Prolog
Die blutüberströmte Leiche des Rentners lag grotesk verdreht zwischen den Aktenschränken des Abteilungsleiters. Aufgrund der Schusswunde im Kopf hatte es eines Ausweises bedurft, um ihn als Helmut Weißenberger identifizieren zu können, denn viel war nicht mehr von dem Gesicht des Opfers zu erkennen. Makabrerweise war das einzig deutlich Erkennbare in diesem verheerten Gesicht nur die in Panik und Todesangst weit aufgerissenen Augen.
Als der Rentner sich heute Morgen entschlossen hatte, die beschauliche Herner Sparkasse zu betreten, hätte er bestimmt nicht im Traum daran gedacht, diese nicht mehr lebend zu verlassen.
Der Polizist warf einen Blick in den Hauptraum der Sparkasse, wo sich gerade der Geiselnehmer widerstandslos Handfesseln anlegen ließ. Wieso tat ein Mensch so etwas? Eine Bank zu überfallen, war das eine … Geiseln zu nehmen schon extremer, aber einen harmlosen alten Mann kaltblütig zu erschießen?
Vor allem war dieser Mord absolut sinnlos. Die Polizisten hatten die Sparkasse noch nicht gestürmt, das SEK war noch gar nicht eingetroffen, keiner hatte dem Geiselnehmer gedroht und er selbst hatte noch keinerlei Forderungen gestellt, zu dessen Druck er Geiseln hätte umbringen müssen. Das Ganze ergab überhaupt keinen Sinn; was wiederum bedeutete, dass sie es hier höchstwahrscheinlich mit einem Geisteskranken zu tun hatten, was die ganze Sache noch schwieriger machen würde.
Das einzig Positive an diesem schrecklichen Vormittag war, dass sie den Mann hatten stoppen können, bevor er noch mehr Unschuldige umbrachte.
Er wusste, als Polizist musste er so etwas gewohnt sein, aber er lebte schließlich nicht in New York oder Berlin, sondern in einer kleinen Stadt, die keinerlei Erfahrungen mit Geiselnahmen und brutalen Morden hatte. Bis auf den Fall Marcel Heße, der deutschlandweit für Aufsehen gesorgt hatte und die Stadt vor einiger Zeit in einen Ausnahmezustand versetzt hatte.
Außerdem empfand er so eine Wut, dass er lieber hier in diesem stickigen Büro mit der Leiche blieb, statt den Hauptraum der Sparkasse zu betreten, denn er befürchtete, dass er den Geiselnehmer sonst mehr als nur grob anfassen würde. Es brachte ihn nämlich auf die Palme, zu sehen, wie kaltschnäuzig und cool dieser sich gab. Er stand dort herum, als warte er auf den Bus, und nicht, als hätte er gerade einem wehrlosen alten Mann einfach mal so in den Kopf geschossen.
Kapitel 1
Leonard seufzte, als er den Verdächtigen durch den Einwegspiegel des Vernehmungszimmers beobachtete. Eigentlich war heute sein freier Tag gewesen, und zwar der erste nach einer gefühlten Ewigkeit, da immer wieder genauso etwas wie jetzt passierte, wenn er seine zu einem Berg angewachsenen Überstunden in freie Tage umwandeln wollte. Es klang immer so toll, wenn Kollegen oder sogar die Bürgermeister ihn als DEN führenden Verhörspezialisten von NRW anpriesen, aber die Kehrseite der Medaille war eine gescheiterte Ehe und ein Kind, das er von Herzen liebte, aber nur alle vierzehn Tage mal am Wochenende sah. Und das er heute wieder einmal hatte enttäuschen müssen.
Er sah noch immer den anklagenden und traurigen Blick seiner Tochter vor sich, als er hierher gemusst hatte.
Und dadurch, dass er gefühlt nonstop arbeitete, blieb ihm auch keine Zeit, mal in eine Bar zu gehen, um eine neue Frau kennenzulernen.
Heute Abend hatte er eigentlich ein Date mit einer alten Schulfreundin, die er zufällig bei Facebook wiedergefunden hatte und was tat er, anstatt mit ihr gemütlich in seiner Lieblingspizzeria zu sitzen oder den Tag mit seiner Tochter zu verbringen? Er trank literweise scheußlichen Kaffee und verbrachte den Tag und den Abend mit einem weiteren Monster der Gesellschaft. Manchmal fragte sich Leonard Lehmann, warum er jemals bei der Polizei angefangen hatte und nicht stattdessen lieber Lehrer oder Supermarktkassierer geworden war. Ein ruhiger Job mit geregelten Arbeitszeiten und einer Familie, zu der er jeden Tag pünktlich zum Essen heimkehren konnte.
Aber wenn er ehrlich war, liebte er seinen Job, trotz all der negativen Dinge, die damit verbunden waren. Denn das, was er tat, hatte eine Bedeutung. Er half mit seiner Arbeit, die Welt ein Stückchen sicherer, ein Stückchen besser zu machen und von welchem der „ruhigen und einfachen“ Jobs konnte man das schon behaupten. Er hatte im Laufe seiner Karriere schon den einen oder anderen Verbrecher hinter Gittern gebracht und auch dieses Mal würde es nichts anderes sein. Sein Ruf eilte ihm voraus und er wurde mittlerweile nicht nur in ganz NRW angefordert, sondern auch bei kniffligen Fällen im Rheinland hinzugezogen. Diese ständige Hin- und Herreiserei hatte seiner Ehe natürlich auch nicht gerade gutgetan. Da war es ja eigentlich mal eine Erholung, bei einem Fall in seiner Heimatstadt, wo er seine Karriere begonnen hatte, tätig zu sein. Wobei er nicht so ganz verstand, was er hier zu suchen hatte, denn der Mann in dem Verhörraum war so offensichtlich schuldig, dass selbst ein Anfänger ihn überführen könnte.
Leonard gab zu, dessen Äußeres ließ nicht vermuten, dass er zu so einer Tat fähig war, denn der Mann sah geradezu liebenswürdig aus. Wenn er ihn auf der Straße gesehen hätte, hätte er ihn wahrscheinlich für einen typischen Beamten mittleren Alters gehalten. Schütter werdendes braunes Haar, das an den Schläfen schon graue Strähnen zeigte und treue blaue Augen hinter einer dicken Brille. Er trug eine braune Stoffhose, ein weißes Hemd und darüber einen brauen Wollpullover. Nichts von alledem deutete darauf hin, dass dieser Mann heute Morgen die städtische Sparkasse überfallen, alle Leute, die sich darin befunden hatten, als Geisel genommen und nach einigen Stunden einen älteren Herrn kaltblütig erschossen hatte. Aber so war es oft. Man sagte ja nicht umsonst: Stille Wasser sind tief. Wie viele Serienmörder in der Geschichte waren gerade deshalb so erfolgreich, weil sie so harmlos und manchmal sogar regelrecht attraktiv gewesen waren. Wenn man so jemandem begegnete, sandte der Körper leider keinerlei Alarmsignale aus. Oft waren es gerade die Harmlosen oder die Außenseiter, die eines Tages durchdrehten und wahre Blutbäder anrichteten. Genau wie in diesem Fall.
Als der Mann die Bank betreten hatte, hatte ihm wahrscheinlich keiner der dort Anwesenden auch nur einen Blick geschenkt. Und wenn die Polizei ihn nicht rechtzeitig überwältigt hätte, wären sie jetzt vielleicht alle tot. Aber obwohl dieser Fall von äußerster Brutalität und Skrupellosigkeit zeugte, sah Leonard nicht, warum gerade sein Verhörtalent hier vonnöten war, denn schließlich war dieser Mann mitten in der Sparkasse überwältigt worden, in dem Raum mit dem Mann, den er erschossen hatte, und alle Geiseln hatten bezeugt, dass er die Sparkasse am Morgen überfallen hatte. Wie bitteschön sollte er sich aus dieser Nummer wieder herausreden? Selbst der teuerste Anwalt würde keine milderen Umstände bei so etwas erreichen können, geschweige denn einen Freispruch. Leonard seufzte noch einmal tief, während er an sein verpasstes Date dachte, und daran, wie der Abend vielleicht hätte ausklingen können, als er aus dem Raum ging, die Tür öffnete und dadurch den angrenzenden Verhörraum betrat.
„Hallo, mein Name ist Kriminalhauptkommissar Leonard Lehmann. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.
Wie mir die Kollegen sagten, verzichten Sie auf einen Anwalt, ich informiere Sie hiermit aber noch einmal darüber, dass Sie das Recht haben, das Gespräch jederzeit zu unterbrechen und einen Anwalt anzurufen. Können Sie sich keinen eigenen Anwalt leisten, wir Ihnen vom Gericht einer gestellt. In Ordnung?“ Mark Jankowitz bejahte leise.
„Ich dachte, Sie hätten vielleicht Durst, deshalb habe ich Ihnen einen Kaffee mitgebracht“, sagte Leonard. Im Laufe seiner Karriere war er ein Experte darin geworden, wie er in der ersten Zeit mit einem Verdächtigen vorgehen musste. Zuallererst ging er in den Raum nebenan und beobachtete die Person eine ganze Weile, um sich einen Eindruck von ihr zu verschaffen. Erst dann entschied er, wie er vorgehen würde. Und in diesem speziellen Fall hatte er beschlossen zuerst die Masche des verständnisvollen und freundlichen Polizeibeamten durchzuziehen, um so das Vertrauen des Mannes zu gewinnen. Dieser sollte das Gefühl haben, dass Leonard durchaus nachvollziehen konnte, warum er diese Tat begangen hatte und dass der Mann ihm ohne Probleme alles darüber erzählen konnte. Sollte diese Technik nicht funktionieren, hatte Leonard noch unzählige Methoden in petto, die er anwenden könnte. Der Mann blickte Leonard mit ernstem Gesicht an, und dieser registrierte die zusammengesunkene Körperhaltung des Mannes, die hängenden Schultern und die blutunterlaufenen Augen. Dieser Mann war am Ende seiner Kräfte, was dem Kriminalhauptkommissar nur recht war. Vielleicht hatte er ja Glück und der Mann gestand innerhalb kürzester Zeit, sodass Leonard sein Rendezvous doch noch mit Verspätung einhalten konnte.
