Kapitel eins
Hayden
Sanfte Klänge klassischer Musik lockten mich. Aber so schön die eindringlichen Töne auch waren, sie taten weh. Sie dröhnten in meinem Schädel und verstärkten das Hämmern dort.
Ich rollte mich auf den Rücken. Die Bewegung ließ den Schmerz wieder aufleben. Überall, von den Zehen bis in die Haarspitzen. Ich fühlte mich, als wäre ich von einer Welle erfasst und gegen einen Felsen geschleudert worden.
Bei diesem Gedanken prasselte die Erinnerung auf mich ein. Die Fahrt vom Campus nach Hause mit Easton, Maddox und Cáel. Der Unfall. Nur dass es kein Unfall gewesen war.
Ich riss die Augen auf. Auch diese Bewegung ließ meinen Schädel beinahe zerspringen. Denn auch wenn das Licht im Raum schwach war, stach es trotzdem in meine Augen. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Schmerz in meinem Herzen. Eine Million Fragen schossen mir durch den Kopf. Waren die Jungs in Ordnung? Waren sie auf der Suche nach mir? Wer hatte mich entführt?
Ich wusste, es mussten die Corbetts sein. Bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um. Bilder von Dexter und Hal flammten in meinem Kopf auf. Dann folgte die Übelkeit, und ich war mir nicht sicher, ob dies an den Gedanken an den Alpha und seinen Sohn lag oder auf meine Kopfverletzung zurückzuführen war.
Langsam nahm ich den Raum um mich herum wahr. Verwirrung machte sich breit. Er war schön. Zu schön. Ich lag in einem riesigen Himmelbett, das aus Mahagoniholz zu sein schien. In die Pfosten waren Bilder von Drachen und anderen magischen Kreaturen geschnitzt. Die Laken waren genauso schön wie die in meinem Bett zu Hause.
Zu Hause.
Das war es, wozu Cillians Anwesen für mich geworden war. Endlich ein Ort, an den ich gehörte. Wo ich meine Familie gefunden hatte. O Gott, ich konnte mir vorstellen, wie verängstigt er und Knox sein mussten. Wie wütend.
Ich schob mich ein wenig zurück, lehnte mich gegen die Kissen und stellte erleichtert fest, dass ich noch all meine Kleider mit Ausnahme der Schuhe trug. Doch als ich mir den Raum genauer ansah, vertiefte sich mein Stirnrunzeln. Die satten Rottöne der Dekoration und die kunstvollen Gemälde waren mir völlig unbekannt.
Ich schwang die Beine über die Bettkante und setzte mich auf. Schwindel überkam mich, und ich legte die Hand auf das Bett, um mich zu stabilisieren. Verdammt. Ich hatte definitiv eine Gehirnerschütterung. Das würde es ziemlich schwierig machen, mich gegen denjenigen zu verteidigen, der mich entführt hatte.
Ich nahm mir Zeit, den Schwindel zu bekämpfen, und konzentrierte mich auf meine Atmung. Vier Sekunden ein. Vier Sekunden aus. Dies wiederholte ich, bis der Schwindel einigermaßen nachgelassen hatte.
Nachdem ich wieder halbwegs klar sehen konnte, sah ich mich weiter um. Zur rechten Seite des Bettes waren zwei Türen, die offen standen. Durch eine konnte ich Fliesen sehen, was wohl bedeutete, dass sich dort das Badezimmer befand. Hinter der anderen herrschte Dunkelheit, was mich vermuten ließ, dass dahinter ein begehbarer Kleiderschrank lag.
In einer Ecke des großen Raumes standen eine Couch und ein paar Stühle. Und ihnen gegenüber befand sich eine Fensterfront. Die Fenster mussten mindestens drei Meter hoch sein. Sie waren mit Eisen eingefasst und liefen oben spitz zu, sodass sie aussahen, als wären sie dem Mittelalter entsprungen. Tatsächlich fühlte sich der ganze Ort an wie ein Schloss aus einer anderen Zeit.
Mir lief ein Schauer über den Rücken. „Eins nach dem anderen“, flüsterte ich mir zu.
