Leseprobe Das Schicksal der Tuchfabrik | Die historische Familiensaga im 20. Jahrhundert

1. Unwetter über der Fabrik

Kerchheim im November 1929

Seit dem frühen Morgen schüttete es wie aus Eimern. Die riesigen Regentropfen fielen dicht und kräftig. Sie hatten den alten Innenhof der Fabrik schnell in eine blasenwerfende, brodelnde Wasserlandschaft verwandelt, aus der nur der Kohlenberg wie eine mächtige schwarze Insel hervorragte. Nun war es bereits finster, die Belegschaft längst im Feierabend, doch der Regen hielt an. Unermüdlich trommelte er lautstark und zermürbend aufs Dach und platschte gegen die Fensterscheiben. Dort suchte das Wasser sich hartnäckig seinen Weg ins Innere des Kontors. Es fand ihn, wo der Fensterkitt die vergangenen Jahre über spröde geworden war oder das Holz zwischen Flügel und Rahmen nicht mehr bündig schloss. Bettina, die Sekretärin, hatte noch ein frisches Handtuch auf die innere Fensterbank gelegt, bevor sie gegangen war, welches nun geduldig Tropfen für Tropfen aufnahm. Wenn der Wind sich aufbrausend einmischte, veränderte sich die Geräuschkulisse, wurde leiser, lauter, heller oder dunkler. Zwischendurch klang es, als schlüge eine wilde Meute mit Reisigbesen gegen Tür und Fenster. Das veranlasste die Schäferhunde Karl und Kuno jedes Mal dazu, ihre Köpfe zu heben und abwechselnd ein tiefes Grollen von sich zugeben. Wenn der Wind kurz darauf wieder etwas nachließ, gaben auch sie sich für eine Weile zufrieden. Normalerweise hielten die beiden sich tagsüber im Zwinger auf und bewachten während der Nacht das Fabrikgelände. Doch Edith hatte sie gegen Mittag zu sich ins Kontor geholt, als die Tiere bereits bis zu den Fesseln im Wasser gestanden hatten.

Die Tür zur Treppe, die in den ersten Stock führte, wurde geöffnet und Arthur Reichenshagen, langjähriger Buchhalter im Unternehmen und mittlerweile enger Vertrauter, betrat den Raum. Normalerweise kündigten die knarrenden Dielen im oberen Stockwerk und das Knarzen der Treppenstufen den Feierabend ihres Angestellten an, nicht jedoch dieses Mal. Alle Geräusche wurden vom Unwetter verschluckt. Edith hatte ihn nicht kommen hören und hob überrascht den Blick. Die Hunde rührten sich nicht, als er schweigend zur Garderobe schritt, sich den Mantel anzog und die Lederhandschuhe überstreifte.

„Schönen Feierabend, Reichenshagen. Kommen Sie trocken nach Hause und grüßen Sie Ihre Frau von mir“, verabschiedete Edith ihn, als der wortkarge Mann zum Abschied kurz seinen Hut lüftete und ihr ein freundliches Lächeln schenkte. Reichenshagens Haar, das er schon immer sehr kurz trug, war inzwischen fast weiß. Er war deutlich älter geworden, doch Edith sorgte sich nicht um ihn. Vor einigen Jahren hatte er sich einen Wagen zugelegt, den er an jedem Tag nur wenige Meter von der Eingangstür des Kontors entfernt abstellte. Er würde schon sehr bald wohlbehalten und trocken zu Hause eintreffen, wo seine Frau bereits mit dem Abendessen auf ihn warten würde.

Als der Buchhalter hinaus in den Abend trat, stob eine kalte Böe hinein und brachte ein paar Tropfen mit, die sich als dunkle Kleckse auf dem abgenutzten braunen Holzdielenboden abzeichneten. Schnell schloss er die Tür hinter sich und nun waren Edith und die Hunde allein. Obwohl die Fabrik über einen Neubau mit geräumigen Büros verfügte, hatte Reichenshagen darum gebeten, sein Büro im alten Kontor behalten zu dürfen. Er hatte sich hartnäckig gegen den bevorstehenden Umzug gewehrt und Edith hatte schließlich nachgegeben. Er machte seine Arbeit ausgezeichnet. Wenn ihm das kleine Kabuff in der ersten Etage dabei half, bitteschön. Zu guter Letzt hatte auch sie es nicht übers Herz gebracht, den alten Arbeitsbereich ihres Onkels aufzulösen. Und so erledigte sie die Arbeit an Tagen wie heute im alten Kontor.

Sie saß an ihrem Schreibtisch. An Leopolds altem Schreibtisch. Die kleine Tischlampe zeichnete einen gelben Lichtkreis über die Zeitschriften der letzten Tage, die sie immer wieder studiert hatte. Die Nachrichten wirkten nun, in der kräftigen Abgrenzung von Hell und Dunkel, wie in einer Zirkusmanege. Allein es fehlte das Publikum.

