Kapitel eins
Liebste Harriet,
wir freuen uns so, dass Venedig dir gefällt! Es ist drei Wochen her, dass euer Skandal für ein gesellschaftliches Erdbeben gesorgt hat, und ihr beide seid immer noch so populär wie eh und je! Einige reden mit Neid von deiner Heirat! Wir hier am Berkeley Square 48 sind begeistert, dass du dich für die Liebe entschieden und auf alles andere gepfiffen hast, und wir halten unverbrüchlich zu dir. Ich denke, wenn ihr aus den Flitterwochen zurückkommt, wird es längst einen neuen Skandal geben, der deine Wahnsinnstat in den Schatten stellt. Ich sage das, weil deine Kühnheit unserem Klub neues Leben eingehaucht hat. Ich habe eine skandalöse Wette angenommen und gestehe, dass ich Angst habe, denn eine junge Lady sollte bei allem Streben nach Glück nicht zu viel riskieren. Ich weiß das, aber ein geheimer Teil von mir sehnt sich danach, die Anstandsregeln abzuschütteln, die mein Leben bestimmt haben, und ein solches Glück zu finden wie viele meiner Freundinnen.
Vielleicht musste ich diesen Brief schreiben, denn dadurch bin ich mir nun noch sicherer, dass ich mich verkleiden und die Herausforderung annehmen werde, die kein Geringerer als Ethan Dorchester, der Earl of Towsend, gestellt hat.
Ich weiß, wir haben alle einmal geschworen, den Earl bei allen Wetten und Mutproben aus dem Spiel zu lassen, weil sein Ruf zu skandalös ist. Aber ich hatte keine Wahl. Ich werde dir alles erklären, wenn wir uns wiedersehen, Harriet, und bitte dich, sei nicht böse auf mich. Ich habe zwar Angst, aber der Reiz des Verbotenen ist einfach unwiderstehlich. Ausnahmsweise werde ich einmal nicht brav sein … sondern mutig und endlich nach dem Stern greifen, der uns immer so unerreichbar schien.
Deine Freundin
Lady Victoria Knightly
Drei Wochen zuvor
Das erstickte Schluchzen von Miss Elaine Hartigan löste einen Schwall komplizierter Gefühle in Lady Victoria Knightly aus. Es gab unzählige Gründe dafür, dass all diese Empfindungen ihr gerade das Herz erdrückten. Erstens hasste sie es, ihre Cousine derart verzweifelt zu sehen. Zweitens konnte sie nicht verstehen, warum Elaine nicht begeistert war, dass ein Gentleman von derart angesehenem Stand und mit exzellenten Verbindungen in der Gesellschaft ihr den Hof machen wollte.
Würde Victoria eine Bitte erhalten, ob man ihr den Hof machen dürfe, so wie Elaine vorhin eine erhalten hatte, würde sie wahrscheinlich vor Freude darüber tanzen, dass sie sich endlich einen Verehrer gesichert hätte. Stattdessen hatte Elaine sich die pragmatischen Ausführungen ihrer Tante angehört und war dann in ihr Zimmer gestürmt, um sich dramatisch auf ihr Bett zu werfen und bitterlich zu weinen. Auch nach einigen Minuten sah es nicht so aus, als würden die Tränen bald versiegen.
Victoria setzte sich auf das weiche Bett und berührte sanft die bebende Schulter ihrer Cousine. „Elaine, bitte erzähl mir, was dich so betrübt. War es wirklich der Besuch des Earls, dessentwegen du derart verzweifelt bist?“
Auch wenn Victoria nicht zu Hause gewesen war, während der Earl Elaine besucht hatte, war ihr diese Neuigkeit sofort von ihrem älteren Bruder zugetragen worden – vom ehrenwerten Alexander Knightly, Viscount Radcliffe.
„Ich fühle mich, als würde mein Herz zerspringen, Torie!“
Elaines gedämpftes Wehklagen rüttelte erneut an Victorias Herz. Auch wenn ihre Cousine zwei Jahre jünger war, standen sie sich sehr nahe und vertrauten einander. Trotzdem gab es Dinge, die Victoria ihrer quirligen Cousine nicht erzählte, wie beispielsweise ihr aufregendstes Geheimnis, dass sie ein geschätztes Mitglied des geheimen Damenklubs am Berkeley Square 48 war. Dieser gehörte der allseits bekannten Duchess of Hartford. Ein Klub, dessen Mitglieder sich häufig in Skandale verstrickten, weil sie allerlei Schabernack anstellten. Vor einigen Tagen hatte eine Nachricht die Stadt erreicht, dass Miss Harriet Thompson, Klubmitglied und geschätzte Freundin, mit dem Earl of Warwick durchgebrannt war. Die Gesellschaft war deshalb in Aufruhr, und die Namen der beiden waren auf dem letzten Ball, den Victoria besucht hatte, sowohl mit Spott als auch mit Bewunderung erwähnt worden.
„Oh, was soll ich nur tun, Torie?“, schluchzte Elaine ins Kissen.
„Schon ein ganzes Jahr lang sprichst du davon, dass du heiraten und diese Saison einen Verehrer finden willst, Elaine“, sagte Victoria sanft. „Und angesichts des schmeichelhaften Interesses, das der Earl dir entgegenbringt, könnte dein Wunsch bald in Erfüllung gehen. Warum weinst du, als wäre Sir Mops gerade gestorben?“
Sir Mops war Victorias geliebter Schoßhund, den auch ihre Cousine innig liebte. Elaine hob den Kopf vom Kissen, der Blick aus ihren geröteten Augen war voller Kummer. Sie sah wirklich hübsch aus mit ihren wallenden kastanienbraunen Locken und den glitzernden grünbraunen Augen. Ihr scharfer Witz stand ihrer Schönheit in nichts nach, was ihr die Herzen vieler Gentlemen im ton hatte zufliegen lassen. Elaine genoss die Aufmerksamkeit. Allein im letzten Monat hatte sie drei Bitten erhalten, ob man ihr den Hof machen dürfe, wenn auch keine so bemerkenswert gewesen war wie die des Earls.