Tränen brannten mir in den Augen, als ich aufstand. Ich wollte nicht allein sein. Ich wollte meine Jungs. Alle fünf. Sogar die beiden, die vielleicht nicht wirklich von mir beansprucht werden wollten. Ich hätte alles gegeben, sie an meiner Seite zu haben. Aber das hätte auch sie in Gefahr gebracht.
Zittrig holte ich Luft und begann das Bett zu umrunden. Ich hielt inne, als ich die einzige geschlossene Tür im Raum wahrnahm. Ich ging zu ihr hinüber und drückte mein Ohr an das dicke Holz. Außer dieser verdammten klassischen Musik war nichts zu hören. Sosehr der Raum, in dem ich mich befand, auch einem alten Schloss ähnelte, musste es moderne Akzente geben, etwa in die Decke eingelassene Lautsprecher.
Ich legte eine Hand auf den Türknauf. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen, während ich mit mir rang. Öffnen oder nicht öffnen?
Schließlich versuchte ich, den Knauf zu drehen. Er blieb fast augenblicklich stecken. Verriegelt.
Eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung durchströmte mich. Ich war mir nicht sicher, ob ich bereit war, demjenigen gegenüberzutreten, der mich in seiner Gewalt hatte. Besonders dann, wenn es sich um Dexter oder Hal vom Corbett-Clan handelte.
Ich schluckte die Galle hinunter, die mir die Kehle hochkroch, und zwang meine Beine, sich zu den Fenstern an der hinteren Wand zu bewegen. Es waren drei. Jedes von ihnen war von dicken Samtvorhängen eingefasst, deren tiefes Rot mich an die Farbe von Blut erinnerte.
Es war schwer, draußen etwas zu erkennen, denn das Licht war schwach. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein. Aber was ich erkannte, waren Berge. So viele zerklüftete Gipfel überall um mich herum.
Das Blut rauschte in meinen Ohren, und meine Halsschlagader pulsierte heftig. Sicher, es gab Berge in Nordkalifornien, aber laut den Bildern, die ich im Internet gesehen hatte, wirkte die Gegend irgendwie anders. Also, wo zum Teufel war ich?
Ich trat näher an die Fensterscheibe heran, sodass ich mehr von dem Gebäude selbst erkennen konnte. Ich hatte recht gehabt, was die Schloss-Atmosphäre anging. Mit seinen steinernen Türmen und Zinnen wirkte das Ding, als käme es direkt aus dem 15. Jahrhundert.
Fast erwartete ich, unten einen Burggraben zu sehen, aber da waren nur scharfe Felsen. Mir wurde flau im Magen. Der Boden war so weit weg. Selbst wenn ich das verdammte Fenster aufbekäme, käme der Versuch hinauszuklettern einem Todesurteil gleich.
Während ich auf der Innenseite meiner Wange kaute, versuchte ich zu erkennen, was hinter dem Schloss lag.
Wo auch immer ich war, es musste irgendjemanden geben, der mir helfen konnte. Jemanden, der das Richtige tun und zumindest die Polizei rufen würde. Vielleicht würde man mich hören, wenn ich laut genug schrie.
Ich kletterte auf die gepolsterte Fensterbank und griff nach dem eisernen Riegel. In dem Moment, in dem meine Finger das Metall berührten, traf mich ein brutaler Stromschlag. Ich kreischte, sprang von der Bank und presste die Hand auf meine Brust.
Eine neue Welle des Schmerzes durchfuhr mich. Ob sie von dem Schlag oder noch vom Unfall kam, wusste ich nicht.
Ein „Tsss“ durchbrach die sanfte klassische Musik, und ich wirbelte herum.
Eine in Schatten gehüllte Gestalt erhob sich von einem Stuhl in der Ecke. „Das würde ich nicht tun. Es ist geschützt, bana-phrionnsa.“
Und als er ins Licht trat, zuckte ich zusammen.
Kapitel zwei
Hayden
Ich musste einige Male blinzeln, bis ich sein Gesicht erkennen konnte. Er trug nicht den üblichen Anzug, sondern eine Hose, einen Kaschmirpullover und ein Hemd mit Kragen. Diese Kleidung war sein Versuch, locker zu wirken, vermutete ich. Sein dunkles Haar mit den weißen Strähnen hatte er dennoch perfekt gestylt, und die gebräunte Haut stand in scharfem Kontrast zu den strahlend weißen Zähnen. Zähne, die mich an das Gebiss eines Hais erinnerten.
