einstichwunde. Mit einer dünnen Klinge nach oben gestochen, die rechte Lunge wurde punktiert, ebenso die linke Herzkammer. Er verlor zu viel Blut.“

„Zur falschen Zeit am falschen Ort?“

„Er ist ein mutmaßlicher Schwarzbrenner.“

„Ah. Leider darf man auf amerikanischem Boden nicht trinken.“

Haley stimmte zu. „Momentan ist dies das Gesetz des Landes. Wie dem auch sei, die Verantwortlichen müssen irgendwann jedoch erkennen, dass es ein aussichtsloses Unterfangen ist, das Privatleben der Menschen auf diese Art zu kontrollieren.“

Der Erfolg von fließendem Rum und einer Reihe an Untergrundnachtklubs und Flüsterkneipen bewiesen dies.

Dr. Guthrie grunzte. „Die Prohibition ist dem Untergang geweiht, das ist zumindest meine Vorhersage.“

Haley musste zustimmen, obwohl sie beinahe die Hälfte des Jahres 1931 hinter sich hatten und sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Gesetz bald geändert werden würde.

„Das ist der einzige Grund, weshalb ich zugestimmt habe, die schreckliche Reise über den Atlantik auf mich zu nehmen“, fuhr Dr. Guthrie fort. „Das und die Dreistigkeit meiner Söhne nach Amerika zu ziehen. Diese Idioten heirateten amerikanische Frauen und nun habe ich, vermaledeit noch mal, amerikanische Enkelkinder! Meine Frau Eileen dreht sich vermutlich im Grab um.“

Haley unterdrückte erneut ein Grinsen.

Das Telefon der Pathologie klingelte und Haley nahm den schweren schwarz-goldenen Hörer ab. Es war die Polizei. Nach einer kurzen Unterhaltung legte sie auf und folgte Dr. Guthrie in sein Büro hinter einer Glaswand.

„Es gibt eine Leiche im Bell in Hand in der Union Street“, berichtete Haley. „Möchten Sie, dass ich Sie begleite?“

Dr. Guthrie ließ sich auf den Stuhl hinter dem großen Eichenschreibtisch sinken, seine Knie standen dabei seltsam hervor. Er zeigte mit seinen langen Fingern in Haleys Richtung.

„Sie gehen. Das Wetter in dieser verdammten Stadt ist viel zu warm für meine alten Knochen.“

***

INVESTIGATIVE REPORTERIN SAMANTHA HAWKE, von Sam Hawke, ist die einzige Frau im Einsatz für die Boston Daily Record. Sie lässt sich von den Männern nichts gefallen und diese haben wiederum gelernt, sie zu respektieren, obwohl sie einen Rock trägt. Sie ist furchtlos und beinhart. Ihre blonden Locken und die roten Lippen ziehen Aufmerksamkeit auf sich, aber die klugen Männer halten sich von ihr fern. Jene, die dies nicht tun, lernen das ein oder andere über die tödliche Seite langer Fingernägel und spitzer Schuhe. Abgesehen davon ist Sam verheiratet, obgleich sie ihren nutzlosen Ehemann seit einem Jahr nicht mehr gesehen hat.

Auch wenn keiner außer ihr sie zu Gesicht bekommen hatte, so hatte Samantha diese Autobiografie vor fünf Jahren geschrieben, als sie sich auf eine Auseinandersetzung mit ihrem verantwortlichen Redakteur Archie August vorbereitete. Sie hatte darauf bestanden, dass er sie von einer Sekretärin zur Reporterin beförderte. Der Redakteur meinte, er bewundere ihre Nerven. Er hatte ihr die Frauenkolumne gegeben, welche sie widerwillig annahm. Auch wenn Mr August das nicht wusste, hatte sie eine kleine Tochter, an die sie denken musste und hatte eine fordernde Schwiegermutter geerbt, die sie außerdem unterstützte. Die Frauenkolumne bot eine Bezahlung, die sie nicht ablehnen konnte. Sie klebte die Biografie hinten auf ihr Notizbuch, um sich selbst daran zu erinnern, wie weit sie es gebracht hatte, seit Seth Rosenbaum sie hatte sitzen lassen.