„Ich wünsche mir nicht, dass der Earl um mich wirbt, noch würde ich ihn heiraten, sollte er mir einen Antrag machen. Ich bin in Mr Bertram verliebt.“
Einen Moment lang war Victoria völlig entgeistert. „Papas Anwalt?“
„Warum bist du so entsetzt?“
Noch immer leicht benommen erwiderte Victoria: „Sicherlich verlangt meine Reaktion keine Erklärung.“
Elaines Gesichtsausdruck wurde weich und ein sanftes Lächeln trat auf ihre Lippen. „Ja, der Mann, den ich heiraten will, ist Onkels Anwalt. Wir lieben uns, Torie!“
„Du liebe Güte!“ Wie hatte niemand in ihrem Haus bemerken können, dass Elaine und der junge, wenngleich sehr intelligente und ehrgeizige Mr Bertram eine Bindung zueinander aufgebaut hatten?
Victoria presste sich eine Hand auf ihr plötzlich rasendes Herz, als sie sich mit aller Lebhaftigkeit an scheinbar unschuldige Begegnungen erinnerte.
Elaine, die errötet war, als Mr Bertram sie und Victoria bei ihrer Rückkehr ins Stadthaus lediglich begrüßt hatte.
Die verstohlenen Blicke der Sehnsucht, die Elaine ihm über den Tisch hinweg zugeworfen hatte, wenn er zum Abendessen geblieben war.
Wie er aus dem Salon ihres Landsitzes in den Garten geeilt war, um Elaine hineinzutragen, als diese sich den Knöchel verdreht hatte.
Der Blumenstrauß, den er ihr mit der Nachricht gebracht hatte, er wünsche ihr eine schnelle Genesung. Der Strauß hatte in Elaines Schlafzimmer gestanden, bis er verwelkt gewesen war.
„Du liebe Güte“, wiederholte Victoria, die nun diese und so viele andere Momente in völlig neuem Licht sah. Welcher Natur auch immer diese Verbindung war, sie entwickelte sich bereits über Monate. „Warum hat er dir keinen Antrag gemacht?“
Elaine errötete und rang ihre Hände. „Mein Onkel und Vormund ist ein Earl, Torie. Mr Bertram hat weder Verbindungen noch Wohlstand, um einen Antrag zu rechtfertigen.“
Victoria blinzelte. „Wenn das deine Sicht auf die Angelegenheit ist, wie stellst du dir dann eine Zukunft mit Mr Bertram überhaupt vor?“
Elaine reckte das Kinn und ein trotziges Funkeln trat in ihre Augen. „Ich werde in sechs Wochen einundzwanzig Jahre alt. Dann werde ich Onkels Segen für unsere Verbindung nicht mehr benötigen und außerdem das bescheidene Erbe meiner Mutter erhalten.“
„O Elaine“, entgegnete Victoria und ihr Herz erbebte vor Schreck. „Du planst durchzubrennen?“
Das Rot von Elaines Wangen wurde dunkler und sie nickte. „Aber nur, wenn Onkel Robert Mr Bertram zurückweist. Onkel bewundert den Verstand von Mr Bertram und glaubt, dieser habe eine strahlende Zukunft vor sich. Trotzdem sprechen Onkel und Tante so häufig von dieser Partie mit guten Verbindungen, die sie für mich erwarten. Deshalb glaube ich nicht, dass Onkel unserer Verbindung zustimmen würde. Mr Bertram und ich haben beschlossen, ihn eine Woche vor meinem Geburtstag um Erlaubnis zu bitten. So können wir dann, wenn er sie uns verwehrt … wir können …“
„Durchbrennen“, beendete Victoria den Satz leise.
Rebellischer Zorn flackerte in Elaines Blick auf. „Bis nach Gretna Green, wenn wir müssen!“
„Ein sehr kühner Plan.“ Der eines Mitglieds vom Berkeley Square 48 würdig wäre, aber mit Sicherheit viel zu skandalös war. Solch ein Handeln würde den prüfenden Blick des ton auf den Ruf der Familie ziehen, besonders auf Elaines. Irgendwie fand die Gesellschaft es immer heraus, wenn jemand durchgebrannt war. „Hast du überhaupt keine Gefühle für Lord Townsend?“
„Gefühle?“ Elaine verengte die Augen. „Ich habe heute das erste Mal mit diesem Gentleman gesprochen und es war entschieden unangenehm. Er ist so … still. Es ergibt keinen Sinn, aber so fühlte es sich für mich an.“
Victorias Herz machte einen Satz. „Was?“
Elaine rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. „Ich habe überhaupt kein Gefühl dafür bekommen, wer der Earl ist. Warum Lord Townsend Onkel um Erlaubnis bat, mir den Hof machen zu dürfen, ist mir ein Rätsel. Bist du mit ihm bekannt, Torie?“
Eine sachte Beunruhigung schwoll in Victorias Herzen an und eine fast verblasste Erinnerung tanzte am Rande ihres Verstandes. Doch wenn sie versuchte, den Finger daraufzulegen, warum der Name ihr so bekannt vorkam, wollte es ihr nicht gelingen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin dem Gentleman noch nie begegnet, noch kann ich mich daran erinnern, je von ihm gehört zu haben, aber …“
Sie unterbrach sich, als Elaine plötzlich vom Bett aufsprang, in der Schublade ihres Schreibtisches herumwühlte und dann mit einigen Zeitungsausschnitten aus diversen Skandalblättern zurückkehrte. „Sieh dir diese an. Der Mann ist ein verkommener Spieler! Sicher, er ist unfassbar wohlhabend, aber darüber hinaus weiß ich nicht, wie Tante zu dem Schluss kommt, er wäre eine gute Partie für mich.“
Victoria nahm die Ausschnitte und überflog die Stellen, die Elaine unterstrichen hatte.