Ich brauchte einige Augenblicke, um dem Gesicht einen Namen zuzuordnen. Es war Wochen her, dass wir Ärger mit dem Rat gehabt hatten. Ich hatte beinahe vergessen, dass sie jemals ein Thema gewesen waren, mit dem man sich herumschlagen musste. Aber hier stand Nolan, ihr De-facto-Anführer. Der Gerissenste von allen.
Wie ferngesteuert machte ich mit dem rechten Fuß einen Ausfallschritt, hob die Fäuste und nahm Kampfhaltung ein.
Nolan gluckste leise und amüsiert. „Ich werde dir nicht wehtun, bana-phrionnsa.“
Ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Das hast du schon.“
Mein Kopf hämmerte noch immer von dem Unfall, und ich wusste, dass meine Rippen zumindest geprellt waren, denn es tat weh, wenn ich zu tief einatmete. Und das war nicht annähernd so schlimm wie der emotionale Schmerz. Ich spürte die aufsteigenden Tränen, als ich sie mir vorstellte. Cillian mit seinem berechnenden Blick und seiner heimlichen Zärtlichkeit. Knox mit seinem unbekümmerten Charme und seiner Zugänglichkeit. Cáels brutal wirkendes Äußeres und seine einlullende Wärme, wenn es um mich ging. Maddox, der mit seiner kühlen Distanz sein gebrochenes Herz verbarg. Und sogar Easton mit seinen bröckelnden Mauern. Gott, ich wollte sie in diesem Moment.
Und Nolan hatte mich ihnen weggenommen.
Er hob die Hände in einer beschwichtigenden Geste. „Mein Einsatzteam war übereifrig. Ich entschuldige mich dafür.“
„Übereifrig?“, keifte ich. „Sie hätten jemanden umbringen können. Jemanden, den ich liebe.“
Denn ich liebte sie alle. Sogar Maddox und Easton, die meine Gefühle nicht erwiderten. Ich würde sie immer lieben, auch wenn sie niemals fähig wären, dies zu erwidern.
Ein Ausdruck des Ekels zog über Nolans Gesicht, aber er versuchte ihn schnell zu verbergen. „Das Team hatte den Auftrag, den Schaden im Rahmen zu halten. Sie wurden gemaßregelt.“
Ich wurde ganz steif, während ich den Mann mir gegenüber musterte. Ich hatte meine Kampfhaltung nicht aufgegeben, weil man in der Nähe einer Schlange wie Nolan nicht eine Sekunde lang unachtsam sein durfte. „Bedeutet gemaßregelt, dass du sie auf der Stelle abgeschlachtet hast?“
Seine Lippen zuckten. „Hättest du ein Problem damit?“
„Nein“, sagte ich ehrlich. „Weil sie die Dreckskerle sind, die einen Job von dir angenommen haben und über Leichen gehen würden.“
Nolans Augen blitzten golden auf, bevor sie wieder diesen trüb braunen Farbton annahmen. „Ich mag dieses Feuer.“
Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Erinnerungen an Dexters Drohungen, mich als Gebärmaschine zu benutzen, kamen mir in den Sinn. „Wenn du auch nur daran denkst, mich zu berühren, werde ich dir den Schwanz abreißen.“
Nolan lachte auf. „Tut mir leid, bana-phrionnsa. Du bist nicht wirklich mein Typ.“
Meine Schultern entspannten sich ein wenig. „Was zum Teufel willst du dann von mir? Willst du mich an den Höchstbietenden verkaufen, so wie du es schon einmal versucht hast?“
Er seufzte und zupfte einen unsichtbaren Fussel von seinem Pullover. „Ich will dir helfen.“
Ich schnaubte. „Von einer Klippe zu springen?“
„Ich meine es ernst. Du verstehst nicht, was du bist.“
Ich verengte die Augen. Was für ein Spiel spielte er da? „Ich weiß, dass ich ein Drache bin. Die Jungs haben mir alles erklärt.“
Er rollte mit den Augen. „Diese mickrige Farce einer Horde hat nicht die geringste Ahnung, was ihnen in den Schoß gefallen ist.“
Wut wallte in mir auf. „Beleidige meine Gefährten nicht. Sie sind mehr Mann und Drache, als du es je sein wirst. Denn sie wissen, dass Freundlichkeit keine Schwäche ist. Und dass es einen zum größten Feigling von allen macht, jemandem seinen Willen aufzuzwingen.“
Röte kroch Nolans Kehle hinauf, während er darum kämpfte, seine Atmung unter Kontrolle zu halten. „Ich versuche nur, dir die Wahrheit zu sagen. Ich will dir die Informationen geben, die du brauchst, um das zu werden, wozu du bestimmt bist.“
„Genug mit den kryptischen Warnungen“, knurrte ich. „Sag mir einfach, was du zu sagen hast, und dann lass mich zurück zu meinen Gefährten.“
Nolans Augen blitzten wieder auf. Aber diesmal erkannte ich mehr als nur goldenes Aufflackern. Es war Dunkelheit, etwas Böses, das mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Und da wusste ich, dass er überhaupt nicht vorhatte, mich gehen zu lassen, egal, was er sagte.