Die Augenbrauen der Hollywood-Granate Marlene Dietrich sind der letzte Schrei. Holen Sie Ihre Pinzetten heraus und formen Sie Ihre Augenbrauen zu rasierklingendünnen Bögen. Ein bisschen Schmerz ist den Glamour wert, meine Damen! Frauen, denen die natürlichen Wölbungen fehlen, zupfen bekanntermaßen ihre ganzen Brauen und zeichnen diese dann selbst mit dem neuen Augenbrauenstift von Maybelline nach.

Samantha störte es nicht, diese Kolumnen zu schreiben, auch wenn sie meistens irrelevant waren. Sie interessierte sich für Mode und Make-up und das Einzige, was sie ärgerte, war, dass sie sich diese Dinge selbst nicht leisten konnte. Die Männer, mit denen sie sich das Büro teilte, wären überrascht zu wissen, dass eine Sicherheitsnadel ihren Büstenhalter zusammenhielt und dass sie die Säume ihrer Röcke schon mehr als einmal hatte verstärken müssen.

Es gab Zeiten, in denen Samantha als einziger weiblicher Reporter über frauenspezifische Themen berichtete, wie beispielsweise über die kürzliche Feier des zehnten Jahrestags des neunzehnten Zusatzartikels der US-Verfassung – dem Wahlrecht für Frauen – die Archie August zum Pfeifen gebracht hatte. Dieser Pfiff war immer ein gutes Zeichen von dem aufgeblähten Redakteur: Es bedeutete, dass ihm gefiel, was er da las. Samantha hatte diese Gelegenheit genutzt, um zu erklären, dass sie über Dinge berichten konnte, die für beide Geschlechter von Interesse waren. Mr August hatte stark an seiner Zigarre gezogen, bevor er schließlich nachgab.

„In Ordnung, ich erlaube, dass Sie in Ihrer Freizeit Geschichten ausfindig machen, aber während Sie im Büro sind, müssen Sie die Frauenseite abdecken.“

„Deal!“

Seitdem hatte Samantha Hawke etwas Erfolg bei der Zeitung verzeichnet, aber was sie benötigte, um als echte Journalistin anerkannt zu werden, war eine große Story.

The Boston Daily Record war in einem dreistöckigen Gebäude in der Water Street untergebracht. Die „Grube“ im zweiten Stock hatte reihenweise Tische aneinander stehen, auf jedem davon stand eine schwarze Remington Schreibmaschine, ein schwarzes Wiegetelefon, ein Stapel Papier, eine gut genutzte Kaffeetasse und ein Aschenbecher. Säulen von grauem Rauch erhoben sich davon und versammelten sich zu einem hypnotisierenden Dunst an der Decke. Die Männer saßen in unterschiedlichen nachdenklichen Positionen oder über ihre Schreibmaschinen gelehnt, von Enthusiasmus inspiriert.

Johnny Milwaukee kam zu Samanthas Schreibtisch geschlendert – dem einzigen ohne Telefon. Nicht gerade wie Rudolf Valentino, aber Johnny hatte Charisma, welches über das nicht vorhandene gute Aussehen eines Hollywood-Stars hinwegtäuschte und immer, wenn er wollte, hatte er eine Frau an seiner Seite. Samantha hatte von Anfang an klargestellt, dass sie nicht für Verabredungen zur Verfügung stand. Sie konnte es sich nicht leisten, ihren Job nur wegen einer schlechten Romanze mit einem Kollegen zu gefährden. Johnny hatte die Ablehnung locker hingenommen. „Ich lasse mich ohnehin nicht auf verheiratete Damen ein.“

Es nervte sie immer noch, dass sie ihm dieses Geheimnis offenbart hatte, aber es schien der einzige Weg zu sein, seine ungewollten Avancen zu unterbinden.

„Hallo, Sam“, grüßte er mit einem Funkeln in den Augen. „Wenig los heute an der Nachrichtenfront, nicht wahr?“

„Ich bin beschäftigt“, entgegnete Samantha und sah kurz von ihrer Schreibmaschine auf.