Der E of T gewinnt weitere eintausend Pfund aus einer Wette mit dem M of D, nach der er gestern die präzise Zeit voraussagte, wann der Regen beginnen würde. Er ist ein Gentleman, der seinem scharfsinnigen Ruf gerecht wird.
Ein verwirrtes Lachen entwich Victoria, während sie die Texte las. Das war absurd. Wie konnte jemand darauf wetten, wann sich die Himmelspforten öffnen und ein Regenguss niedergehen würde? Sie las über einige weitere, noch lächerlichere Wetten, die der Earl angeblich abgeschlossen hatte – wenn er denn tatsächlich der E of T war, um den es hier ging.
Der E of T gewinnt eine weitere bemerkenswerte Wette über fünftausend Pfund. Mr Dobson gewann seinen Boxkampf – sehr zur Verärgerung aller, die auf den berühmten Mr Pullman gesetzt hatten.
„Warum hast du diese Zeitungsausschnitte, Elaine?“
Ihre Cousine schnaufte verlegen und errötete erneut, ehe sie leise gestand: „Vielleicht bin ich dem Earl bereits einmal auf dem Ball von Lady Cunningham begegnet. Und da ich neugierig war, habe ich einige Erwähnungen seiner Person in den Skandalblättern gesammelt.“
„Elaine!“
Ihr Mund verzog sich zu einem aufsässigen Schmollen. „Er hat mich einmal zum Tanzen aufgefordert. Es war eine Quadrille und wir haben kaum miteinander gesprochen. Am Morgen darauf hat er mich weder besucht, noch hat er Blumen geschickt. Ich war neugierig, doch es war eine flüchtige, unbegründete Neugier, Torie. Der Earl weiß nicht, dass ich einige Tage lang über ihn nachgedacht habe. Mit Sicherheit zählt das nicht!“
„Aber es war ausreichend, dass du diese Zeitungsausschnitte gesammelt hast? Den Earl muss diese Begegnung sehr bewegt haben, warum sonst wird er um Erlaubnis gebeten haben, dir den Hof machen zu dürfen?“
Das Rot der Wangen ihrer Cousine wurde wieder dunkler. „Aber das war vor Wochen.“
„Macht es das nicht besser? Sicher, es ist etwas Zeit verstrichen, aber er konnte dich offenbar nicht vergessen. Das zeigt uns nur, dass du einen sehr vorteilhaften Eindruck auf ihn gemacht hast.“
Elaine biss auf ihrer Unterlippe herum. „Auch wenn unsere Begegnung nur sehr kurz war, erschien mir die Aufmerksamkeit von Lord Townsend sehr furchteinflößend und intensiv … und einen wilden Moment lang dachte ich, ich könnte ihn vielleicht mögen … aber dann habe ich begonnen, ernsthaft Zeit mit Mr Bertram zu verbringen. Mit ihm will ich vor den Altar treten und den Rest meines Lebens verbringen, Torie. Es würde mich umbringen, wenn man mich in eine Ehe mit dem Earl zwänge.“
Victoria seufzte verärgert. „Elaine …“
„Ich weiß, dass du nicht an die Liebe glaubst, aber ich tue das!“
Das ließ Victoria zusammenzucken. „Ich habe nie gesagt, dass ich nicht an die Liebe glaube. Ich sehe … ich sehe genug vom Glück meiner Freundinnen, also weiß ich, dass es etwas Zärtliches in ihren Herzen geben muss.“
Ihre Cousine schnaubte wenig damenhaft, woraufhin sich Victorias Hals zuschnürte. Alles, was sie über die Ehe wusste, war, dass Ehemann und Ehefrau gemeinsam Probleme bewältigten. Dennoch hatte die Tragödie zwischen ihren eigenen Eltern Victoria bereits enttäuscht, was Gefühle und Liebe anging.
Gibt es das überhaupt?
Gab dieses Gefühl angeblicher Liebe einem die Kraft, der Versuchung zu widerstehen und die Spuren der Zeit zu überwinden? In einer Kindheitserinnerung sah Victoria noch vor sich, wie ihr Vater ihre Mutter anschaute, als wäre diese sein Ein und Alles. Er neckte und küsste seine Countess, woraufhin diese lächelte und so hübsch errötete. Das Leuchten dieses Lächelns sowie das Funkeln ihrer Augen war verloschen und schließlich zu bitterem Schmerz und Enttäuschung geworden. Dennoch hatte Mama keine andere Wahl, als mit einem Mann verheiratet zu bleiben, dessen Herz von einer wunderschönen Schauspielerin erobert worden war, die mittlerweile seine zutiefst verehrte Mätresse war.
„Liebe ist nicht beständig, Elaine, und sie sollte nicht der einzige Grund für eine Ehe sein“, sagte Victoria warnend. „Versprich mir, dass du deine Entscheidung sehr sorgsam treffen wirst. Schlage das Angebot des Earls nicht einfach in den Wind.“
„Aber das muss ich, Torie. Wie kannst du mir raten, mich gegen mein Herz zu wenden? Ich weiß, dass du dich weder nach der Liebe noch nach einer Ehe sehnst …“
„Natürlich wünsche ich mir, zu heiraten“, unterbrach Victoria sie entrüstet. „Ich will selbst Hausherrin sein und Kinder haben! Ich will nicht für den Rest meines Lebens bei meinen Eltern wohnen und zu einer glücklosen Belastung werden, über die man nur mitleidig flüstert.“
Schuldbewusst wandte ihre Cousine den Blick ab. Doch konnte Victoria Elaine wirklich einen Vorwurf machen? Mehr als einmal hatte Victoria davon gesprochen, dass sie niemandem ihr Herz überlassen würde, der sie dann eiskalt verletzte. Schlimmer noch, Victoria war dazu noch sehr unauffällig. Auch wenn sie Hausherrin sein wollte, hatte sie bisher niemand heiraten wollen. Während sie aufgewachsen war, hatte ihre Mutter immer wieder gepredigt, was für eine hervorragende Partie sie machen würde. Drei Saisons später sprach ihre Familie hinter vorgehaltener Hand darüber, dass sie auf dem Heiratsmarkt versagt hatte.