„Es ist keine kurze Geschichte, bana-phrionnsa. Und du musst essen. Komm.“
Nolans Stimme war so ruhig, dass ich ihm den lässigen Ton fast abgekauft hätte, wenn ich nicht gesehen hätte, was sich dahinter verbarg. Aber das hatte ich.
Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche und entriegelte die Tür. „Komm. Du bist hier keine Gefangene.“
„Sag das dem Fenster, das mir einen Stromschlag verpasst hat“, spottete ich.
Nolan verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. „Eine Vorsichtsmaßnahme. Wir wollen ja nicht, dass du dich verletzt.“
„Nein, das würdest lieber du übernehmen“, brummte ich.
„Genug mit dem Drama-Queen-Gehabe“, keifte er. „Ich zeige mehr Freundlichkeit, als ich sollte, nachdem du so respektlos warst.“
Da war sie also, die Wahrheit. Der echte Nolan. Derjenige, der glaubte, dass jeder sich vor ihm verbeugen und ihm die Füße küssen sollte. Ich starrte ihn lange an, während er seine Miene wieder unter Kontrolle brachte.
„Du bist keine Gefangene“, wiederholte er. „Du kannst dich im Schloss frei bewegen. Die meisten Menschen würden töten, um an einem Ort wie diesem zu leben. Alles, was man sich erträumt, ist in Reichweite. Ein hochmodernes Fitnessstudio und ein Pool. Sauna und Dampfbad. Kinosaal. Spielzimmer. Bibliothek. Such dir etwas aus.“
Ich hing immer noch an dem Wort „leben“ fest. Nolan hatte die Absicht, mich hierzubehalten, zumindest für eine ganze Weile. Und wo zum Teufel war hier überhaupt?
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt setzte die Panik richtig ein. Ich versuchte, langsam zu atmen, um das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das mich überkam. Ich musste die Sache clever angehen. Um zu entkommen, brauchte ich Informationen. Und der einzige Weg, sie zu bekommen, war, mit Nolan zu reden.
„Wo sind wir hier?“, fragte ich schließlich.
„Du stellst nicht die richtigen Fragen, bana-phrionnsa. Du solltest es besser wissen.“
Ich funkelte Nolan an.
Er lachte nur und öffnete die Tür. „Komm mit, wenn du die Wahrheit erfahren willst. Sie wird alles verändern.“
Kapitel drei
Hayden
Ich stand in der Tür, blickte erst nach links, dann nach rechts. Im Flur lag ein dicker Perserteppich auf dem Dielenboden, und an beiden Enden stand ein Mann in schwarzem Anzug Wache. Ich konnte gerade noch die Kopfhörer der Funkgeräte erkennen, die sie in den Ohren trugen. Security. Na toll.
„Komm mit, bana-phrionnsa“, sagte Nolan, als wäre ich ein Kind in seiner Obhut.