Er setzte sich dem Mann gegenüber, nahm einen Schluck des ekelhaften Gebräus, das die Dienststelle Kaffee nannte, und schlug dann seine Unterlagen auf.
Auch sein Gegenüber griff nach dem mitgebrachten Kaffeebecher und trank einen Schluck, verzog aber sofort angewidert das Gesicht. Aus den Augenwinkeln nahm Leonard wahr, dass der Mann so sehr zitterte, dass er kaum fähig war zu trinken.
Auch das war nichts Untypisches. Wenn es sich nicht gerade um einen passionierten Serienkiller handelte, konnte ein Verbrecher während seiner Tat noch so abgebrüht sein; wenn er erst einmal ein paar Stunden in einem Verhörzimmer saß, verwandelte er sich schnell in ein zitterndes Häufchen Elend. „Vielen Dank für den Kaffee“, flüsterte der Mann kaum wahrnehmbar.
„Kein Problem“, entgegnete Leonard. „Laut den Notizen meines Kollegen heißen sie Mark Jankowitz, sind fünfundvierzig Jahre alt und wohnen hier in Herne. Ist das alles korrekt?“
Sein Gegenüber nickte mit gesenktem Blick.
Kriminalhauptkommissar Lehmann sah ihn intensiv an und sagte dann: „Und stimmt es, dass Sie heute Morgen um 9.30 Uhr, genau zur Öffnungszeit die Sparkasse in der Herner Innenstadt betreten haben?“
Abermals nickte der Mann.
„Sie müssen meine Fragen bitte laut und deutlich beantworten, damit sie richtig aufgezeichnet werden können.“
„Ja, das habe ich“, antwortete Mark Jankowitz mit zittriger Stimme.
„Und stimmt es, dass Sie alle anwesenden Personen als Geiseln genommen haben?“
Der Mann zögerte einen Augenblick. „Jein.“
„Jein?“, wiederholte Leonard verwirrt. „Was soll das heißen – Jein?“
„Ich wollte sie nicht als Geiseln nehmen, ich wollte doch nur das Geld!“, entgegnete Mark Jankowitz.
„Und Sie dachten, Sie spazieren einfach in die Sparkasse hinein, nehmen das Geld an sich und gehen dann in aller Seelenruhe nach Hause?“, fragte der Kriminalhauptkommissar zynisch.
Als der Mann keine Antwort gab, sprach Leonard weiter: „Und weil Sie ja nur so harmlose Absichten hatten und eigentlich noch nicht einmal Geiseln nehmen wollten, dachten Sie, wenn ich schon einmal dabei bin, kann ich ja auch gleich eine der Geiseln erschießen?“
Mark Jankowitz hielt den Blick weiterhin auf seine Hände gesenkt, die nervös mit dem Pappbecher spielten, und schüttelte abermals den Kopf.
Langsam war Leonard mit seiner Geduld am Ende. Würde er dem Mann ab jetzt jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen müssen? Dann würden sie ja noch ewig hier sitzen.
„Wie gerade schon gesagt, ein Rekorder nimmt unser gesamtes Gespräch auf, deshalb reicht es nicht aus, nur zu nicken. Sie müssen Ihre Antworten klar und deutlich aussprechen.“
„Nein“, stieß der Geiselnehmer hervor.
Kriminalhauptkommissar Lehmann runzelte die Stirn. „Was Nein?“
„Nein, ich habe so etwas nicht im Traum gedacht, und nein, ich habe keine Geisel erschossen!“
Leonard verlor jetzt seine aufgesetzte Ruhe und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Genau diesen Schwachsinn hatte er auch schon den anderen Polizisten aufgetischt.
„Sie wollen mir also weismachen, Sie haben keine Geisel erschossen?“
Der Mann nickte, erinnerte sich dann aber an die Ermahnung des Kriminalhauptkommissars und sagte deutlich: „Nein, ich habe keine Geisel erschossen!“
„Dann muss ich mir die blutüberströmte Leiche von Helmut Weißenberger, die wir in einem der Büros gefunden haben, wohl nur eingebildet haben … zusammen mit den acht Geiseln, die allesamt gehört haben, wie Sie geschossen haben!“
Kriminalhauptkommissar Leonard schäumte innerlich vor Wut. Er hatte unzählige Jahre Erfahrung in seinem Job und er war wirklich gut. Er kannte all die psychologischen Tricks der Verbrecher und konnte sich auf jeden davon mühelos einstellen. Er analysierte sein Gegenüber, fand dessen Schwachstelle und machte sie sich anschließend zunutze. Er wusste immer genau, bei welchem Angeklagten es ratsam war, ruhig und freundlich zu reagieren, oder wo er den knallharten Polizisten rauskehren musste, der notfalls auch vor Gewalt nicht zurückschreckte. Und bei manch einem half es auch, sich als Verbündeter darzustellen, der ja nur zu gut verstehen konnte, warum der Täter getan hatte, was er getan hatte.
Aber diese Art von Typ hatte ihn schon immer zur Weißglut getrieben. Diese nach außen hin so harmlosen Männer, die den Anschein gaben, keiner Fliege etwas zuleide tun zu können und die in Wirklichkeit die abscheulichsten Monster von allen waren, und dann dachten sie auch noch, dass sie einen für dumm verkaufen könnten. Aber nicht mit ihm. Er war schließlich derjenige, der am längeren Hebel saß und er würde Jankowitz jetzt erst einmal schmoren lassen. Mal schauen, ob er nach ein paar Stunden immer noch bei Laune war, ihn anzulügen. Und dabei hatte der Tag so gut begonnen, dachte Leonard, als er zur Kaffeemaschine ging um sich einen neuen Becher von der Säure, die sie hier Kaffee nannten, einzuschenken.
Kapitel 2
„Papa ist da! Papa ist da!“, schallte es ihm schon entgegen, bevor überhaupt die Tür geöffnet wurde. Er ging auf die Knie hinunter und schloss das Mädchen mit den wippenden Haarzöpfen in die Arme, das ihm sofort entgegensprang.
„Hallo, meine Süße. Da freut sich aber eine, mich zu sehen.“ Er hob seine Tochter Joy hoch und trug sie ins Wohnzimmer, während er mit dem Fuß die Wohnungstür zustieß. Mit Erstaunen stellte er fest, dass sie schon wieder ein Stück gewachsen zu sein schien, in den vier Wochen, seit er sie zuletzt gesehen hatte. Manchmal fragte er sich, wo die Zeit geblieben war. Sie war nun schon sechs Jahre alt und es kam ihm wie gestern vor, als er sie im Krankenhaus nach der Geburt im Arm gehalten hatte.
„Hier ist ihr Rucksack, da ist alles drin, was sie braucht. Und denk daran, sie mit Sonnencreme einzureiben, du weißt, wie schnell sie einen Sonnenbrand bekommt“, sagte seine Ex-Frau Laura und drückte ihm den quietschrosa Prinzessin-Lillifee-Rucksack in die Hand.
Kein „Hallo“ oder „Wie geht es dir?“ Das hatte sie sich schon lange abgewöhnt. Sie trieb nur noch die nötigste Konversation mit ihm und war gerade so freundlich, dass Joy nichts von den Spannungen mitbekam. Einerseits konnte er ihr Verhalten ja verstehen, er war weiß Gott kein guter Ehemann oder auch Vater gewesen. Er war ein außergewöhnlich guter Kriminalhauptkommissar und im Laufe der Jahre hatte er festgestellt, dass der Spruch „Man kann nicht alles im Leben haben“, leider wirklich stimmte. Ein guter Ehemann und Vater und gleichzeitig ein toller Polizist zu sein, ging einfach nicht. Eines von beiden hatte er zwangsläufig vernachlässigen müssen … es war ja nicht so, dass er sich bewusst gegen seine Ehe und für seine Karriere entschieden hatte … es war einfach so passiert. Immer wieder hatte er Überstunden machen müssen oder war zu Notfällen gerufen worden. Und auch wenn jeder Therapeut einem davon abriet, hatte er einfach nicht anders gekonnt, als seine Arbeit manchmal mit nach Hause zu nehmen. Er war auch nur ein Mensch und manches, was er im Laufe der Jahre gesehen hatte, war so schrecklich gewesen, dass er es nach Feierabend nicht einfach hatte hinter sich lassen können. Und das wiederum hatte seine Frau umso mehr geärgert. Er war so selten zu Hause, reiste ständig in ganz NRW herum, und wenn er dann einmal da war, war er doch nicht da. Körperlich war er zwar anwesend, aber seine Gedanken drehten sich ständig um seine Fälle, und ohne es verhindern zu können, blitzten während gemeinsamer Abendessen oder Spielstunden grausame Tatortszenen vor seinen Augen auf.
Er hatte seine Frau wirklich geliebt und es gab für ihn nichts Kostbareres auf der Welt als seine Tochter, aber das war anscheinend nicht genug gewesen.
Es hatte eine Zeit gegeben, als ein Schicksalsschlag sein Leben von einem Tag auf den anderen verändert hatte. Die Angst um das Leben seiner Tochter, der bloße Gedanke daran, dass sie starb, hatte Leonards Prioritäten komplett verändert. Auf einmal hatte es nicht Wichtigeres gegeben, als Zeit mit seiner Familie und mit seiner süßen Tochter zu verbringen. Er hatte stets pünktlich Feierabend gemacht, keine nächtlichen Notfallverhöre mehr durchgeführt, und wenn seine Gedanken abschweiften, war es genau umgekehrt gewesen. Denn dann hatte er auf der Arbeit gesessen und das Gesicht seiner Kleinen vor sich gesehen. Sich gefragt, wie es ihr gerade ging und was in Gottes Namen er bloß tun sollte, wenn sie nicht überleben sollte. Er hatte Nächte an ihrem Krankenbett gewacht und ihr stundenlang immer wieder aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen. Nichts war wichtiger gewesen als sie.
