Leseprobe Das Puppenhaus | Der packende Psychothriller voller überraschender Wendungen

Prolog

Haben Sie sich je gefragt, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn nur eine einzige Sache anders gewesen wäre? Ein einzelnes Ereignis, das Sie auf einen anderen Pfad geführt und damit Ihre Zukunft verändert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich damals nicht an diesem Ort gelebt hätte? Wenn ich diesen Job nicht angenommen hätte? Wenn ich diesem einen Menschen nie begegnet wäre?

Was, wenn ich ihr nie begegnet wäre?

Dieser Gedanke lässt mich nicht los, während ich in meiner Gefängniszelle liege und auf ein einzelnes Foto an der Wand starre, eine zugleich glückliche und schmerzhafte Erinnerung an bessere Zeiten. Jetzt bin ich allein, und die Stille dröhnt in meinen Ohren. Kein Kind, das herumtobt. Keine Katze, die um Futter bettelt. Keine Freunde, die mir schreiben, ob ich Lust auf einen Kaffee habe. Es gibt nichts und niemanden.

Ich bin in diesem überfüllten Gefängnis von vielen Menschen umgeben, aber ich will nicht mit ihnen reden. Ich habe Angst. Angst davor, was sie sagen, was sie tun könnten. Ich bin eine Außenseiterin. Anders als die Frauen, die sich gebärden, als gehörte ihnen der Laden. Die ihre eigenen Regeln aufstellen, Hierarchien schaffen, Deals aushandeln. Sie haben sich in ihr Schicksal gefügt, diesen gottverlassenen Ort zu ihrem Zuhause gemacht. Aber ich kann das nicht. Ich gehöre nicht hierher. Ich bin die Unschuldige, eine Puppe, mit der man gespielt und die man dann weggeworfen hat, vergessen von den Menschen, die mich hätten lieben sollen.

Abgesehen von dem Foto ist die Wand meiner Zelle leer. Ein großes Stück Nichts. So wie wir, die Insassinnen dieses Gefängnisses. Wir sind die Schandflecke der Gesellschaft, die Unansehnlichen, die man versteckt, unsere einzige Verbindung zur Außenwelt ein Anruf, ein Brief oder ein kurzer Besuch für diejenigen, die noch jemanden haben, der sich kümmert. Aber ich will kein Nichts sein. Ich will wieder jemand sein. Das Verlangen danach ist so stark, dass es wehtut.

Ich starre das Foto so lange an, bis es vor meinen Augen verschwimmt. Es ist in zwei Hälften gerissen, ein Akt, den ich inzwischen bereue. Doch dies sind keine gewöhnlichen Zeiten. Ich wurde an meine Grenzen getrieben und manchmal fiel es mir schwer, meine Gefühle im Zaum zu halten.

Bis vor kurzem führte ich ein ganz normales Leben: Arbeit, die Kinder zur Schule bringen und abholen, ihre Verabredungen zum Spielen, mit Freunden treffen. Ich war nicht vorbestraft. Und jetzt? Jetzt sitze ich hier und frage mich: Wie konnte mir das passieren?

Und alles läuft auf eine einzige Person hinaus. Sie.

Sie hat alle gegen mich aufgebracht. Menschen, die ich für Freunde hielt, stellten sich auf ihre Seite. Auch die Polizei hatte sich entschieden. Sie fragten sich: Wer ist das Opfer? Und sie entschieden sich für sie.

Sie hat mir alles genommen und ich hasse sie. Sie ist der Grund, warum ich hier bin. Der Grund, warum all jene, die mich bewundert haben, mich nun verachten. Was soll nun werden?

Und dann kommt mir ein Gedanke.

Mein Herz beginnt vor Aufregung zu rasen. Ich habe mich so verloren gefühlt, doch jetzt sehe ich klar. Ich weiß, wie ich es wieder richten kann. Wie ich mein Leben zurückbekomme. Und wie ich sie bestrafe für das, was sie mir angetan hat. Es gibt da noch einen Menschen. Einen, der mich liebt. Der alles für mich tun würde, während sich alle anderen abgewendet haben. Es ist so offensichtlich, dass ich kaum fassen kann, dass mir das nicht früher eingefallen ist. Ich habe mich zu sehr in Selbstmitleid verloren. Aber jetzt sehe ich wieder klarer. Es fühlt sich an wie eine Wiedergeburt.

Es wird funktionieren, das weiß ich.

Sie wird nicht gewinnen. Ich werde es.

Ich suche nach einem Stift und etwas Papier. Dann beginne ich zu schreiben.

Kapitel eins

Ein Jahr zuvor

„Du machst wohl Witze. Unmöglich. Niemals.“ Ich runzelte die Stirn, um meinen Ärger zu unterstreichen, auch wenn der Anrufer mich nicht sehen konnte. „Ich kann nicht glauben, dass das passiert.“

Freya und Bella sahen von ihren Müslischüsseln auf und starrten mich an. Milch tropfte von Freyas Löffel auf ihren frisch gewaschenen Schulpulli. Verflixt noch mal.

„Mir ist klar, dass das enttäuschend ist, aber ich habe auch eine potenziell gute Nachricht“, sagte der Anrufer in einem besänftigenden Tonfall. Er hatte offenbar Erfahrung im Umgang mit gestressten und irrationalen Menschen.

Ich klammerte mich an seine Worte wie ein Blutegel. „Lass hören.“

„Ich habe eventuell eine neue Käuferin aufgetan. Sie gehörte zu den Leuten, die schon beim ersten Mal ein Angebot abgegeben haben, aber sie konnte beim Höchstgebot nicht mitgehen. Ich habe sie gestern Abend angerufen und sie ist immer noch interessiert. Sie ist eine sehr nette Lady und das Beste ist, dass sie schnell Nägel mit Köpfen machen kann.“

Ich verengte meine Augen. „Wie schnell?“

„Ich habe ihr eure Situation geschildert und sie ist bereit, alles zu tun, um den Zuschlag zu bekommen. Ich denke, wir können das innerhalb von ein paar Wochen über die Bühne bringen.“

Mein Puls verlangsamte sich, ich schloss die Augen und atmete erleichtert aus. „Weißt du“, sagte ich in versöhnlicherem Ton, „das hättest du auch gleich sagen können.“

„Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen“, antwortete er, und ich konnte sein Lächeln hören. „Ich schicke dir gleich per E-Mail ihr Angebot, es liegt nur dreitausend Pfund unter dem, was ihr mit den vorherigen Käufern vereinbart hattet, was ich unter den gegebenen Umständen für akzeptabel halte. Sie ist alleinerziehende Mutter und stammt aus …“

„Wir nehmen an“, sagte ich schnell. „Bring die Sache ins Rollen.“

„Wenn du nur rasch die E-Mail lesen und antworten könntest …“

„Ja, ja, ja, wir nehmen an. Tausend Dank für deine Hilfe, du bist ein Lebensretter.“

Ich legte auf und sah meine Töchter an, wobei mein Blick auf den Milchfleck auf Freyas Pulli fiel. Ich überlegte, wie lange sie brauchen würde, um in ihr Zimmer zu gehen und ihn zu wechseln. Mindestens sechs Minuten unnötiges Herumtrödeln eingerechnet, käme sie locker auf zehn. Scheiß drauf, der Pulli blieb an. Man kann nicht immer gewinnen und ich hatte einen wichtigeren Sieg im Auge. Hastig schickte ich eine SMS an Oliver, meinen Mann.

„Was ist denn los, Mum?“, fragte Bella, stand auf und stellte ihre Müslischale neben die Spüle.

„Die Käufer für unsere Wohnung sind in letzter Minute abgesprungen“, sagte ich.

Ich sah, wie sich die Augen der Mädchen weiteten, und wusste, was sie dachten. Freya: OMG, das bedeutet, dass wir nicht umziehen! Ich darf mir weiter das Zimmer mit Bella teilen! Bella: OMG, das bedeutet, dass wir nicht umziehen. Ich muss mir weiter das Zimmer mit Freya teilen.

„Aber ich glaube, es ist alles geregelt“, fügte ich schnell hinzu. „Es hat sich eine andere Käuferin gefunden.“

Freya verzog das Gesicht, während Bella jubelte.

„Ich wäre fast drauf reingefallen, Mum“, sagte Bella, meine Zwölfjährige, erleichtert. „Ich dachte schon, wir müssten hierbleiben.“

Ich stellte mir das wunderschöne Haus vor, bei dem wir kurz davor waren, den Kaufvertrag abzuschließen, und dachte: Keine Chance, Süße. Das Haus gehört uns.

„Nein, der Umzug läuft“, sagte ich fröhlich.

Die siebenjährige Freya schnaufte verärgert. „Ich verstehe immer noch nicht, warum wir umziehen müssen.“

Freya war von Anfang an dagegen gewesen, aber so war Freya nun mal. Sie war ein Gewohnheitstier, sie mochte keine Veränderungen, und die Vorstellung, die Wohnung zu verlassen, in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, war ihr ein Graus. Bella hingegen war begeistert, denn nachdem sie sich jahrelang ein Zimmer mit ihrer nervigen kleinen Schwester geteilt hatte, würde sie nun endlich ihre eigene Bude haben. Ich hatte aufgehört, zu zählen, wie viele Moodboards sie mir für die Gestaltung ihres Zimmers schon präsentiert hatte.

Ich sah auf die Uhr und die gewohnte Panik stieg in mir auf. „Wir sind spät dran, Mädels, auf geht’s.“

Bella schnappte sich ihre Tasche, warf mir einen Kuss zu und verließ das Haus, um sich selbst auf den Weg zur örtlichen Sekundarschule zu machen. Freya jedoch verharrte stur an Ort und Stelle.

„Komm schon, Freya“, sagte ich gereizt. „Wir kommen zu spät, wenn wir jetzt nicht losgehen.“

Ich sah ihre Unterlippe beben und mir wurde schwer ums Herz. Freya timte ihre Ausraster immer perfekt. Meine Miene wurde weicher und ich nahm ihre Hand. „Freya“, sagte ich flehend. „Ich weiß, dass du traurig bist, weil wir umziehen, aber komm jetzt, Schatz, wir können unterwegs darüber reden.“

„Hat die neue Käuferin Kinder?“, fragte sie.

„Ja, ich glaube schon“, antwortete ich, dachte an mein hastiges Gespräch mit dem Makler, fragte mich, worauf Freya hinauswollte, und ärgerte mich gleichzeitig über die Zeit.

„Weißt du, wie alt sie sind?“

„Nein.“ Ich sah auf die Uhr und fluchte innerlich.

„Werden sie in meinem Bett schlafen?“

„Nein, Freya“, sagte ich mit gezwungener Geduld. Wir hatten das schon zigmal durchgekaut. „Dein Bett kommt mit uns in das neue Haus. Und deine ganzen Spielsachen auch.“

„Aber sie werden in Bellas und meinem Zimmer schlafen.“

„Nun, ja.“

„Das gefällt mir nicht. Das ist unser Zuhause.“

Ja, es war unser Zuhause und war seit über fünfzehn Jahren, lange bevor Freya gekommen war, Olivers und meins gewesen. Wir liebten die Wohnung und hatten darin wunderbare Erinnerungen geschaffen. Aber es war an der Zeit für etwas Neues. Wir brauchten dringend mehr Platz und wir waren finanziell endlich in der Lage, ein Haus zu kaufen, ohne in eine andere Gegend ziehen zu müssen. Die Stadt, in der wir wohnten und die schwer im Kommen gewesen war, als wir damals hergezogen waren, war inzwischen etabliert und dementsprechend teuer. Wir hatten das Glück, ein Haus, das wir uns leisten konnten, an unserer Traumstraße gefunden zu haben. Alle verstanden das, nur Freya nicht.

„Du wirst das neue Haus lieben“, sagte ich, wohl wissend, dass ich wie eine Platte mit Sprung klang. „Aber wir müssen jetzt wirklich zur Schule, Freya.“

Ich sah meine Tochter an, innerlich flehend, dass sie klein beigeben möge. Sie erwiderte meinen Blick und der Sturm der Unentschlossenheit, der in ihr tobte, war nicht zu übersehen. Soll ich mir die Schuhe anziehen oder sie lieber durch die Gegend werfen? In meiner Verzweiflung zog ich meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel. „Wenn wir jetzt gehen, können wir unterwegs noch ein Schokocroissant kaufen.“

Das hatte den gewünschten Effekt. Freya stand in ihren Schuhen an der Haustür, noch bevor ich meine Handtasche gefunden hatte. Aber sie brütete weiter, als wir uns auf den Weg zur Schule machten.

„Alles okay, Schatz?“, fragte ich. Nun, wo wir unterwegs waren, fühlte ich mich weniger gereizt und wurde wieder zugänglicher. „Sollen wir darüber reden?“

„Ich will nicht, dass komische Leute bei uns zu Hause wohnen.“

„Vielleicht sind sie gar nicht komisch, sondern sehr nett.“

Sie schaute mich mit ihren großen braunen Augen an. „Vielleicht sind sie aber komisch.“

Mir schnuppe, ob sie komplette Spinner sind, solange sie nur unsere Wohnung kaufen, dachte ich. Aber Freyas Worte brachten mich ins Grübeln. Ich hatte ein paar Nachforschungen über das Paar angestellt, das die Wohnung ursprünglich kaufen wollte. Sie waren beide Ende zwanzig und wollten ihre erste gemeinsame Wohnung kaufen. Laut seiner LinkedIn-Seite arbeitete er in der Immobilienverwaltung. Ihrer Instagram-Seite nach zu urteilen, machte sie gern Selfies in angesagten Bars. Sie schienen ein nettes Paar zu sein, das an der Wohnung seinen Spaß haben würde, so wie Oliver und ich, als wir damals eingezogen waren, vor den Babys, den Kleinkindern und dem Schulalltag. Ich hatte mir vorgestellt, wie sie Partys veranstalteten und es sich nach einem langen Arbeitstag auf dem Sofa gemütlich machten, und ich hatte das gute Gefühl, unser Zuhause in gute Hände zu legen.

Aber über diese Frau wusste ich nichts, nicht einmal ihren Namen. Ich zückte im Gehen mein Handy und sah, dass der Makler mir schon ihr Angebot geschickt hatte. Ich überflog die E-Mail und las, dass die Frau, die sich Summer nannte, vorbeikommen und sich die Wohnung noch einmal ansehen wollte. Ich antwortete schnell, dass ich das Angebot annehme, und teilte ihr mit, dass sie jederzeit willkommen sei. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Freya, die sich mühsam über den Gehsteig schleppte.

„Freust du dich auf den letzten Schultag?“, fragte ich.

„Glaube schon.“

„Bestimmt macht ihr nur Spiele und so.“

„Ja.“

„Und im September wohnen wir hoffentlich in unserem neuen Haus und du kannst all deinen Freunden von deinem tollen Kinderzimmer erzählen. Vielleicht kann Aanya dann mal bei dir übernachten, hättest du darauf Lust?“

Wir wurden durch das Klingeln meines Handys unterbrochen. Es war der Makler und ich ging panisch ran. „Sag bitte nicht, sie hat ihre Meinung geändert.“

„Nein, ganz und gar nicht. Sie ist gerade in der Gegend und fragt, ob sie heute Vormittag vorbeikommen kann.“

Ich dachte an das schmutzige Geschirr neben der Spüle. Die ungemachten Betten. „Wann?“

„Ist in einer Stunde okay? Sie sagt, du musst nicht weg sein, sie würde dich gern kennenlernen.“

Ich dachte an meine Freundinnen, mit denen ich gern gequatscht hätte, und an die Einkäufe, die ich auf dem Heimweg erledigen wollte. Und dann erinnerte ich mich daran, wie wichtig der Verkauf war. „Das passt, wir sehen uns dann.“

Da meine Pläne über den Haufen geworfen waren, verlief der Abschied ziemlich überstürzt. Ich wischte Freya die Croissantkrümel aus dem Gesicht und gab ihr einen Kuss, dann winkte ich meinen Freundinnen zu und eilte direkt nach Hause, um mit der Operation Aufräumen zu beginnen. Als es an der Tür klingelte, war ich bereits durchgeschwitzt, denn die offenen Fenster boten nur wenig Erleichterung im kurzen britischen Sommer. Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn und öffnete mit einem einladenden Lächeln die Tür.