Müde rieb sich Edith mit den Händen durchs Gesicht. Die Nachrichten über die Situation an der amerikanischen Börse hatten sich bereits über einen längeren Zeitraum zugespitzt. Nun war es zum Zusammenbruch der Kurse gekommen und die Folgen waren noch nicht abzusehen. Klar war, dass schwierige Zeiten auf den Weltmarkt zukommen und diese Veränderungen auch vor der deutschen Wirtschaft nicht haltmachen würden. Wie schwerwiegend sich die Einbrüche hier im Rheinland bemerkbar machen würden, darüber ließ sich nur mutmaßen. Die Verluste der Anleger an der Börse waren sicherlich nur ein bitterer Vorgeschmack auf das, was kommen konnte. Edith seufzte angestrengt. Zu gerne hätte sie sich jetzt mit Franz darüber ausgetauscht.

Kuno sah auf und schien auf ein Kommando zu warten.

„Schon gut, mein Großer“, raunte sie ihm zu und er legte seinen mächtigen dunklen Kopf wieder auf die Pfoten.

Sie hatte sich trotz der Verlockung des schnellen Reichtums gegen eine Investition in Aktien entschieden. Dass man auf diese Weise nur Geld investieren durfte, auf das man ohne Weiteres verzichten konnte, hatte Edith früh verinnerlicht. Derartiges Geld hatte ihr Unternehmen nicht und deswegen hatte sie sich auch nie zu Spekulationen hinreißen lassen. Franz hatte immer wieder seine gegensätzliche Meinung vertreten, doch sich nicht gegen Edith durchsetzen können. Sie war die Unternehmerin und das Vermögen lag in ihrer Verantwortung. Nun, da sich ihre Entscheidung als richtig herausgestellt hatte, wollte sie Franz dies nicht unter die Nase reiben. Sie wollte sich vielmehr mit ihm darüber beraten, wie es weitergehen konnte und ob sich die neue Lage für die Tuchfabrik möglicherweise doch als Vorteil nutzen lassen konnte. Doch Franz war nicht da. Zu Beginn der Woche war er zu einer mehrtägigen Reise nach Ostwestfalen aufgebrochen, die er nach ein paar geschäftlichen Terminen mit einem Besuch bei Verwandten beschließen wollte. Erst am Wochenende erwartete sie ihn zurück.

Sie hing weiter ihren Gedanken nach. Wenn ich die Fabrik halten und weiterhin mit Gewinn wirtschaften lassen will, und das steht außer Frage, muss ich strategische Entscheidungen treffen. Mit Franz ließen sich gedanklich wunderbar Szenarien durchdenken und in Edith wuchs die Ungeduld, dass er endlich wieder zu ihr nach Hause kam.

Das Licht der kleinen Schreibtischlampe flackerte kräftig und unterbrach ihre Überlegungen. Noch immer lärmte der Regen, lud nicht dazu ein, vor die Tür zu gehen, doch auch sie wollte sich endlich in den Feierabend begeben.

„Na kommt, lassen wir es für heute gut sein“, raunte sie den Hunden zu, die sofort aufsprangen und sich ihr aufmerksam zuwandten. Sie faltete die Zeitungen zusammen und legte sie auf einen geordneten kleinen Stapel. Dann zog auch Edith sich Mantel und Hut über. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es im Raum kalt geworden war. Der kleine Ofen war längst aus. Sie holte ihren Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss, bevor sie das Licht im Kontor löschte. Dann trat sie hinaus in den Regen, wo die Hunde bereits auf sie warteten. Edith schloss ab und sah sich um. Die Laterne an der Zufahrt brannte. Vor ihrem Licht zeichnete sich der Regen wie dicke endlose Schnüre ab. Reichenshagen war so umsichtig gewesen, das Tor bereits zu schließen, sodass Edith sich direkt auf den kurzen Weg ins Wohnhaus begeben konnte. Obwohl sie einen Mantel aus dickem Stoff trug, war sie durchnässt, bevor sie dort ankam. Auch die Hunde sahen aus, als hätten sie gerade ein Bad im Mühlenbach genommen.

„Hilda, bring Tücher!“, rief Edith, als sie tropfnass in der Diele standen. Gleich darauf eilte das Hausmädchen herbei. Es balancierte einen Stapel frischer Frottiertücher und Wolldecken auf den Armen und konnte kaum darüber schauen. Es schien aber, als habe Hilda nur darauf gewartet, gerufen zu werden.

„Hilf mir nur schnell, den Mantel auszuziehen, dann trockne du die Hunde ab. Sie bleiben heute Nacht hier“, entschied Edith.

Hilda hielt die Ärmel, während sie sich aus dem schweren Kleidungsstück schälte und legte den Mantel über das Treppengeländer. Edith trocknete sich selbst Gesicht und Hände ab und sah dann an sich hinunter.

„Ach, das hat doch alles keinen Sinn. Ich werde mich vollkommen neu ankleiden müssen“, stellte sie verärgert fest. Sie legte ihren nassen Hut auf die Garderobe, stieg eilig die Treppe hinauf und begab sich ins Schlafzimmer. Dort herrschte Kälte und auch hier war der Regen deutlich zu hören. Für einen Moment wurde es gleißend hell, kurz darauf erklang ein heftiges Donnern.