Aber dann war sie wieder gesund geworden und der Alltag war mehr und mehr eingekehrt. Und unmerklich hatten sich die Prioritäten wieder mehr und mehr verschoben. Erst waren es nur ein paar Überstunden gewesen, die er hatte einlegen müssen, weil so viel liegen geblieben war, dann waren es dringende Verhöre nach Feierabend in Essen, Köln und noch weiter weg gewesen, und eines Tages kam er um zwei Uhr morgens nach einem zermürbenden Verhör nach Hause und starrte auf seine Koffer, die direkt im Flur neben der Haustür standen.
Er hatte gewusst, dass es um seine Ehe nicht zum Besten stand und dass das Verständnis seiner Frau schon vor Jahren aufgebraucht gewesen war, aber er hatte nie ernsthaft damit gerechnet, dass sie tatsächlich die Scheidung wollen würde.
In der Zeit, als es so aussah, als ob sie ihre Tochter verlieren würden, hatten sich Leonard und Laura einander so nah gefühlt, wie schon seit Langem nicht mehr. Diese Krise hatte sie wieder zusammengeschweißt und ihnen bewusst gemacht, was im Leben wirklich wichtig war. Und als er seiner Frau und seiner Tochter wieder mehr Zeit schenkte, war Laura förmlich aufgeblüht. Sie war trotz der dramatischen Umstände wieder zu der Frau geworden, in die er sich einst verliebt hatte. Nicht diese nörgelnde, mürrische und ständig Vorwürfe machende Person, mit der er schon so lange Zeit zusammenlebte. Aber es war nun einmal kompliziert. Natürlich verstand er Laura und er konnte auch nachvollziehen, warum sie in dieser Ehe so unglücklich war, denn er war fast nie zu Hause und wenn doch einmal, war er so mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass er für ihre einfach kein Ohr mehr hatte. Er wollte dann einfach nur seine Ruhe haben und abschalten. Für kurze Zeit vergessen, wie schlimm die Welt da draußen wirklich war.
Er war kein guter Ehemann und Vater gewesen, das gab er ja zu, aber er tat das ja schließlich nicht zum Vergnügen. Es war sein Job. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt. Außerdem machte er mit jeder Festnahme und jedem Erfolg im Verhör die Welt ein Stückchen sicherer. Er machte auch Herne und die Umgebung sicherer, damit Laura ohne Angst mit ihrer kleinen Tochter spazieren gehen konnte, und das war doch ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, als ein gemeinsames Abendessen.
Aber das verstand Laura einfach nicht und so stritten sie sich irgendwann unentwegt.
Die Quote der Scheidungen bei Polizeibeamten war schwindelerregend hoch und durch ihn war sie noch ein bisschen höher geworden. Manchmal war er einsam und sehnte sich nach einer Familie und einem gemütlichen Heim, wenn er nach Feierabend nach Hause kam, besonders wenn er wieder mehrere Tage in einem anonymen Hotelzimmer zugebracht hatte.
Aber wenn er ehrlich zu sich war, war ein Leben, so wie er es jetzt führte, dass einzig mögliche. Er schaffte es ja oft noch nicht einmal, die Besuche bei seiner Tochter alle vierzehn Tage einzuhalten und das, obwohl er sie von Herzen liebte und auch vermisste.
„Papa, Papa, was machen wir denn heute?“, riss ihn seine Tochter wieder in die Gegenwart zurück.
„Wir zwei gehen heute auf die Kirmes!“, verkündete er und strich seiner Tochter liebevoll über den Kopf. Dann nahm er den Rucksack entgegen und hängte ihn über eine Schulter, während er sich bewusst machte, wie lächerlich er mit dem Teil aussah. Seine Ex-Frau schaute ihn kritisch an und sagte: „Aber pass auf, dass du sie richtig im Kindersitz anschnallst und dass sie mittags auch etwas Anständiges isst.“
Er wollte schon zu einer patzigen Antwort ansetzen, in der er seine Frau darüber aufklärte, dass er schon genauso lange ein Kind hatte wie sie, und deshalb wusste, dass man Kinder anschnallte und sie nicht verhungern ließ, aber er wollte nicht, dass Joy die Spannung zwischen ihnen mitbekam und traurig wurde, deshalb biss er sich auf die Lippen und schluckte seinen Ärger hinunter.
Er fragte sich, ob es irgendwann einmal eine Zeit geben würde, in der sie wieder normal miteinander umgehen konnten. Sie hatten sich doch einst so sehr geliebt und so sehr miteinander gelacht, dass sie noch am nächsten Tag Muskelkater davon gehabt hatten, und jetzt schafften sie es nicht einmal mehr, fünf Minuten im selben Raum zu verbringen, ohne sich gegenseitig anzufahren. Er hatte langsam das Gefühl, dass dieses Wir sind zwar geschieden, aber mittlerweile sind wir die besten Freunde nichts als eine moderne Legende war.
Aber es war wie gesagt, nicht nur Lauras Schuld; egal was sie Patziges sagte, er war sofort auf hundertachtzig und reagierte entsprechend darauf. Aber nicht heute. Er hatte Joy aus beruflichen Gründen jetzt schon mehrere Wochenenden nicht gesehen und er würde nicht zulassen, dass die Streitereien zwischen ihnen beiden Joy den Ausflug verdarben. Also biss er sich auf die Zunge und ging wortlos zu Tür. Erst als er sie zuzog, rief er ein kurzes Tschüss. Am Auto angekommen, schnallte er Joy in aller Seelenruhe an; wohl wissend, dass seine Ex-Frau garantiert am Fenster stand und ihn genauestens beobachtete. Danach stieg er ebenfalls ein und fuhr in Richtung Wanne-Eickel, wo gerade die Cranger Kirmes stattfand, die drittgrößte Kirmes in ganz Deutschland. Er selbst war überhaupt kein Kirmesfan, denn er hatte Höhenangst und ging freiwillig nie auf irgendwelche Geräte. Wenn er auf die Kirmes ging, dann nur zum Essen. Aber Joy liebte die Kirmes, so wie wahrscheinlich jedes Kind. Seine schönsten Familienerinnerungen verband er mit der Cranger Kirmes, deshalb hatte er beschlossen, mit Joy hierherzufahren. Er stellte sein Auto auf einem der total überteuerten Kirmesparkplätze ab und schob sich dann mit Joy durch die Besuchermassen, bis zum Eingang.
„Papa guck mal, das Riesenrad ist schon aufgewacht“, rief seine Tochter aufgeregt. Und tatsächlich, das Bellevue, so lautete der Name des Riesenrads, drehte sich bereits und ließ seine bunten Lichter über der Kirmes erstrahlen. Er lächelte seine Tochter an und fragte: „Und was möchtest du machen, mein Schatz?“
Sie überlegte einen kurzen Moment und sprudelte dann hervor: „Zuerst will ich mit dir aufs Riesenrad und dann eine Zuckerwatte und ein Kirmeseis. Und wir müssen unbedingt Bälle werfen und Enten angeln. Ach ja, und aufs Kettenkarussell.“ Sie blickte sich aufgeregt um, bevor sie weiterplapperte: „Und ein blaues Slush Eis und eine Waffeltüte für zu Hause. Und ein Lebkuchenherz, das darf auch nicht fehlen.“
Leonard musste sich ein Grinsen verkneifen. Das war bestimmt genau die gesunde Art der Ernährung, die Laura vorgeschwebt hatte. In Kombination mit den ganzen Fahrgeschäften, könnte das bestimmt auch zu einem interessanten Abend führen, dachte er ein wenig schadenfroh.
Allerdings sah er seine Tochter so selten, dass er sie glücklich machen wollte, und dazu gehörten bei Kindern nun einmal auch Süßigkeiten und all die Dinge, die seine Ex-Frau als zu ungesund vom Speiseplan gestrichen hatte.
Er strich seiner Tochter über das blonde feine Haar und war glücklich, als er ihr vor Aufregung gerötetes Gesicht betrachtete.
„Also ich würde vorschlagen, wir gehen als Erstes aufs Riesenrad, dann essen wir etwas zu Mittag … so was total Gesundes wie einen Hotdog … und dann schauen wir mal, wie wir alles andere unterbringen. Na wie klingt das?“, fragte Leonard grinsend.
Seine Tochter kreischte voller Freude auf und umarmte Leonard so fest und ungestüm, dass ihm kurz die Luft wegblieb. Dann ergriff sie wieder seine Hand und zog ihn zielsicher durch die Menschenmassen zum Riesenrad.
Während das „Bellevue“ immer größer wurde, schluckte Leonard schwer. Gut, dass er vorgeschlagen hatte, zuerst Riesenrad zu fahren und dann etwas zu essen. Alleine daran sah man, wie sehr er seine Tochter liebte. Denn für keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt wäre er auf so etwas gegangen. Seine Höhenangst war so schlimm, dass er noch nicht einmal auf einem schlichten Balkon stehen konnte. Liebe hin oder her, er hoffte trotzdem inständig, dass sich Joy nach dem Riesenrad nur noch für bodennahe Aktivitäten entschied.
Sie hatten das Riesenrad mittlerweile erreicht und sich in die trotz der frühen Uhrzeit schon unglaublich langen Schlange eingereiht.