„Ich meine echte Nachrichten, nicht dieses Frauenzeug.“

„Frauen lesen auch Zeitungen und Anzeigenkunden gefällt es.“

„Ich habe gerade einen Artikel über Al Capone fertiggestellt“, prahlte er. „Er ist angeklagt wegen fünftausend Verstößen gegen die Prohibition und wegen Meineids. Fünftausend! Kannst du dir das vorstellen?“

Samantha schnaubte. „So ziemlich jeder ist schuldig, gegen das Alkoholverbot zu verstoßen. Sie wissen, dass Capone für Morde verantwortlich ist, dennoch haben sie ihn dafür nie verhaftet. Das wären mal Nachrichten.“

„Klärt das draußen!“ Die grummelnde Stimme gehörte zu Freddy Hall, einem Sportreporter mittleren Alters mit einer Meute an Kindern, die er durchfüttern musste. Er war nicht verlegen darum, seinem Missfallen über Samanthas Einstieg in das, was mal einem Männerklub gleichgekommen war, Ausdruck zu verleihen. Er hatte sich bei Archie August beschwert, als er herausgefunden hatte, dass Samantha von ihrer Stelle als Sekretärin befördert wurde. „Wir werden aus einem bestimmten Grund Pressemänner genannt! Und wenn Anstellungen schon schwer zu finden sind, dann ist es eine Sünde, eine Frau in die Grube zu bringen!“

Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Mann die Frauenkolumnen schrieb, und für gewöhnlich wurde der Journalist mit der geringsten Erfahrung darauf angesetzt. Aber Archie August war der Meinung, dass die Seiten wesentlich authentischer von den Leserinnen aufgefasst wurden, wenn sie von einer Frau stammten. Er hatte jede Menge Anzeigenkunden, deren Zahlungen davon abhingen.

Jedoch weigerte er sich, sie ins Impressum aufzunehmen. Die leichte Arbeit der Frauenkolumne verdiente so etwas nicht.

Johnny lehnte sich mit der Hüfte an die Seite von Samanthas Schreibtisch, die Arme hatte er lässig über seiner Weste verschränkt. „Was hältst du von einem Vorschlag?“

Samantha zog eine Augenbraue hoch. „Was für ein Vorschlag?“

„Du backst mir ein paar dieser Rugelach“, erklärte Johnny und massakrierte dabei die korrekte Aussprache, „und ich werde dich das nächste Mal, wenn das Telefon klingelt, mitnehmen.“

Samantha betrachtete ihren Kollegen misstrauisch. Sie hatte nur einmal Rugelach mitgebracht – ein croissantähnliches Gebäck, welches aus Mehl, Butter, saurer Sahne, Zucker und Hefe hergestellt und dann mit Pekannüssen und braunem Zucker gefüllt wurde –, und zwar beim letzten Geburtstag von Mr August. Sie waren teuer, selbst wenn man die Pekannüsse durch Walnüsse ersetzte und weniger von dem braunen Zucker verwendete, aber sie hatte ihren Chef beeindrucken wollen. Und auch wenn sie nie behauptet hatte, sie gebacken zu haben – dafür hatte sie Bina zu danken – hatte sie sich auch nie die Mühe gemacht, diese Annahme zu korrigieren.

„Nicht wahr, Max?“, meinte Johnny und winkte zu seinem Gegenüber Max Owen, der die Bilder für die Zeitung machte, wenn sie unterwegs waren. Im Büro überbrachte er Memos zwischen den Abteilungen und erledigte anfallende Arbeiten.

Max lief rot an, als er Samanthas Blick traf und nickte verhalten.