„Als ob der Regen nicht schon genug wäre“, sprach Edith zu sich und zitterte, als sie sich ihrer restlichen Kleidung entledigte. Die kalte, feuchte Haut erschwerte das Anziehen und zu allem Überfluss klebten die feuchten Haarspitzen in ihrem Nacken. Im nächsten Moment wurde sie von heftigem Niesen durchgeschüttelt.

„Es ist genau das richtige Wetter, um sich zu erkälten. Das fehlte mir gerade noch“, stieß sie hervor und schniefte, während sie sich die dicken Wollstrümpfe über die kalten Füße zog.

Zurück im Wohnzimmer wurde sie von wohliger Wärme empfangen und sogleich zeigte sich Edith wieder versöhnt mit sich und der Welt. Hilda hatte neues Holz aufgelegt und die Hunde so gut es ging abgetrocknet. Den Rest musste der Ofen besorgen. Für Edith hatte sie bereits eine Kanne Kräutertee aufgebrüht und auf ein Stövchen gestellt. Daneben fanden sich die Teetasse sowie die kleine Kandisdose auf dem Tisch. Nun brachte sie das Abendessen. Ein Blick auf die große Standuhr verriet Edith, dass es bereits fast neun war. Im nächsten Augenblick klingelte schrill das Telefon.

„Bergemann“, meldete sich Edith. Erneut blitzte es, dicht gefolgt von einem heftigen Donnerknall.

„Hallo, meine Liebe, hier ist deine Tante Luise. Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Nein, ganz im Gegenteil. Was gibt es denn?“

„Ärger, nichts als Ärger. Der anhaltende Regen hat seinen Weg durchs Dach gefunden. Nun tropft es im Obergeschoss ins Gästezimmer. Dummerweise blieb das Malheur für einige Stunden unentdeckt und nun ist das gesamte Haus in Aufruhr.“

„Ach herrje, wie ärgerlich und unangenehm. Soll ich jemanden anrufen und dich abholen lassen? Du kannst gern bei uns übernachten.“

„Nein, nein. Deshalb rufe ich nicht an. Ich bleibe hier und behalte alles im Auge. Ich muss jedoch unsere morgige Verabredung zum Frühstück absagen. Du weißt, ich besuche dich immer gern, doch ich werde hier gebraucht. Bei Tageslicht wird sich erst das vollständige Ausmaß dieses Unglücks zeigen und da…“

Erneut wurde der Nachthimmel erleuchtet, es donnerte und Edith verstand die Worte ihre Tante nicht mehr.

„Entschuldige, Tante Luise, das Unwetter tobt. Ich verstehe dich kaum. Soll ich jemanden nach dir schicken?“

„Nein. Bei diesem Wetter setze ich keinen Fuß vor die Tür. Keine Sorge, das schaffe ich schon. Kümmere du dich lieber um die Fabrik. Ist es nicht ein Segen, dass das Telefon erfunden wurde? So können wir uns auch bei schlimmstem Wetter austauschen und absprechen, ohne dass …“

Stromschwankungen ließen die Lampen heftig flackern und im nächsten Augenblick war das Telefonat unterbrochen.

„Tante Luise …? Tante Luise, kannst du mich hören?“ Edith drückte einige Male auf die Gabel, doch es blieb still.

Erneut flackerten die Lampen, worauf sie kurzentschlossen eine Kerze holte, diese anzündete und das elektrische Licht ausschaltete. Nun war es beinahe wie früher in Kindertagen. Sie zog eine Wolldecke über sich und machte es sich im Sessel gemütlich. Irgendwann werden Wind und Regen schon nachlassen, dachte sie sich und lauschte in die stürmische Nacht. Sie schmunzelte, als sie sich Tante Luises unterbrochenes Loblied auf das Telefon in Erinnerung rief. Sorgen machte sie sich keine.

Nur zwei Tage später nahm die Telefonleitung ihren Dienst wieder auf. Edith nutzte die Gelegenheit und ließ sich mit ihrer Schwester verbinden. Sie stand neben dem kleinen Telefontischchen am Wohnzimmerfenster und blickte über den Innenhof, während sie mit Ursula telefonierte.

„Ja, Ursi, das Unwetter hat zwar einige Schäden in Kerchheim verursacht, doch unser Haus und die Fabrik sind vergleichsweise glimpflich davongekommen.“

„Gott sei Dank. Ich möchte mir nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen. Es wäre am besten, uns blieben solche unangenehmen Wetterereignisse in den kommenden Monaten erspart. Heinrich schläft so oder so oft unruhig. Wenn dann noch Sturm und Gewitter ums Gemäuer toben, läuft er wie ein Geist durch die Flure. Manchmal schlafwandelt er sogar. Seit Neuestem fürchten sich auch die Kinder, wenn Blitz und Donner toben. Das Kindermädchen bekommt sie nachts kaum beruhigt und niemand im Hause tut dann ein Auge zu. In den letzten zwei Wochen gab es gleich drei dieser nächtlichen Unwetter. Ich werde noch Tage benötigen, um mich davon zu erholen. Aber was jammere ich … du kannst das selbstverständlich nicht nachvollziehen. Du konntest schon immer gut schlafen, nicht wahr?“ Ursula klang etwas matt.