Victoria war stark genug, den Schmerz in ihrem Herzen zu unterdrücken. Sie gab alles, um diese Wunde in ihrem Inneren zu heilen, und fand Trost in den Freundschaften, die sie am Berkeley Square 48 geschlossen hatte. Es war ein großes Glück für Victoria gewesen, dort als Mitglied angenommen worden zu sein. Auch wenn sie nicht so oft hingehen konnte, wie sie sich gewünscht hätte, und wahrscheinlich das einzige Mitglied war, das nicht alle Angebote und Unterrichtsstunden des Klubs in Anspruch nahm. Sie wurde zu streng von ihrer verheirateten älteren Schwester überwacht – Lady Maryann, Viscountess Weatherburn. Seitdem Victoria vor ein paar Wochen dreiundzwanzig geworden war, schien Maryann jedoch weniger interessiert und streng. Das erlaubte es Victoria, sich mehr als einmal die Woche davonzuschleichen, um ihre Freundinnen zu sehen.
„Warum träumst du vor dich hin, Torie? Bitte sag, dass du mir helfen wirst!“
„Wie das?“ Victoria seufzte, als ihre Cousine das Gesicht verzog. „Ich werde mit Mama sprechen und sie darum bitten, dir zu gestatten …“
„Du weißt doch, dass das nicht reichen wird,“ rief Elaine aus. „Tante schert sich nicht um mein Glück, sondern nur darum, dass ich eine bemerkenswerte Partie mache. Das muss dir klar sein!“
Victoria konnte daraufhin nichts erwidern, denn sie fürchtete, dass Elaine damit recht hatte. Ihre Cousine sank wieder in sich zusammen und murmelte schluchzend ins Kissen, dass sie allein gelassen werden wollte. Victoria verließ das Zimmer, bedrückt von einer tiefen Traurigkeit. Wie könnte sie Elaine helfen? Diese verbrachte den Rest des Abends damit, zu weinen, weigerte sich, zum Abendessen herunterzukommen, und wies auch das Tablett mit dem Essen ab, das zu ihr hinaufgeschickt wurde.
Victorias Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie nach einer Lösung suchte. Schlussendlich entschied sie sich erst einmal dafür, so viel über den Earl of Townsend herauszufinden, wie sie konnte.
Kapitel zwei
Am nächsten Tag schlich sich Victoria davon, um ihre Freundinnen am Berkeley Square zu treffen und um Hilfe zu bitten. Natürlich erklärten diese sich sofort einverstanden. Ein paar Tage später kam sie auf Bitte einiger ihrer Freundinnen hin erneut zum Klub.
Während Victoria sich auf das Sofa im Salon mit der Wetttafel setzte und die Zeitungsausschnitte las, die ihre Freundinnen gesammelt hatten, wurden einige Dinge immer klarer – und ein tiefes Grauen nistete sich in ihrem Herzen ein. Der Earl war ein Wolf. Ein Mann wie er würde ihre Cousine bei lebendigem Leibe verschlingen.
„Steckt da auch nur ein Hauch von Wahrheit hinter den Artikeln der Skandalblätter oder ist das alles Hörensagen?“
Drusilla, die neue Duchess of Collingswood, nickte und ihre blauen Augen leuchteten. Sie saß in recht leichter Bekleidung auf dem Sofa, die nackten Füße unter die Beine geschlagen. Würde irgendjemand in der Gesellschaft die Duchess so sehen, würde dieses Bild wenig damenhaften Betragens Entsetzen auslösen.
„Ich wage zu behaupten, dass es wahr ist. Ich habe meinen Ehemann gefragt. Der Earl scheint ein komplizierter Mann zu sein.“ Drusilla ließ den Blick über ihre Freundinnen schweifen. „Ihr erinnert euch bestimmt, dass Lucinda uns genau deshalb davor gewarnt hat, Herausforderungen in Bezug auf ihn auszusprechen oder anzunehmen.“
Victoria erinnerte sich vage daran und keuchte, als ihr klar wurde, dass der Name des Earls ihr deshalb so bekannt vorgekommen war. Dieses Gespräch hatte vor mehr als einem Jahr während eines Picknicks auf dem Landsitz der Duchess of Hartford stattgefunden. Du liebe Güte!
„Lord Townsend hat meine Cousine gestern besucht und sie musste mit ihm im Hyde Park ausreiten. Sie war schrecklich griesgrämig, als sie zurückgekehrt ist, und hat den Abend in ihrem Bett verbracht.“ Victoria stieß den Atem aus. „Ich habe versucht, mit Mama zu sprechen, doch diese beharrt darauf, dass es ihre Pflicht sei, Elaine die beste Partie zu ermöglichen. Und ich fürchte, dass Elaine etwas Drastisches tun wird, um ihr eigenes Glück zu sichern. Etwas, das ihren Ruf ruinieren und unsere Familie in ein schlechtes Licht rücken wird.“ Plötzlich wurde Victoria nachdenklich und zog die Augenbrauen zusammen. „Ich denke … das Beste wäre es, das Interesse des Earls von Elaine abzulenken. Das würde einige Probleme lösen.“
Evie, die gerade mit einer Karaffe Sherry das Zimmer betrat, keuchte. „Sein Interesse ablenken? Wie? Dieser Gentleman hat den Ruf, seine Ziele unbeirrbar und rücksichtslos zu verfolgen. Deshalb ist er solch ein brillanter Spieler. Ich fürchte, dass sein Blick nun auf deine Cousine gerichtet ist und nichts ihn von ihr abbringen kann.“
„Verflixt“, murmelte Victoria und rieb die Stelle zwischen ihren Augenbrauen, weil sich dort Kopfschmerzen zusammenbrauten. Warum war die Situation bloß so kompliziert?