Johnny drehte seinen Charme auf. „Komm schon, Püppchen. Sei kein Spielverderber.“

„Okay“, gab Samantha langsam nach. Eine tatsächliche Story wäre die höhere Rechnung für die Lebensmittel wert. „Aber zuerst kommt die Geschichte, dann die Rugelach.“

Johnny stemmte sich von Samanthas Schreibtisch weg und klatschte in die Hände. „Spitze! Ich träume seit dem Geburtstag des alten Mannes von diesem verdammten Gebäck. Ernsthaft, ich habe mir sogar überlegt, jüdisch zu werden.“

Johnny nannten Archie August nur dann einen „alten Mann“, wenn der Redakteur nicht in Hörweite war. In seiner Gegenwart hieß ihr Chef bei Johnny immer Archie. Samantha hingegen konnte sich nicht dazu überwinden, ihn anders als Mr August zu nennen.

Samantha versuchte sich wieder auf die Kolumne, die sie gerade schrieb, zu konzentrieren, aber ihr Blick landete auf ihrer ledernen Aktentasche. Sie legte das Notizbuch zurück, fügte einen spitzen Bleistift hinzu und stellte sicher, dass auch die anderen wichtige Gegenstände darin waren, wie beispielsweise eine kleine Taschenlampe und ein roter Lippenstift, der beinahe aufgebraucht war und den Samantha nur sparsam trug. Vom nächsten Gehaltsscheck müsste sie sich einen neuen kaufen.

Samantha schrieb ihren Artikel zu Ende, dann nahm sie die Fototasche. Auf dem Film in ihrer schwarzen Kodak Boxkamera waren Bilder von der gestrigen Spendengala der Bostoner Damen. Das Essen hatte in dem neuen und glamourösen Hotel Manger stattgefunden, einem imposanten modernen Gebäude in der Nähe der North Station, welches alles um sich herum klein wirken ließ. Mrs Warren, ein Mitglied der Bostoner Elite, hatte die Veranstaltung organisiert und Samantha beim Fotografieren freie Hand gelassen. In solchen Momenten, in denen sie mit Reichtum konfrontiert wurde, wünschte sich Samantha, sie besäße eine modischere Garderobe und einen guten Fotoapparat. Sie wusste zwar, dass sie dankbar dafür sein sollte, überhaupt eine Kamera zu besitzen, aber sie konnte nicht anders, als auf die Ensign Cameo neidisch zu sein, die Max Owen nutzte.

Sie nahm den Film heraus und trug ihn aus der Grube. Die Dunkelkammer war den Flur runter, wo sich auch die Setzerei befand, und obwohl es einen funktionierenden Aufzug gab, brauchte dieser länger, als einfach die Treppen zu nehmen.

Köpfe hoben sich, als Samantha an den Glasscheiben der Setzerei lächelnd und winkend vorbeieilte. Sie hasste es, die Männer zu unterbrechen, die damit beschäftigt waren, Zeilen und Drucktypen zu setzen – eine Aufgabe, die höchste Konzentration erforderte, – aber an den fröhlichen Gesichtern, als sie sie sahen, ließ sich erkennen, dass es ihnen nichts ausmachte.

Die Dunkelkammer war ein kleiner rechteckiger, fensterloser Ort, für den man durch zwei Türen gehen musste, um ihn zu erreichen – eine Sicherheitsmaßnahme, um ungewollten Lichteinfall vorzubeugen.

Wenn sie besetzt war, dann hing ein Nicht-stören-Schild an der Tür, aber als Samantha ankam, lag esunten und sie wusste, dass es in Ordnung war, einzutreten.

Sie zog an der Schnur und der Raum wurde in rotes Licht gebadet, die einzige Art, die die Fotografien nicht ruinierte, während sie entwickelt wurden. Samantha begann mit dem Prozess ihre Negative den chemischen Lösungen auszusetzen, welche sie zuvor in Schalen gegeben hatte.

Während sie darauf wartete, dass sie entwickelt wurden, sah sie sich die anderen Bilder an, die an einer Reihe von Schnüren hingen, die durch den Raum gespannt waren. Es gab Aufnahmen von politischen Protesten, dem Bau eines neuen Bürogebäudes und Freds Fotos von einem Baseballspiel im Fenway Park.

Sobald Samanthas Bilder so weit waren, hängte sie diese an den noch verbliebenen Platz an den Seilen. Sie hatte ein paar gute Aufnahmen von Mrs Warren gemacht. Die Dame würde damit zufrieden sein.