„Da hast du recht.“ Edith lächelte vor sich hin. „Das war früher schon so und hier, so nahe an der Fabrik, gewöhnt man sich noch leichter an den Lärm. Hier ist immer Betrieb ‒ im Gegensatz zu euch, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.“

„Jetzt übertreibe nicht“, entgegnete Ursi unwirsch, aber Edith nahm sie nicht ernst. Sie wusste nur zu gut, dass ihre Schwester die Abgeschiedenheit und die Stille in Hohenfinow genoss.

„Ich übertreibe nicht. Als wir euch das letzte Mal besucht haben, hörte ich vor dem Fenster eine Grille so laut zirpen, dass ich dachte, sie spielte mir ein Konzert auf meinem Kopfkissen.“

„Ja, das stimmt.“ Ursula lachte verhalten am anderen Ende der Leitung. „Ich möchte unsere Grillen um nichts in der Welt hergeben.“

„Musst du ja auch nicht. Mach dir nur keine Sorgen. Die Kinder beruhigen sich schon wieder und wenn ihr einmal alle ordentlich geschlafen habt, dann geht es auch dir wieder besser. Vielleicht müsst ihr uns mal wieder besuchen?“

„Wenn das so einfach wäre. Heinrich hängt sehr an dem Anwesen. Er will nirgendwo hinreisen, nicht einmal nach Berlin. Außerdem beginnt für Alfred im Frühjahr die Schule.“

„Heinrich werden wir schon überzeugen. Er hat sich so gut bei uns erholt und Gloria würde sich sehr über ausgedehnte Spaziergänge mit ihm freuen. Vielleicht schläft er dann besser und für Alfred nimmst du deinen Hauslehrer einfach mit. Wir werden uns doch nicht die Laune verhageln lassen.“

Eine Weile blieb Ursula still, dann antwortete sie ruhig, aber bestimmt. „Nein, das geht nicht. Ich glaube, dass es für Heinrich besser ist, hierzubleiben, wo er sich sicher fühlt. Und einen Hauslehrer für Alfred werden wir nicht brauchen. Weißt du nicht, dass die Kinder seit ein paar Jahren alle gemeinsam in die Schule gehen? Es gibt Klassen für Mädchen und welche für Knaben, aber sie lernen alle gemeinsam, egal woher sie kommen. Alfred wird mit den Söhnen unserer Bauern in einer Klasse lernen.“

„Na, das ist ja interessant. Und die Mädchen auch?“ Edith konnte es kaum glauben.

„Ja. Alle Kinder müssen jetzt regelmäßig zur Schule. So ist das Gesetz. Ich wundere mich, dass ausgerechnet du das nicht weißt. Es wurde dafür im Ort eigens ein neues Schulgebäude errichtet.“

„Das ist nicht das schlechteste Gesetz, möchte man meinen. Ich frage mich, wie diese wichtige Entwicklung an mir vorbeigehen konnte.“

„Ich kann es dir sagen. Weil du keine Kinder hast und dich nicht damit beschäftigen musst. Du hast dafür eine Fabrik gebaut und kennst dich damit aus.“

„Das stimmt. Und da du es erwähnst ‒ ich muss mich allmählich wieder darum kümmern.“

„Und genau deshalb werden wir unser Gespräch nun beenden.“

„Ja, aber lass uns bald wieder miteinander sprechen und überlege es dir noch einmal, ob du uns nicht doch besuchen möchtest. Bis zum Frühjahr ist es noch weit.“

Edith legte den Hörer auf der Telefongabel ab, nachdem sich die Schwestern verabschiedet hatten, und dachte noch über Ursulas Worte und Alfred nach. Lange verweilte sie jedoch nicht bei seiner schulischen Zukunft. Die Fabrik stand im Mittelpunkt ihres Interesses und hier war sie gefragt. Bis auf einige Schindeln, die vom Dach gefallen waren, und einige unschöne Wasserflecken hatte es nichts zu beanstanden gegeben. Der kleine Wasserschaden betraf auch nur den Altbau des Unternehmens. Der neuerbaute Komplex der Fabrik war ungeschoren davongekommen, was sie mit einigem Stolz zur Kenntnis genommen hatte. Der Pegel des Baches war durch die Fülle des Niederschlags sehr schnell angestiegen. Die enormen Kräfte, die dabei freigesetzt worden waren, hatten allerlei Treibgut ins Wasserrad gespült, sodass es sich verkantet hatte und stehen geblieben war. Das Wasser hatte sich ohne Weiteres einen anderen Weg gesucht und Teile des Hofes geflutet. Nachdem der Vorarbeiter mit ein paar Männern den Unrat am nächsten Morgen fortgeräumt hatte, lief das Rad wieder in gewohntem Betrieb. Der Boden trocknete trotz der kalten Witterung gut ab.