„Schau mal Papa, die Gondeln“, rief Joy vollkommen aus dem Häuschen und legte den Kopf in den Nacken, während sie gen Himmel starrte. Leonard kniff die Augen zusammen und versuchte kurz, Joys Zeigefinger zu folgen, ließ dies aber hastig bleiben, als ihn ein starkes Schwindelgefühl überkam und sein Magen einen Satz machte.
Er konnte nicht glauben, wie lang die Schlange am Riesenrad war. Sie standen schon eine Viertelstunde an und das, obwohl der Fahrpreis so unverschämt teuer war. Acht Euro pro Person, dafür, dass ihm schlecht wurde und ihm der Schweiß ausbrach, na danke schön.
Joy war zwischendurch schon ungeduldig und hibbelig geworden, weil sie so lange warten mussten, aber je näher die Schlange der Kasse kam, desto mehr verwandelte sich ihre Ungeduld in Aufregung und Vorfreude.
„Nur noch zwei Leute, dann sind wir endlich dran. Dann können wir Riesenrad fahren“, jubelte Joy. Er griff gerade in seine Hosentasche, um seine Geldbörse herauszuholen, als sein Handy zu vibrieren begann. Das konnte nur seine Ex-Frau oder die Arbeit sein, und wenn er ehrlich war, freute er sich über keinen der beiden zum jetzigen Zeitpunkt.
„Lehmann“, meldete er sich knapp, während Joy ihn an der Hand zur Kasse zerrte, wo nur noch eine Person vor ihnen war.
„Es tut mir leid, Sie an Ihrem freien Tag stören zu müssen, aber es gibt einen Notfall, der Ihre Anwesenheit auf dem Herner Polizeirevier unabdingbar macht“, erklärte sein ehemaliger Kollege Heinz Weber.
„Weber, einen einzigen Tag werden Sie alle doch wohl mal ohne mich auskommen können, Herrgott noch mal. Es ist ja nicht so, dass es in Herne terroristische Anschläge oder Geiselnahmen gibt. Was es auch ist, das wird doch wohl einen Tag warten können“, rief Lehmann entnervt.
Es konnte doch nicht sein, dass irgendein Revier ihn andauernd bei jeder Kleinigkeit anforderte. Er musste doch seinen Kollegen nicht ständig Händchen halten, während sie ihre Arbeit erledigten.
„Papa, Papa wir sind dran“, schrie Joy und hüpfte auf und ab, während sie gleichzeitig an seinem Jackenärmel zog.
„Moment Schätzchen, ich komme ja schon. Ich muss nur noch kurz das Gespräch beenden.“ Er ging mit seiner Tochter zur Kasse, klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, zog die Geldbörse heraus und entnahm ihr einen zwanzig Euro Schein.
„Einmal Erwachsener, einmal Kind bitte.“
„Weber, ich muss jetzt auflegen.“
„Nein, warten Sie, denn genau darum geht es doch. Es gab eine Geiselnahme in der Herner Sparkasse und auch ein Todesopfer. Der Geiselnehmer sitzt hier bei uns im Revier und Hauptkommissar Gunhardt lässt niemanden zu ihm. Er sagt, das ist ein Fall für Sie.“
„Eine Geiselnahme, wollen Sie mich veraschen?“ Leonard entriss der Kassiererin den Geldschein wieder, stopfte ihn achtlos in die Jackentasche und griff dann nach seinem Handy, aber es rutschte ihm vor lauter Aufregung zwischen Schulter und Kopf hindurch und knallte geradewegs auf die Holzbohlen der Riesenradplattform.
„Scheiße!“, schrie er und Joy blickte ihn mit großen Augen ganz erschrocken an.
„Entschuldige Schatz, das war ein böses Wort, das sagt man nicht“, sagte er, während er hektisch auf die Knie ging und sein Handy aufhob … unter den Blicken von gefühlt dreihundert Leuten, die alle hinter ihm in der Schlange standen und immer ungeduldiger wurden. „Was ist denn nun, wollen Sie die Karten jetzt haben oder nicht?“, fragte die Kassiererin ebenfalls genervt und gestresst.
„Nein, im Moment nicht“, erwiderte Leonard geistesabwesend, während er hoffte, dass sein Handy den Sturz heil überstanden hatte. Gerade als er den Riss im Display entdeckte und feststellte, dass das Handy aus war und sich auch nicht mehr einschalten ließ, fing Joy an zu weinen.
„Papa, warum hast du denn gesagt, dass wir nicht wollen? Ich WILL aber doch aufs Riesenrad und jetzt sind andere Leute vor uns. Papaaaaa, wir müssen wieder in die Reihe, sonst dauert es wieder ganz lange, bis wir endlich fahren dürfen.“
„So ein verfluchter Mist“, schimpfte Leonard; sein Handy war hinüber. Warum hatte er diesen blöden Silikonschutz auch nicht gekauft, den ihm der Händler unbedingt hatte aufschwatzen wollen?
Hatte Weber nur einen Scherz gemacht mit der Geiselnahme? Bestimmt … er hatte nur gewollt, dass er heute arbeitete und deshalb so was Bescheuertes erzählt … und wenn nicht? Wenn wirklich gerade ein skrupelloser Geiselnehmer im Herner Revier saß? Wollte er dann, dass ein Typ wie Weber die Vernehmung machte? Dann war der Typ schneller wieder draußen, als er gucken konnte, weil Weber das Ganze versieben würde. Der hatte doch gar keine Extra-Ausbildung für so etwas. Es gab natürlich auch viele sehr fähige und äußerst talentierte Mitarbeiter dort, aber eben keinen speziellen Verhörspezialisten. Ihm fiel plötzlich ein, dass er im Auto noch sein altes Handy liegen hatte, mit dem konnte er Weber zurückrufen, um zu erfahren, ob das Ganze nur ein blöder Witz gewesen war. Er ergriff die Hand seiner Tochter und zog sie hinter sich her durch die Menschenmenge, um wieder von der Plattform herunterzusteigen. Zuerst kam Joy hinterher, aber als sie merkte, dass ihr Vater keineswegs vorhatte, sich wieder in die Schlange einzureihen, sondern das Riesenrad stattdessen verlassen wollte, versteifte sie sich am ganzen Körper und bohrte ihre kleinen Hacken in das Holz. Leonard drehte sich um. „Schatz komm mit, Papa muss mal dringend zum Auto zurück, wo sein anderes Handy liegt, um auf der Arbeit anzurufen.“
„Riesenrad fahren!“, rief seine Tochter nun nachdrücklich und rührte sich nicht von der Stelle.
„Gleich mein Schatz, nachdem Papa das Telefon geholt hat.“ Er versuchte, seine Tochter zu ziehen, aber keine Chance. Daraufhin bückte er sich kurzerhand und hob sie hoch. Joys Gesicht lief nun dunkelrot an und Leonard ahnte, was folgen würden.
Und richtig, Joy füllte ihre kleinen Lungen mit Sauerstoff und fing an zu brüllen: „Du hast gesagt, wir fahren mit dem Riesenrad! Du hast es versprochen! Ich will JETZT fahren!“ Ihr Gesicht wurde immer röter, und während sie brüllte wie am Spieß, rannen jetzt auch noch unaufhörlich dicke Krokodilstränen über ihr Gesicht. Die Aufmerksamkeit der gesamten Warteschlange samt Kassiererin und Mitarbeiter des Riesenrads hatte er so natürlich auch. Na super, vielen Dank auch, das hatte mir ja zu meinem Glück noch gefehlt, dachte er.
Während er hastig die Stufen hinunterschritt und sich einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte, redete er unaufhörlich auf Joy ein, um sie zu beruhigen, aber egal, was er auch sagte, sie hörte einfach nicht auf zu weinen und strampelte mittlerweile auch noch wild mit den Beinen, sodass er am nächsten Morgen wahrscheinlich lauter blaue Flecke auf den Oberschenkeln haben würden. Warum hatte er das blöde Handy überhaupt angehabt? Es war schließlich sein freier Tag. Niemand hätte ihm einen Vorwurf machen können, wenn er nicht erreichbar gewesen wäre. Er hätte einen schönen Tag mit Joy verbringen und sich über nichts den Kopf zerbrechen müssen. Aber jetzt, wo Weber ihn mit so etwas geködert hatte, musste er natürlich zurückrufen. Es war seine Pflicht, denn er wusste, dass es keinen Verhörspezialisten auf dem Herner Revier gab. Jemand, der wusste, worauf es ankam … wie man so eine Person aus der Reserve locken konnte und sie dazu brachte, mit seinen Taten zu prahlen … und was man machen musste, damit so ein Verhör vor Gericht auch Bestand hatte. Es ging einfach nicht anders, er musste mehr erfahren.
„Schatz, hör doch auf zu weinen, wir fahren ja gleich Riesenrad. Papa telefoniert nur kurz und dann gehen wir wieder zurück.“
Vorausgesetzt, Weber hatte sich wirklich nur einen bekloppten Scherz erlaubt. Aber mal ehrlich, eine Geiselnahme in Herne? Warum denn nicht gleich Herten-Westerholt oder Datteln? Das kam ihm doch allzu weit hergeholt vor. Wobei man das bis vor Kurzem auch noch über eine Tat, wie die, die Marcel Heße begangen hatte, gesagt hätte.
Endlich hatte er den Eingang der Kirmes erreicht und ging nun quer über die Straße, wo sich einer der zahlreichen überteuerten Kirmesparkplätze befand. Er kämpfte sich auch hier durch die Menschenmassen, um zu seinem Auto zu gelangen, und musste sich dort erst einmal durch Berge von Müll wühlen, um sein altes Handy zu finden. Durch die unregelmäßigen Arbeitszeiten, den Stress und das Singledasein, bestand seine Ernährung in letzter Zeit hauptsächlich aus dem Besuch in Fast-Food-Restaurants, literweise Kaffee und diversen Süßigkeiten, und all dieser Verpackungsmüll landete unweigerlich in seinem Auto. Er sah alleine sechs Starbucks-Pappbecher auf dem Boden.