Evies silberblondes Haar wallte wie eine Wolke um ihren Körper, als sie den Kopf schüttelte. „Ich denke nicht, dass es klug ist, an Lord Townsend heranzutreten, egal mit welcher Absicht. Das ist zu riskant. Was würdest du überhaupt zu ihm sagen?“
Louisa, eine ihrer zurückhaltendsten Freundinnen und nun die Marchioness of Marsden, schürzte die Lippen. „Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, den Plan des Earls zu vereiteln, ohne sich ihm zu nähern?“
„Wie das?“, wiederholte Evie mit beißendem Sarkasmus. „Willst du einen Zauberstab schwingen?“
Louisa hob eine Braue und ihre hübschen braunen Augen leuchteten. „Vielleicht, indem man ihm eine viel verlockendere Ablenkung präsentiert?“
Victoria schnaubte, dann stöhnte sie und warf die Zeitungsausschnitte auf den Walnussholztisch. „Er ist ein Adliger, der für seine eigentümlichen Wetten und seine Vorliebe für hübsche Frauen bekannt ist. Wie soll es mir gelingen, ihn von Elaine abzulenken, wenn ich selbst gerade einmal passable Schönheit besitze und kaum andere Fertigkeiten vorweisen kann?“
Drusilla gab einen unzufriedenen Laut von sich. „Nichts an dir ist nur passabel, meine Liebe. Du bist außergewöhnlich hübsch. Dass du darüber hinaus ein wenig frech bist, macht dich zu einem seltenen Juwel unter den Damen der Gesellschaft.“
Louisa und Evie stimmten Drusilla eifrig zu.
Die Unterstützung ihrer Freundinnen ließ Victoria lächeln. „Dennoch kann ich mich kaum mit Elaines Schönheit messen. Wie kann ich die Aufmerksamkeit des Earls erlangen, wenn sie ihn bereits für sich eingenommen hat?“ Die Erinnerungen an ihre kläglich gescheiterten Versuche, mit einigen Gentlemen zu tändeln, schmerzten noch immer. Eine unterwartete Welle der Sehnsucht durchströmte Victoria. Wie aufregend es sein muss, zu fühlen, dass man begehrt wird. Sie schob die vermaledeiten Erinnerungen mitsamt der nutzlosen Sehnsucht beiseite und seufzte.
„Es war gemein von mir, das vorzuschlagen“, sagte Louisa und lachte fröhlich. „Ich wollte dich herausfordern. Aber ich kann sehen, dass dein Herz stehen geblieben wäre, hätte ich das getan.“
Victoria keuchte und rief aus: „Sprich ja keine Herausforderung in Bezug auf Lord Townsend aus, wenn du genau weißt, dass ich dann handeln müsste.“
Herausforderungen waren in ihrem Klub fast so etwas wie ein Ritual. Jede wurde mit höchster Ernsthaftigkeit behandelt, da alle fest daran glaubten, dass es den Mut und die Charakterstärke der Klubmitglieder bewies, eine Herausforderung zu bestehen. Die Duchess versuchte seit einiger Zeit, die Mutproben etwas zu entschärfen, da sie fürchtete, zu viele Skandale würden ihren Freundinnen Leid bescheren. Victoria erkannte verlegen, dass sie noch nie auch nur eine Herausforderung ihrer Freundinnen, sondern lediglich ein paar harmlose Wetten angenommen hatte. „Ich bitte euch inständig, fordert mich in Bezug auf Lord Townsend nicht heraus. Versprecht es!“
Die Damen lächelten über Victorias Entsetzen.
Victoria zog die Stirn kraus. „Ich muss mir wirklich etwas überlegen. Elaines ständiges Weinen und ihre Niedergeschlagenheit machen Mama ganz missmutig.“
Ihre Mutter erlitt bereits genug Herzschmerz und sollte nicht noch mehr Belastung ertragen müssen, wie Victoria fand. Sie lehnte sich vor und schnappte sich einen der Zeitungsausschnitte, die sie eben auf den Tisch geworfen hatte.
„Diese kürzlich erschienene Ausgabe eines Skandalblatts erwähnt, dass der ‚Earl of T‘ eine weitere Wette angenommen hat … für eine Heirat! Das ist so albern, wie es abscheulich ist. Als wäre die Ehe ein Spiel! Ich bin mir sicher, dass sie von Townsend sprechen, weil er gerade jemandem den Hof macht, obwohl er den Heiratsmarkt so viele Jahre lang gemieden hat.“ Victoria kam ein Gedanke und sie setzte sich kerzengerade auf. „Das ist es!“
„Was?“, erklang es dreistimmig im Chor.
„Angesichts dessen, was wir bisher über ihn erfahren haben, hat Townsend eine Art Ehre oder einen Ruf, den er wahren muss, wenn es um Glücksspiel geht. Vielleicht könnte ich mit ihm eine Wette abschließen. Wenn ich gewinne, wird er aufhören, um Elaine zu werben.“ Victoria lächelte ihre Freundinnen an. „Nun? Bin ich nicht genial?“
Evie warf ihr einen zweifelnden Blick zu. „Und wenn du verlierst? Was wirst du dem Earl dann geben?“
Victorias Herz machte einen Satz. „Nun … wenn ich verliere, wird er wohl weiter um Elaine werben.“ Verflixt! Genau das Gegenteil von dem, was sie zu erreichen versuchte. „Ich werde sicherstellen, dass ich gewinne“, beharrte sie stur. „Ich bin klug. Mit sorgfältiger Planung könnte ich den Earl überlisten.“
Sie biss auf ihrer Unterlippe herum, denn die Blicke ihrer Freundinnen wirkten nicht überzeugt. Besonders Louisa schien besorgt.
„So funktioniert das mit dem Wetten aber nicht“, rief Drusilla aus. „Es geht um einen Preis, den man gewinnen kann, und eine Konsequenz, wenn man verliert. Was genau wird dein Einsatz sein, Torie? Du musst den Earl schon mit irgendetwas locken, es sei denn, er ist ein Nichtsnutz, der auf alles wettet!“
Mit pochendem Herzen begann Victoria, im Salon auf und ab zu gehen. Nach einigen Minuten legte sie den Kopf in den Nacken und rieb sich die Nasenwurzel. Was könnte sie nur als Einsatz nehmen, das das Interesse des Earls weckte und ihn motivierte, ihre Wette anzunehmen? Und wie stellte sie sicher, dass sie gewann?