Luises Anwesen hatte es etwas schlimmer getroffen, doch auch dieser Schaden würde noch rechtzeitig vor dem Wintereinbruch behoben werden. Es bestand kein Grund zur Sorge. Auch sonst ging es der Tante gut, ihr und Franz sowieso. Über Schlafprobleme konnten beide nicht klagen. Edith konnte sehr zufrieden sein. Privat und unternehmerisch ging es ihnen im Vergleich zu vielen anderen ausgesprochen gut.

2. Geheime Wünsche

Franz streifte durch den alten Teil der Fabrik, wischte hier und da mit einem feinen Lappen über die Maschinen und pfiff eine melancholische Melodie. Es war Sonntag, er könnte und sollte Zeit mit seiner Gattin verbringen. Stattdessen verkroch er sich hier in Stille und Einsamkeit, denn er machte sich Sorgen. Er wusste, dass Edith mit ihm über ein bestimmtes Thema sprechen wollte. Es war eines, das ihm nicht gefiel und bei dem er fürchtete, dass sie seine Bedenken nicht hören wollte. Zudem hatte er selbst seit einigen Monaten etwas auf dem Herzen und getraute sich nicht, es ihr zu sagen.

Franz verließ die Halle und trat ins Freie. Er ging einige Schritte um das Gebäude herum. Dort trat er auf das kleine Gitterpodest, das neben dem Wasserrad und über dem Wasserlauf angebracht war. Das kühle Nass floss schäumend unter seinen Füßen hindurch, während das Wasserrad aus massivem Holz sich gemächlich drehte. Es hatte keine Aufgabe mehr in der Fabrik, seit die Dampfmaschine und die elektrischen Motoren im Einsatz waren. Edith hatte sich jedoch nicht von ihm lösen wollen. Auch das Unwetter hatte sie nicht umgestimmt.

Franz zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die trockene, kalte Luft. Er lauschte dem gleichmäßigen Rauschen und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Hinter den kahlen Baumwipfeln lachte die goldgelbe Nachmittagssonne.

„Ach hier bist du! Sag mal, versteckst du dich etwa vor mir?“ Das Metallgitter vibrierte, als Edith sich neben Franz auf das Podest gesellte.

Er drehte sich überrascht um. „Nein, natürlich nicht. Ich war beschäftigt. Vor weniger als einer Minute bin ich fertiggeworden. Ich wollte mir noch eine Zigarette gönnen und wäre gleich danach ins Haus gekommen.“

„Wie unanständig, dass du ohne mich rauchst. Gib mir auch eine“, forderte Edith und grinste ihn herausfordernd an.

Franz zog mit ernstem Blick sein Etui aus der Westentasche und reichte es ihr.

„Ist alles in Ordnung?“ Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer, stützte sich lässig mit den Ellenbogen darauf ab und sah ihn abwartend an. Dabei kniff sie leicht die Augen zusammen und zog die Nase etwas kraus, denn die Sonnenstrahlen tanzten auf ihrem Gesicht und blendeten sie. Umwerfend sieht sie aus. Tollkühn, ging es Franz durch den Kopf.

„Ja, alles in Ordnung. Die Maschinen sind gewartet, die Woche kann beginnen“, erwiderte er und schenkte ihr ein ehrliches Lächeln.

„Ich meinte nicht die Maschinen. Ich meinte dich. Du wirkst verändert auf mich. Bedrückt dich etwas?“ Edith zog an ihrer Zigarette, sah ihn prüfend an und wartete.

Ein dumpfer Schmerz durchfuhr seine Brust. Wenn du nur wüsstest, dachte er. Nein, es war nicht alles in Ordnung. Franz hatte sich verändert. Er trug einen innigen Wunsch, eine starke Sehnsucht in sich. Als Heinrich, Ursula und die Kinder zu Beginn des Jahres aus Kerchheim abgereist waren, war es ihm klar geworden. Er wünschte sich ein Kind, ein eigenes Kind mit Edith. Aber er konnte und wollte es ihr nicht sagen, denn sie war die Frau, die er liebte, die Frau mit ihren eigenen Plänen, und er hatte ihr vor der Hochzeit ein Versprechen gegeben. Er wusste, dass sie niemals Kinder bekommen wollte, sondern für das Leben als Unternehmerin brannte. Nein, es war nicht alles in Ordnung, aber damit würde er alleine klarkommen müssen. Entschlossen warf er die Zigarette ins Wasser und nahm sie in den Arm.

„Ich? Verändert? Wo denkst du hin? Ein bisschen älter und weiser bin ich vielleicht geworden … ja weiser bestimmt. Doch ich bin immer noch der Mann, der dich vorbehaltlos und unendlich liebt.“ Er fing ihren Blick auf. Für einen Moment schien die Zeit zwischen ihnen stillzustehen.

„Ja, das bist du und ich liebe dich ebenso“, flüsterte Edith rau und küsste ihn.