„Hallo zusammen!“, sagte ich, schüttelte Greg, unserem Makler, die Hand und begutachtete dann die Frau, die neben ihm stand. Sie sah ein paar Jahre jünger aus als ich, und ihr langes blondes Haar war zu einem wirren Dutt geknotet. Ihr Gesicht hatte ein wenig Farbe, aber es sah eher nach Gartenbräune aus als nach zwei Wochen Aufenthalt in der Karibik. Sie trug ein rosafarbenes Sommerkleid mit Spaghettiträgern, das sich an ihre schlanke Figur schmiegte. Sie war schön, nicht im klassischen Sinne hübsch, sondern auf markante Weise, und ich fuhr mir verlegen mit einer Hand durchs Haar.

„Ich bin Summer“, sagte sie, und ihre Stimme klang weich und melodisch. „Vielen Dank, dass ich so kurzfristig kommen durfte.“

„Kein Problem“, antwortete ich und wünschte mir, ich hätte nicht eins von Olivers alten T-Shirts und Jeans-Shorts mit offenem Knopf getragen, weil sie zu eng waren. „Du bist herzlich willkommen, komm rein.“

Sie schwebte eher in die Wohnung, als dass sie eintrat, und ich atmete einen süßen, blumigen Duft ein. Sie roch frisch und sauber, nach Sommer, was angesichts ihres Namens perfekt zu ihr passte.

„Oh ja, es ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe“, sagte sie und blickte staunend um sich.

„Greg meinte, du seist neu in der Gegend?“

„Das stimmt, wir ziehen von Devon hierher.“

„Reizend.“ Ich fragte mich, wie diese Frau, wenn sie in Devon lebte, in einer Stunde hier sein konnte, aber dann dachte ich, dass sie vielleicht noch andere Termine in der Gegend hatte. Einen panischen Moment lang fürchtete ich, sie würde sich noch andere Wohnungen ansehen, die ihr vielleicht besser gefallen würden.

„Wir haben uns hier unheimlich wohlgefühlt“, schwärmte ich. „Es ist eine echt schöne Wohnung in einer total netten Gegend. Ganz in der Nähe ist ein riesiger Park und die U-Bahn ist auch nicht weit, falls du pendeln musst. An der Hauptstraße gibt es viele tolle Cafés und Bäckereien.“

Ich sah Greg und er bedachte mich mit einem Blick, der sagte: Mal halblang, Madame. Die Wohnung zu verkaufen ist mein Job. Er schaltete sich ein und pries die vielen Vorzüge der Kleinstadt Barnet im Norden Londons an, mit ihrem ländlichen Charakter und der guten Anbindung an die City. Ich folgte den beiden, während sie von Raum zu Raum gingen. Da Greg das Kommando übernommen hatte, gab es für mich nicht viel zu sagen oder zu tun, aber ich wollte nichts Wichtiges verpassen. Der Verkauf musste unbedingt klappen.

Die Besichtigung einer Dreizimmerwohnung nahm nicht viel Zeit in Anspruch und schon bald fanden wir uns in der Küche wieder.

„Möchtest du eine Tasse Tee?“, fragte ich Summer.

„Oh, vielen Dank, Naomi, aber ich möchte dir keine Umstände bereiten.“ Meine Güte, sie war süß.

„Überhaupt nicht, ich wollte mir gerade selbst eine machen.“

„Wenn das so ist, nehme ich gern eine.“

Wir sahen beide Greg an, der unschlüssig danebenstand.

„Du kannst gerne gehen, Greg, wenn du noch andere Termine hast“, sagte ich.

Greg sah zwiespältig aus, als wäre ihm nicht wohl dabei, mich mit Summer allein zu lassen. Vielleicht fürchtete er, ich könnte den Verkauf versehentlich vereiteln, wenn er nicht dabei wäre, um mich zu beaufsichtigen. Aber ich schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln und mit einem kurzen Blick auf seine Uhr nickte er.

„Ich werde Sie heute Nachmittag anrufen“, sagte er zu Summer. „Um Ihre Meinung zu hören.“

„Oh, das ist nicht nötig“, sagte sie mit ihrer bezaubernd melodischen Stimme. „Mein Angebot steht.“

Diese Frau ist meine Heldin, dachte ich, während ich innerlich einen Siegestanz vollführte. Wenn ich sie hätte umarmen können, hätte ich es getan. Bei dem herrlichen Duft, den sie verströmte, wäre das keine Zumutung gewesen. Aber ich wollte nicht aufdringlich sein und die arme Frau verscheuchen. Sie schien so reizend zu sein. Eine gute Seele, dachte ich. Ich stellte mir bereits vor, wie ich Freya später von der Schule abholte und ihr versicherte, dass die neue Eigentümerin ganz und gar nicht komisch war. Wenn überhaupt, dachte ich, würde Freya von Summer sogar ziemlich angetan sein.

Wir verabschiedeten uns von Greg, dann kümmerte ich mich um den Tee, brachte ihn an den Tisch und setzte mich zu Summer, die sich mit einem seligen Lächeln im Raum umsah. Dann strahlte sie mich an und sie war einfach herrlich. Als sie nach ihrem Tee griff, bewunderte ich die Armbänder an ihrem Handgelenk und die vielen goldenen Ringe an ihren Fingern.

„Ich bin so froh, dass du immer noch an der Wohnung interessiert bist“, sagte ich. „Heute Morgen bekam ich fast Zustände, als Greg meinte, dass die anderen Käufer abgesprungen seien. Tut mir leid, dass wir dein Angebot nicht gleich angenommen haben.“

„Oh, du brauchst dich nicht zu entschuldigen, du musst dich an den Höchstbietenden halten. Aber ich muss zugeben, ich war heilfroh, als Greg mich anrief und sagte, dass die Wohnung wieder zu haben sei.“

„Du hast in der Zwischenzeit nichts anderes gefunden?“

„Nichts, was annähernd so perfekt war wie diese Wohnung. Sie ist einfach dazu bestimmt, unser neues Zuhause zu werden. Ich kann es spüren.“

Unser. „Ach ja, Greg erwähnte, dass du ein Kind hast.“

„Das stimmt.“ Summer lächelte fast wehmütig. „Luna. Sie ist sieben.“

„Oh, genau wie meine Jüngste, Freya! Weißt du, auf welche Schule sie kommen wird?“

„Noch nicht, ich kann sie erst nach dem Umzug anmelden. Auf welche geht Freya denn?“

„North Hill Primary. Eine tolle Grundschule, kann ich nur empfehlen. Ich habe gehört, dass ein Kind aus Freyas Klasse die Schule verlässt, also wird vielleicht ein Platz frei.“

Summer lächelte dankbar. „Danke, dann werde ich mich dort melden.“

„Ich würde noch bei anderen Schulen anfragen“, riet ich ihr. „Nur für den Fall.“

„Na, wenn du sagst, dass sie die beste ist, würde ich Luna gerne dort unterbringen.“

Ich fühlte mich verpflichtet, zu betonen, wie wichtig es war, dass Summer auch andere Schulen in Betracht zog und ihre Entscheidung nicht allein auf meine Empfehlung stützte. Ich wollte sie daran erinnern, dass die Wahl einer Schule für ihr Kind eine sehr persönliche Entscheidung war und ihre Meinung von meiner abweichen könnte. Doch als ich den Mund öffnete, um all das zu sagen, hielt ich inne. Summer war neu in der Gegend und verließ sich vermutlich auf meine Ortskenntnisse, weil die vielen Möglichkeiten überwältigend waren. Wie auch immer, vielleicht war der Platz ja schon vergeben.

„Ich hoffe, dass wir über die Ferien umziehen können, damit wir im September fertig sind“, sagte Summer.

„Wir können ausziehen, sobald du bereit bist“, entgegnete ich. „Warum hast du dich entschieden, nach Barnet zu ziehen?“

„Es war Zeit für eine Veränderung“, antwortete Summer. „Ein neues Abenteuer.“

Ich erinnerte mich daran, dass Summer alleinerziehend war und fragte mich, was Lunas Vater davon hielt, dass seine Tochter so weit wegzog. Falls er überhaupt noch Kontakt mit ihr hatte. Aber das war eine zu persönliche Frage, um sie jemandem zu stellen, den ich kaum kannte.

Stattdessen ging ich auf Nummer sicher. „Wirst du Devon vermissen?“

„Ich werde das Meer vermissen“, gestand Summer. „Aber ich freue mich darauf, direkt vor den Toren Londons zu wohnen. Ich kann Luna in Museen und Galerien mitnehmen, und ich glaube, das wird wunderbar für sie sein.“

Ich hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, denn obwohl ich vor den Toren Londons wohnte, wie Summer es nannte, fand ich selten die Zeit, mit den Mädchen in die Stadt zu fahren. Ich beschloss, in den Sommerferien ein paar Ausflüge zu organisieren, zum Beispiel ins Naturkundemuseum. Ein bisschen Kultur würde den beiden ganz guttun, vor allem Bella, deren Vorstellung von Kultur sich auf TikTok beschränkte.

„Du bist so schön“, sagte Summer plötzlich. „Genau wie dein Zuhause.“

„Danke.“ Ich lächelte überrascht. Es war schon eine Weile her, dass mich jemand so genannt hatte, und mit dreiundvierzig, rasch ergrauendem Haar und einer noch rascher expandierenden Taille fühlte ich mich alles andere als schön. Oliver und ich führten eine starke, glückliche Ehe, doch meistens hatten wir kaum Zeit, den anderen wirklich wahrzunehmen. Vergangene Woche hatte er sich die Haare kürzer schneiden lassen als sonst und ich hatte es zwei Tage lang nicht bemerkt. Das nahm er mir immer noch krumm.

Summer betrachtete mich und die Intensität ihres Blicks verunsicherte mich ein wenig. Ich nahm einen Schluck von meinem kochend heißen Tee und überlegte, was ich sagen sollte.

„Arbeitest du, Summer?“

Sie nickte. „Ja. Früher war ich Schauspielerin, aber jetzt arbeite ich als virtuelle Assistentin. Das heißt, ich kann alle Kunden mitnehmen, wenn wir umziehen.“

„Schauspielerin. Wie toll! Hast du auf der Bühne gestanden?“

„Ja. Ich habe in West-End-Shows gespielt und war weltweit auf Tournee. Aber das ist lange her.“

„Wow!“ Ich dachte an Bella, die jeden Samstag zur Bühnenschule ging und davon träumte, ein Star zu werden. „Meine Tochter würde dich lieben. Sie ist ganz versessen auf die Bühne.“

„Ich würde sie auch gern kennenlernen. Was machst du beruflich, Naomi?“

„Ich arbeite selbstständig als Buchhalterin. Nicht so aufregend wie bei dir.“

„Ach, ich weiß nicht. Du darfst in den Finanzdaten anderer Leute herumschnüffeln. Klingt doch spannend.“

Ich lachte. „Na ja, wenn du es so sagst.“

Während wir unseren Tee tranken, erzählte ich Summer alles über Barnet und die besten Cafés und Restaurants. Sie fragte mich nach den Mädchen, in welchen Vereinen sie waren und was sie in ihrer Freizeit trieben. Als wir unsere Tassen geleert hatten, fühlte ich mich, als hätte ich die letzte halbe Stunde mit einer Freundin verbracht und nicht mit einer Fremden, zu der ich eine rein geschäftliche Beziehung hatte. Summer war eine wunderbare Gesellschaft und es fiel mir leicht, mich mit ihr zu unterhalten. Doch im Hinterkopf spulte ich weiter meine To-do-Liste ab. Ich hatte bereits ein paar Stunden verloren und es war der letzte Tag vor den Sommerferien, in denen ich sechs Wochen lang Arbeit und Betreuung der Mädchen unter einen Hut bringen musste. Und außerdem hoffentlich den Umzug. Und einen Besuch im Naturkundemuseum. Ich sah auf die Uhr und zum Glück verstand Summer den Wink. Sie stand auf und trug ihre leere Tasse zur Spüle.

„Nochmals vielen Dank, dass ich herkommen durfte“, sagte sie. „Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Natürlich, und mit etwas Glück sehen wir uns bald öfter.“

Summer lächelte. „Das hoffe ich.“

Ich winkte ihr zum Abschied, schloss die Tür und atmete erleichtert aus. Der Besuch war besser gelaufen als erwartet und ich war zuversichtlich, dass Summer den Kauf abschließen würde. Das bedeutete, dass die Operation Umzug weiterhin lief. Wir waren auf ein Hindernis gestoßen, hatten das aber schnell überwunden, und mir war schwindelig vor Freude. Ich konnte es kaum erwarten, in unser neues Haus einzuziehen und ihm unseren Stempel aufzudrücken. Im September könnte dieser Traum Wirklichkeit werden.

Nachdem ich Oliver angerufen hatte, um ihn zu informieren, eine Ladung Wäsche erledigt hatte und mich an die Arbeit machte, hatte ich Summer fast vergessen. Doch als ich den Flur hinunterging, um das Bad zu benutzen, nahm ich noch eine Ahnung ihres blumigen Dufts wahr, ihre Anwesenheit klang noch in der Luft nach.

Kapitel zwei

„Man trinkt schon am helllichten Tag, ja?“ Asha sah mich mit hochgezogenen Brauen an, als ich mit einem Glas Wein in der Hand die Tür öffnete. In der Hand hielt sie einen Blumenstrauß und ein Geschenk.

„Sei nicht so streng, ich habe ein paar echt stressige Tage hinter mir.“

„Es heißt ja nicht umsonst, ein Umzug kommt gleich nach Tod oder Scheidung.“

„Nun, ich fühle mich halb tot und komme auch ohne Oliver ganz gut klar, warum also nicht den Hattrick vollmachen.

Asha lachte und umarmte mich, als sie eintrat. Trotz aller Widrigkeiten hatten wir den Verkauf in sechs Wochen unter Dach und Fach gebracht und waren gestern Nachmittag in unser neues Haus eingezogen. Heute früh hatte ich die Mädchen zu Freunden gebracht, um mich ans Auspacken zu machen, aber in jedem Raum stapelten sich die Kartons und ich hatte mich noch nie so überfordert gefühlt. Der gestrige Tag war eine einzige Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen: Wir hatten den Umzugswagen vor der alten Wohnung vorfahren sehen, die E-Mail mit der Bestätigung bekommen, dass wir die Schlüssel abholen konnten, dann waren wir zum neuen Haus gefahren und hatten in dem Wissen davor gestanden, dass es nun endlich uns gehörte. Aber es hatte auch weniger schöne Momente gegeben: Wir hatten verzweifelt unsere noch immer verschollene Katze Sparkle gesucht, die abgehauen war. Und es war alles andere als einfach gewesen, die Logistik des Umzugs um die Launen einer Siebenjährigen herum zu stemmen, die eingeschnappt war, weil sie aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen wurde. Und dann galt es noch, Möbel aufzubauen und Bettzeug aufzutreiben, um nach einem langen Tag überhaupt schlafen gehen zu können.

Heute zehrten die Nachwirkungen an mir, ich war erschöpft und gereizt. Deswegen hatte ich beschlossen, mir schon mittags einen Drink zu gönnen, und Asha hatte mich auf frischer Tat ertappt.

Aber es lag ihr fern, mich dafür zu verurteilen. Stattdessen sagte sie nur: „Dann schenk mir auch ein Glas ein.“

Ich grinste und führte sie in die Küche, wo ich die Flasche Sauvignon Blanc aus dem Kühlschrank nahm und ein zweites Glas auftrieb. Asha stellte die Blumen und das Geschenk auf den Tisch, stemmte die Hände in die Hüften und sah sich um.

„Das ist echt der Hammer, Nims.“

Ich wurde rot vor Stolz und plötzlich schien sich der ganze Stress, den wir hinter uns hatten, gelohnt zu haben. Allein dieser eine Kommentar meiner Freundin zeigte mir, dass es der ganze Aufwand wert gewesen war.