Aber immer, wenn er sich vornahm, hier mal richtig Ordnung zu schaffen, kam wieder ein neuer Fall dazwischen. Er zog ein altes Schokoriegelpapier, an dem noch Karamell klebte, von der Rückseite des Handys und durchsuchte dann den Telefonspeicher. Zum Glück hatte er die ganzen Dienstnummern der verschiedenen Reviere auch hier gespeichert.
Er klickte Webers Nummer an und war überrascht, dass dieser schon nach dem ersten Klingeln abnahm.
„Na das war ja schnell, sag mal sit…“, sagte Leonard, wurde aber sofort von seinem aufgeregten Kollegen unterbrochen. „Was war denn los? Du warst auf einmal weg, ich hatte schon fast einen Herzinfarkt, weil ich dachte, du hättest mich einfach weggedrückt und dann das Handy ausgeschaltet. Gunhardt tobt hier rum, wie ein Berserker. Hier ist was los, das glaubst du nicht. Alle rennen wie wild rum und es wimmelt hier schon vor lauter Mitarbeitern aus den anderen Revieren“, berichtete ihm sein Kollege ganz außer Atem.
„Also ist es wirklich wahr? Es gab tatsächlich eine Geiselnahme in der Herner Sparkasse? Und ihr habt den Täter bereits?“
Es herrschte kurz Stille im Apparat, aber Leonard hörte, wie Weber im Hintergrund mit jemandem sprach.
„Ja, wir haben ihn, er ließ sich widerstandslos festnehmen, aber er behauptet, er war es nicht!“
„Er hat die Geiselnahme nicht durchgeführt?“
„Doch, die schon, aber es wäre keine Absicht gewesen und den toten Rentner, den wir im Büro des Sparkassenleiters gefunden haben, hätte er auch nicht erschossen.“
Das hörte sich ja immer interessanter an, dachte Lehmann.
„Du musst sofort herkommen. Die Spurensicherung ist noch in der Sparkasse beschäftigt, um den Tathergang rekonstruieren zu können und der Rentner wurde bereits zum Pathologen gebracht und wird in Kürze obduziert. Du kennst den Ablauf ja. Der Kollege von der Spurensicherung, der den Geiselnehmer auf Schmauchspuren untersuchen soll, ist allerdings noch nicht da. Der ist gerade an irgendeinem Tatort.“
„Ich komme, so schnell ich kann“, erwiderte Lehmann nur und beendete das Gespräch. Dann drehte er sich zu seiner kleinen Tochter um und ging vor ihr in die Knie, damit er sich auf Augenhöhe mit ihr befand. „Kleines, wir müssen unseren Kirmesbesuch leider doch verschieben, es tut mir so leid, aber Papa wird auf der Arbeit gebraucht.“
Joys Augen füllten sich augenblicklich mit Tränen. „Ich brauche dich aber auch! Du hast mir versprochen, dass wir auf das Riesenrad gehen und Eis essen und Karussell fahren, du hast es versprochen.“ Am Ende des Satzes brach ihre Stimme und sie fing bitterlich an zu weinen. Leonard zog sie fest an sich und schloss sie in seine Arme, aber Joy machte sich stocksteif. Es brach Leonard das Herz, dass er seine Kleine schon wieder enttäuschen musste und er wusste selbst, dass es bei Weitem nicht das erste Versprechen war, das er gebrochen hatte. Diese gebrochenen Versprechungen, Ausflüge und Veranstaltungen, die er kurzfristig absagen musste, waren mit ein Grund für seine Trennung gewesen. Seine Freunde hatten es schon mit Humor genommen, wenn bei Besuchen noch nicht einmal das Essen serviert worden war und er schon wieder los gemusst hatte zu einem wichtigen Verhör, oder bei der Polizei festsaß und gar nicht erst erscheinen konnte. Aber seine Ex-Frau hatte das Leben als Strohwitwe natürlich alles andere als lustig gefunden. Joy war natürlich noch zu klein, aber Laura sollte doch eigentlich wissen, dass er sie beide nicht gerne vernachlässigte, aber dass das, was er tat, nun einmal wichtig war und dass er der Beste war, den es im ganzen Umkreis gab.
Bei der Polizei war er so etwas wie ein gefeierter Held und er hatte im Laufe seiner Karriere unzählige Mörder, Vergewaltiger und andere Verbrecher ins Gefängnis gebracht. Ohne die Geständnisse, die er ihnen entlockt hatte, wären einige von ihnen vielleicht heute noch auf freien Fuß und würde weitere Verbrechen begehen. Er wollte die Welt doch nur besser machen, zählte das denn überhaupt nicht? Sollte Laura nicht wenigstens ein bisschen glücklich darüber sein, dass er diesen wichtigen Beruf ausübte? Vor Kurzem hatte er sogar von der Stadt Köln eine Auszeichnung für seine Dienste erhalten. Aber Joy war natürlich noch zu klein, um dies zu verstehen. Für sie hatte Papa nur mal wieder ein Versprechen gebrochen. Und das, nachdem er sie schon mehrere Wochenenden nicht gesehen hatte. Er mahlte mit dem Kiefer, während er seiner Tochter beruhigend über den Rücken strich und sie dann in dem Kindersitz anschnallte. Als er auf dem Fahrersitz platz nahm und den Wagen startete, drehte er sich noch einmal zu ihr um, und sagte: „Es tut mir wirklich leid mein Schatz. Wir hohlen das so bald wie möglich nach, vielleicht sogar schon morgen, wenn Papa auf der Arbeit alles schnell erledigen kann.“
„Ich hasse dich! Ich will sofort zu Mama! Ich will nichts mehr mit dir machen, mit dir ist es doch immer nur doof. Ich will mit Mama Riesenrad fahren!“
Obwohl Leonard natürlich wusste, dass Joy dies nur aus Wut und Enttäuschung sagte, bohrten sich diese Worte trotzdem wie ein Dolch in sein Herz und hinterließen ein weiteres Loch in ihm. Warum hatte dieser Mist denn unbedingt heute an seinem freien Tag passieren müssen, und dann auch noch direkt in Herne? Oder war er selbst schuld, weil er sein Handy mitgenommen hatte und noch nicht einmal den Ton ausgeschaltet hatte? Es hatte alles so gut angefangen, er hatte das Handy nicht einmal herausgeholt, als immer mehr Benachrichtigungspiepser wegen eingegangener WhatsApp-Nachrichten, SMS und Newsseiten gekommen waren. Er hatte diese einfach ignoriert … denn das hatte alles Zeit bis später, hatte er gedacht. Wenn er allerdings drauf geschaut hätte, und die Nachrichten über die Geiselnahme schon früher gelesen hätte, wäre er wahrscheinlich gar nicht erst zur Kirmes gefahren, das gab er innerlich zu. Er war wahrscheinlich einfach ein hoffnungsloser Fall und Joy hatte jedes Recht böse auf ihn zu sein. Als er am Haus seiner Ex-Frau ankam, blieb er zuerst einige Sekunden im Auto sitzen, schloss die Augen und atmete tief durch. Innerlich wappnete er sich schon einmal für all die Vorwürfe, mit denen er gleich überschüttet werden würde. Und wie immer war es so, dass er überhaupt nichts dafürkonnte, Laura aber dennoch vollkommen im Recht war, sich über ihn aufzuregen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Wahrscheinlich hätte er niemals heiraten und ein Kind bekommen dürfen. Obwohl es verrückt klang, er liebte die beiden wirklich aus tiefstem Herzen. Auch wenn er Laura oft den Hals umdrehen könnte, hatte er niemals aufgehört, sie zu lieben. Die Scheidung war damals schließlich nicht von ihm ausgegangen. Er stieg aus und ging zur Rückbank, um Joy aus ihrem Kindersitz zu befreien. Nachdem sie verkündet hatte, dass sie ihn hasste, hatte sie die ganze Fahrt über kein einziges Wort mehr mit ihm gesprochen und das, obwohl sie sonst unglaublich quirlig war und keine Sekunde den Mund halten konnte. Jetzt trottete sie langsam die Eingangsstufen zum Haus hoch und zog dabei ihren Lillifee-Rucksack achtlos über den Boden hinter sich her. Leonard wünschte sich, es gäbe irgendetwas, was er ihr sagen könnte … irgendetwas, was sie dazu bringen würde, wieder zu lächeln und ihn nicht als den miesesten Vater auf der ganzen Welt zu betrachten.
Aber was sollte er machen? Ihr erneut etwas versprechen, das er vielleicht wieder brechen musste und das sie ihm trotz ihrer erst sechs Jahre sowieso nicht mehr glaubte? Oder ihr etwas sündhaft Teures kaufen … so etwas, wie das ein Meter zwanzig große Plüscheinhorn, das sie vor einem Monat in einem Essener Spielwarenladen entdeckt und sofort ins Herz geschlossen hatte?
Aber im Moment käme das Leonard wie das Kaufen ihrer Liebe vor. Andererseits wollte er doch nur, dass sie glücklich war. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon so viele Schmerzen und Kummer erlebt und wäre fast gestorben. Er wollte doch nur, dass sie glücklich war, wenn er mit ihr zusammen war und dass sie wusste, wie sehr er sie liebte. Aber jetzt hatte er sie wieder einmal enttäuscht und konnte nicht das Geringste daran ändern.
Er hoffte, dass Laura überhaupt zu Hause war. Nicht dass sie ihren freien Tag dafür genutzt hatte, um irgendwo hinzufahren oder sich einen ausgiebigen Wellnesstag beim Friseur und bei der Maniküre zu gönnen. Er klingelte und versuchte, Joys Hand zu ergreifen, aber sie entzog sich ihm und umklammerte stattdessen ihren Rucksack. Es dauerte nicht lange und er sah durch das Milchglas die Umrisse seiner Ex-Frau näher kommen.