Die sinnliche Berührung ihrer weichen, warmen Lippen ließ Franz für einen Moment verharren. Dann überkam ihn eine Flut des Glücks, des Begehrens. In heftiger Leidenschaft erwiderte er ihren Kuss und als er geendet hatte, war diese andere Sehnsucht zumindest für den Augenblick fortgespült, viel leichter und schneller, als er vorhin noch gedacht hatte. Es gab nur seine Frau und ihn, Edith und Franz. Er musste es sich nur oft genug in Erinnerung rufen.

„Wir sollten hineingehen. Tante Luise wartet doch auf uns. Sie hat besondere Neuigkeiten zum Nachmittagskaffee versprochen. Wenn wir nicht wollen, dass sie ihre Informationen wieder mitnimmt, sollten wir ihre Geduld nicht unnötig strapazieren.“ Edith ergriff seine Hand und Franz folgte ihr über den Hof, genau so, wie er ihr auch durch alle Lebenslagen folgen wollte, denn er liebte sie und hatte es ihr geschworen.

„Ach, wie schön. Du hast ihn gefunden. Ich war so frei, schon einmal zu beginnen. Kalter Kaffee ist nicht gerade eine Delikatesse.“ Luise saß bereits am gedeckten Tisch und rührte in ihrer Porzellantasse, als die beiden das Zimmer betraten. Sie lächelte zwar, aber Franz war der tadelnde Unterton nicht entgangen.

„Verzeih mir Luise, ich war so in die Arbeit vertieft, dass ich die Zeit vergaß. Edith tat ihr Möglichstes. Sei versichert, ich gelobe Besserung.“ Er zog sein Jackett aus und nahm am Esstisch Platz.

„Na ja, nun seid ihr ja da“, erwiderte Luise milde. „Mit Leopold war es oft genauso. Ich sollte wohl nicht so streng mit dir sein. Außerdem habe ich bedeutende Neuigkeiten zu berichten. Darüber sollten wir sprechen, alles andere ist Firlefanz.“

Die beiden Frauen wechselten einen bedeutsamen Blick, was Franz nicht entging. Er ließ dies jedoch unkommentiert und wandte sich dem frisch gebackenen Napfkuchen zu.

„Lass mich dich versöhnlich stimmen und etwas von dem Kuchen anbieten, bevor du berichtest.“ Er bedeutete dem Hausmädchen mit einer leichten Handbewegung, dass es wieder in die Küche gehen durfte.

„Nur zu. Wer weiß, wie lange uns solch erholsame Nachmittage noch gegönnt sind. Danke, mein Lieber.“

Franz erhob sich stirnrunzelnd. Worauf spielte Luise an? Gab es etwas Bestimmtes oder ging es um die allgemeine Lage? Er schnitt den Kuchen auf und verteilte die Stücke. Anschließend goss er Edith und sich etwas Kaffee ein. Tante Luise winkte dankend ab und noch bevor er sich wieder gesetzt hatte, sprudelten die Neuigkeiten bereits aus ihr heraus.

„Die Weiler Brüder hat es getroffen, Johann und Friedrich. Sie haben ihr gesamtes Vermögen durch den Sturz der Aktienkurse verloren. Eine Weile konnten sie es verbergen, aber nun sind sie nicht mehr liquide und können weder Löhne noch Rechnungen bezahlen. Die Sache ist denkbar ernst. Sie waren in den letzten Tagen bei verschiedenen Banken, keine will ihnen Geld geben. Kein Wunder, die wissen ja selbst nicht, woher sie es nehmen sollen. Gestern Abend jedenfalls hat einer von ihnen, der ältere, glaube ich, sämtliches Hauspersonal entlassen, ohne den noch ausstehenden Lohn in voller Höhe zu bezahlen. Er soll sich wie ein Verrückter aufgespielt und getobt haben. Dann hat er sie alle davongejagt und sämtliche Türen und Tore verriegelt. Ihr könnt euch das Gejammer des Personals nicht vorstellen. Schrecklich!“ Luise schüttelte entrüstet den Kopf.

„Doch, ich kann es mir gut vorstellen. Eine unschöne Geschichte.“ Edith sprach ernst. Die Sorgen der Menschen waren ihr nicht egal, das wusste Franz nur zu gut. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass sie sich über die Ereignisse insgeheim freute. Dieses neugierige, aufgeregte Funkeln in ihren Augen war ihm nicht entgangen. Ihn überkam eine Ahnung, was in seiner Frau vorging, und der Gedanke gefiel ihm nicht.

„Hast du auch etwas darüber gehört, wie es in der Fabrik weitergeht?“, wollte sie von Luise wissen.

„Nein. Aber wenn die Brüder pleite sind, werden sie morgen früh vor die Belegschaft treten und ihnen reinen Wein einschenken müssen. So viel Anstand werden sie wohl aufbringen.“ Luise ließ sich den Napfkuchen schmecken, während Edith sie erwartungsvoll ansah.

„Wissen wir denn sicher, dass beide kein Geld mehr haben?“ Franz blickte abwechselnd zu Luise und seiner Frau. Er nahm eine besondere Energie zwischen den beiden wahr.