„Danke. Ich liebe es auch. Aber ich kann echt nicht fassen, wie viel noch zu tun ist.“

„Keine Eile. Lass dir Zeit.“ Asha nahm ihr Glas entgegen. „Bekomme ich eine Führung?“

„Natürlich.“ Ich zeigte ihr das Haus und freute mich über jeden ihrer anerkennenden Kommentare. Asha wohnte mit ihrer Familie nur ein paar Straßen weiter in einem wunderschönen Haus, um das ich sie immer beneidet hatte. Ich konnte noch immer kaum fassen, dass wir nun auch in so einem Zuhause lebten.

Nach unserem Rundgang kehrten wir in die Küche zurück und setzten uns an unseren alten Esstisch, der in dem Raum fehl am Platz wirkte, aber fürs Erste ausreichen musste.

„Was meintest du denn damit, dass du auch ohne Oliver klarkommst?“

Ich lachte. „Es war einfach ein anstrengender Tag gestern, das ist alles. Und heute bekam Oliver keinen Urlaub, weil er ein wichtiges Meeting hat, deswegen bin ich auf mich allein gestellt. Keine Sorge, ich liebe ihn wirklich.“

„Nun, das Haus ist auf jeden Fall wunderschön. Gratuliere.“ Asha hob ihr Glas und stieß mit meinem an. „Warst du traurig, eure Wohnung zu verlassen?“

„Gestern war ich echt ein bisschen emotional“, gab ich zu. „Es fühlte sich an wie das Ende einer Ära. Die Wohnung war ein bedeutender Teil unseres Lebens, dort haben Oliver und ich zum ersten Mal zusammengewohnt, dort sind unsere Kinder aufgewachsen. Ich glaube, ich war so auf den Verkauf fixiert, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, was es mit mir machen würde, für immer auszuziehen.“

„Du hast jetzt aber etwas Besseres und Größeres, Nims.“

„Ich weiß. Aber jetzt, da wir die Schlüssel übergeben haben, kommt mir das alles irgendwie komisch vor. Als hätte mir die neue Eigentümerin den Freund ausgespannt oder so.“

Asha kicherte. „Du meintest doch, sie sei total nett.“

„Ja, sie ist reizend.“ Ich dachte an jenen warmen Sommermorgen zurück, an dem ich Summer kennengelernt hatte, und fragte mich, wie sie wohl zurechtkam. Ob sie für Luna einen Platz an der Schule bekommen hatte. Wie ihre Möbel in unserer Wohnung aussahen. Ob ich sie wiedersehen würde.

„Na bitte. Deine Wohnung ist in guten Händen und du bist jetzt die stolze Besitzerin dieses umwerfenden Hauses. Oh, das hätte ich fast vergessen, ich habe dir was mitgebracht.“ Asha nahm die Blumen und das Geschenk und reichte mir beides.

„Danke, das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Ich nahm das Päckchen, riss es auf und lachte, als ich das witzige Geschirrtuch sah, auf dem stand: „Mache jeden Tag etwas, das deiner Familie Angst einjagt.“ Das war typisch Asha.

„Wen hast du in den Sommerferien denn so gesehen?“, fragte ich. Die North Hill Primary war eine verschworene Gemeinschaft, in der jeder jeden kannte. Bisweilen ging es ein bisschen zu verschworen zu und es gab ein paar spezielle Charaktere, die ihren Spaß daran hatten, die WhatsApp-Gruppe der Klasse aufzumischen. Aber die meiste Zeit über war es wunderbar und es war schön, dazuzugehören und zu wissen, dass immer jemand zur Stelle war, wenn man Hilfe brauchte und ich war allen Freunden dankbar, die sich um die Mädchen gekümmert hatten, während Oliver und ich den Umzug organisierten.

„Nur die Üblichen“, sagte Asha, womit sie Rachel und Victoria meinte. Ihre Kinder gingen in dieselbe Klasse wie unsere und wir waren zu einer kleinen Viererbande geworden, die sich jeden Monat zum Abendessen traf.

„Freya ist heute bei Rachel, aber mit Victoria habe ich schon eine Weile nicht gesprochen. Geht es ihr gut?“

„Der geht’s gut. Wir sollten einen trinken gehen, um den Beginn des neuen Schuljahres zu feiern.“

In ein paar Tagen begann das Herbsttrimester und ich freute mich schon darauf. Nach all den Umwälzungen war ich dankbar, wieder etwas Routine zu bekommen, und ich war mit meiner Arbeit furchtbar in Verzug geraten, sodass ich das Gefühl hatte, bis Weihnachten zu brauchen, um alles aufzuholen.

„Wie kommt Freya mit dem Umzug zurecht?“, fragte Asha.

„Gestern war sie schwierig und hat sich stundenlang geweigert, ins Bett zu gehen. Aber heute Morgen schien es ihr besser zu gehen. Ich denke, sie wird sich eingewöhnen, sie braucht nur etwas Zeit.“

„Und Bella?

„Oh, Bella ist begeistert. Sie redet schon davon, Materialien zu besorgen, damit wir am Wochenende ihr Zimmer streichen können. Ich hoffe, ihr Enthusiasmus färbt auf Freya ab.“

Asha sah auf ihr Handy. „Ach du meinte Güte, ich mache mich besser auf den Weg. Ich muss Aanya in fünfzehn Minuten von meiner Mutter abholen.“

Ich stand auf, um sie an die Tür zu begleiten. „Danke, dass du vorbeigekommen bist. Und lass uns das mit den Drinks mal organisieren.“

Nachdem Asha gegangen war, kippte ich meinen Rest Wein in die Spüle. Wenn ich tagsüber trank, wurde ich immer ganz duselig, und ich hatte noch so viel zu tun. Ich stellte den Wasserkocher an und kramte nach den Teebeuteln, während ich gleichzeitig überlegte, welches Zimmer ich als Nächstes in Angriff nehmen sollte. Ich wollte mich gerade auf das Porzellan stürzen, als es wieder an der Tür läutete.

Ich ging hin, um zu öffnen, und fragte mich, ob es eine Lieferung war oder ob Bella ihren Schlüssel vergessen hatte. Aber die Frau, die vor der Tür stand, war die letzte Person, die zu sehen ich erwartet hatte.

„Summer!“, rief ich, ohne die Überraschung in meiner Stimme zu verbergen.

„Tut mir leid, dich zu stören.“ Summer sah verlegen drein. „Ich weiß, du musst sehr beschäftigt sein.“

„Nein, ist schon in Ordnung.“ In Gedanken ging ich eine Liste der Gründe durch, warum sie hier sein könnte. Gab es ein Problem mit der Wohnung? Hatten wir sie nicht sauber genug hinterlassen? Wollte sie vom Kauf zurücktreten? Nein, ich machte mich lächerlich. Der Verkauf war abgeschlossen, jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Es ist nichts Dringendes“, sagte Summer. „Ich kam nur zufällig vorbei und habe mich gefragt, ob du noch die Anleitung für den Herd hast. Ich kriege ihn einfach nicht in Gang.“

Ich runzelte die Stirn. Der Herd war in der Wohnung länger gewesen als Oliver und ich. „Nein, leider nicht. Er ist ziemlich alt, aber er hat immer gut funktioniert.“

„Ich glaube, auf einigen der Regler sind die Symbole nicht mehr zu erkennen“, fuhr Summer fort.

„Ach ja, tut mir leid.“ Ich schlug mir an die Stirn. „Ich hätte dir einen Zettel dalassen sollen, aber das ist mir völlig entfallen. Komm rein und ich zeichne dir schnell auf, welche Funktion was ist.“

Ich öffnete die Tür, um Summer hereinzulassen, und sie folgte mir in die Küche, wo ich mich nach einem Notizblock und einem Stift umsah.

„Oh, das ist ja wunderschön“, sagte Summer und betrachtete die Küche. „Du Glückliche.“

„Danke. Ist dein Umzug gestern reibungslos verlaufen?“

„Ja.“ Summer sah sich weiter um, ihre Augen groß wie Untertassen. „Mensch, deine Küche ist umwerfend. Und der Garten erst!“

Ich grinste. „Schön, oder? Wobei ich ehrlich gesagt nicht gerade einen grünen Daumen habe.“

Summer ging zu den Terrassentüren. „Der ist recht pflegeleicht, du kommst schon zurecht.“

Triumphierend trieb ich endlich einen Stift auf, zeichnete ein Schema der Herdknöpfe und reichte es Summer. „So, das sollte reichen.“

„Danke.“ Sie nahm mir den Zettel ab und steckte ihn sich in die Tasche. Dann schaltete sich der Wasserkocher ab und sie sah mich erwartungsvoll an. Mir rutschte das Herz in die Hose. Summer schien nett zu sein, aber ich hatte so viel zu tun und Ashas Besuch hatte meinen Zeitplan bereits durcheinandergewirbelt. Aber mir war beigebracht worden, wie wichtig gute Manieren sind und das konnte ich nicht ignorieren.

„Ich wollte mir gerade eine Tasse Tee machen. Möchtest du auch eine?“

„Oh ja, bitte, das wäre wunderbar.“

Ich schob meinen Stress beiseite und holte eine weitere Tasse, spülte sie und legte einen Teebeutel hinein. Summer setzte sich an den Küchentisch und sah mir zu.

„Wo sind deine Kinder?“, fragte sie.

„Die sind bei Freundinnen. Was ist mit deiner Tochter? Luna, oder?“

„Ja, richtig, Luna. Sie ist bei ihrem Vater, aber ich hole sie morgen wieder ab.“

„Ist sie aufgeregt wegen des Umzugs?“

„Oh ja. Sie freut sich total darauf, an ihrer neuen Schule anzufangen. Und ich habe es geschafft, ihr einen Platz an der North Hill zu besorgen!“

„Oh, wie schön. Das ist eine echt tolle Schule und alle sind supernett. Ich mache dich am ersten Tag mit den anderen bekannt.“

„Das wäre prima“, sagte Summer dankbar. „Ich kenne niemanden in Barnet.“

„Du wirst bald jeden kennen, glaub mir. Es ist eine sehr enge Gemeinschaft.“ Ich reichte Summer eine Tasse Tee und setzte mich ihr gegenüber. „Hast du dich in der Wohnung schon eingelebt?“

„Ich muss noch jede Menge auspacken, aber es geht voran. Deshalb habe ich Luna auch bei ihrem Dad gelassen. Ich wollte, dass alles ein bisschen geordneter ist, wenn sie ankommt.“

„Wo wohnt ihr Vater denn?“, fragte ich neugierig.

Summer seufzte und sah aus dem Fenster. Ich spürte gleich, dass die Trennung nicht harmonisch verlaufen war. „Er lebt in Devon“, sagte sie nur.

„Ist es okay für ihn, dass ihr wegzieht?“

Sie drehte sich zu mir um und ich sah einen Anflug von Ärger. Es wirkte fast ein bisschen fehl am Platz in diesem süßen, friedvollen Gesicht. Aber ich kannte sie ja kaum und wusste nicht, was sie in ihrem Leben durchgemacht hatte. „Das hat er nicht zu entscheiden. Er ist so gut wie nutzlos gewesen, seit wir uns getrennt haben. Ich musste ihn regelrecht anflehen, Luna für ein paar Tage zu sich zu nehmen, er meinte, er sei zu beschäftigt.“

„O Mann, tut mir leid.“

„Er hat inzwischen eine neue Familie“, sagte sie. „Einen Sohn und eine Tochter. Es ist, als ob er Luna vergessen hätte.“

„Das muss echt hart sein“, sagte ich, wohl wissend, dass ich keine Ahnung hatte, wie hart es war, denn obwohl ich darüber gewitzelt hatte, mich von Oliver zu trennen, hatte ich es nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und sollte es je passieren, wusste ich mit Sicherheit, dass Oliver sich immer um die Mädchen kümmern würde.

Summer lächelte. „Am Anfang schon. Aber Luna und mir geht es gut.“

„Ich werde dafür sorgen, dass Freya in der Schule ein Auge auf sie hat. Habt ihr alle Uniformen, die sie braucht? Ich kann dir welche leihen, wenn du sie nicht rechtzeitig besorgen kannst.“

„Ich habe schon online welche bestellt, wir sind also startklar, danke.“

Summer schien mit den Gedanken woanders zu sein, und ich fragte mich, ob das Gespräch über ihren Ex sie aufgewühlt hatte. Und dann dachte ich an meine eigenen strapazierten Nerven nach dem ganzen Packen und Umziehen, und ich verstand, wie sie sich womöglich fühlte. Ich hoffte, dass Freya und Luna miteinander auskommen würden. Vielleicht würden sie sogar gute Freundinnen werden. Dann fragte ich mich, ob Freya es komisch finden würde, dass Luna in der Wohnung wohnte und vermutlich in ihrem alten Zimmer schlief. Das könnte Verabredungen zum Spielen erschweren.

„Einen Penny für deine Gedanken.“

Ich schreckte auf und bemerkte, dass Summer mich wieder mit diesem intensiven Blick beobachtete.

„Tut mir leid, ich war ganz weit weg.“

Summer trank ihren Tee aus. „Ich habe dich schon zu lange aufgehalten. Ich lasse dich jetzt weiter auspacken.“

„Dir auch viel Freude beim Einrichten“, sagte ich, als ich ihr zur Tür folgte. Sie lächelte mir zu und winkte, bevor sie die Straße hinunterging, ihre Sandalen klapperten auf dem Asphalt und ihr welliges blondes Haar fiel ihr locker über den schlanken Rücken. Ich sah ihr einen Moment lang nach, bevor ich ins Haus ging. Ich konnte ihr Parfüm im Flur riechen. Wir hatten Glück gehabt, eine so tolle Abnehmerin für unsere Wohnung zu finden. Der Verkauf war ein Kinderspiel gewesen, ohne die endlosen Fragen und Nachverhandlungen, die wir bei den anderen Interessenten erlebt hatten. Summer war die perfekte Käuferin und Greg, unser Makler, hatte sogar betont, wie entgegenkommend sie sich während des gesamten Prozesses verhalten hatte.

Erst als ich die leeren Tassen abräumte, kam mir etwas in den Sinn. Ich war Summer nur einmal begegnet, als sie die Wohnung besuchte, und ich war mir sicher, dass ich ihr nicht gesagt hatte, in welches Haus wir ziehen würden. Woher kannte sie also unsere neue Adresse?

* * *

„Vielleicht hat Greg es ihr gesagt.“

Oliver, der von der Arbeit heim gekommen ist, schon in Shorts und T-Shirt, bereitete eine Pastasauce zu.

„Bestimmt nicht. Wäre das nicht eine Verletzung der Privatsphäre?“

Oliver zuckte die Achseln, während er eine Zwiebel schnitt. „Woher sollte sie unsere Adresse sonst haben?“

„Na, eben.“

„Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.“

Ich schnaubte. Mir den Kopf zu zerbrechen, war meine Spezialität und das wussten wir beide. Den ganzen Nachmittag, während ich ausgepackt, geputzt und einsortiert hatte, hatte ich darüber gegrübelt, wie Summer uns gefunden hatte. Hatte sie uns gestern beim Umzug gesehen? Hatte die Adresse versehentlich in einer der E-Mails zwischen unseren Notaren oder dem Makler gestanden? Jetzt fragte ich mich, ob Oliver recht und Greg ihr gesagt hatte, wo wir wohnten. Aber das schien unwahrscheinlich.

„Ich werde Greg anrufen und ihn fragen, ob er es ihr gesagt hat.“

Oliver warf mir einen seiner Blicke zu. „Lass gut sein, Babe. Magst du sie nicht oder was?“

Es war nicht so, dass ich Summer nicht mochte. Ganz im Gegenteil. Sie war freundlich, man konnte sich gut mit ihr unterhalten, und sie hatte eine Ausstrahlung, die den ganzen Raum zu erwärmen schien, wenn sie ihn betrat. Sie schien außerdem weltgewandt zu sein. Ich stellte mir vor, dass sie ein aufregendes Leben geführt hatte, das weitaus abenteuerlicher war als meines, und ich war neugierig. Und doch kam mir der Gedanke merkwürdig vor, dass sie Teil unseres Lebens sein würde und wir sie jeden Tag in der Schule sehen würden – fast wie ein unwillkommenes Eindringen. Ich versuchte, Oliver das zu erklären.