Verflixter Mist!
***
Eines von Londons berüchtigtsten Glücksspiel-Paradiesen, das gleichwohl von normalen Bürgern wie von Adligen besucht wurde, befand sich inmitten eng verschlungener Gassen im Herzen der Stadt. Das Arros war eine verborgene Spielhölle, deren Standort nur den verwegensten Spielern der Gesellschaft bekannt war. Die Innenräume waren verhangen von Zigarrenrauch, der sich mit dem Rausch vermischte, den die Gewinne versprachen, sowie der unausgesprochenen Verzweiflung, zu verlieren. An einem Tisch in der Ecke des Raumes, gehüllt in gedämpftes, flackerndes Kerzenlicht, saß Ethan Dorchester, der Earl of Townsend. Sein desinteressierter Blick schweifte über die anderen Spieler dieses Lanterloo-Spiels mit ungewöhnlich hohen Einsätzen.
Heute Abend ging es um fünftausend Pfund sowie ein kleines Anwesen am Meer.
Der Blick seines guten Freundes Dominic, Viscount Cadenham, huschte zu Ethans Gesicht, woraufhin er ein Lächeln unterdrücken musste. Die wertvolle Immobilie im Pot gehörte Cadenham, der sehr zuversichtlich schien, was ihm eigentlich gar nicht ähnlichsah. Der Viscount machte selbst unter den abgebrühten Spielern hier eine herausragende Figur. Doch Ethan musste sich eingestehen, dass sein eigener Ruf wohl noch skrupelloser war. Wenn die Leute darüber tuschelten, schwang immer ein gewisser furchtsamer Unterton mit, und nicht viele Männer wagten es, sich mit ihm an einen Tisch zu setzen. Ethan war ein Mann, der nicht aus Spaß oder für Geld spielte und wettete, sondern einzig für den süßen Rausch des Sieges.
Einfach, weil das Leben ansonsten unfassbar langweilig war. Vorhin hatte sein Freund bemerkt, dass Ethans üblicher Enthusiasmus beim Glücksspiel einer Gleichgültigkeit gewichen war, die ihn umgab wie eine dunkle Wolke. Jetzt langweilte ihn auch das schon. Er schluckte ein Seufzen herunter, fühlte sich mit einem Mal ruhelos.
„Ist es wahr?“, fragte Cadenham plötzlich und legte seine Karten mit dem Bild nach unten auf den abgenutzten Tisch.
Ethan hob den Blick, um seinen Freund anzusehen. „Was ist wahr?“
Der Viscount zog leicht die Brauen zusammen. „Dass du dich bald ins Ehejoch begibst? Stimmt es, dass du dir in dieser Saison endlich eine Braut suchst?“
Ethan schnaubte abweisend. „Wir sind nicht hier, um darüber zu sprechen.“
Er warf die Karten von seiner Hand mit fast greifbarer Gleichgültigkeit auf den Tisch und enthüllte ein Blatt, das seine Gegenspieler vor Erstaunen keuchen und über ihre Niederlage fluchen ließ.
„Verdammt, Townsend, wie machen Sie das nur?“, schimpfte ein anderer, schob den Stuhl zurück und erhob sich.
Ethan nickte dem Eigentümer des Etablissements zu, damit dieser wusste, dass Ethan erneut gewonnen hatte und er die Gewinne einsammeln und für Ethans Geschäftsvertreter zur Abholung vorbereiten sollte. Ethan pflückte den Schuldschein des Anwesens vom Tisch und reichte ihn dem Viscount.
Cadenhams dunkelgrüne Augen weiteten sich. „Was hat das zu bedeuten?“
„Es war dämlich von dir, das Anwesen aufs Spiel zu setzen, wenn es dir so wichtig ist.“
Der sanfte Tadel in seiner Stimme ließ seinen Freund erstarren. „Du weißt davon?“
Ethan starrte Cadenham unverwandt an. „Warum heiratest du sie nicht einfach?“
Sie wussten beide, dass Ethan von Miss Jacinda Brooks sprach, einer jungen Dame, die sein Freund während der letzten drei Monate immer wieder in Suffolk besucht hatte. Cadenham rieb sich mit einer Hand über das Gesicht und stieß ein tiefes Seufzen aus.
„Sie ist die Tochter einer Näherin und eines Händlers. Ich habe dieses Cottage für sie gekauft, aber sie hat meine guten Absichten zurückgewiesen. Du hast es gewonnen, Townsend, also behalte es.“
„Statt sie zu bitten, deine Mätresse zu werden, solltest du ihr einen Antrag machen und ihr das Cottage zur Hochzeit schenken.“
Überraschung huschte über Cadenhams Gesicht. „Du wirst wirklich heiraten, oder? Da muss ein Funken Wahrheit in den Gerüchten liegen – warum sonst solltest du so beiläufig vorschlagen, dass ich einer Dame einen Heiratsantrag mache, die sich so wenig eignet, meine Viscountess zu sein? Guter Gott, sag bloß nicht, dass du dich in irgendein Mädel verliebt hast. Du? Das glaube ich nicht – und jetzt beginne ich zu plappern. Das ist der Schock, musst du wissen.“
Ethans Schweigen ließ Cadenham grinsen. Er nahm den Schuldschein und verstaute ihn in seiner Jacke.
„Ich werde am Ende der Saison heiraten“, bestätigte Ethan dann und lächelte leicht wegen des schockierten Raunens derer, die seine Aussage gehört hatten. Mit einem gelangweilten Seufzen schob er seinen Stuhl zurück. Das laute Scharren der Stuhlbeine auf dem Holzboden übertönte selbst das Getöse der Unterhaltungen und des Jubels der Gewinner, das den Raum erfüllte.