„Nein. Aber es ist anzunehmen. Die Gerüchteküche brodelt.“ Luise aß das letzte Stückchen Napfkuchen von ihrem Teller und lehnte sich zurück. Beide Frauen sahen sich wieder auf besondere Weise an. Irgendetwas ging gerade zwischen ihnen vor.

„Würdest du für mich Genaueres in Erfahrung bringen, Tante Luise?“ Edith hatte noch keinen Bissen von ihrem Stück Kuchen gegessen.

„Selbstverständlich. Ich nehme an, du fragst mich nicht ohne Grund. In welche Richtung soll ich mich denn besonders schlau machen?“, hakte die Tante nach, wobei es schien, dass sie die Antwort schon kannte.

Franz lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte ebenfalls eine Ahnung. Er erinnerte sich nur zu gut an die Explosion bei Litz und auf welche Weise Leopold Geldermann damals an die Rohstoffe und Aufträge der Fabrik gelangt war. Wollte seine Frau auch in diesem Fall in die Fußstapfen ihres Onkels treten?

„Wenn Weilers zahlungsunfähig sind, lassen sie gegen Bares sicherlich gut mit sich verhandeln“, gab Edith nun ihre Idee preis.

Franz‘ Magen zog sich unangenehm zusammen. Er hatte es befürchtet und auch Luise zeigte sich wenig überrascht.

„Die Weiler-Brüder produzieren aber Leinen“, warf er ein. „Du kannst die Rohstoffe und Aufträge nicht so ohne Weiteres übernehmen.“

Wie konnte Edith das nur vergessen? Hier reichte es nicht, die Maschinen entsprechend zu justieren. Es müssten andere angeschafft werden. Abgesehen davon, dass ihm die Erfahrung im Umgang mit ihnen fehlte, hatte Franz auch keine Ahnung, wo diese untergebracht werden sollten. Der Neubau war zwar geräumig, doch die Tuchfabrik Geldermann war auf Wolltuchproduktion ausgerichtet.

„Das weiß ich doch.“ Edith lächelte ihm verschlagen zu. „Wenn die Weiler Brüder pleite sind, dann gebe ich mich nicht damit zufrieden, ihre Aufträge zu übernehmen und ein paar Kohlen abzugreifen. Dann will ich ihre Fabrik kaufen und dort weiter produzieren lassen.“ Sie blickte ihn entschlossen an, den Rücken gerade, eine Hand an der Kaffeetasse. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über den feinen Rand des Porzellans.

Franz schluckte. War sie denn verrückt geworden? Wenn die Fabrik pleite war und gerade nirgendwo Kredit zu bekommen war, dann wäre es doch Wahnsinn, dieses Unternehmen zu kaufen. Sie hatten keine Ahnung davon, wie Leinen produziert wurde. Er beobachtete Edith, sein Kiefer arbeitete und in seinem Nacken breitete sich eine unangenehme Verspannung aus.

„Wir haben nicht das notwendige Wissen“, warf er in bemüht ruhigem Ton ein.

Sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. So leicht ließe sie sich sicherlich nicht von ihrer Idee abbringen. So gut kannte er seine Frau. Er sah ihr an, wie die Gedanken durch ihren Kopf rasten. Sie schmiedete einen Plan. Vielleicht war sie damit auch schon längst fertig und suchte nur noch nach den richtigen Worten, um sich mitzuteilen.

„Bevor ich Wolltuchfabrikantin wurde, hatte ich auch keine Ahnung und nun sieh mich an. Gegen jede Erwartung sitze ich hier und leite ein Unternehmen. Noch dazu gut, denn ich war klug genug, keine finanziellen Risiken einzugehen. Mehr noch, ich war willig, alles, was in diesem Geschäft notwendig ist, zu lernen. Nun habe ich die große Chance, weiterzukommen. Noch mehr Früchte meiner Mühen zu ernten. Das werde ich mir doch nicht nehmen lassen.“ Edith sagte es, ohne ihn anzublicken. Sie starrte irgendwo über dem Tisch ins Nichts.

„Aber jetzt, gerade da wieder überall das Geld knapp wird, eine andere Fabrik zu kaufen, das ist ein erhebliches Risiko. Wir sollten unbedingt darüber nachdenken, welche Konsequenzen diese Entscheidung für uns haben kann.“ Franz wählte seine Worte mit Bedacht, sprach leise, doch mit eindringlichem Ernst.

„Dass eine Frau die Tuchfabrik übernimmt, wurde auch als Risiko eingeschätzt. Glaube mir, ich wäge gerade sehr genau ab“, entgegnete Edith.

Franz entging der trotzige Unterton nicht. Er wusste, dass er im Moment nicht zu ihr durchdringen würde. Sie hatte sich bereits in ihre Idee verbissen. Also schwieg er lieber. Luise löste die Spannung am Tisch etwas, als sie ihm ihre Tasse samt Untertasse hinüberschob.