„Kaufen und Verkaufen geht in der Regel anonym vonstatten“, begann ich. „Es fühlt sich nur komisch an, dass sie auch nach dem Umzug noch da sein wird. Es ist fast wie eine ständige Erinnerung an unser altes Zuhause. Und als wir uns von der Wohnung verabschiedeten, hatte ich das Gefühl, dass wir dieses Kapitel unseres Lebens abschließen würden.“

Oliver nickte nachdenklich, aber ich merkte, dass er es nicht wirklich verstand. Für ihn waren es nur Ziegel und Mörtel. Ich wusste, dass er eine emotionale Bindung an die Wohnung hatte, aber ich wusste auch, dass der Abschied in ihm nicht schwären würde, so wie in mir. Ich hatte jetzt schon Angst davor, an unserem alten Zuhause vorbeizugehen und den Verlust zu spüren, obwohl ich wusste, dass dieses Gefühl mit der Zeit vergehen würde. Es war also nicht so, dass ich Summer nicht mochte, ich mochte nur die Vorstellung nicht, dass sich unsere Vergangenheit mit unserer Zukunft vermischte. Und die Vorstellung, dass unsere Vergangenheit unangekündigt an unserer neuen Haustür auftauchte, gefiel mir schon gar nicht.

„Eigentlich“, sagte Oliver langsam, während er eine Zwiebel in die Pfanne schabte, „finde ich es cool, dass wir die neue Besitzerin kennen. Und wenn sie so nett ist, wie du sagst, werdet ihr vielleicht sogar Freundinnen. Vielleicht kommen wir sogar mal als Gäste in die Wohnung. Wäre das nicht witzig?“

Witzig war nicht das Wort, das mir dazu einfiel. „Und was ist mit Freya? Wird das nicht komisch für sie sein, dass ihre neue Klassenkameradin in ihrem alten Zuhause wohnt? Sie kommt jetzt schon nicht gut damit klar.“

„Du weißt doch, wie Kinder sind. In ein paar Wochen wird sie sich kaum noch an die Wohnung erinnern.“

Ich bewunderte Olivers Optimismus, auch wenn ich ihn nicht teilte. Wie aufs Stichwort kam Freya in die Küche und setzte sich mit dem schweren Seufzer einer neunzigjährigen, von Arthritis geplagten Frau hin.

„Alles okay, Schatz?“, fragte ich. Bei näherer Betrachtung sah sie ein wenig blass aus. Besorgt legte ich meine Hand an ihre Stirn. „Fühlst du dich nicht gut?“

„Nein.“

„Hast du Hunger?“

„Nein.“

Arme Freya. Es war, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihren Schultern, was eine viel zu große Bürde für eine Siebenjährige war. Ich konnte nur hoffen, dass Oliver am Ende recht behielt und Freya sich in ein paar Wochen eingelebt hätte und in ihrem neuen Zuhause glücklich sein wird. Ich nahm mir vor, so optimistisch und positiv wie möglich zu sein, auch wenn ich selbst hundemüde und gereizt war. Ich musste Freya vermitteln, dass dieser Umzug das Beste war, was uns je passiert war. Ich war erleichtert, als Bella hereingehüpft kam und erzählte, wie toll es sei, jetzt in derselben Straße wie eine ihrer Schulfreundinnen zu wohnen und sie im neuen Trimester jeden Tag zusammen zur Schule gehen würden. Bellas Enthusiasmus erinnerte mich an Summer, ein wahrer Sonnenschein. Also beschloss ich, über meinen Schatten zu springen und mich zu bemühen, dass meine blöden Vorbehalte einer möglichen Freundschaft nicht im Wege stünden.

Aber spät in der Nacht, als ich in unserem neuen, ungewohnten Zimmer wach lag und dem Lärm hungriger Stadtfüchse lauschte, die draußen die Mülltonnen durchwühlten, und dem permanenten Tropfen des Wasserhahns im Bad, bei dem wir gerade entdeckt hatten, dass er undicht war, fragte ich mich, ob wir mit dem Kauf dieses Hauses die richtige Entscheidung getroffen hatten. Es gab so viel zu tun, um es so herzurichten, wie wir es wollten, und die Aufgabe schien überwältigend. Olivers handwerklichen Fähigkeiten waren nicht gerade berauschend, und der Gedanke an die Inneneinrichtung machte mir Angst. Hatten wir uns in unserem Wunsch nach mehr Platz übernommen? Hätten wir in unserer schönen, schlichten Wohnung bleiben sollen? Und alles, woran ich denken konnte, war Summer, die in dem gemütlichen Schlafzimmer, das einmal unseres gewesen war, fest schlief.

Und einen kurzen Moment lang beneidete ich sie.

Kapitel drei

Auf dem Pausenhof herrschte Hochbetrieb. Schon die Erwachsenen waren wie aufgedreht, aber die Kinder waren auf einem ganz anderen Level. Sie rannten herum, als wären sie gerade aus der Einzelhaft entlassen worden, statt den Sommer an der spanischen Mittelmeerküste oder mit Bodyboarding in Cornwall verbracht zu haben.

Ich freute mich, meine Schulclique wiederzusehen. Wir umarmten uns und erzählten kurz, was wir in den Ferien getrieben hatten, während wir gleichzeitig unsere Kinder ermahnten, sich zu beruhigen. Sogar Freya schien sich von dem Trubel anstecken zu lassen, denn sie trug voller Stolz ein Freundschaftsarmband, das Aanya ihr aus Griechenland mitgebracht hatte. Ich stand mit ein paar Eltern zusammen und erzählte ihnen alles über unser wunderbares neues Haus. Den Teil über den undichten Wasserhahn und die feuchte Stelle, die wir gerade hinter der Badewanne entdeckt hatten, ließ ich weg.

„Ich frage mich, wer Charlies Platz in der Klasse übernommen hat“, sagte Richard, einer der Dads. „Seine Familie ist diesen Sommer in die USA gezogen. Ich nehme doch an, dass ein neues Kind nachrücken wird.“

„Oh ja, sie heißt Luna“, antwortete ich und freute mich, mit pikantem Klatsch aufwarten zu können. Alle beugten sich vor, um mehr zu erfahren. „Ihre Mum, Summer, ist in unsere alte Wohnung gezogen.“

„Wie ist das Kind denn so?“, fragte Angela neugierig. Ihr Sohn Sebastian war der Klassenprimus und das sollte auch so bleiben. Wahrscheinlich wollte sie sich vergewissern, dass Luna keine Gefahr darstellte.

„Ich habe das Mädchen noch nicht kennengelernt, aber ihre Mum ist echt nett.“

„Sind sie neu in der Gegend?“, wollte Richard wissen.

„Ja, sie sind aus Devon hergezogen.“

„Na, dann sollten wir dafür sorgen, dass sie sich willkommen fühlen.“

Dann sah ich auf und erblickte sie. Sie schwebte durch das Schultor, ihr Haar fiel ihr locker auf die Schultern. Ihr blassrosa Maxikleid wehte sanft im Wind. Es war, als ob sie sich in einem anderen Tempo als alle anderen bewegte, ihr Gang wirkte vor der hektischen Kulisse wie in Zeitlupe. Mein Blick wanderte hinunter zu dem Kind, das sich an Summers Hand klammerte. Im direkten Vergleich sah Luna überhaupt nicht wie ihre Mutter aus. Ihr Haar war dunkel und glatt, ihre Bewegungen unbeholfen. Ihre Augen huschten nervös hin und her, doch sie vermied jeden Blickkontakt. Es war klar, dass das kleine Mädchen ängstlich war, und sie tat mir ein bisschen leid.

„Summer, hier drüben“, rief ich, und Summer sah mich erleichtert an.

„Naomi, hi!“ Sie steuerte direkt auf unsere kleine Gruppe zu und ich winkte Freya zu mir.

„Das ist Luna, das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe“, flüsterte ich. „Sei nett zu ihr.“

Freya sah zu Luna hinüber und nickte. Als sie bei uns ankamen, hatte sich bereits eine Schar von Kindern gebildet, die Luna alle neugierig anstarrten. Freya, die Gute, trat vor.

„Ich heiße Freya“, sagte sie, und Luna sah sie mit den traurigsten Augen an, die ich je gesehen hatte. So viel zum Thema Vorfreude auf die neue Schule, dachte ich. Aber die Nervosität am ersten Tag konnte echt heftig sein.

Die anderen Kinder starrten Luna weiter auf die unverfrorene Art und Weise an, die sich nur Kindern herausnehmen können. Aber nach ein oder zwei Minuten verloren sie das Interesse und verzogen sich. Nur Freya blieb zurück, die fest an meiner Seite klebte und Luna weiter wachsam ansah.

Summer wurde inzwischen von allen Seiten mit Fragen bombardiert. Von wo sie hergezogen sei, was sie mache, wie sie Barnet finde. Sie beantwortete alles mit großer Gelassenheit, als wäre ihr dieses Verhör ein Vergnügen. Sie zog alle in ihren Bann und als die Schulglocke läutete, hatten wir die Kinder fast vergessen.

Nach ein paar hastigen Umarmungen und Küssen liefen die Kinder zu ihren Reihen und begaben sich in die Schule, die pendelnden Eltern machten sich eilig auf den Weg zum nahe gelegenen Bahnhof, und ein paar von uns verweilten noch, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, unser Tagewerk zu starten und der Verlockung, zusammen einen schnellen Kaffee zu trinken. Ich hatte einen Berg von Arbeit zu erledigen, aber es war so schön, alle wiederzusehen, und ich dachte, ein kleiner Koffeinschub würde mich nicht allzu sehr aus der Bahn werfen. Als Richard es vorschlug, war ich daher die erste, die die Hand hob.

„Summer, möchtest du dich zu uns gesellen?“, fragte er.

„Oh ja, gerne.“

Wir waren schließlich zu fünft: Richard, Summer, Asha, Victoria und ich. Wir gingen in das nahe gelegene Café und fanden einen Tisch im hinteren Teil.

Asha beugte sich zu mir herüber. „Du hast recht, Summer ist toll.“

Ich lächelte und nickte. Es freute mich, dass Summer sich schon so gut einfügte. Sie wirkte entspannt, aber es musste anstrengend sein, auf einen Schlag so viele neue Leute kennenzulernen. Richard hatte recht: Wir mussten dafür sorgen, dass sie sich willkommen fühlte. Victoria fragte gerade, wie sie sich in der Wohnung eingelebt habe, und als Summer erzählte, dass sie am Wochenende Lunas Zimmer gelb gestrichen hatte, musste ich mir einen kleinen Anflug der Empörung darüber verkneifen, dass jemand an unserem Zuhause herumpfuschte. Denn es war ja nicht mehr unser Zuhause und ich musste mich damit abfinden.

„Naomi war wunderbar“, sagte Summer und lächelte zu mir herüber.

„Ach, ich hab doch gar nichts gemacht“, entgegnete ich bescheiden.

„Und sie hat die Wohnung so schön hergerichtet, eigentlich muss ich kaum etwas machen“, fügte Summer rasch hinzu. Es war, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Die Kaffees kamen, und nachdem Summer ausführlich ausgefragt worden war, wandten wir uns anderen Themen zu: Angelas Besessenheit von weiterführenden Schulen, obwohl unsere Kinder gerade erst in die dritte Klasse gekommen waren, die bevorstehende Wahl des Elternbeirats, die neue Pizzeria an der Hauptstraße, Richards Familienurlaub in Malaysia. Als ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, hätte ich problemlos noch einen zweiten trinken können, aber die Buchhaltung würde sich leider nicht von selbst erledigen. Also stand ich widerwillig auf.

„Ich muss los“, sagte ich und griff nach meiner Tasche, die über der Stuhllehne hing.

Summer sprang sofort auf. „Ich komme mit.“

Wir verabschiedeten uns von den anderen und gingen nach draußen. Es war immer noch angenehm warm, nur ein Hauch von Herbst lag in der Luft, und ich genoss die Sonne auf meinem Gesicht, während wir uns zusammen auf den Heimweg machten.

„Alle sind so nett“, sagte Summer. „Ich wusste, dass es richtig war, hierherzuziehen.“

„Geht es Luna gut?“

„Oh ja, der geht es prima. Sie hat sich so gefreut, zur Schule zu gehen und neue Freunde zu finden.“

Ich dachte an das kleine Mädchen, das am Morgen den Tränen nahe gewesen war und runzelte die Stirn. Luna hatte alles andere als glücklich gewirkt, eher verängstigt. Ich hoffte, dass Freya nett zu ihr war.

Am Ende meiner Straße blieb ich stehen, um mich zu verabschieden.

„Wir sehen uns später beim Abholen“, sagte Summer.

„Oh, montags hole ich Freya später ab“, erklärte ich. „Sie geht in die Turn-AG.“

„Wirklich? Da muss ich Luna unbedingt auch anmelden.“

„Mag sie Turnen denn?“

„Ich bin sicher, sie würde es mögen.“

„Es gibt viele andere AGs, schau mal auf der Schulwebsite.“

„Ich glaube, sie würde Turnen mögen“, sagte Summer in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

„Ja, ähm, super. Dann sehen wir uns vielleicht morgen.“

Ich winkte und machte mich auf den Weg die Straße hinauf. Doch während ich ging, spürte ich ihren Blick in meinem Rücken brennen, und allmählich wurde mir unbehaglich zumute. Ich konnte das aufkeimende Gefühl nicht abschütteln, dass an Summer, so bezaubernd sie auch war, irgendetwas seltsam war. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Lag es an ihrer Direktheit? Daran, dass sie unangemeldet vor unserem neuen Haus aufgetaucht war? Oder war es einfach ein diffuses Bauchgefühl? Ich konnte nicht anders und drehte mich um. Aber da war niemand. Summer war verschwunden.

* * *

Als ich nach dem Turnen mit Freya nach Hause ging, fragte ich sie nach Luna.

„Wie hat sich das neue Mädchen geschlagen? War sie okay?“

„Sie war sehr still“, sagte Freya.

„Hast du mit ihr gespielt?“

„Ich habe es versucht, aber sie wollte nicht.“

„Ich bin sicher, sie wird sich bald eingewöhnen. Denk nur daran, sie immer wieder zu fragen, ob sie bei euren Spielen mitmachen will, okay? Wenn sie nicht will, dann ist das in Ordnung.“

„Okay.“

„Gibt es sonst was Neues?“

Freya sah mich verschmitzt an. „Aanya ist verknallt.“

„Oooh!“ Ich liebte Pausenhofklatsch. „In wen denn?“

„Ich habe versprochen, nichts zu verraten.“

„Ach, komm! Ich werde schon nichts sagen.“

Ich grinste und genoss das vertraute Geplänkel zwischen Freya und mir. Sie war in den letzten Wochen so still und mürrisch gewesen, und es tat gut, dass sie wieder ein bisschen aus sich herauskam.

Freya sah sich um, als ob sie sich vergewissern wollte, dass niemand mithörte. „Sebastian.“

Ich unterdrückte ein Lachen, als ich mir Ashas Miene vorstellte, wenn sie davon wüsste. Sebastian war ein Angeber, der sich einen Spaß daraus machte, anderen Kindern zu sagen, wie dumm sie seien. Es war nicht seine Schuld, es war die seiner Mutter. Das ist es, was zwei Stunden Privatunterricht in der Woche ab dem fünften Lebensjahr aus einem Kind machen.

„Nun, sie wären ein schönes Paar“, sagte ich diplomatisch. Es war sowieso nicht wichtig. In Freyas und Aanyas Alter waren Schwärmereien so unbeständig wie das britische Wetter.

Als wir nach Hause kamen, war Bella schon da und hatte ihre Hausaufgaben auf dem Küchentisch ausgebreitet. Als Bella anfing, allein zur Schule und zurückzugehen, hatte mir das einen Stich versetzt, weil ich mir eingestehen musste, dass sie nicht mehr mein kleines Mädchen war. Aber inzwischen war es ehrlich gesagt eine Erleichterung, sich nicht mehr darum kümmern zu müssen, zwei Kinder gleichzeitig zu zwei verschiedene Schulen zu bringen. Und Bella war dazu ohne Weiteres in der Lage, sie war eine Löwin im Vergleich zu Freya, meinem zarten Schmetterling. Bella kam nach ihrem Vater, sie war souverän und selbstsicher. Freya hatte meine Neigung geerbt, alles zu sehr zu analysieren und sich über Dinge aufzuregen, die wir nicht kontrollieren konnten. Das bedeutete, dass ich mich leicht in sie hineinversetzen konnte, aber ich wollte sie so widerstandsfähig wie möglich machen, denn alles, was ich mir für meine Mädchen erträumte, war, dass sie ein glückliches, sorgenfreies Leben haben würden.