Ich kämpfte gegen den Drang an, ihm die Zunge rauszustrecken, und trat in den Korridor. Mir fiel auf, dass er mir keine Schuhe angeboten hatte, nicht einmal Hausschuhe. Auch wenn Nolan immer wieder behauptete, ich sei keine Gefangene, war ich es doch.
Bei diesem Gedanken überkam mich echte Angst, während ich ihm in einigem Abstand folgte. Wenn wir nicht mehr in Kalifornien waren, wie würden die Jungs mich finden? Ich versuchte mir einzureden, dass Cillian mehr Ressourcen hatte, als ich mir je vorstellen konnte. Und ich wusste, er würde sie nutzen, um mich ausfindig zu machen. Bis dahin musste ich lediglich am Leben und unverletzt bleiben.
Während Nolan mich den Flur entlangführte, sah ich mich aufmerksam um. Da waren unzählige Räume, die meisten mit geschlossenen Türen. Waren das leere Schlafzimmer? Oder beherbergten sie weitere Sicherheitsleute? Ich musste anfangen, mir Gesichter und Orte einzuprägen, um eine Vorstellung von der Anzahl meiner Bewacher oder möglichen Fluchtwegen zu bekommen.
Nolan erreichte eine breite Treppe, hielt aber nicht an, um auf mich zu warten; er stieg sie einfach hinunter. In jedem Stockwerk, das wir erreichten, spähte ich in die Flure. Es war überall das Gleiche. Am Ende eines jeden Ganges standen Wachmänner.
Zwei pro Stockwerk, auf fünf Etagen. Zehn Wachen bis jetzt. Zehn zu eins – meine Chancen standen nicht gut.
Sie wurden noch schlechter, als ich die unterste Etage erreichte. Zwei Wachen waren an der Eingangstür postiert, und weitere standen herum. Alle schienen angespannt. Und das wäre nicht nötig gewesen. Ich war ihnen nicht gewachsen, schon gar nicht barfuß und ohne irgendeine Waffe. Es fühlte sich beinahe so an, als würden sie auf etwas warten.
Dann begriff ich: Sie erwarteten meine Jungs. Sie warteten darauf, dass sie kämen, mich zu holen. Und meine Jungs hatten keine Ahnung, dass sie hier drinnen von einer Armee empfangen würden.
Mir kam die Galle hoch, als mir klar wurde, wie sehr sie in der Unterzahl sein würden. Das konnte nur eines bedeuten. Ich musste einen Weg nach draußen finden, bevor sie herausfanden, wo ich war.
„Hayden!“, schnauzte Nolan.
Mir wurde klar, dass ich einen besonders riesigen Wächter angestarrt hatte, während sich meine Gedanken überschlagen hatten. Ich riss mich aus meiner Benommenheit und eilte hinter Nolan her.
„Das ist das Esszimmer“, sagte Nolan und spielte den vollendeten Gentleman. „Du kannst es jederzeit benutzen. Setz dich einfach, und Antoine wird deine Bestellung aufnehmen. Heute Morgen habe ich mir die Freiheit genommen, für dich zu bestellen.“
Als wir in das prunkvolle Esszimmer traten, staunte ich über den Anblick, der sich mir bot. Es gab genug Essen, um ein ganzes Regiment zu verköstigen. Platten mit frischem Obst standen neben Schüsseln mit Joghurt und Müsli. Dazu gab es Eier, Wurst, Speck und gebratenes Gemüse sowie weitere Platten mit Pfannkuchen und Waffeln mit drei Sorten Sirup, Schlagsahne und Schokoladenstückchen.
„Bitte, setz dich“, wies Nolan mich an.
Es war keine Bitte, aber ich war zu müde, um mich mit ihm darüber zu streiten. Mein Magen knurrte beim Anblick des ganzen Essens.
„Wie lange war ich weggetreten?“, fragte ich und nahm mir etwas von den Eiern und eine Waffel.
Nolan entschied sich für Obst und Joghurt. „Etwas weniger als zwanzig Stunden.“
Ich riss die Augen auf. „Zwanzig Stunden?“
Nolan schenkte sich einen Kaffee ein. „Wenigstens hast du deinen Schlaf nachgeholt.“
Was für ein Arschloch. Ich hätte eine Blutung in meinem verdammten Gehirn haben können!
„Kaffee?“, fragte er nonchalant.