„Sei so gut und gib mir noch ein halbes Tässchen Kaffee.“ Sie legte besänftigend ihren Kopf schief und Franz goss allen nach. Seine Nerven jedoch blieben zum Bersten gespannt.

Edith rieb ihr Kinn nun zwischen Daumen und Zeigefinger, während sie mit geschlossenen Augen weiter nachdachte. Die Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Nur das Ticken der großen Standuhr war zu hören.

„Du hast recht“, erklärte Edith nach einer Weile ungeduldigen Wartens schließlich. „So ein Kauf darf nicht leichtfertig und unüberlegt geschehen. Er muss vielmehr präzise geplant und umgesetzt werden.“

Entwarnung, dachte Franz. Langsam ließ er die Luft aus seinem Brustkorb entweichen. Seine Muskeln und Nerven lockerten sich nach und nach. Der Gedanke an Leinen ließ ihn innerlich lächeln. Die Erinnerung an die Übernahme von Litz‘ Aufträgen nach dem Brand und dessen Tod war ihm noch allgegenwärtig. Doppelschichten über Monate und ständig die Anpassungen an den Maschinen, je nachdem, wie der Stoff gefertigt werden musste, waren eine harte Zeit gewesen. Er sehnte sich nicht danach zurück. Der Kelch schien dieses Mal an ihm vorübergegangen zu sein. Es war eben Edith, die ihm gegenübersaß und nicht Leopold Geldermann. Sie musste wohl doch nicht um jeden Preis in die Fußstapfen ihres Onkels treten.

„Wir dürfen uns nicht unter Druck setzen und trotzdem nicht zu lange warten. Denn sind die Arbeiter erst einmal fort und stehen die Maschinen still, wird es ohne Vorkenntnisse bedeutend schwieriger, den Betrieb wieder ans Laufen zu bringen.“ Edith blickte auf.

Als Franz ihren Blick auffing, erschrak er und hielt die Luft erneut an. Der Kelch war noch längst nicht vorübergezogen. Edith schmiedete noch immer an diesem heißen Eisen. Hochkonzentriert dachte sie nach.

„Wir müssten ihnen zuvorkommen, bevor alles den Bach runtergeht. Sie, oder zumindest einer von ihnen, braucht Geld und ich habe welches. Da wird sich doch ein Geschäft draus machen lassen.“ Edith trank ihren Kaffee aus und blickte voller Tatendrang in die Runde.

„Du hast also einen Plan“, stellte Franz nüchtern fest.

Luise räusperte sich.

„Den habe ich. Und was für einen“, jubelte Edith mit siegessicherem Grinsen im Gesicht leise. „Aber ich fürchte, um euch einzuweihen, benötigen wir mehr als Kaffee. Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“ Sie sprang fröhlich auf und verließ das Zimmer.

Franz lehnte sich wie erschlagen zurück. Sein Mund war staubtrocken, doch beim Gedanken an eine weitere Tasse Kaffee schnürte sich ihm die Kehle zu.

Luise räusperte sich erneut und er versuchte aufmerksam in ihrem Blick zu lesen. Wie stand sie zu alldem? Luise Geldermann hatte die Neuigkeiten schließlich mitgebracht. War ihr klar gewesen, welche Lawine sie damit lostreten würde? War es möglicherweise sogar ihr Plan gewesen?

„Was schaust du mich an? Ich bin nur die Überbringerin der Neuigkeiten“, drangen Luises Worte zu ihm durch. Sie hob die Schultern, als wäre sie an allem vollkommen unbeteiligt und selbst verwundert.

„Entschuldige, ich war in Gedanken“, erwiderte Franz. Offenbar hatte er sie schon geraume Zeit angestiert, ohne es zu bemerken.

Edith kam zurück ins Wohnzimmer. Sie stellte eine halbvolle Flasche Weinbrand auf den Tisch, dazu Gläser und eine Schachtel Zigarren. Franz wusste, dass es sich dabei um jene Sorte handelte, die Leopold immer getrunken und geraucht hatte. Der Weinbrand schmeckte scheußlich. Das sah Edith genauso, aber in besonderen, wichtigen Momenten ihres Lebens hatte sie sich angewöhnt, davon zu trinken und seine Zigarren zu rauchen. Sie behauptete, auf diese Weise immer sein Andenken für sich lebendig zu halten. So war er immer noch Teil der Tuchfabrik.

„Ich sehe euch die Spannung an den Nasenspitzen an. Nur Geduld, ich habe einen grandiosen Plan. In wenigen Minuten seid ihr eingeweiht. Sie goss ein, verteilte die Gläser und erhob ihres. „Wir expandieren und ich weiß genau wie. Zum Wohl!“

Franz betrachtete Edith gleichermaßen entsetzt und beeindruckt. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Herz schlug schneller als üblich. Die Neugier hatte ihn fest im Griff. Seine Frau war entweder übergeschnappt oder eine geniale Unternehmerin. So oder so, in wenigen Minuten wäre er schlauer. Er stürzte den Weinbrand hinunter, fühlte, wie das Getränk sich wohlig warm in seinem Magen verteilte und blickte Edith erwartungsvoll an.