Ich hatte jedoch Bewältigungsmechanismen für meine Ängste gefunden, und je älter ich wurde, desto weniger kümmerte es mich, was andere Leute dachten. Außerdem füllte die Unerbittlichkeit, mit der ich Familie und Arbeit unter einen Hut brachte, meinen Kopf so sehr aus, dass ich mir oft kaum noch Gedanken über die kleinen Dinge machen konnte. Aber gelegentlich, wenn ich mich niedergeschlagen, müde oder überfordert fühlte, brachen die alten Gefühle wieder durch. Soziale Ängste. Anflüge von Paranoia. Und nach dem Stress des Umzugs befand ich mich immer noch in einem Zustand höchster Alarmbereitschaft, der mein Gehirn mit zu vielen unbeantworteten Fragen überschwemmte. War es richtig gewesen, die Wohnung zu verkaufen? Konnten wir uns die Hypothek wirklich leisten? Brauchten wir einen neuen Wasserhahn? Hatten wir überhaupt Geld für einen neuen Wasserhahn? Was war mit der feuchten Stelle? Welche anderen Probleme würden wir in diesem Haus noch entdecken? Würde Freya zurechtkommen? Und dann schlich sich eine weitere Frage in meinen Kopf: Wo ist Sparkle?

„Hast du die Katze gesehen?“, fragte ich Bella.

„Nein.“

Ich sah mich im Raum um. Ich hatte Sparkle den ganzen Tag nicht gesehen, was ungewöhnlich war. Wir hatten sie seit sechs Jahren, seit sie ein Kätzchen gewesen war, und sie hatte ihren Namen von Bella bekommen, die damals eine Glitzerphase durchmachte. Sparkle war eine echte Hauskatze und streunte nie weit umher. Normalerweise lag sie zusammengerollt auf einem Stuhl oder dem Sofa, döste in meiner Nähe, während ich arbeitete. Aber der Umzug hatte sie aufgeregt und sie war seitdem nicht mehr sie selbst gewesen.

Ich ging zur Hintertür, rief ihren Namen und wartete darauf, dass am Ende des Gartens etwas getigertes und weißes aufblitzte. Aber es war keine Spur von ihr.

„Mummy, was gibt es zum Abendessen?“ Freya war nach einem langen Schultag immer hungrig.

„Ich mache dir gleich was“, sagte ich abgelenkt, während ich im Zimmer herumlief und unter den Stühlen nachsah, ob Sparkle ein neues Versteck gefunden hatte. Dann kam mir ein Gedanke. Was, wenn sie zurück zur Wohnung gegangen war? Die war nur ein paar Straßen weiter und sie hatte dort seit ihrer Kindheit gelebt, also war es möglich, dass ihr Heimkehrinstinkt sie dorthin geführt hatte.

Nachdem ich das ganze Haus gründlich durchsucht hatte, entschied ich mich.

„Mädels, ich gehe zur Wohnung, um zu sehen, ob Sparkle dort ist. Wollt ihr mit?“

„Aber Mummy, ich habe solchen Hunger“, protestierte Freya.

Ich schälte eine Banane und reichte sie ihr. „Es dauert nur eine Viertelstunde.“

„Ich bleibe hier bei Bella.“

„Gut. Ich mache, so schnell ich kann. Geht nicht an die Tür.“

Ich suchte meine Schlüssel und machte mich auf den Weg, um die kurze Strecke zu unserer alten Wohnung zurückzulegen. Als ich näher kam, widerstand ich dem Drang, umzukehren. Ich wollte nicht in die Wohnung gehen, es war fast schmerzhaft, wie ein Besuch bei einem Ex, der mir das Herz gebrochen hatte. Es war unbegründet, denn ich war diejenige, die die Wohnung verlassen hatte, die woanders hingezogen war, aber ich konnte nichts für meine Gefühle. Dann dachte ich an die arme, verwirrte Sparkle und zwang mich, weiterzugehen.

Summer öffnete die Tür und sah mich überrascht an. „Naomi!“

„Tut mir leid, dass ich störe“, sagte ich entschuldigend. „Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht unsere Katze gesehen hast?“

Summer ließ mich eintreten und schloss die Tür hinter uns. Ich betrat den Flur mit der neuen, ungewohnten Holzanrichte und der Pflanze, die darauf stand. Es standen auch einige Duftkerzen darauf und die Wohnung roch sauber und frisch. Summer hatte die Wohnung sehr geschmackvoll eingerichtet, aber ich konnte mich trotzdem nicht des Gefühls erwehren, dass sie und all ihre Sachen Eindringlinge in unserem Haus waren. Schnell verdrängte ich den Gedanken und wandte mich der Sache zu, um die es eigentlich ging.

„Sie ist seit dem Umzug ein bisschen verpeilt“, erklärte ich. „Und ich habe mich gefragt, ob sie sich vertan hat und hierher zurückgelaufen ist. Ich kann sie nirgends finden.“

„Keine Sorge, wir werden sie schon finden“, versicherte mir Summer. Ich folgte ihr in die offene Küche und das Wohnzimmer und ließ meinen Blick über Summers Habseligkeiten schweifen, die mir in dem Raum, den Oliver und ich seit so vielen Jahren bewohnten, fremd erschienen. Ich spürte Summer neben mir, die erwartungsvoll darauf wartete, dass ich etwas sagte, und ich wusste, dass ich es ihr schuldig war, wohlwollend zu sein.

„Sieht fantastisch aus hier drin“, schwärmte ich.

„Danke“, sagte Summer und die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Aber lass uns versuchen, deine Katze zu finden.“

Sie öffnete die Terrassentür, die zu einem kleinen, leeren Innenhofgarten hinausführte. Kein Platz für eine Katze, um sich zu verstecken. Ich rief ein paar Mal Sparkles Namen, in der Hoffnung, dass sie plötzlich über die Mauer aus einem benachbarten Garten auftauchen würde, aber es gab keine Bewegung.

„Ich hatte die Tür sowieso nicht auf, sie wäre also auf keinen Fall in die Wohnung gekommen“, sagte Summer.

Mir wurde schwer ums Herz. „Schon gut, tut mir leid, dass ich dich belästigt habe.“

„Gib mir deine Nummer und ich rufe dich an, falls sie auftaucht.“

Wir tauschten Nummern aus und ich versuchte, meinen Kummer vor Summer zu verbergen. Ich liebte diese Katze, und sollte ihr etwas zugestoßen sein, wäre ich am Boden zerstört, ganz zu schweigen von den armen Mädchen.

„Sie taucht schon wieder auf“, sagte Summer beruhigend und legte eine Hand auf meinen Arm.

„Danke.“

Als wir den Flur betraten, kamen wir an Bellas und Freyas altem Zimmer vorbei. Die Tür war geschlossen und ich nahm an, dass Luna drinnen war. Doch dann hörte ich einen Laut und ich blieb wie angewurzelt stehen.

„Was war das?“, fragte ich.

Auch Summer blieb stehen. „Was meinst du?“

„Ich dachte, ich hätte ein Miauen gehört?“

„Glaube ich nicht.“

Ich stand da wie angewurzelt, unsicher. Ich wollte keine Szene machen, aber ich wollte auch nicht gehen, nicht wenn Sparkle irgendwo in der Wohnung gefangen war.

„Sollen wir nicht kurz im Kinderzimmer nachsehen, falls sie sich reingeschlichen hat?“

„Aber ich sage doch, dass ich die Tür den ganzen Tag nicht offen hatte. Sie kann nicht reingekommen sein.“

Ich lauschte gespannt und hoffte auf ein weiteres Miauen, das ein unwiderlegbarer Beweis dafür sein würde, dass Sparkle hier war. Aber es herrschte nur Stille und Summer sah mich neugierig an und wartete darauf, dass ich mich verabschiedete und ging.

Aber es fühlte sich nicht richtig an. Das Unbehagen war wieder da, ein Instinkt, der mir sagte, dass nicht alles so war, wie es schien. „Ich würde mich einfach besser fühlen, wenn wir die Zimmer überprüfen würden.“

Summers Stirn legte sich ärgerlich in Falten. „Luna ruht sich aus und ich möchte sie wirklich nicht stören. Sie hatte einen langen Tag in der Schule und ihre Sinne sind überlastet. Und ich glaube auch, sie könnte sich etwas eingefangen haben, denn sie sah heute Nachmittag sehr blass aus.“

„Natürlich, ich verstehe.“ Mit einem letzten widerwilligen Blick auf die geschlossene Kinderzimmertür machte ich mich auf den Weg nach draußen.

„Ich rufe dich an“, sagte Summer und winkte zum Abschied, bevor sie die Haustür schloss.

Da ich wusste, dass Bella und Freya allein zu Hause waren, was ich selten zuließ, ging ich eilig zurück zum Haus. Aber ich konnte nicht aufhören, an das Miauen zu denken, von dem ich sicher war, dass ich es gehört hatte. Die geschlossene Tür. Summers Beharren darauf, Luna nicht zu stören, obwohl es erst kurz nach fünf Uhr war und viel zu früh fürs Bett. Als ich nach Hause kam, war ich verwirrt und aufgewühlt.

Als ich in die Küche kam, sah ich als erstes Sparkle, die neben ihrem leeren Futternapf saß und mich mit großen, anklagenden Augen ansah, als ob sie die ganze Zeit da gewesen wäre und ich diejenige, die vermisst worden war. Und während mich der Anblick unserer geliebten Katze, die nun wohlbehalten zu Hause war, mit Erleichterung erfüllte, war mir mein früheres Verhalten sofort peinlich.

„Wo kam Sparkle denn her?“, fragte ich die Mädchen, die inzwischen fernsahen.

„Keine Ahnung, sie ist einfach aufgetaucht“, sagte Bella, ohne ihren Blick vom Bildschirm zu lösen.

„Ist sie durch die Katzenklappe reingekommen?“

„Keine Ahnung.“

Ich starrte die Katze an und sie starrte zurück. Eine von uns beiden war auf jeden Fall verpeilt, aber ich war mir nicht mehr so sicher, ob es Sparkle war. Ich stellte den Herd an, um mich um das dringend eingeforderte Abendessen für die Mädchen zu kümmern, dann holte ich für Sparkle eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank. Sobald alle versorgt waren, würde ich Summer eine SMS schreiben und mich entschuldigen. Dann würde ich dafür sorgen, dass ich von nun an früher ins Bett kam.

In ein paar Tagen, wenn der Umzugsstress erst einmal abgeklungen war und wir zu unserer gewohnten Routine zurückgekehrt waren, würde ich mich schon wieder einkriegen. Es dauerte immer eine Weile, bis sich die Dinge nach einem einschneidenden Ereignis im Leben beruhigt hatten. Außerdem hatte ich seit dem Umzug nicht mehr gut geschlafen, was mich immer reizbar machte.

Aber es ging mir gut. Sparkle war zu Hause, Freya schien es besser zu gehen, und bald würde Oliver von der Arbeit zurück sein. Vielleicht würden wir eine Flasche Wein aufmachen, etwas, dem wir unter der Woche normalerweise zu widerstehen versuchten. Und wir könnten wieder auf unser neues Haus und unsere aufregende Zukunft anstoßen.

Ja, es war alles okay. Besser als okay. Wir lebten den Traum, und das würde ich nicht vergessen, egal wie sehr meine eigene Unsicherheit versuchte, unseren Neuanfang zu sabotieren.

Kapitel vier

Ich sah aus dem Fenster und seufzte zufrieden. Ich hatte mir im kleinsten Zimmer im Obergeschoss ein Büro eingerichtet, sodass ich beim Arbeiten auf die Straße blicken konnte. Ich hatte noch nie ein eigenes Büro gehabt, und es fühlte sich wie der pure Luxus an. Außerdem war es ideal, um Leute zu beobachten und mich daran zu erinnern, dass wir jetzt wirklich in der Straße lebten, die ich jahrelang rauf und runter gelaufen war, davon träumend, in einem dieser schönen Häuser zu wohnen. Und das nahm den ganzen Problemen, die wir am Haus entdeckt hatten, ein wenig den Stachel.

Ein Reihenhaus mit schiefen Fenstern war vielleicht nicht jedermanns Vorstellung vom perfekten Zuhause, aber für uns war es genau das. Wir hatten jahrelang gespart und dann hatte uns ein unerwarteter Bonus von Olivers Arbeitgeber über die Ziellinie gebracht. Endlich hatten wir genug, um die Wohnung zu verkaufen und ein Haus anzuschaffen. Und während ich auf die von Bäumen gesäumte Straße sah und die Blätter betrachtete, die langsam ihre Farbe wechselten, ignorierte ich die Feuchtigkeit und die undichten Stellen und freute mich einfach.

Ich fingerte an meinem braunen Haar herum, während mein Blick zurück zu den E-Mails wanderte. Ich hatte mir vorige Woche einen Bob schneiden lassen und musste mich noch daran gewöhnen. Ich hatte, so lange ich denken konnte, lange Haare gehabt, aber es war Zeit für etwas Neues gewesen. Als Oliver abends nach Hause kam, hatte er anerkennend gepfiffen, was mich zum Kichern brachte. Er hatte mich geneckt, dass er es wenigstens bemerkte, wenn ich zum Friseur ging, anders als gewisse andere Leute. Ich hatte außerdem wieder angefangen, ins Fitnessstudio zu gehen, was ich monatelang vernachlässigt hatte. Ich wusste, dass ein kurzes Work-out nach dem morgendlichen Weg zur Schule für mein seelisches Gleichgewicht wahre Wunder bewirkte, und ich fühlte mich schon jetzt deutlich besser. Mein Kopf war klarer und ich nahm unsere alte Wohnung in einem anderen Licht wahr. Ich erinnerte mich, wie beengt sie war und wie wir uns ständig im Weg gewesen waren, wie sich die Mädchen jedes Jahr ein Trampolin gewünscht hatten und einfach nicht genug Platz dafür gewesen war.

Ein Trampolin war dann auch eines der ersten Dinge gewesen, die wir für das neue Haus gekauft hatten. Oliver hatte es online bestellt und dann stundenlang im Garten aufgebaut, unter leisem Fluchen, während ich ihn mit Bier, Snacks und Komplimenten über sein handwerkliches Geschick versorgte. Als es endlich fertig war, probierten die Mädchen es sofort aus. Sogar Bella, die eigentlich schon viel zu cool für ein Trampolin war, hatte quietschend vor Freude versucht, so hoch wie möglich zu springen. Und während Oliver und ich Arm in Arm dastanden und ihnen zusahen, überkam mich ein solches Glücksgefühl, dass ich mich fragte, warum ich jemals, wenn auch nur kurz, an unserer Entscheidung gezweifelt hatte.

Daran dachte ich jetzt wieder, während ich an meinem neuen Schreibtisch saß und meine Mails durchsah. Oh, was für ein Segen, ein eigenes Büro zu haben. Oliver arbeitete selten von zu Hause aus, aber ich war jeden Tag hier, und es machte einen riesigen Unterschied, die Tür am Nachmittag einfach hinter mir schließen zu können, statt wie früher in der Wohnung schnell den Küchentisch freizuräumen, weil gleich das Abendessen anstand.

Mein Handy klingelte, und auf dem Display erschien der Name meines Vaters. Ich sollte arbeiten, aber ich ging immer ran, wenn Dad anrief. Er lebte seit zwölf Jahren allein – seit meine Mutter gestorben war – und es ging ihm gesundheitlich nicht besonders gut. Da er nicht weit von hier wohnte, versuchte ich, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Vor fünf Jahren hatte er einen Schlaganfall gehabt, der ihn in seiner Beweglichkeit stark einschränkte. Er kam kaum noch raus, aber er liebte es, Zeit mit den Mädchen zu verbringen, und ich wusste, dass er am glücklichsten war, wenn sie bei ihm waren.