Samantha kehrte an ihren Schreibtisch zurück und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Sie sah auf ihre Uhr und seufzte. Immer noch drei Stunden bis ihre Schicht zu Ende war. Die Zeitung hatte ein Abo für mehrere Frauenmagazine, eine Ausgabe, von der sie Mr August überzeugt hatte, dass sie nötig war für ihren Job. Samantha begann, diese nun auf der Suche nach Ideen durchzublättern. Wenn ihr sonst nichts einfiel, dann könnte sie immer noch über praktische Rezepte für die Wirtschaftskrise schreiben. Außerdem stand der Tag der Unabhängigkeit vor der Tür. Sie könnte ihre Idee damit verbinden – einfache Feiertagsgerichte und wie man aus einem Wintergewand ein hübsches Sommerkleid schneidert. Ein bekanntes Sprichwort besagt, man solle über das schreiben, was man kennt und das meiste aus einem Kleiderschrank herauszuholen, war eine von Samanthas Spezialitäten.

Sie legte die Finger auf die Tastatur und begann in dem Moment zu tippen, als Johnnys Telefon klingelte. Samantha starrte ihn an, als er dranging.

„Ja? Ja? Jep. Danke.“ Er grinste sie an. „Ich habe einen Hinweis. Eine Leiche im Bell in Hand.“

Samantha schnappte sich ihre Tasche.

2

Eine kleine Menge hatte sich bereits vor der Taverne versammelt, als Haley ihren 1929 DeSoto am Randstein parkte. Der rot- und cremefarbene, kastenförmige Sedan mit Flachdach hatte über die letzten paar Jahre seinen Glanz verloren, aber Haley war eine der wenigen Frauen, die ein eigenes Auto besaßen und darauf war sie stolz. Gepaart mit dem zweifach verchromten Kotflügel, den großen runden Scheinwerfern und den cremefarbenen Rädern mit frei liegenden Speichen und aufpumpbaren Reifen, empfand Haley den Wagen als recht schick. Sie hatte etwas Geld geerbt, als ihre Eltern starben, da ihr Vater zu seiner Zeit ein versierter Investor gewesen war, von dem sie das ein oder andere gelernt hatte. Haley hatte ebenfalls investiert und hatte die Weitsicht und den Instinkt besessen, sich von der Börse zurückzuziehen, bevor sie kollabiert war.

Die Presse bekam durch ihre Kontakte bei der Polizei schnell Wind von jedem neuen Verbrechen und auch bei diesem hier war es nicht anders. Männer in Leinenanzügen und Strohhüten standen zusammengedrängt, jeder Reporter mit einem Notizblock oder einem Fotoapparat in der Hand. Haley musste sich eingestehen, dass ihre Beharrlichkeit, hier in der starken Hitze der Sonne zu warten, beeindruckend war. Sie bemerkte eine einsame weibliche Präsenz unter ihnen, die sich ihren Weg nach vorne bahnte.

Der älteste Pub in Boston, die Bell in Hand Taverne lag an der Union Street, wo diese auf die kleine Gasse der Marshall Street traf. Die ungewöhnliche Architektur des vierstöckigen Gebäudes aus rotem Backstein erinnerte Haley an ein großes Stück Kuchen, das oben, wo sich die Taverne befand, abgerundet war. Von vorne erzeugte die Ansicht die Illusion einer Säule, aber ein Schritt in jede Richtung und die haarnadeldünnen Flügel spannten sich nach außen. Heute waren die Fenster entlang der Union Street von Einschusslöchern durchzogen. Haley verzog das Gesicht. Eine weitere Bandenschießerei.

Zwei Polizisten standen am Eingang, um die Zivilisten und Journalisten am Betreten zu hindern.

Die lechzenden Reporter wussten, dass Haley die Assistenzärztin der Gerichtsmedizin war und als sie sie sahen, begannen sie zu schreien:

„Dr. Higgins, wo ist der Gerichtsmediziner?“

„Hängt die Schießerei mit dem Bandenmord von letzter Woche zusammen?“

„Was denken Sie über die Prohibition?“

Haley hielt den Kopf gesenkt und nickte in stummem Dank den Polizisten zu, die sie hineinließen.