Ethan verließ das Etablissement, ohne auch nur einen Blick auf die anderen Spiele und deren hohe Einsätze zu werfen. Die Gefühle, die in seinem Inneren rumorten, waren ihm weder unbekannt noch neu. Sie verfolgten ihn schon, seit ihm jener Kutschenunfall vor zwanzig Jahren seine Eltern entrissen hatte.
An einem gewissen Punkt in seinem Leben hatte er gedacht, dass das Gefühl tatsächlich Verlassenheit war. Ein erneutes gefühlskaltes Schnauben entwich Ethan, als er in die kühle Nacht hinaustrat. Er mochte es nicht, seine Zeit mit Gefühlen zu verschwenden, denn das schien ihm nutzlos und trug nichts zur Lösung seiner Probleme bei.
Der Lärm von Londons Straßen begrüßte ihn und das Getöse der Spielhölle verklang langsam hinter ihm, während er sich davon entfernte. Ein Stück die Straße hinunter stand seine Kutsche und die Pferde wieherten unruhig. Als Ethans wartender Kutscher ihn erblickte, versteckte er schnell eine Taschenflasche in seiner Brusttasche. Ethan ignorierte das und gab dem Kutscher stattdessen eine Adresse am Russell Square – einem ganz anderen Teil der Stadt voller eleganter Stadthäuser und gepflegter Gärten, die im harten Kontrast zu den schmutzigen Straßen des East Ends standen. Er schwang sich in die Kutsche und warf sich auf die Sitzpolster.
Wann auch immer diese Gefühle der Teilnahmslosigkeit und Leere in ihm aufstiegen, vergnügte er sich entweder mit dem Glücksspiel oder mit seiner Geliebten. Während die Kutsche durch die Nacht rumpelte, lehnte Ethan sich gegen die samtenen Polster und ließ seine Gedanken zu seiner Geliebten schweifen, die auf ihn wartete. Ein Schauer durchfuhr ihn. Vielleicht verlor das Spiel seinen Reiz, doch der Zauber gestohlener Nächte und verbotener Stelldicheins lockte ihn noch immer. Während das Londoner Stadtbild um ihn herum sich veränderte, spürte er, wie die Langeweile abebbte und der vertrauten Vorfreude wich.
Einige Zeit später betrat er das Stadthaus, dessen Eingangshalle in warmes Licht unzähliger Kerzen gehüllt war, das tanzende Schatten auf die teuren Möbel warf. Vivienne erwartete ihn in einem elegant eingerichteten Zimmer, ausgebreitet auf einer samtgepolsterten Chaiselongue.
„Liebster“, schnurrte sie aufreizend. „Du hast mich viel zu lange warten lassen. Ich habe dich schon vor einer Stunde erwartet.“
Ethan unterdrückte ein Stirnrunzeln, als ihn erneut jene bekannte Leere erfüllte und sich in seinem Inneren nichts regte. Er murmelte irgendeine vage Antwort, woraufhin sie von der Chaiselongue aufsprang und sich in seine Arme warf. Sie war ein Wirbel aus Lachen und klimpernden Wimpern und ihr koketter Charme wurde vom tiefen Rot ihres Kleides verstärkt. In einem neckischen Kuss strich sie mit ihren Lippen über seine und wand sich dann wieder aus seiner Umarmung. Sie huschte zu einem Schränkchen hinüber und kehrte mit einer Kristallkaraffe und einem Glas zurück. Nachdem sie ihm Whisky eingeschenkt hatte, setzte sie sich an das Klavier, um für ihn zu spielen. Vivienne war eine hervorragende Musikerin.
Während er von der Chaiselongue aus ihrem Spiel sowie ihrem trällernden Gesang lauschte, verspürte er plötzlich ein Stechen in seinem Inneren, das er nicht zuordnen konnte. Er blickte hinab in die helle, bernsteinfarbene Flüssigkeit. Da war eine Leere in seiner Brust, die tief in ihm widerhallte.
Ist das alles, was das Leben zu bieten hat?, flüsterte ein kleiner Teil von ihm.
Er spürte die Wärme des Körpers seiner Geliebten an seiner Seite. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie schon seit einer Weile zu spielen und zu singen aufgehört hatte. Ethan atmete leise aus und schaute sie an. Sie hatte die Augenbrauen leicht zusammengezogen. Ihre Finger malten unsichtbare Muster auf seine Hand und in ihren Augen funkelten unausgesprochene Verheißungen. Ethan spürte ihre Berührung kaum. Sein Verstand war anderswo, verlor sich in Gedanken, die er bisher verschlossen gehalten hatte. Er sah innerlich das Bild seiner Mutter, die lachte, während sein Vater sie herumwirbelte oder während sie mit Ethan ausritt – und sein Herz stolperte.
Seit Langem schon hatte er sie nicht mehr so lebhaft vor Augen gehabt. Sie waren gestorben und er hatte die Erinnerung an sie in den vergangenen Jahren vergraben. Ashford, das ansehnliche Herrenhaus in Hertfordshire, war kaum mehr als ein Denkmal für Ethans Einsamkeit. Er gestattete den Geistern der Vergangenheit nicht, ihn heimzusuchen.
Verdammter Mist.
„Warum bist du heute so nachdenklich?“, fragte Vivienne, eindeutig verärgert.
„Verzeih mir“, murmelte er und stürzte den Inhalt seines Glases hinunter. „Aber ich muss gehen.“
„Jetzt?“
„Ja.“
Ablehnung flackerte in ihrem Blick auf. „Es ist also wahr? Dass du heiraten wirst?“
Er erstarrte, legte den Kopf schief und sah sie an. „Ich habe mich in dieser Sache entschieden.“ Als ein schmerzerfüllter Ausdruck in ihre Augen trat, runzelte Ethan die Stirn. Vivienne sollte wissen, dass ihrer beider Abmachung nur vorübergehend war. „Bist du verstimmt, weil du mehr von mir willst?“
Sichtbar überrascht weitete sie die Augen. „Würdest du es mir geben?“
„Würde ich.“
Seine Antwort schien sie zu schockieren und sie suchte etwas in seinem Blick. „Ist das dein Ernst?“
„Wenn du heiraten willst, lass es uns tun.“
„Wie beiläufig du klingst, obwohl die Ehe alles andere als beiläufig sein sollte“, sagte sie leise. „Liebst du mich?“
Ethan schnaubte abfällig. „Sei nicht albern. Was hat die Ehe mit Gefühlen zu tun?“
„Warum willst du dann heiraten?“
Um Wärme zu erfahren … um eine Familie zu haben …
Diese unerwarteten Gedanken zerrissen seine übliche Gleichgültigkeit und schockierten ihn.