„Hi, Dad.“

„Hi Naomi, störe ich gerade?“

„Überhaupt nicht. Alles okay?“

„Ja, alles gut, Schatz. Ich wollte einfach nur ein bisschen reden.“

Ich lehnte mich im Stuhl zurück und entspannte mich. Ich plauderte gern mit meinem lieben Dad. Nach einer Weile schaltete mein Computer in den Ruhemodus und mein Blick wanderte wieder zum Fenster. Mir fiel eine Bewegung draußen auf und ich sah eine schwarz-weiße Katze über die Straße flitzen.

Mir war immer noch ein bisschen peinlich, was Oliver nur noch „Catgate“ nannte. Als ich ihm erzählt hatte, was passiert war, hatte er sich ein Grinsen kaum verkneifen können.

„Du hast der armen Frau also unterstellt, sie hätte unsere Katze gestohlen?“, hatte er gesagt und laut gelacht.

„Nein!“, hatte ich mich verteidigt. „Ich dachte nur, ich hätte ein Miauen gehört, das ist alles.“

„Klar. Das Miauen in deinem Kopf.“

Ich hatte eigentlich sauer sein wollen, aber ich musste selbst grinsen. Das war das Schöne an Oliver, er brachte mich selbst dann zum Lachen, wenn mir eigentlich nicht danach war.

„Weiß der Himmel, was ich gehört habe, wenn es kein Miauen war“, war ich fortgefahren.

„Vielleicht war’s ja doch ein Miauen. Vielleicht treibt Sparkle ein grausames Spiel mit euch. Sie hetzt euch gegeneinander auf, tut so, als wohne sie hier und dort, als liebe sie euch beide, wie so eine kleine Polygamistenkatze.“

Ich hatte mit einem Kissen nach ihm geworfen. „Halt die Klappe. Ich habe ihr schon geschrieben und mich entschuldigt.“

„Dafür, dass du ihr Katzendiebstahl unterstellt hast.“

„Oliver! Ich habe ihr nicht unterstellt, dass sie unsere Katze gestohlen hat.“

Summer hatte binnen Minuten geantwortet und gemeint, ich solle mir bloß keine Gedanken machen.

Ich weiß, wie schlimm es ist, ein Haustier zu verlieren, hatte sie geschrieben. Ich verstehe das total xx

Seitdem hatte ich mir vorgenommen, mir mit Summer ein bisschen mehr Mühe zu geben. Ich hatte sogar darüber nachgedacht, Luna zum Spielen einzuladen, aber Freya war davon nicht begeistert und ich wollte sie nicht drängen. Sie musste sich noch an ihr neues Zuhause und an ihren neuen Klassenlehrer gewöhnen, sie brauchte bei solchen Veränderungen immer etwas länger. Genau wie ich, dachte ich jetzt. Auch wenn ich mit Summer nur wenig Kontakt pflegte, sah ich sie trotzdem häufig, sei es am Schultor oder wenn sie unsere Straße hinauf- und hinunterging. Unsre Straße führte zur Hauptstraße und ich wusste, dass sie sie als Abkürzung benutzte. Und langsam gewöhnte ich mich an sie, an ihre Präsenz in unserem Leben und daran, dass ihr jetzt in unsere alte Wohnung gehörte.

„Naomi, bist du noch dran?“

„Entschuldige, Dad, ich war ganz in Gedanken.“

„Ah, ich lass dich dann besser in Ruhe. Du bist sicher beschäftigt. Sehen wir uns Sonntag?“

„Klar, ich bringe die Mädchen am Vormittag vorbei.“

„Ich freue mich drauf.“

Ich legte auf und machte mich wieder an die Arbeit. Ich war so vertieft, dass ich nicht mal Mittagspause machte, und als es drei Uhr wurde, hatte ich Hunger und war kurz davor, zu spät zur Schule zu kommen. Ich lief die Treppe hinunter, zog im Gehen meinen Pulli über und stürmte zur Tür hinaus.

Freitags war der Pausenhof immer besonders voll. Als ich das Gelände betrat, sah ich die üblichen Verdächtigen in der Nähe der Bänke stehen und ging hinüber, um Hallo zu sagen.

„Ist richtig kühl geworden“, sagte Asha und rieb sich die nackten Arme.

„Ja, der Herbst ist im Anmarsch. Wir müssen bald über die Halloween-Kostüme nachdenken.“

Es war jährliche Tradition, gemeinsam auf Süßes oder Saures zu gehen, danach gab es eine Party bei Victoria und wir alle gaben uns Mühe, verkleidet zu erscheinen. Freya plante schon eifrig ihr Fledermaus-Kostüm.

„Wir haben das mit den Drinks noch nicht geklärt“, sagte Asha. „Wir müssen mal einen Termin ausmachen.“

„Wie wäre es heute Abend?“

„Oh, passt mir. Ich schreibe mal in die WhatsApp-Gruppe.“

Asha meinte die mit uns beiden, Victoria und Rachel, aber ich sah, wie Angela den Hals reckte und ich verdrehte innerlich die Augen.

„Hat jemand Drinks gesagt?“, gurrte sie.

Asha bedachte mich mit einem Blick, bevor sie sich an Angela wandte. „Ja, wir dachten an heute Abend. Aber wenn das zu kurzfristig ist …“

„Ganz und gar nicht. Ich bin dabei! Der übliche Ort um zwanzig Uhr?“

Asha versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen. „Klingt gut.“

„Was geht ab?“ Rachel gesellte sich zu uns, Victoria hinter ihr.

„Drinks heute Abend“, sagte ich. „Am üblichen Ort.“

„Bin dabei“, sagte Rachel. „Ich hatte eine Wahnsinnswoche.“

„Paul ist heute Abend nicht da, deshalb kann ich leider nicht“, sagte Victoria bedauernd.

„Wir sollten auch Summer fragen“, schlug Asha vor.

„Sollten wir“, stimmte ich zu. „Aber ich weiß nicht, ob sie so kurzfristig einen Babysitter bekommt.“

„Seht mal, da ist sie, wir können sie fragen.“

Als ich Ashas Blick folgte, runzelte ich die Stirn. Irgendetwas an Summer war anders, und ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, was es war. Dann fiel es mir auf. Sie hatte sich die Haare zu einem Bob schneiden lassen, genau wie ich. Und nicht nur das, sie hatte sie auch hellbraun gefärbt, sodass es fast den gleichen Farbton hatte wie meines. Meine erste Reaktion war: Was zum Teufel? Und ich war zu geschockt, um es zu verbergen.

„Summer, ich liebe deine Frisur!“, rief Asha. „Wann hast du das machen lassen?“

„Oh!“ Summer fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Heute Morgen. Ist das nicht zu viel?

„Nein, sieht fabelhaft aus.“ Asha drehte sich zu mir um und wartete darauf, dass ich zustimmte. Aber die Worte blieben mir im Hals stecken und Asha füllte schließlich die Stille. „Wir gehen heute Abend was trinken, hast du Zeit?“

„Liebend gern, danke!“ Summer sprach mit Asha, aber ihre Augen waren auf mich gerichtet.

Ich musste etwas sagen. Irgendetwas. „Wir waren besorgt, dass du vielleicht keinen Babysitter finden würdest.“

„Ich habe ein nettes Mädchen kennengelernt, das über mir wohnt und gerne babysittet.“

Ich hatte jahrelang in dem kleinen Mehrfamilienhaus gewohnt und wusste beim besten Willen nicht, von wem Summer sprach. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich jeden im Gebäude kannte.

„Alles okay, Naomi?“ Summer sah mich besorgt an.

„Ja, klar“, krächzte ich. „Ich gewöhne mich gerade an deine neue Frisur.“

„Ich war bei dem Friseur, den du empfohlen hast. Vielen Dank, der ist super.“

Sie war also zu meinem Friseur gegangen und hatte den gleichen Schnitt und den gleichen Farbton wie ich machen lassen. Summer hatte recht, Lorenzo war brillant, der beste Friseur, den ich je hatte. Er hatte eine Vielzahl verschiedener Schnitte drauf, wer also war auf gerade diesen verfallen – er oder sie?

Zum Glück hatte Summer ihre Aufmerksamkeit jetzt auf Asha gerichtet. „Der Friseur hat mich gewarnt, dass das Bleichmittel, das ich seit Jahren zum Blondieren benutze, mein Haar zerstört, also schlug er vor, dass ich zu meinem natürlichen dunkleren Farbton zurückkehre. Ich wusste erst nicht so recht, aber jetzt gefällt es mir richtig gut.“

„Sieht klasse aus“, schwärmte Asha. „Du musst auf jeden Fall heute Abend raus, um es vorzuführen.“

Während Asha Summer den Namen des örtlichen Pubs nannte, in den wir immer gingen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass Summer absichtlich meine Frisur kopiert hatte. Aber warum sollte sie das tun? Summer war der Inbegriff von Stil, und ich war nur eine ganz normale, gewöhnliche Mum. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum Summer sich von mir inspirieren lassen sollte. War ich unnötig paranoid? Ich war mir nicht sicher, aber plötzlich wollte ich mit jemandem darüber reden.

„Asha“, sagte ich leise, sodass Summer es nicht hören konnte. „Hast du Lust, nach der Schule auf eine Tasse Tee zu uns zu kommen? Freya würde gerne mit Aanya spielen.“

„Ja klar, gerne.“

„Super.“

Die Kinder strömten auf den Pausenhof und ich umarmte Freya. Ihre Miene hellte sich auf, als ich ihr erzählte, dass Aanya zum Spielen vorbeikommen würde.

„Kann sie zum Abendessen bleiben?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Vielleicht“, sagte ich. „Wir fragen mal ihre Mum.“

Wir machten uns zu viert auf den Heimweg und als Freya und Aanya vorausliefen, nutzte ich die Gelegenheit, um das Thema anzusprechen, das mir im Kopf herumging.

„Asha“, sagte ich zögernd. „Findest du nicht auch, dass Summers Frisur wie meine aussieht?“

Asha zog die Nase kraus. „Jetzt, wo du es sagst, ein bisschen schon. Aber hat sie nicht gesagt, dass sie zum selben Friseur gegangen ist?“

„Ja. Aber warum der gleiche Schnitt? Und die gleiche Farbe?“

„Nun, sie sagte ja, dass es ihr natürlicher Ton ist.“

„Stimmt wohl.“

„Und so ähnlich ist es nicht. Es ist nicht so, dass es identisch ist oder so.“

Aber für mich sah es so aus. „Kann sein, ja.“

Asha sah mich an. „Magst du sie nicht?“

Mir war schmerzlich bewusst, dass Asha nicht die erste Person war, die mich das fragte. Oliver hatte es auch getan. „Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag. Sie ist toll. Es ist nur …“

Wie sollte ich erklären, was ich meinte? Ich wusste es ja selbst nicht mal. Es war ein Wirrwarr der Gedanken, ein emotionales Chaos. Und im Zentrum all dessen stand die Angst, dass ich meine eigenen irrationalen Gefühle, die Wohnung aufgegeben zu haben, ungerechterweise auf Summer projizierte. Es war, als wäre ich eifersüchtig auf sie, weil sie mir meinen wertvollsten Besitz gestohlen hatte. Aber sie hatte ihn nicht gestohlen, wir hatten ihn ihr verkauft, damit wir uns das Haus leisten konnten, von dem wir seit Jahren geträumt hatten.

„Vergiss es“, sagte ich. „Erzähl mir von deinem neuen Chef.“

Als Asha anfing, ihren neuen Manager zu beschreiben, versuchte ich, mich auf das zu konzentrieren, was sie sagte. Ich tat mein Bestes, um jeglichen Gedanken an Summer aus meinem Kopf zu verdrängen. Aber alles, woran ich denken konnte, war sie, wie sie auf dem Pausenhof auf uns zugekommen war, mit ihrem perfekten neuen Haarschnitt und ihrem umwerfenden Kleid, wie eine bessere Version meiner selbst aussehend.

Kapitel fünf

Angela konnte eine Nervensäge sein, aber ihr Organisationstalent war unübertroffen. Als ich das Lokal betrat und sah, wie voll es war, war ich dankbar, dass sie so vorausschauend gewesen war, einen Tisch für uns zu reservieren. Keiner von uns anderen hatte auch nur einen Gedanken daran verschwendet.

Ich war spät dran, weil Freya nicht wollte, dass ich ausgehe, und jede Verzögerungstaktik angewandt hatte, die sie in petto hatte, um mich aufzuhalten. Ich war daher die Letzte, die im Pub auftauchte, und der Tisch war voller Mums plus Richard, der Freiberufler war und sich um den Schulkram kümmerte, weil seine Partnerin den ganzen Tag in einer Anwaltskanzlei arbeitete. Sie waren zu neunt, was keine schlechte Beteiligung war, wenn man bedenkt, wie kurzfristig wir die Sache geplant hatten. Und in der Mitte des Tisches saß Summer und hielt Hof.

Die Eifersucht, die mich plötzlich ergriff, traf mich mit einer solchen Wucht, dass es mich selbst erschreckte. Ich benahm mich wie ein Mädchen in Freyas Alter und nicht wie eine erwachsene Frau. Ich war grün vor Neid, weil meine Freunde eine neue Spielkameradin gefunden hatten. Was war nur mit mir los? Ich setzte ein Lächeln auf und holte mir etwas zu trinken, bevor ich mich auf einen Hocker zwischen Angela und Richard setzte. Summer, die mir gegenüber saß, beugte sich vor, um mich zu küssen, und ich atmete ihr Parfüm ein.

„Wie schön, dich zu sehen“, sagte sie, und ich lächelte sie an, mich daran erinnernd, wie nett sie war. Ich hielt mir eine strenge Standpauke, so wie ich es mit den Mädchen tun würde. Sei nicht albern. In der Zwischenzeit schwärmten alle von Summers neuer Frisur und fragten, wo sie sich die Haare hatte machen lassen.

„Naomi hat mir diesen wunderbaren Friseur empfohlen“, sagte sie. „Er heißt Lorenzo und er ist einfach fabelhaft. Es ist also wirklich allein ihr Verdienst.“

Angela zog die Nase kraus. „Ich lasse mir die Haare in der Londoner City machen. Ich finde einfach, dass die Qualität dort viel besser ist als in diesen Vorstadtsalons.“

„Oh, ich auch“, sagte Richard und strich sich über den kahlen Schädel. „Für mich nur das Beste.“

Wir kicherten alle, während Angela herauszufinden versuchte, ob er sich über sie lustig machte.

„Wie kommt Luna denn in der Schule zurecht?“, fragte Asha.

„Sehr gut, danke.“ Summer lächelte breit. „Eure reizenden Kinder haben sie so herzlich aufgenommen. Besonders von Aanya spricht sie ganz begeistert. Ich glaube, die beiden freunden sich richtig an.“

Mir wurde ein bisschen mulmig. Freya und Aanya waren seit dem Kindergarten beste Freundinnen, und so eine Dreierkonstellation konnte eine ziemlich heikle Angelegenheit sein. Was, wenn Freya außen vor blieb? Ich hatte sie seit Beginn des Schuljahrs ein paarmal nach Luna gefragt, aber sie war nicht sehr auskunftsfreudig gewesen.

„Du und Luna müsst mal zum Spielen vorbeikommen“, sagte Asha.

„Das würden wir gern.“

„Oh, und du musst unbedingt bei unserem jährlichen Halloween-Ding mitmachen.“

„Was ist das?“

„Wir verkleiden uns alle, auch die Mums und Dads, und gehen auf Süßes oder Saures, und dann treffen sich alle bei Victoria zur After-Party. Das ist immer ein Riesenspaß.“

„Ich halte nicht viel von Halloween. Ich finde das ziemlich geschmacklos“, meldete sich Angela zu Wort.