Mitarbeiter der Polizei – einer machte Fotos und füllte den Raum mit Rauch, als das Blitzpulver verbrannte – hatten sich um einen männlichen Körper ohne Hut versammelt, der über einen Tisch gebeugt lag. Glassplitter von den Fenstern säumten den Holzboden, Glasgefäße hinter der großen Bar waren zerbrochen und der Spiegel hinter dem Tresen, wo der blass und unter Schock Kellner stand, hatte Risse, die sich wie ein Spinnennetz darüber zogen.

Detective Cluney winkte ihr zu. „Hier drüben.“ Er ging gemeinsam mit seinen Untergebenen zur Seite, um ihr Platz zu machen.

„Ich habe den Neuen erwartet“, meinte er. „Guthrie, nicht wahr?“

„Er ist gerade erst angekommen. Hat mich dieses Mal allein geschickt. Ich hoffe, dass das in Ordnung ist?“

Der Detective zuckte mit den Schultern. Haley wusste, dass er jemanden brauchte, der den Tod bestätigte und wenn das eine Frau sein musste, dann war das eben so.

Sie stellte ihre schwarze Arzttasche auf einen der Tische. Das Opfer war nach vorne rechts gelehnt, weg von den Fenstern. Eine hellrote runde Wunde schmückte seine Weste links oben an seiner Brust mit einer korrespondierenden Wunde hinten an seiner Schulter. Der Körper war warm und beweglich – die Leichenstarre würde erst noch einsetzen – und Haley schätzte, dass die Schießerei in der letzten Stunde stattgefunden hatte. Detective Cluney bestätigte dies schnell.

„Der Typ hinter der Bar hat die Polizei gerufen.“

Haley blickte kurz in die angegebene Richtung, zufrieden damit, dass der Barkeeper – oder wohl eher „der Typ hinter dem Tresen“, da Alkohol nicht angeboten wurde – hervorgekommen war. Er saß nun auf einem der Stühle, den Kopf zwischen die Knie gesenkt. Durch Schock verursachte Übelkeit war normal.

„Unglücklicher Zivilist“, erklärte Detective Cluney, „oder ein Bandenangriff?“

„Hat der Mann hinter der Bar schon seine Aussage gemacht?“, erkundigte sich Haley.

Detective Cluney zog sein Notizbuch zurate. „Der Name laute Mike Tobin. Hat gesagt, dass das Opfer ‚Tee‘ bestellte und sich dann an diesen Platz setzte. Tobin machte gerade hinter der Bar den Abwasch, als er die Schüsse hörte. Er legte sich auf den Boden und hat nichts gesehen, bis die Schüsse aufhörten. Als er den Mut hatte, wieder aufzustehen, sah er unser Opfer hier über dem Tisch liegen.“

„Kennen Sie die Identität?“

Detective Cluney drehte den Hals. „Wir haben seine Taschen durchsucht. Er trug nichts bei sich, außer ein paar Rechnungen.“

Haley sah sich in der leeren Taverne um. „Gibt es noch weitere Zeugen?“

„Tobin sagte, dass das Geschäft schleppend lief. Nur dieser Typ war hier im Teehaus.“

Haley neigte den Kopf. „Ist das wirklich Tee in der Tasse?“

Cluney gluckste. Sie wussten beide, dass „Tee“ ein Euphemismus für Whiskey war.

„Ich habe selbst daran gerochen. Seltsamerweise scheint es wirklich Tee zu sein.“

Haley murrte. Es war keine Frage, Tobin hatte die Tasse ausgetauscht, bevor er die Polizei rief. Sehr wahrscheinlich waren alle Beweise für Alkohol auf dem Grundstück zuvor ebenfalls beseitigt worden.

Detective Cluney schien ihre Gedanken zu lesen. „Meine Leute haben bisher nichts Illegales bei ihrer Durchsuchung des Gebäudes gefunden.“

Ein neugieriger Blick zeigte ihr, dass einige Beamten eine Show daraus machten, sich aufzuteilen und alles abzusuchen.