Sie öffnete die Tür und noch bevor er etwas sagen konnte, stieß sie hervor: „Mir war schon klar, dass du herkommen würdest.“
Leonard blickte sie verständnislos an und sie fuhr fort: „Die Nachrichten sind voll davon. Auf Herne 90,8 haben sie gar kein anderes Thema mehr, und es war ja wohl sonnenklar, dass der großartige Kriminalhauptkommissar Lehmann, der gefeierte Held, sofort auf die Dienststelle eilen würde, weil ohne ihn ja schließlich nichts läuft. So ein Tag mit seiner Tochter ist da ja wohl absolut nebensächlich, oder die Tatsache, dass ich vielleicht auch etwas vorgehabt haben könnte …“
Leonard sah sie traurig an und entgegnete: „Das ist unfair Laura, du weißt gen…“
„Was? Was weiß ich? Dass du bei so einer Sensation sofort alles stehen und liegen lässt und mal wieder zeigst, wo deine Prioritäten liegen? Ja, das wusste ich in der Tat ganz genau. Deshalb habe ich meinen Termin ja auch abgesagt, als ich von der Geiselnahme erfahren habe, weil mir klar war, dass du Joy hier so schnell wie nur möglich wieder abliefern würdest.“
Leonard wollte gerade wütend etwas erwidern, aber dann wurde ihm klar, dass Laura nicht ganz unrecht hatte. Erstens hatte er den Kirmesbesuch mit Joy tatsächlich sofort abgebrochen, um schnellstmöglich auf das Revier zu kommen, und er hatte wirklich nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, ob Laura vielleicht einen Termin hatte, oder er ihr damit einen ihrer seltenen freien Tage ruinierte. Es war mal wieder nur um ihn und die Arbeit gegangen, aber was sollte er denn verdammt noch mal machen? Einen kaltblütigen Mörder und Geiselnehmer freikommen lassen, nur damit seine Ex-Frau sich mal wieder in Ruhe die Nägel machen konnte?
„Spatz, geh doch bitte schon mal auf dein Zimmer und zieh die Jacke aus. Mami kommt gleich nach und dann machen wir uns Popcorn und schauen uns Frozen an.“
Joy schob sich an Leonard vorbei und verschwand im Haus, ohne sich von ihm zu verabschieden. Kein Kuss, keine Umarmung, noch nicht einmal ein kurzes Tschüss.
„Tja, dann kannst du ja jetzt zu deiner großen Liebe eilen, wo du den Ballast losgeworden bist“, sagte Laura schnippisch.
Leonard hatte sich so bemüht, ruhig zu bleiben und Verständnis für die Aufgebrachtheit seiner Ex-Frau zu haben, aber jetzt platzte auch ihm mal wieder Kragen.
Und ehe er sich versah, stritten sie sich wieder und die Fetzen flogen. Laura brüllte ihn gerade wieder an und schmiss mit irgendwelchen uralten Geschichten um sich, als sein Telefon klingelte. Er zog es ganz automatisch aus der Jackentasche und sah, dass es Weber war. Der wollte bestimmt nachfragen, wo er blieb.
„Ich fasse es einfach nicht! Selbst jetzt kannst du es nicht mal eine Sekunde ohne die Arbeit aushalten. Wie kannst du nur die Frechheit besitzen, in diesem Augenblick das Handy rauszuholen?“, schrie Laura schrill.
Leonard holte tief Luft, um sich zu beruhigen und sagte dann leise: „Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los. Lass uns ein anderes Mal darüber reden, aber dann in Ruhe und nicht hier, wo uns die gesamte Straße hören kann.“
„Das ist mal wieder soooo typisch von dir. Die Arbeit ruft und du springst. Wozu sollen wir denn überhaupt reden? Du änderst dich ja doch nie“, schrie Laura und knallte ihm so fest die Haustür vor der Nase zu, dass er automatisch einen Schritt zurückwich und fast die Treppe heruntergefallen wäre.
Er schüttelte nur resignierend den Kopf, zückte sein Handy und schrieb Weber eine kurze Nachricht, dass er in zehn Minuten im Revier sein würde. Dann ging er zu seinem Auto zurück und fuhr los. Als er kurz zum Haus zurücksah, erkannte er, dass seine Ex-Frau im Wohnzimmer hinter den Vorhängen stand und ihn beobachtete. Am liebsten hätte er ihr jetzt den Mittelfinger gezeigt, weil er sich noch immer so sehr aufregte, aber erstens würde das nichts bringen und zweitens könnte Joy ebenfalls dort stehen, und sie bekam sowieso schon mehr als genug von dem Kleinkrieg zwischen ihren Eltern mit. Er wünschte sich inständig, dass irgendwann einmal eine Zeit kommen würde, wo sie sich wieder gut verstanden oder sich wenigstens respektierten und miteinander in einem Raum sein konnten, ohne sich sofort an die Gurgel zu gehen. An Weihnachten letztes Jahr hatten sie es versucht, und das Ergebnis war ein unglaublich verkrampfter Abend gewesen, an dem beide kaum ein Wort gesprochen hatten, aus Angst den anderen damit unabsichtlich zu provozieren. Da ging er doch lieber zur Wurzelbehandlung zum Zahnarzt, als das dieses Jahr noch einmal durchstehen zu müssen. Klar, Joy zuliebe würde er es natürlich dennoch tun, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass so ein Abend für Joys Psyche besser war, als getrennte Weihnachtsfeiern. Je näher er allerdings dem Polizeirevier kam, desto mehr drehten sich seine Gedanken darum, was ihn gleich erwarten würde. Er parkte sein Auto in der kleinen Seitenstraße zwischen dem Rathaus und dem Polizeirevier und ging dann schnellen Schrittes zu seinem nächsten Auftrag.
Kapitel 3
Weber empfing ihn bereits an der Eingangstür. „Da bist du ja endlich.“ Das Gesicht des sowieso schon übergewichtigen und zu Bluthochdruck neigenden Mannes war jetzt nahezu dunkelrot und auf seiner Stirn glitzerten Schweißperlen.
„Mann, du musst mich ja vermisst haben“, meinte Lehmann grinsend.
„Du hast gut reden, du musst dir hier die Schimpftiraden des Hauptkommissars ja nicht anhören. Du glaubst gar nicht, was hier los ist, seit die erste Meldung reingekommen ist, dass an der Sparkasse irgendwas nicht stimmt. Das Ganze ist ein Irrenhaus hier. Du kennst ja den Ablauf bei so großen Fällen … Spezialisten aus den umliegenden Städten anfordern … noch mehr Leute von der Spurensicherung, extra Polizeibeamte um alle Geiseln befragen zu können, Psychologen und und und. Und wenn das nicht schon hektisch genug wäre, kommen auch noch alle naselang irgendwelche „besorgten“ Bürger hier reinmarschiert, die denken, sie kriegen mal eben ein paar Spezialinfos oder könnten ein Blick auf den Täter erhaschen. Am besten noch schnell ein Foto machen.“
Leonard amüsierte sich innerlich. Er hatte lange genug auf dem Herner Revier gearbeitet, bevor er in sein schickes Büro in Essen versetzt worden war, um zu wissen, dass es hier wirklich eine Menge fähiger und tatendurstiger Polizisten gab oder wie in Salims Fall sogar angehende Koryphäen, aber Weber gehörte bestimmt nicht dazu. Weber stand kurz vor der Rente, war übergewichtig und hatte Angst vor seinem eigenen Schatten. Er zählte praktisch die Tage bis zum Ruhestand, trank literweise Kaffee und verabscheute Aufregung jeglicher Art.
Während sich Leonard im Gehen die Jacke auszog, ließ er sich von Weber auf den neuesten Stand bringen und begab sich dann direkt in das Büro des Hauptkommissars. Es war zwar nicht besonders groß, hatte dafür aber den Luxus von Glaswänden und bot so wenigstens ein bisschen Ruhe. Durch Jalousien, die man herunterziehen konnte, ermöglichte es auch ein wenig Privatsphäre, während die anderen Polizeibeamten allesamt zusammengepfercht in einem Großraumbüro saßen. Gerade bei wichtigen Fällen, wenn er sich geistig auf Verhöre hatte vorbereiten müssen, hatte er sich damals immer ein abgeschiedenes und supermodernes Büro gewünscht, so, wie es in vielen Großstädten gang und gäbe war. Mittlerweile besaß er ein Büro, das sogar noch größer als das von Gunhardt war und wo ihm die Stille manchmal sogar zu viel wurde. Die Jalousien waren heute allerdings geöffnet und so konnte Lehmann sehen, dass der sonst so ruhige Hauptkommissar nervös in seinem Büro auf und ab tigerte. Was aber natürlich auch kein Wunder war, bei so einem Fall.
Er klopfte kurz an, trat dann ein und Gunhardt bedeutete ihm, die Tür hinter sich zu schließen. In den nächsten zehn Minuten versorgte ihn sein ehemaliger Chef mit noch mehr Infos und sie besprachen das weitere Vorgehen miteinander.
Da das Herner Polizeirevier für solche Fälle nicht gerüstet war und noch nicht einmal über Verhörräume verfügte, würde alles nun Folgende in Bochum abgewickelt werden, denn dort gab es eine richtige Kriminalpolizei, die bei Morden ermittelte und auch die passenden Räume in ihrem weitaus größeren Revier besaß. Der tatverdächtige Jankowitz würde nun so schnell wie möglich mit einem Gefangenentransport nach Bochum gebracht werden, aber Gunhardt war der Meinung, dass es taktisch am klügsten wäre, wenn Leonard erst auf dem Bochumer Revier auf den Verdächtigen treffen würde und Leonard war ganz seiner Meinung. Denn es wäre zwar ganz interessant, die Körpersprache des Verdächtigen während der Fahrt lesen und ihn bereits genauer unter die Lupe nehmen zu können, aber ohne Anwalt und Aufnahmegerät könnte er sowieso keine verwertbaren Gespräche mit Mark Jankowitz führen. Da war es in der Tat besser, wenn er erst im Verhörzimmer auf ihn traf. Deshalb blieb er im Büro, während Weber, Salim Yilmaz und Michael Schobhauer den Tatverdächtigen in Handfesseln zum Gefangenentransporter führten.