„Luna wird begeistert sein. Sie war noch nie auf Süßes oder Saures.“

„Ich habe jede Menge Kostüme“, sagte Rachel. Sie hatte vier Kinder und ihr ältestes war siebzehn. „Du kannst gerne mal vorbeikommen und schauen, ob was Passendes dabei ist. So sparst du Geld für ein Outfit, das Luna eh nur einmal tragen wird.“

„Danke dir. Oh, ihr habt mich alle so toll aufgenommen. Ich kann euch gar nicht genug danken.“

Nach ein paar Minuten wurde es zu anstrengend, ein Gespräch mit allen am Tisch aufrechtzuerhalten, also teilten wir uns in kleinere Gruppen auf. Auf der anderen Seite des Tisches unterhielt sich Summer angeregt mit Asha und Rachel, während Angela mich in Beschlag nahm, um mich zu fragen, ob ich schon einen passenden Privatlehrer für Freya gefunden hätte. Ich schielte immer wieder zu meinen Freundinnen hinüber und wünschte mir, mit ihnen Spaß zu haben, statt mir einen Vortrag darüber anzuhören, wie wichtig es sei, mein Kind auf die Prüfungen für die weiterführende Schule vorzubereiten.

Ich trank mein erstes Glas Wein etwas zu schnell aus und als ich an die Bar ging, beschloss ich, gleich eine ganze Flasche zu bestellen, da ich sicher nicht die Einzige war, die Lust auf Wein hatte. Ich wartete auf meine Bestellung, als ich Sharon Harding, die Schulleiterin der North Hill, mit ihrem Mann hereinkommen sah. Sharon war eine reizende Frau und ich hatte sie kennengelernt, nachdem ich im Laufe der Jahre im Elternbeirat mitgewirkt hatte. Ich wusste, dass sie in der Nähe wohnte, aber ich vermutete, dass sie ihren Freitagabend lieber nicht damit verbringen wollte, von Schul-Mums nach den Fortschritten ihrer kleinen Lieblinge befragt zu werden.

„Da drüben“, zischte ich und deutete mit dem Daumen auf die Ecke des Pubs. „Schul-Mum-Alarm. „Verzieht euch lieber auf die andere Seite der Bar.“

Sharon lachte und kam zu mir. „Danke für den Tipp. Wie geht es dir?“

„Prima, danke“, sagte ich. „Wir sind vor Kurzem umgezogen.“

„Oh ja, ich habe gesehen, dass du dem Sekretariat eure neue Adresse gemailt hast. Gratuliere.“

„Danke dir. Kann ich dir einen Drink besorgen?“

„Keine Sorge, mein Mann kümmert sich schon darum. Und wie lebt ihr euch ein?“

„So lala“, gab ich zu und der Wein lockerte mir die Zunge. „Wir lieben das neue Haus, aber mittlerweile zeigen sich die ganzen Baustellen, die sie einem vorenthalten, wenn man es besichtigt. Ich schätze, das muss man einfach hinnehmen, wenn man einen Altbau kauft.“

„Was denn für Baustellen?“

„Ach, das Übliche. Ein undichter Wasserhahn, ein bisschen Feuchtigkeit. Nichts Dramatisches.“

„Ihr kriegt das schon hin, Naomi. Wie geht’s deiner Freundin Summer?“

Ich würde sie noch nicht als Freundin bezeichnen und ich fragte mich, warum Sharon das dachte. „Ich kenne sie gar nicht so gut, aber sie scheint sich gut einzuleben.“

„Oh, ich dachte, ihr wärt eng befreundet.“

Ich runzelte die Stirn. „Wie kommst du darauf?“

„Als sie sich um einen Platz an der North Hill bewarb, wollte sie unbedingt, dass Luna mit Freya in eine Klasse kommt. Sie rief ständig an und hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter im Sekretariat, obwohl gerade Schulferien waren, und ich hatte den Eindruck, dass ihr gut befreundet seid.“

Ich schaute zu Summer hinüber, die immer noch in ein Gespräch mit Asha und Rachel vertieft war. Warum sollte sie andeuten, dass wir bereits gute Freunde waren?

„Ich schätze, sie wollte nur sichergehen, dass Luna einen Platz bekommt“, überlegte Sharon. „Nicht dass die ständigen Anrufe einen Unterschied gemacht hätten. Letztlich hing es nur davon ab, ob ein Platz frei würde. Wie auch immer, ich lasse dich dann mal in Ruhe. Noch einen schönen Abend, Naomi.“

„Euch auch, Sharon.“

Während sie sich zu ihrem Mann gesellte und ich beim Barmann meine Bestellung aufgab, versuchte ich mir einen Reim darauf zu machen, was Sharon mir erzählt hatte. Warum war Summer so sehr daran gelegen, dass Luna in Freyas Klasse kam? Um warum hatte sie sich auf eine fiktive Freundschaft berufen, um ihre Chancen auf einen Platz zu erhöhen? Ich sah sie an und diesmal trafen sich unsere Blicke. Sie winkte mir zu und ihre Miene war so offen und freundlich, dass ich wieder einen Anflug von schlechtem Gewissen verspürte. Aber als der Wein, den ich zu schnell getrunken hatte, seine Wirkung entfaltete, begann ich im Geiste eine Art Dossier mit Beweisen gegen Summer zusammenzustellen, die mir helfen sollten, zu rechtfertigen, warum ich ihr gegenüber so misstrauisch war.

Erstens: Sie war unangekündigt vor unserem neuen Haus aufgetaucht. Als ich endlich den Mut aufbrachte, sie danach zu fragen, sagte sie, sie sei unsere Straße entlang gegangen und habe unser Auto wiedererkannt, das vor dem Haus stand. Das war zwar ein bisschen seltsam, aber wohl kaum belastend. Dann war da noch die Sache mit der Katze, die mir immer noch peinlich war. Die Geschichte mit der neuen Frisur war meiner Meinung nach auf jeden Fall merkwürdig, aber Asha schien das nicht so zu sehen. Und dann war da noch Sharons Beharren darauf, dass Summer angedeutet hatte, wir seien befreundet.

Es war fadenscheinig, das war mir klar. Und doch wurde dieses kleine Unbehagen in mir immer stärker. Plötzlich traute ich Summer nicht mehr. Ich wusste nicht, warum, aber ich tat es nicht. Und jetzt musste ich einfach herausfinden, warum.

* * *

Als ich nach Hause kam, saß Oliver auf dem Sofa, in der einen Hand ein Bier, in der anderen die Fernbedienung. Sparkle lag auf seinem Schoß, zusammengerollt zu einem Ball.

„Hey, hast du dich amüsiert?“

„Ja, danke.“ Ich ließ mich neben ihm aufs Sofa fallen und zog meine Schuhe aus, woraufhin Sparkle aufsprang und aus dem Zimmer huschte.

„Irgendwelcher pikanter Klatsch und Tratsch?“

„Nein, nur das Übliche.“

„War Summer da?“

Ich drehte mich zu ihm. „Warum willst du das wissen?“

„Ich frage doch nur. Reiß mir nicht den Kopf ab.“

„Entschuldige. Es war ein komischer Abend. Ja, sie war da.“

Oliver stellte den Fernseher leiser. „Alles okay, Babe?“

Ich erzählte ihm von Summers neuer Frisur und der neuen Tönung und von meinem Gespräch mit Sharon. Ich hoffte, dass er es verstehen würde.

„Du weißt doch, Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung“, sagte er und strich mir über den Rücken.

„Du glaubst also, dass sie mich imitieren wollte?“

Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber ich könnte es ihr nicht verdenken. Sieh dich an, Nims. Du bist umwerfend.“

Ich kuschelte mich an ihn. „Danke, Ol. Aber sie ist noch umwerfender.“

„Nicht für mich.“

„Du kennst sie doch gar nicht!“

„Keine ist so umwerfend wie du.“

Ich lächelte und war froh über die Bestätigung meines Mannes, obwohl ich wusste, dass ich sie nicht brauchen sollte. „Weißt du, sie war mal Schauspielerin. Sie war am West End und so.“

Oliver küsste jetzt meinen Nacken. Es war schon ein paar Monate her, dass er mich so geküsst hatte, und ich war erstaunt, wie schnell mein Körper darauf reagierte.

„Mir egal, ob sie der Star von Les Mis war. Sie kann meiner Frau nicht das Wasser reichen.“

Ich lachte und schloss die Augen, genoss das Gefühl seiner Lippen an meinem Hals.

„Und außerdem kenne ich sie sehr wohl.“

Ich riss die Augen auf und wich zurück. „Wie bitte?“

Oliver sah mich an, überrascht von meiner Reaktion. „Ich bin ihr begegnet.“

„Wann?“

„Sie kam am Wochenende vorbei, als du mit den Mädchen einkaufen warst.

„Was wollte sie denn?“

„Sie konnte die Schlüssel für den Briefkasten nicht finden und wollte wissen, ob wir einen Ersatz haben.“

„Haben wir einen?“

„Ja, ich hatte noch einen am Schlüsselbund, also habe ich ihn ihr gegeben. Um ehrlich zu sein, hätte ich ihn in der Wohnung lassen sollen, aber ich hatte ihn total vergessen.“

Ich starrte Oliver an, verwirrt und etwas verärgert darüber, dass Summer es irgendwie geschafft hatte, den intimen Moment zwischen uns zu ruinieren. Oliver schien ebenso perplex zu sein.

„Habe ich was gesagt, das ich nicht hätte sagen sollen?“, fragte er.

„Ich frage mich nur, warum du das nicht schon früher erwähnt hast.“

„Ich hatte es vergessen. Es war keine große Sache.“

Oliver hatte recht. Es war keine große Sache. Und doch saß ich da und grübelte darüber nach. „Warum hat sie mich nicht angerufen oder an der Schule danach gefragt?“

„Sie meinte, sie wäre zufällig vorbeigekommen und hätte auf gut Glück angeklopft.“

„Was hältst du von ihr?“

Oliver sah mich jetzt so an, wie er Freya früher angesehen hatte, wenn sie einen Wutanfall bekam, weil ihr Toast falsch geschnitten war. Genervt, aber auch ein bisschen amüsiert.

„Sie schien okay zu sein. Ich habe nur ein paar Minuten mit ihr gesprochen, wenn überhaupt.“

Ich sah meinem lieben Mann in die Augen und merkte, dass ich mich lächerlich machte. „Entschuldige, Ol. Ich bin nur müde und ein bisschen beschwipst.“

Oliver unterdrückte ein Gähnen. „Ja, ich bin auch müde. Sollen wir schlafen gehen?

Ich lächelte erleichtert. Jeglicher Gedanke an Romantik war endgültig verflogen. „Guter Plan.“

Als wir uns vom Sofa quälten, nach den Mädchen sahen und ins Bett gingen, dachte ich darüber nach, wie viel Glück ich hatte, einen so tollen Mann zu haben. Oliver und ich hatten unsere Höhen und Tiefen, aber unsere Beziehung war immer bombenfest gewesen. Wir hatten uns kennengelernt, als wir beide Anfang zwanzig waren und man freitagabends nach der Arbeit selbstverständlich noch einen trinken ging. Ich war mit meinen Kollegen von der Wirtschaftsprüfungsfirma unterwegs, in der ich eine Ausbildung machte, und Oliver mit seinen Kumpels von der Marketingagentur, in der er arbeitete. Wir kamen an der Bar ins Gespräch und ich war sofort hingerissen von seinem Geordie-Akzent und seinem selbstbewussten Charme. Am Ende gingen wir zusammen nach Hause, was mir im kalten Licht des nächsten Tages peinlich war, da ich davon ausging, dass es nur ein One-Night-Stand war und ich nie wieder etwas von ihm hören würde. Aber letztlich blieb er zum Frühstück und danach gingen wir auch noch mittags zusammen essen. Abends beschlossen wir, dass er auch gleich zum Dinner bleiben könnte. Und dann war es natürlich zu spät für ihn, um nach Hause zu fahren, also blieb er wieder bei mir. Am Sonntag ging er schließlich und als er sagte, er würde am nächsten Tag anrufen, wusste ich, dass er es tun würde.

Wir waren ein paar Jahre zusammen, bevor wir unsere erste gemeinsame Wohnung kauften, die wir gerade an Summer verkauft hatten. Wir waren uns immer einig, dass wir Kinder haben wollten, aber wir beschlossen, erst einmal unsere Zwanziger zu genießen, und wir machten das Beste daraus. Wir haben Freunde eingeladen, tolle Urlaube gemacht und das Leben in vollen Zügen genossen. Nachdem wir geheiratet hatten, wurde ich mit Bella schwanger und wir mussten uns auf unsere neue Rolle als Eltern einstellen. Es war ein Schock, aber wir haben uns durchgebissen und Oliver war stets ein fürsorglicher, zupackender Vater. Wir waren davon ausgegangen, dass ich, nachdem Bella so leicht gezeugt worden war, keine Probleme haben würde, wieder schwanger zu werden, und es war ein Schlag, als wir erfuhren, dass das nicht der Fall war. Es war ein Tiefpunkt in unserem Leben, da ich zunehmend besessen davon war, ein weiteres Kind zu bekommen, und dann immer enttäuschter, als es nicht klappte.

Oliver stand die ganze Zeit fest an meiner Seite. Selbst als ich permanent über Eisprungzyklen und kaum noch etwas anderes redete, beschwerte er sich nicht ein einziges Mal. Auch er wünschte sich ein zweites Kind, aber nicht auf die gleiche Weise wie ich. Mein Leben drehte sich um nichts anderes mehr und jede monatliche Enttäuschung war wie ein Stich ins Herz. Ich war gewiss nicht leicht zu ertragen, aber er war mein Fels in der Brandung. Als ich endlich mit Freya schwanger wurde, freute er sich ebenso sehr wie ich, denn wir hatten den schwierigen Weg gemeinsam zurückgelegt.

Das alles schien jetzt so lange her zu sein. Die Mädchen würden immer unsere Babys sein, aber sie wuchsen schnell heran, und bald würde Bella ein Teenager sein. Im Laufe der Zeit hatte sich meine Beziehung zu Oliver verändert, und wir waren nicht mehr das bis über beide Ohren verliebte Paar, das wir einmal gewesen waren. Aber mit Oliver an meiner Seite hatte ich mich nie allein gefühlt. Ich hatte immer jemanden in meinem Leben, der mir den Rücken freihielt.

Dabei musste ich an Summer denken, die alleinerziehende Mutter war. Eltern zu sein war ein unglaubliches und lohnendes Privileg, aber es war auch unerbittlich und sie hatte niemanden, mit dem sie die Verantwortung teilen konnte. Und sie war Hunderte von Kilometern weit weggezogen, wo sie niemanden kannte. Sie hatte kein Unterstützungsnetzwerk, keine Freunde in der Gegend. Sie hatte keine Familie erwähnt. Wenn sie sich also ein wenig zu sehr an mich geklammert hatte, wenn sie ein bisschen zu direkt war, konnte ich ihr es wirklich verübeln?

Meine Paranoia begann sich bereits zu verflüchtigen, als ich begann, wieder vernünftig zu denken. Ich stieg neben Oliver ins Bett und kuschelte mich eng an ihn.

„Ich liebe dich“, sagte ich.

„Ich liebe dich auch, Nims“, antwortete er schläfrig.

Oliver schlief innerhalb weniger Minuten tief und fest und auch ich nickte bald ein. Aber in der Nacht wälzte ich mich hin und her und hatte seltsame, abstrakte Träume, in denen ich mich wieder in unserer alten Wohnung befand, nur dass sie riesig war und es Dutzende von Türen gab, die einen langen Korridor säumten. Ich hörte die Kinder rufen und das Miauen von Sparkle, aber ich wusste nicht, wo sie waren, und versuchte verzweifelt, die verschlossenen Türen zu öffnen. Und dann sah ich Summer, die mit Freya auf dem Arm den Korridor entlang auf mich zukam. Sie trug mein Lieblingskleid und sie lachte. Neben ihr trottete Sparkle wie ein gehorsamer Hund. Und hinter ihr war Oliver, der Bellas Hand hielt. Ich rief immer wieder nach ihnen, schrie ihre Namen, aber es kam kein Ton heraus. Und dann wurde mir klar, dass sie mich nicht sehen konnten, weil ich in ihrer Welt nicht existierte. Summer hatte mich ersetzt.

Kapitel sechs

„Meine Güte, Naomi, du siehst ja schlimm aus.“

Rachel nahm wie immer kein Blatt vor den Mund, als sie mich in der darauffolgenden Woche vor der Schule traf. Freya hatte sich am Wochenende einen Infekt eingefangen und die ganze Nacht erbrochen. Ich hatte die frühen Morgenstunden damit zugebracht, Bettwäsche zu wechseln und sie zu trösten. Und am nächsten Tag hatte es dann Bella erwischt. Ich dachte erst, der Kelch wäre an mir vorübergegangen, aber am Montag wachte ich mit einem flauen Gefühl im Magen auf und es war bald klar, was Sache ist. Nur Oliver war irgendwie verschont geblieben.