Detective Cluneys Weste war über seinen weichen Bauch nach oben gerutscht. Er zog fest daran. „Sie haben Patronenhülsen auf dem Gehweg gefunden. Der Fall ist glasklar, würde ich behaupten. Eine Hinrichtung im Stil von Capone. Das Opfer hat sich wohl mit einem Bandenchef angelegt.“

Haley war beinahe so weit, dies zu bestätigen, aber dann fiel ihr Blick auf die Einschusslöcher im Fenster. Sie zählte diese, es waren fünf Stück: Eines lag im richtigen Winkel zum Opfer, zwei davor und eines darüber. Haley nahm eine Lupe aus der Tasche und trat näher heran, untersuchte jedes Loch genau.

„Was tun Sie?“, erkundigte sich Detective Cluney.

„Die Krater der vier Löcher zu beiden Seiten dieses Tisches zeigen nach innen, aber die Scherben von Einschuss, der unser Opfer getötet hat nach außen.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie glauben, dass die Kugel, die diesen Mann getötet hat, von innerhalb des Bell in Hand abgefeuert wurde?“

„Ja, Detective“, meinte Haley. „Das ist es, was ich damit sagen will.“ Sie bot ihm die Lupe an. „Kommen Sie, sehen Sie sich das an.“

Dies tat der Detective auch und nachdem er jedes Loch einen Augenblick lang in Augenschein genommen hatte, kehrte er zu dem Einschuss zurück, der zu der Leiche passte.

„Na, da brat mir doch einer ’nen Storch.“

„Sehen Sie den Unterschied?“

„Das tue ich, Dr. Higgins.“

Haley nahm ihre Arzttasche. „Ich werde mal nachsehen, wie es Mr Tobin geht. Er sieht nicht gut aus.“

Detective Cluney betrachtete den jungen Mann stirnrunzelnd. „Ich denke, dass ich mich ebenfalls mal mit ihm unterhalten sollte.“

Das sommersprossige Gesicht von Mr Tobin lief dunkelrot an, als sich die beiden näherten. Haley redete schnell, um dem Verhör von Detective Cluney zuvorzukommen.

„Wie geht es Ihnen, Mr Tobin? Sie stehen unter Schock.“

„Es fällt mir etwas schwer, zu atmen“, gestand dieser. „Es geschieht nicht jeden Tag, dass man mitbekommt, wie jemand um die Ecke gebracht wird.“

Der missmutige Ausdruck in den Augen von Detective Cluney ließ keinerlei Mitleid erkennen. „Sind Sie im Besitz einer Waffe, Mr Tobin?“

„W-was?“

„Eine Schusswaffe?“, wiederholte der Detective ungeduldig. „Besitzen Sie eine?“

„Nein. Nein, das tue ich nicht.“

„Gibt es eine Pistole im Gebäude?"

„Nein. Hören Sie, wovon reden Sie?"

„Wir nehmen an, dass die Kugel, die unseren Unbekannten hier getötet hat, von innerhalb des Bell in Hand abgefeuert wurde.“

Entweder war Mr Tobin wahrhaftig überrascht oder ein sehr guter Schauspieler. Er schüttelte beharrlich den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich schwöre, dass ich allein mit diesem Kerl war.“ Sein Blick schoss zur Decke. „Moment mal. Ich erinnere mich daran, dass ich etwas gehört habe. Es hätte ein Schuss sein können. Ich dachte, dass es die Fehlzündung eines Automobils sei. Mein Tin Lizzy macht das ständig. Das ist wirklich peinlich.“ Er grinste verschmitzt. „Besonders, wenn ich hübsche Gesellschaft habe.“

„Sie sind ein echter Scherzkeks“, meinte Detective Cluney. „Und auch in schräge Geschäfte verwickelt, würde ich mal behaupten.“ Dann schrie der Detective durch den Raum: „Peters! Nehmen Sie Mr Tobin hier für einen Besuch auf die Wache mit.“

„Augenblick mal“, protestierte Mr Tobin. „Ich habe nichts getan!“

Detective Cluney schnaubte. „Dann haben Sie auch keinen Grund zur Sorge.“

Haley beobachtete, wie ein empörter Mr Tobin am Ellbogen nach draußen und zu dem Polizeiwagen geführt wurde, der in der Marshall Street parkte. Gerade als sich die Tür öffnete, entdeckte Haley den wartenden Leichenwagen.