Den sie übrigens auch nicht selber besaßen, sondern sich von einer anderen Dienststelle hatten ausleihen müssen. Denn wie schon erwähnt, waren solche Verbrechen in Herne bis vor Kurzem noch vollkommen undenkbar gewesen. Für alle anderen Delikte hatte stets die Rückbank eines normalen Polizeiautos voll und ganz ausgereicht. Aufgrund der Schwere des Verbrechens wollten sie aber auf Nummer sicher gehen und jede Sicherheitsmaßnahme ergreifen, die sich bot. Weber würde den Transporter fahren, während Yilmaz und Schobhauer hinten den Gefangenen bewachten. Das war mal wieder typisch Weber. Total heiß auf den Fall, große Klappe bis zum Gehtnichtmehr, aber hinten auf engsten Raum mit einem Geiselnehmer und Mörder sitzen … auf keinen Fall. Während Lehmann dem Transporter mit seinem Privatwagen folgte, fragte er sich unwillkürlich, was für ein Mensch ihn wohl gleich erwarten würde.
Ein abgebrühter, knallharter Gangster … ein unscheinbarer Mensch, dem man das Ganze niemals zutrauen würde … oder vielleicht jemand, der auf den ersten Blick, für das normale Auge ganz harmlos aussah, aber diesen ganz speziellen Blick hatte? Im Laufe seiner Karriere und bei unzähligen Verhören hatte er festgestellt, dass viele Mörder und Vergewaltiger, diesen ganz speziellen Blick hatten. Er konnte es gar nicht genau beschreiben. Die Augen waren irgendwie tot, seltsam leblos, als wenn sämtliche Emotionen herausradiert worden wären. Wenn Augen tatsächlich die Spiegel der Seele waren, dann sah man bei diesen Menschen nur eine gähnende Schwärze. Dort war nichts … keine Liebe, keine Emotionen, kein Mitgefühl, keine Empathie. Sie schienen förmlich durch einen hindurch zu starren und selbst wenn diese Personen lächelten, erreichte dieses Lächeln niemals ihre Augen. Er hatte von Hauptkommissar Gunhardt schon gehört, dass dieser Mann sich seiner Festnahme nicht widersetzt hatte und die ganze Zeit die Ruhe selbst gewesen war. Mal schauen, ob das jetzt nach einer Weile im Herner Polizeirevier, nach dem Transport und später bei seinem Verhör noch genauso sein würde oder ob Mark Jankowitz mittlerweile doch ins Schwitzen geraten war.
Meist waren es nur Kleinigkeiten und Andeutungen, die lediglich einem so erfahrenen Verhörspezialisten wie ihm auffielen, die für ihn aber aufschlussreicher als jeder Lügendetektortest waren. Ein unmerkliches Zittern der Hände, das Verändern der Stimmlage, ein Zucken der Augen in eine bestimmte Richtung oder unwillkürliche Schweißbildung. All das verriet ihm automatisch, ob ein Täter nervös war, ob er gerade log oder ob er Angst verspürte, auch wenn er nach außen hin scheinbar ganz ruhig war. Leonard parkte seinen Wagen nun auf dem Parkplatz der Bochumer Kripo in Sichtweite des Gefangenentransporters, aber doch so weit weg, dass er Mark Jankowitz beim Aussteigen zwar beobachten konnte, ihn dieser jedoch nicht bemerkte. Auch beim Aussteigen war der Mann scheinbar vollkommen ruhig und gelassen. Er leistete keinerlei Gegenwehr und ließ sich von den Beamten in aller Ruhe zum Kripogebäude führen. Statt eines Geiselnehmers und Mörders sah der Mann eher so aus, als würde er die Last der Welt auf seinen Schultern tragen. Er ging vornübergebeugt und schlurfte vor sich hin, als wenn er nicht die Kraft dazu hätte, die Füße vom Boden zu heben, und seine Schultern waren so hochgezogen, dass sie fast die Ohren berührten. War es die Schuld am Tod des Rentners, die ihn so sehr belastete? War er vielleicht gar nicht so abgebrüht und der Mord war gar nicht geplant gewesen, sondern nur eine Tat im Affekt oder ein Unfall? Aber selbst wenn, dann hatte dieser Mann Helmut Weißenberger umgebracht, und zwar mit einem Kopfschuss, und er hatte alle Menschen in der Sparkasse als Geiseln genommen. Für so etwas brauchte man Abgebrühtheit und einen Killerinstinkt. Er wartete, bis seine drei Kollegen mit Jankowitz im Gebäude verschwunden waren, dann ging er langsam hinterher. Während der Tatverdächtige direkt in einen der Verhörräume geführt wurde, unterhielt sich Leonard noch kurz mit Michael Altmeier, dem Leiter der Bochumer Kripo. Alle hier waren natürlich schon genauestens über den Fall informiert worden und kannten sämtliche Details. Leonard atmete noch einmal tief ein und aus und begab sich dann in den Verhörraum. Er hoffte, dass das Ganze aufgrund der glasklaren Beweise schnell gehen würde, befürchtete aber schon jetzt, dass er die nächsten Stunden in dem winzigen Raum verbringen müsste. Während seine Kollegen im Nebenzimmer Platz nahmen und sich das Ganze über die im Verhörraum angebrachte Kamera anschauen würden, betrat er jetzt das Zimmer, in dem er auf Mark Jankowitz treffen würde.
Kapitel 4
Nachdem er den Verhörraum verlassen und sich einen Kaffee eingeschenkt hatte, leerte er den Becher mit zwei großen Zügen und wusste schon jetzt, dass er nachher Sodbrennen von dem Zeug haben würde. Die Kripo hatte garantiert einen weitaus höheren Etat zur Verfügung als das Revier in Herne und trotzdem schmeckte der Kaffee hier noch schlechter und das war schon eine echte Kunst. Wenn er hierhin beordert wurde, fuhr er normalerweise erst einmal in die Innenstadt und machte einen kurzen Abstecher zum Starbucks, bevor er hier auftauchte, aber heute hatte dazu leider die Zeit gefehlt. Er zerknüllte den Pappbecher, warf ihn in den Abfall und begab sich dann wieder zum Verhörraum. Als er gegangen war, hatte ein Kollege Mark Jankowitz gerade auf Schmauchspuren untersuchen wollen, aber Leonard hatte den Mann gebeten, damit zu warten, bis er wieder im Zimmer war, denn er wollte den Geiselnehmer erst noch ein wenig allein zappeln lassen. Nichts machte einen nervöser, als ganz allein in diesem kleinen deprimierenden Raum zu sitzen und nicht zu wissen, wie es weiterging und wie lange man noch warten musste. Mit dieser Zermürbe-Taktik hatte er schon so manchen kleingekriegt. Als er wieder in den Raum trat, saß Jankowitz noch genauso in sich zusammengesunken da, wie vorher.
„Und? Wollen Sie mir vielleicht jetzt die Wahrheit sagen?“, fragte Leonard und setzte sich dem Geiselnehmer wieder gegenüber. Er bemühte sich um einen verständnisvollen Ausdruck im Gesicht und um eine beruhigende Stimme: „Wenn Sie mir die Wahrheit sagen und mir genau erklären, warum Sie es getan haben, dann kann ich vielleicht mildere Umstände für Sie herausschlagen. Aber dafür muss ich das Ganze erst einmal verstehen können.“ Diese Masche zog für gewöhnlich ganz gut bei denjenigen, die nicht ganz so abgebrüht waren und bei denen noch ein Funken Schuldgefühl und Reue existierten.
Mark Jankowitz sah ihn aus seinen blutunterlaufenen Augen an und da war er … der berühmte leere und tote Blick. Es schien so, als würde der Mann geradewegs durch den Kriminalhauptkommissar hindurchsehen. „Ich wollte keine Geiseln nehmen, ich wollte wirklich nur das Geld haben, es sollte niemand zu Schaden kommen. Und ich habe den älteren Herrn nicht erschossen.“
In diesem Moment klopfte es leise an der Tür und der Mann von der Spurensicherung kam herein.
„Ah, wie aufs Stichwort“, sagte Leonard und lachte trocken.
Der Spurensicherer stellte seinen Untersuchungskoffer auf dem Tisch ab und fing dann an, allerlei daraus hervorzukramen. Während er sich nun aufmerksam dem Gesicht und den Händen von Mark Jankowitz widmete, fuhr Leonard mit seiner Befragung fort.