„Ich bin nur froh, mal wieder draußen an der Sonne zu sein“, sagte ich, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass wir alle krank gewesen waren. „Ich war tagelang nur zu Hause, Oliver hat in der Zeit die Kinder zur Schule gebracht und abgeholt.“

„Noah erzählte, dass Freya Anfang der Woche nicht in der Schule war. Tut mir echt leid, ich hätte mich melden sollen, aber in den letzten Tagen ging es bei uns drunter und drüber.“

„Keine Sorge, alles gut. Was war denn los bei euch?“

„Ach, das Übliche, die Kinder hierhin und dorthin kutschieren, und unser Bad wird gerade renoviert. Außerdem hatten wir unser erstes Treffen vom Elternbeirat.“

„Ach ja, klar, schade, dass ich das verpasst habe.“

Offiziell war ich zwar nicht im Elternbeirat, aber ich ging regelmäßig zu den Treffen und half aus, wann immer ich konnte. Die Schule hatte meinen Mädchen über die Jahre so viel ermöglicht und ich wollte einfach etwas zurückgeben. Außerdem mochte ich das Miteinander daran, wenn auch nicht die Machtspielchen.

„Mach dir keinen Kopf, du hast nicht viel verpasst. Wir haben angefangen, den Weihnachtsmarkt zu planen. Wärst du wieder bereit, die Tombola zu organisieren?“

„Na klar, ich bin dabei.“

„Danke.“ Rachel schaute ein bisschen verlegen. „Ich hab dich quasi schon eingetragen.“

Ich lachte. „Ist schon okay.“

„Du solltest auch mit Summer sprechen, sie hat angeboten, dir zu helfen.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Das ist ja nett. Ich ruf sie mal an.“

„Und sie spendet eine kostenlose Gesangsstunde als Tombolapreis. Ist das nicht toll? Eine Stunde mit einem West-End-Star! Das könnte glatt der Hauptpreis werden.“

Ein West-End-Star. Zu Hause herumzusitzen und mich selbst zu bemitleiden, hatte mir zu viel Zeit zum Grübeln gegeben. Und ich hatte in letzter Zeit immer öfter an Summer gedacht. Was war eigentlich ihre Geschichte? Rachels Worte ließen mich nicht los. Wenn Summer wirklich so erfolgreich war, dann müsste man doch online einiges über sie finden. Ein bisschen googeln könnte sicher nicht schaden. Es war notwendige Recherche, redete ich mir ein, ich müsste ja einen kurzen Infotext über Summer schreiben, wenn wir eine Gesangsstunde von ihr in der Tombola auslosten. Da wäre es gut, mehr über ihren Werdegang zu wissen und in welchen Shows sie mitgemacht hatte. Bella würde den Preis bestimmt unbedingt gewinnen wollen, wenn sie davon erfuhr.

Ich verweilte vor dem Schultor, bis ich Summer mit Luna ankommen sah. Obwohl Luna nun schon ein paar Wochen auf die North Hill ging, sah sie immer noch verängstigt aus. Sie klammerte sich an Summers Hand, als wolle sie sie nie wieder loslassen, und ich sah, wie schwer es ihr fiel, sich beim Läuten von ihrer Mutter zu lösen.

Ich wandte den Blick dezent ab, um die beiden nicht in Verlegenheit zu bringen, und als ich wieder hinsah, war Luna auf dem Weg zu ihren Klassenkameraden. Sie wirkte bedrückt. Summer hingegen winkte fröhlich, als sei alles in bester Ordnung. „Hi, Summer“, rief ich, und sie kam lächelnd zu mir herüber.

„Hi, Naomi, wie geht’s dir? Ich habe gehört, du warst krank.“

„Mir geht’s schon wieder besser, danke. Hättest du Zeit für einen schnellen Kaffee?“

„Oh ja, sehr gern!“

„Ich dachte, wir könnten über die Tombola sprechen. Rachel meinte, du würdest gern mithelfen.“

Summer setzte eine bekümmerte Miene auf. „Nur wenn ich dir nicht in die Quere komme? Ich möchte mich nicht aufdrängen.“

„Ganz und gar nicht.“ Ich lächelte. „Mir ist jede Hilfe herzlich willkommen.“

„Super!“

Wir sahen den Kindern nach, wie sie ins Schulgebäude strömten, und machten uns dann auf den Weg zum kleinen Café um die Ecke.

„Alles okay mit Luna?“, fragte ich.

„Ja, der geht es prima.“

„Sie wirkte nur ein bisschen nervös.“

Summer schwieg einen Moment. Dann sagte sie leise: „Ich glaube, sie hat Schwierigkeiten, Anschluss zu finden.“

„Tut mir echt leid, das zu hören. Ich rede mal mit Freya und sorge dafür, dass Luna nicht außen vor bleibt.“

Summer öffnete den Mund, als wolle sie etwas sagen, schloss ihn aber wieder. „Danke.“

Wir erreichten das Café und fanden einen Tisch am Fenster. Während Summer ihre Jacke auszog und über die Stuhllehne hängte, blieb mein Blick an ihrem Kleid hängen. Sie bemerkte es, schaute an sich hinunter und dann wieder zu mir.

„Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel. Ich hab dich neulich im Pub damit gesehen und fand es so schön, dass ich mir das Gleiche gekauft hab. Es schmeichelt einfach total, oder?“

Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung. Ich versuchte, mich an Olivers Worte zu halten. Aber das ging zu weit, erst die Haare, jetzt das Kleid. Ich biss die Zähne zusammen, fest entschlossen, nicht kindisch zu wirken.

„Es steht dir wirklich gut“, sagte ich, und meinte es auch so. Das Kleid saß perfekt an Summer, zeigte gerade so viel Ausschnitt, dass es nicht aufdringlich wirkte. Bei mir quoll oben alles raus, deswegen war es bei mir eher ein Abendkleid. Und weil Summer ein paar Zentimeter größer war als ich, fiel der Saum bei ihr genau auf halbe Wade, sodass sie es auch mit Turnschuhen tragen konnte.

Wäre es Asha gewesen, oder Rachel, oder Victoria, hätte es mich wahrscheinlich nicht gestört. Aber weil es Summer war, brodelte es in mir. War ich wirklich die Einzige, die sah, was hier passierte? War allen anderen entgangen, dass Summer mich ganz offensichtlich kopierte? Nur warum wusste ich immer noch nicht. Und ich hatte auch keine Ahnung, wie ich sie darauf ansprechen sollte. Also erklärte ich ihr stattdessen, wie die Tombola funktionierte und wie man am besten an Preise kam. Aber mein Blick wanderte immer wieder zu ihrem Kleid und ich musste meine Stirn bewusst entspannen, um nicht zu sehr zu runzeln.

„Ich habe ein paar Kundinnen, die vielleicht helfen könnten“, sagte Summer.

„Das wäre super. Welche Preise hätten die zu bieten?“

„Eine schreibt Kochbücher, sie würde sicher gern ein paar signierte Exemplare beisteuern. Und ich arbeite mit einer erfolgreichen Masseurin in London, ich bin sicher, die würde eine Sitzung spendieren.“

„Wow, danke, Summer!“

Trotz meiner wachsenden Vorbehalte war ich beeindruckt. Ich brachte für die Tombola sonst höchstens einen Brunch-Gutschein vom Café um die Ecke und ein paar Flaschen Wein zusammen. Der Beirat wird sie lieben, dachte ich.

„Ich kümmere mich darum.“ Summer tippte sich eine Erinnerung ins Handy und ich konnte nicht anders, als ihre Effizienz zu bewundern.

„Vermisst du deine frühere Arbeit?“, fragte ich plötzlich.

Sie hörte auf zu tippen und schaute zu mir auf. „Die Bühnenarbeit?“

„Ja.“

Summer legte das Handy zur Seite und schien kurz zu überlegen. „Manchmal schon. Ich war mit Luna letztes Weihnachten bei einer Pantomime und ich war ziemlich neidisch auf alle, die da auf der Bühne standen.“

„Warum hast du aufgehört?“

„Es war kein sicherer Job. Mal war ich rund um die Uhr beschäftigt, Tag und Nacht, dann wieder gab’s überhaupt nichts, kein Einkommen. Solange das nur mich betraf, ging das irgendwie. Aber als ich mit meinem Ex zusammenkam und wir eine Familie gründen wollten, war mir klar, dass es so nicht mehr funktionieren würde.“

„Willst du irgendwann wieder anfangen? Wenn Luna älter ist?“

Summer schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich hab das Gefühl, dieser Teil meines Lebens ist vorbei. Manchmal wirkt das alles fast surreal, als hätte es nie wirklich stattgefunden.“

„Hast du noch Kontakt zu jemandem aus der Zeit?“

„Nicht wirklich. Als ich nach Devon gezogen bin, hab ich zu fast allen den Kontakt verloren.“

„War das der Grund, warum du zurück nach London gekommen bist? Weil du es vermisst hast?“

Summer legte den Kopf leicht schief, ihre Miene war schwer zu deuten. War sie genervt, weil ich so viel fragte, oder schmeichelte es ihr, dass ich mich für sie interessierte?

„Jein“, sagte sie schließlich. „Ich habe London schon immer geliebt und weil ich früher hier gewohnt habe, war es irgendwie vertraut. Aber der Hauptgrund war, dass ich Luna von ihrem Vater fernhalten wollte.“

„Wir müssen nicht darüber reden“, sagte ich schnell.

„Doch, ist schon okay. Weißt du, in Devon war er immer präsent, eine ständige Erinnerung daran, was für ein miserabler Dad er ist. Wenn er Verabredungen mit Luna absagte, wussten wir beide, dass er nur ein paar Meilen entfernt war, bei seiner neuen Familie. Und manchmal sind wir ihnen sogar über den Weg gelaufen, in der Stadt oder im Supermarkt. Das war für Luna verwirrend und ziemlich verstörend.“

„Kann ich mir vorstellen.“

„Also dachte ich, da er eh keine echte Rolle in ihrem Leben spielt, warum nicht Abstand zwischen uns bringen? Ich dachte, das würde Luna helfen. Und mir auch.“

„Hat er sich beklagt, dass ihr so weit weggezogen seid?“

„Anfangs schon, da hat er was von Anwälten und Gerichten gefaselt. Aber als ich ihn daran erinnerte, dass er Luna in einem Jahr genau zweimal bei sich hatte, war ganz schnell Ruhe.“

Zweimal in einem Jahr. Ich konnte es kaum glauben. Oliver würde lieber sterben, als seine Kinder so selten zu sehen. Was für ein schrecklicher, egoistischer Mensch musste ihr Ex sein. Mein Mitgefühl galt Summer – und auch Luna – und ich sah sie direkt an, zwang mich, meinen Blick von ihrem Kleid zu lösen.

„Wenn ich irgendwas tun kann, sag bitte Bescheid“, sagte ich, und ich meinte es ernst.

„Du hast schon so viel getan, Naomi. Du hast mich so herzlich aufgenommen. Ich bin wirklich dankbar. Ehrlich gesagt war ich wahnsinnig nervös wegen des Umzugs.“

„Das wundert mich nicht. So ein Schritt ist nicht ohne.“

„Ja, und trotzdem hab ich hier in Barnet schon mehr enge Freunde gefunden als in Devon in zehn Jahren. Und dann sagen die Leute immer, London sei unfreundlich!“

Sie wohnte erst seit ein paar Wochen hier, „enge Freunde“ war da vielleicht etwas übertrieben, aber ich sagte nichts. In meinem Kopf herrschte eh ein einziges Durcheinander, ich pendelte zwischen Sympathie und Abneigung. Vor zwanzig Minuten war ich misstrauisch, gewesen, jetzt war ich wieder beeindruckt.

Als wir mit dem Kaffee fertig waren, war ich sehr froh, dass ich ihn vorgeschlagen hatte. Trotz des holprigen Starts hatte das Gespräch einiges geklärt. Summer und ich hatten uns gut verstanden und ich hatte keine komischen Vibes verspürt – mal abgesehen davon, dass sie mein Kleid trug. Aber sie hatte ehrlich gesagt, warum sie es gekauft hatte, und ich hatte mir neulich auch eine Jacke zugelegt, weil ich sie bei Victoria so toll fand. Oliver hat recht, dachte ich. Wenn Summer sich von meinem Stil inspirieren lässt, sollte ich mich geschmeichelt fühlen, nicht misstrauisch sein.

Als ich zu Hause meinen Laptop aufklappte, konnte ich nicht widerstehen: Ich googelte sie. Ich hatte mit Hunderten Treffern gerechnet und war überrascht, nichts über ihre Bühnenarbeit zu finden. Und als ich die Social-Media-Profile einer Summer Caldwell anklickte, passten die Fotos nicht zu der Summer, die ich kannte. Vielleicht benutzt sie ihren Mädchennamen, überlegte ich. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie ihren Ex nur als Partner, nicht als Ehemann bezeichnet hatte, also waren sie vermutlich nicht verheiratet gewesen.

Vielleicht hatte sie einen Künstlernamen. Ich begann, nach Begriffen wie „Caldwell“ und „Bühne“ zu suchen und ehe ich mich versah, war eine halbe Stunde vergangen und ich mit der Arbeit deutlich im Rückstand. Widerwillig schloss ich den Browser und öffnete meine Mails. Ich versuchte, mich in meine Aufgaben zu vertiefen, aber ich war abgelenkt. Warum gab es keine Spur von Summer im Netz? Warum gab es keine Fotos, keine Interviews, wenn sie wirklich ein großer West-End-Star gewesen war? Und warum, wo wir schon dabei sind, fand sich auch nichts zu ihrer Tätigkeit als virtuelle Assistentin?

Ich hatte mich im Kreis gedreht und mein Unbehagen in Bezug auf Summer war wieder da. In der heutigen Zeit war es fast unmöglich, keine digitalen Spuren zu hinterlassen, und doch war Summer das offenbar gelungen. Aber warum? Warum dieses Bedürfnis, anonym zu bleiben? Ich begann, mich ernsthaft zu fragen, ob ich nicht doch recht hatte, ob sie uns nicht doch etwas über ihre Vergangenheit verschwieg. Falls ja, wollte ich herausfinden, was es war.

Tief in mir wusste ich, dass ich mich in etwas verrannte. Ich kannte das von mir, nicht mit Personen, aber bei bestimmten Problemen oder Sorgen. Wenn ich angespannt war, kreisten meine Gedanken, wurden zudringlich und zwanghaft. Und ja, der Umzugsstress hatte meine Angst getriggert, aber Summer trug auch ihren Teil dazu bei, davon war ich überzeugt. Das bildete ich mir nicht ein. Dieses Unbehagen war durch ihr übergroßes Interesse an mir entstanden. Andererseits war ich diejenige, die gerade eine halbe Stunde damit zugebracht hatte, nach ihr im Netz zu forschen.

Ich nahm mir vor, am Abend mit Oliver zu reden. Ich würde ihm erzählen, wie ich mich fühlte. Er war gut darin, mich zu beruhigen und mir zu helfen, die Dinge wieder klarer zu sehen. Und wenn wir die Baustellen im Haus endlich im Griff hatten, würde es mir auch wieder besser gehen. Dann würde ich dieses Haus wieder als das sehen, was es war: ein vielversprechendes Zuhause für unsere Familie, das einfach ein bisschen Zuwendung brauchte. Ich würde aufhören, die alte Wohnung zu verklären, und mir ins Gedächtnis rufen, dass auch sie alles andere als perfekt gewesen war. Aber das Bedauern war noch da. Es nistete irgendwo hinten in meinem Kopf und fing langsam an, mich zu verfolgen. Wenn wir einfach in der Wohnung geblieben wären, wäre alles so geblieben, wie es sein sollte. Meine Angst war erst mit dem Umzug gekommen.

Und ein einziger Gedanke kreiste immer wieder in meinem Kopf: Wir haben einen Fehler gemacht.