„Nein“, sagte ich knapp. „Ich hasse das Zeug.“
Nolan zog eine Augenbraue hoch, und Belustigung glitt über seine Züge. „Was trinkst du am Morgen?“
„Heiße Schokolade.“ Allein das Aussprechen dieser Worte verursachte, dass mein Herz wehtat, weil ich mich an all die Male erinnerte, an denen Knox und Cáel sie mir gebracht hatten. Noch schlimmer war der Gedanke an Easton. Daran, wie sehr er sich bemühte, mich wissen zu lassen, dass er sich für mich interessierte, dass er sich änderte. Gott, ich hätte alles gegeben, um Easton zu sagen, dass ich ihm glaubte.
„Antoine!“, schnauzte Nolan.
Ein Mann in der Uniform eines Butlers kam ins Zimmer geeilt. „Was kann ich Ihnen bringen, Sir?“
„Hayden hätte gern eine heiße Schokolade.“
„Sofort, Sir.“
Nolan sagte weder Bitte noch Danke, aber das kam nicht überraschend.
Ich starrte auf meinen Teller mit Essen und konnte mir plötzlich nicht mehr vorstellen, einen Bissen davon anzurühren. Alles, was ich wollte, war, nach Hause zu gehen.
„Möchtest du noch etwas anderes?“, fragte Nolan angespannt.
Ich sah ihn an, und Wut stieg in mir auf. „Woher weiß ich, dass es nicht vergiftet ist?“
Nolan rollte mit den Augen und schob seinen Stuhl zurück. „Wenn ich dich hätte töten wollen, wäre das längst geschehen. Ich hatte unendlich viele Chancen.“
Ich wusste, dass er recht hatte, aber zu essen, was dieser Mann bestellte, schien mir ein Risiko zu sein.
Nolan griff nach einer Gabel und aß einen Bissen von meinen Eiern, danach ein Stück von der Waffel. „Zufrieden?“
„Nicht besonders“, brummte ich.
Kauend ging Nolan zurück zu seinem Platz. „Was wäre, wenn ich dir sagen würde, dass ich dir von deiner Familie erzählen könnte? Deinen Eltern?“
Ich erstarrte, mein Blick bohrte sich in ihn. „Ich würde sagen, dass ich kein Wort von dem glaube, was aus deinem Mund kommt.“
Seine Lippen zuckten. „Gut. Aber ich lüge dich nicht an. Nicht bei etwas so Wichtigem wie dem hier. Und ich hätte auch keinen Grund dazu. Ich verlange keine Gegenleistung.“
Ich starrte ihn einfach weiter an und wartete. Mehr konnte ich nicht tun.
„Es stimmt, dass Dexter Corbett dich will. Das tut er seit dem Moment deiner Geburt. Er träumt davon, dass du seine Horde zur mächtigsten der Welt machst.“
Jegliches Aufflackern von Appetit verschwand gänzlich.
„Als deine Familie auf der Flucht war, sah er seine Chance. Er spürte euch auf und schlachtete deine Eltern ab, als er wusste, dass sie schwach waren. Aber dich hat er nie gefunden.“
Erinnerungen stürmten auf mich ein. Das von Angst gezeichnete Gesicht meiner Mutter. Ihre blasse Haut, als das Leben aus ihr wich. „Warum?“ krächzte ich.
„Endlich“, sagte Nolan. „Sie stellt die richtige Frage.“
Eine Million Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum. Die Jungs hatten mir erzählt, dass andere Horden verzweifelt nach Weibchen suchten, aber sie wussten nicht einmal, ob ich mich verwandeln konnte.
„Es war nicht nur, weil du ein weiblicher Drache bist“, sagte Nolan, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Du bist so viel mehr.“
Das hungrige Glitzern in seinen Augen machte mir Angst. Aber der Hunger war nicht sexueller Natur. Es war fast … als wäre er neidisch.
„Es liegt daran, dass du von der mächtigsten Drachenlinie abstammst, die je existiert hat, Hayden. Du bist eine Prinzessin. Unsere letzte bana-phrionnsa. Der letzte Drache dieser Blutlinie. Von dir hängt es ab, ob diese Linie fortbesteht.“