„Lassen wir die Geiselnahme und den Mord an Helmut Weißenberger im Moment erst einmal kurz außen vor und fangen stattdessen doch mal ganz am Anfang an. Was war Ihr Motiv? Warum wollten Sie die Sparkasse überhaupt ausrauben? Für ein neues Auto … ein neues Haus? Oder wollten Sie auswandern … sich irgendwo an einem Traumstrand im Süden zur Ruhe setzen? Was hat Sie auf diese Idee gebracht?“
Mark Jankowitz starrte ihn zwar unverwandt an, schien aber gar nicht mitbekommen zu haben, dass der Kriminalhauptkommissar zu ihm sprach. Er ließ die Untersuchung des Spurensicherungsbeamten ohne mit der Wimper zu zucken über sich ergehen, machte aber keinerlei Anstalten, auf die Frage von Leonard zu antworten. Dieser beugte sich daraufhin über den Tisch, bis er nur noch ein paar Zentimeter entfernt war und sagte dann verschwörerisch: „Kommen Sie schon … wofür wollten Sie das Geld? Ich will Ihnen doch nur helfen, aber dafür müssen Sie schon mit mir zusammenarbeiten und mir die Wahrheit sagen.“
Jankowitz blinzelte nun mehrmals hintereinander, so als würde er aus einem tiefen Traum erwachen. Obwohl die Pupillen normal aussahen, würde Lehmann sicherheitshalber auch noch einen Drogentest anordnen, denn der Typ wirkte, als wenn er bis zu den Haarspitzen high wäre. Oder war er wirklich so eiskalt und abgebrüht, dass ihn das Ganze hier überhaupt nicht berührte? In diesem Fall hatten sie es mit einem wirklich gefährlichen Verbrecher zu tun, der mit äußerster Vorsicht zu behandeln war. Aber Leonard war ein Profi in diesem Spiel und deshalb starrte er Mark Jankowitz einfach genauso aufmerksam an und schwieg. Dies war die beste Taktik, um jemanden zum Reden zu animieren, da der andere dann nämlich immer unweigerlich versuchte, die unangenehme Stille zu füllen, indem er etwas sagte. Und in der Tat, Jankowitz sagte jetzt etwas, allerdings so leise, dass Leonard es nur anhand seiner Lippenbewegungen mitbekommen hatte.
„Was haben Sie gesagt?“, fragte er nach. „Sie müssen bitte lauter sprechen, damit das Mikrofon es aufzeichnen kann.“
Der Mann räusperte sich einmal und sagte dann tonlos: „Meine Frau!“
Lehmann starrte den Mann verwirrt an. „Was ist mit Ihrer Frau?“
„Sie wollten wissen, weshalb ich es getan habe. Wegen meiner Frau! Ich habe das Geld wegen meiner Frau gewollt.“
Leonard jubelte innerlich. Endlich hatten sie etwas in der Hand. Etwas, mit dem sie arbeiten konnten. Wahrscheinlich hatte die Frau ihn unter Druck gesetzt. Hatte immer kostspieligere Wünsche gehabt. Oder hatte gedroht, ihn zu verlassen. Er musste sofort zwei Beamte zu Jankowitz’ Wohnung fahren lassen und die Frau aufs Revier holen. Vielleicht war sie ja gesprächiger als ihr Mann. Der Spurensicherungsbeamte erhob sich nun und packte seinen Koffer wieder zusammen. Als er den Raum verließ, folgte ihm Lehmann, denn er wollte die Ergebnisse der Untersuchung bestimmt nicht vor Jankowitz erörtern.
„Ich komme gleich zurück“, sagte er nur und schloss sorgfältig die Tür. Da der Mann unter Kameraüberwachung stand, konnte nichts passieren, wenn er zwischendurch mal den Raum verließ.
„Einen Moment bitte“, bat er den Mann von der Spurensicherung und ging dann schnell in den Raum, in dem die anderen zuständigen Beamten saßen und das Verhör verfolgt hatten. „Schickt bitte sofort zwei Beamte zu Jankowitz’ Haus, ich will dringend mit der Frau sprechen. Mal schauen, ob sie von dem tollen Plan ihres Mannes wusste und schon hektisch am Kofferpacken ist oder ob sie sich gerade fragt, wieso Mark zu spät zum Mittagessen kommt und absolut ahnungslos ist. Sie wird auf jeden Fall ein wenig Licht ins Dunkle bringen.“ Altmeier wandte sich nun an ihn: „Ist in Ordnung, wir schicken sofort jemanden los. Was sagt denn der Mann von der Spurensicherung? Hat Jankowitz den Rentner wirklich nicht erschossen?“
Lehmann zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung, er wartet noch vor dem Verhörzimmer. Ich höre mir jetzt die Ergebnisse an, aber wundern würde mich da überhaupt nichts mehr. Dieser Jankowitz gibt mir wirklich Rätsel auf. Ich bin gespannt, was uns die Frau sagen kann. Ich will wissen, ob Jankowitz immer so ein extrem ruhiger, fast apathischer Kerl ist, oder ob das mit der Tat zu tun hat. Hatte er diesen Killer-Charakter schon immer … pragmatisch, gefühlskalt und rational oder ist es nur eine Affekthandlung gewesen und der Kerl steht einfach nur komplett unter Schock, weil er über seine eigene Tat so fassungslos ist?“
Er nickte den anderen kurz zu und ging dann zu dem Beamten der Spurensicherung, der immer noch vor dem Verhörzimmer wartete. „Und, was hast du herausgefunden?“, fragte Leonard neugierig.
„Ehrlich gesagt, genau das, was ich erwartet habe. Es finden sich deutliche Schmauchspuren an den Händen von Mark Jankowitz. Er hat die Waffe ganz eindeutig abgefeuert. Wer sollte Helmut Weißenberger denn auch sonst erschossen haben? Eine der anderen Geiseln? Ist doch klar, dass er es war.“ Kriminalhauptkommissar Lehmann knirschte mit den Zähnen. Natürlich hatte er insgeheim genau diesen Befund erwartet, aber es ärgerte ihn trotzdem maßlos, dass ihm der Kerl da drinnen so eiskalt ins Gesicht log. Denn wenn jemand schon bei so offensichtlichen und leicht nachzuweisenden Dingen log, war es wie ein 5000-Teile-Puzzle – man musste alles auseinander fummeln, was er aussagte, und fragte sich dann ständig, ob er dieses Mal wohl die Wahrheit sagte.
Das würde ein langer, sehr langer Tag werden. Sehnsüchtig dachte er noch einmal an seine Verabredung zurück. Eigentlich hätte er doch heute Abend mit einer hübschen Frau gemütlich im Bermuda Dreieck sitzen und genüsslich ein paar Drinks kippen wollen. Anschließend vielleicht noch etwas Leckeres essen in diesem tollen Restaurant, das sich ebenfalls im Bermuda Dreieck befand … Und dazu noch dieses ganze Desaster mit seiner Tochter. Er seufzte einmal schwer, straffte dann aber seine Schultern und trat wieder in den Verhörraum.
„Ich weiß ja nicht, wie viel Sie über die Arbeit der Polizei wissen, aber wir haben durchaus so unsere Möglichkeiten, und auch wenn Sie es anscheinend spaßig finden, mich anzulügen, hat die Untersuchung des Beamten von der Spurensicherung doch ganz klar ergeben, dass Sie die Waffe abgefeuert haben. Sie haben Helmut Weißenberger kaltblütig hingerichtet. Was war der Grund dafür? Hat er fliehen wollen? Hat er es geschafft, einen Anruf zu tätigen, oder ging er Ihnen einfach nur auf die Nerven?“ Leonard sah Mark Jankowitz herausfordernd an.
„Ich habe ihn nicht erschossen! Ich schwöre es.“
Leonard schnaubte. „Und wie erklären Sie sich dann die Schmauchspuren an Ihren Händen? Waren Sie, bevor Sie beschlossen haben, eine Bank auszurauben, vorher mal eben noch ein bisschen auf dem Schießplatz trainieren?“
„Ich habe die Waffe ja in den Händen gehalten, das gebe ich zu. Aber ich habe nicht geschossen. Helmut Weißenberger wollte sich selbst erschießen! Aber das konnte ich doch nicht zulassen! Deshalb habe ich versucht, ihm die Waffe wegzunehmen, aber er wollte einfach nicht loslassen und dann hat sich plötzlich ein Schuss gelöst. Aber es war keine Absicht. Ich habe ihn nicht erschossen. Ich wollte ihn doch nur retten. Ich wollte verhindern, dass er sich das antut“, schluchzte der Mann.
Lehmann starrte ihn fassungslos an und warf dann einen entgeisterten Blick zur Kamera, die alles aufzeichnete. Er wunderte sich, dass er die Kollegen nebenan nicht bis hierher vor Lachen brüllen hören konnte. Die lagen doch bestimmt unterm Tisch vor Lachen.
„Sie wollten Herrn Weißenberger also nur retten? Während Sie in der Sparkasse eine Geiselnahme durchführten, beschloss ein unbescholtener Rentner, dass heute der perfekte Tag wäre, um sich zu erschießen? Dafür hat er sich mal eben Ihre Waffe ausleihen wollen und weil Sie ja so ein Menschenfreund sind, haben Sie natürlich alles in Ihrer Macht Stehende getan, um das Ganze zu verhindern und sogar noch versucht, ihm die Waffe aus der Hand zu reißen? Dann haben wir Sie ja vollkommen falsch eingeschätzt … man, da sitzt ja ein richtiger Held vor mir. Da muss ich doch eigentlich gleich den Bürgermeister anrufen, dass Sie einen Herner Ehrenpreis verliehen bekommen.“
Mark Jankowitz öffnete den Mund, und Leonard war mehr als gespannt, welche Antwort er nun zu hören bekommen würde, aber mit dem Folgenden hätte er als Letztes gerechnet.
„Wäre es vielleicht möglich, dass ich mal kurz telefonieren könnte? Es ist wirklich dringend.“
Leonard brauchte ein paar Sekunden, um das zu verarbeiten.
„Sie wollen jetzt telefonieren? Mit wem … wollen Sie jetzt doch einen Anwalt?“
Mark Jankowitz schüttelte den Kopf. „Nein, es ist etwas Privates.“
„Ein privates Telefonat … das fällt Ihnen jetzt mitten in einem Verhör ein? Vielleicht noch ein Stückchen Kuchen, einen Karamell-latte und ein gutes Buch dazu? Ich will ja nicht, dass Sie sich während meines Verhörs langweilen“, erwiderte Leonard aufgebracht.
Mark Jankowitz starrte ihn verständnislos und fragend an.
„Nein, Sie können momentan nicht telefonieren, außer das Gespräch geht an einen Anwalt“, erklärte Leonard zähneknirschend.
Mann, der Kerl hatte vielleicht Nerven. Das war doch echt nicht zu fassen.