„Ich war bereits zweimal verheiratet“, fuhr Vivienne fort. „Beide Ehen waren kalt und bar jeglicher Leidenschaft. Und auch wenn du ein hervorragender Liebhaber bist … bist du gefühlskalt, Townsend. Ich wäre eine Närrin, würde ich den gleichen Fehler dreimal machen. Lass uns vergessen, dass wir über diese Albernheit gesprochen haben. Wir passen nur in einem Aspekt zusammen: nämlich zwischen den Laken.“ Als sie sich zu ihm beugte, wurde er von einer Wolke ihres Parfüms eingehüllt. „Und du bist tatsächlich ein unglaublicher Liebhaber. Ich will dich in mir spüren!“
Ethan zog sich zurück und erhob sich, woraufhin sie ihn überrascht anschaute. Einen Moment lang schwieg er, unfähig, diese unerwarteten Regungen seines Herzens zu artikulieren. Auch wenn sie ihn in den letzten Wochen geplagt hatten, wusste er nicht, welcher Natur sie waren. Die Vorstellung einer Ehe hatte sich wenig greifbar angefühlt, als er sich vor ein paar Wochen dazu durchgerungen hatte.
Jene Entscheidung hatte Ethan sogar leicht amüsiert, vielleicht sogar verwirrt, denn er hatte nicht verstanden, was ihn dazu angetrieben hatte, über die Ehe nachzudenken. Sein Leben war eine Aneinanderreihung flüchtiger Freuden – die Aufregung beim Glücksspiel, Rennen mit der Kutsche oder zu Pferde zu bestreiten, die verwegenen Momente mit seinen Liebhaberinnen oder der Wirbel von Londons Gesellschaftsleben. Und dennoch fragte er sich jetzt, ob das alles war, was das Leben zu bieten hatte: eine Reihe vorübergehender Ablenkungen, um die tiefe Leere in ihm zu überspielen. Würde eine Heirat diese Leere füllen?
„Vivienne“, setzte er mit überraschend fester Stimme an. „Ich kann diese … Abmachung nicht weiter aufrechterhalten.“
Sie stieß einen erstickten Laut aus und sprang ebenfalls auf. „Aber wir sind erst seit einer Woche Geliebte!“
Ein freudloses Lächeln verzog seinen Mund und er beugte sich hinab, um ihr einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. „Und das ist ausreichend. Wir sind seit Jahren schon Freunde. Das können wir auch weiterhin sein.“
„Bei Gott, ich habe es mir anders vorgestellt. Es gibt ein Gerücht, dass du nie mehr als zwei Wochen lang dieselbe Geliebte hast.“ Sie lachte bitter. „Und ich habe dich nur die Hälfte der Zeit halten können. Man wird über mich lachen.“
Ethan seufzte. „Vivienne …“
Er mochte und schätzte die Frau vor sich. Das Letzte, was er wollte, war, etwas zu tun, das sie verletzte. Sie schaute ihn erstaunt an, während er ihr von seiner Langeweile erzählte sowie von der Sehnsucht nach mehr, nach etwas Bedeutsamem. Es wäre nicht ihre Schuld, versicherte er ihr. Sie war faszinierend und bezaubernd, doch er brauchte … mehr.
Sie legte ihm eine Hand an die Wange. „Wenn ich auch nur einen Moment lang glauben würde, dass ich genug für dich wäre, Ethan, würde ich dich heiraten. Ich sehe jedes Mal diese Ruhelosigkeit in dir und glaube, dass die Ehe dich genauso wenig zufriedenstellen wird. Würdest du eine Geliebte oder eine Mätresse nehmen, wenn du verheiratet bist?“
„Nein.“ Treue war ihm sehr wichtig und wenn er sie erst mal jemandem geschenkt hatte, würde er sich verdammt noch mal auch daran halten.
„Und was reizt dich so daran?“, spottete sie gedehnt. „Wie könnte die Ehe dich wirklich zufriedenstellen?“
Ethan senkte erneut den Kopf, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, und verließ ihr Haus. Während er zu seinem Anwesen fuhr, fragte er sich, ob Vivienne mit ihrer Annahme vielleicht recht haben könnte. Würde er also ewig diesen Schmerz des Verlusts und der Einsamkeit verspüren?
Die Kutsche hielt vor seinem Haus und er stieg aus. Und während er betrachtete, wie das fahle, kühle Mondlicht sich auf die Kopfsteinpflasterstraße ergoss, traf er eine Entscheidung. Er genoss Herausforderungen. Sie waren bunte Funken in einer Existenz, die von farbloser Asche überzogen war.
Vor seiner Entscheidung für Miss Elaine Hartigan hatte Ethan diverse Damen der Gesellschaft in Erwägung gezogen. Er hatte mit dieser Dame einmal getanzt und war dann mit ihr in seiner Kalesche in den Park gefahren. Sie verkörperte alles, was er sich von seiner zukünftigen Countess wünschte. Miss Hartigan war unbeschreiblich schön, hatte bereits einiges an Errungenschaften vorzuweisen und besaß einen guten Ruf. Ethan würde um sie werben und dann ihrem Vormund eine Verbindung vorschlagen. Er würde eine Familie gründen und neue Erinnerungen schaffen, die nicht von dieser kalten, schmerzhaften Einsamkeit befleckt waren. Ein Lächeln zog an seinen Mundwinkeln. Er würde die Dame heiraten, die er ausgesucht hatte, und nichts könnte ihn davon abhalten.