Im Pub beriet sich Detective Cluney mit einem seiner Beamten. Als Haley zu ihnen trat, sagte er: „Hier im Inneren wurden keine Patronenhülsen gefunden, aber sie haben draußen vier Stück eingesammelt.“

„Nicht fünf?“

Der Detective bestätigte dies mit einem abgehakten Kopfschütteln.

„Der Mörder muss sie aufgehoben haben“, meinte Haley, die nun vollständig überzeugt war, dass der Tote von innerhalb der Taverne erschossen worden war.

Der Detective hob die Stimme, um seine Männer zu befehligen: „Seht hinter der Bar nach und in Tobins Schließfach.“ An Haley gewandt, fügte er hinzu: „Ich habe Peters darum gebeten, Tobins Taschen zu durchsuchen. Ich werde es Sie wissen lassen, falls er etwas findet.“

Haley verließ die Gaststätte durch die Tür in der Marshall Street, um den Fahrer des Leichenwagens herbeizuwinken und ihn anzuleiten, während er und einer der Polizisten die Bahre mit dem Toten nach draußen rollten.

So wie Haley es erwartet hatte, verließ Detective Cluney die Kneipe in Richtung Union Street, um sich der Journalisten anzunehmen. Er würde alles darauf schwören, dass er diesen Teil seiner Arbeit hasste, aber Haley vermutete, dass er die ganze Aufmerksamkeit heimlich genoss.

Haley entschied sich, um das Gebäude herumzugehen, anstatt hindurch, da sie den Reportern ausweichen wollte, auch wenn sie dadurch länger zu ihrem Wagen brauchen würde. Sie gab sich sogar noch mehr Mühe, indem sie die Union Street überquerte und damit einen größeren Bogen um die Journalisten zog. Sie hatte bereits viele Begegnungen mit fordernden und unsensiblen Redakteuren gehabt und tat alles, was sie konnte, um diese zu meiden.

Haley erreichte ihren DeSoto, schloss die Tür auf und wollte gerade einsteigen, als sie eine weibliche Stimme nach sich rufen hörte.

„Dr. Higgins!“

Haley war überrascht, die Reporterin, die sie vorhin entdeckt hatte, zu sehen, und schnaubte frustriert. Warum war sie nicht bei den anderen geblieben, um Detective Cluney zu befragen?

„Ja?“

„Ich bin die investigative Journalistin Sam Hawke. Samantha, um genau zu sein, aber Sie wissen ja, es ist eine männer-dominierte Welt.“

Haley nickte. Dies war die Realität, die sie und die Reporterin teilten.

„Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?“

Haley betrachtete die Frau, deren Strohhut sich scharf zur rechten Seite ihres Kopfes neigte. Auch wenn das Blond an ihren Schläfen feucht vor Schweiß war und natürliche rote Flecken ihre cremigen Wangen färbten, war sie dennoch attraktiv. Ihr Viskoseanzug passte sich gut an ihre zierliche Sanduhr-Figur an, aber er war offensichtlich schon älter. Ein Ausdruck, der an Verzweiflung herankam, blitze in ihren großen Augen auf. Haley brachte es nicht übers Herz, sie abzuweisen.

„Ich habe es eilig, also wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit mir zu fahren, kann ich Sie auch bei der Zeitung aussteigen lassen. Um welche handelte es sich denn?“

Miss Hawke ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und quetsche ihre Kuriertasche zu sich in den Wagen. „Der Daily Record.“

Haley checkte den Rückspiegel und gab ein Zeichen, bevor sie eine Kehrtwendung machte. Sie warf ihrer unerwünschten Beifahrerin einen Blick zu.

„Also, Miss Hawke, was würden sie mich denn gern fragen?“