Kapitel 1
Es war völlig und absolut unerhört.
»Ich bitte um Verzeihung?«, fragte Lady Amalie Victoria Weatherston und starrte erstaunt auf die vier Gesichter, die sie mit einer unterschiedlich starken Mischung aus Empörung und Erwartung anblickten. Sicherlich war das ein Scherz – und ein ziemlich geschmackloser noch dazu.
»Du hast uns gehört«, sagte Dorothea, Lady Wimbotton, die angesehenste und vielleicht sogar lasterhafteste Witwe ihres kleinen Freundeskreises, der sich mindestens dreimal pro Woche in diesem besonderen Stadthaus am Russell Square traf.
Dorothea – Thea – stand auf, schlenderte zur Tür des Salons, die einen Spalt offen gelassen worden war, und schloss sie. »Man kann nie vorsichtig genug sein.« Sie lachte unbeschwert, bevor sie zu ihrem Platz auf dem Plüschsofa am Kamin zurückkehrte und Amalie einen erwartungsvollen Blick zuwarf.
Amalie nahm einen vorsichtigen Schluck von ihrem Ratafia und ordnete ihre wirren Gedanken. Ihr Herz raste und das Unwohlsein, das sie geplagt hatte, war einfach verschwunden. Wie äußerst beunruhigend, und das alles aufgrund eines lächerlichen Vorschlags, der sicherlich nicht einmal in Erwägung gezogen werden sollte. Ihre Reaktion würde später definitiv Anlass zu Selbstreflexion geben, wenn sie mit ihren Erinnerungen allein in ihrem Schlafzimmer war. Erinnerungen an ihn – Maximilian Langdon, Earl of Kentwood, bekannt als Autor der anzüglichsten erotischen Literatur des ton: Ein Leitfaden für leidenschaftliche Begegnungen zwischen einem Lord und seiner Lady.
»Möchtest du uns nicht antworten, Amalie?«, fragte Julianna – Jules – und ihre dunkelblauen Augen blickten sanft und belustigt drein. »Ich habe allen gesagt, wir würden dir die Sprache verschlagen!«
Amalie trank noch einen Schluck Wein, oder eher, mehrere undamenhafte Schlucke. »Ich habe euch sicher missverstanden, Thea. Sagtet ihr … sagtet ihr, ich müsse Londons berüchtigtsten Schürzenjäger verführen und ihn zu meinem Beschützer machen? Das ist es, was ihr alle so dringend mit mir besprechen wolltet?«
Da war es wieder, dieses nervöse Flattern in ihrem Bauch. Oder war es Vorfreude? Gütiger Himmel, ganz sicher nicht!
»Ja«, sagten ihre vier Freundinnen im Chor und erschreckten sie damit.
Offensichtlich hatten sie vor ihrer späten Ankunft ein Tête-à-Tête gehabt. Jetzt verstand sie die prüfenden Blicke, die sie in der letzten Stunde erhalten hatte, und das Beharren darauf, dass sie sich unterhalten sollten, anstatt wie üblich Scharade und Karten zu spielen, während sie Wein und Brandy tranken, sich über Klatsch und Tratsch austauschten und ihre Träume und Hoffnungen teilten.
»Ich … Lord Kentwood verführen?«, wollte sie mit gespielter Gleichgültigkeit wissen und starrte ihre Freundinnen mit verwirrter Belustigung an.
»Ja!«
Etwas Unbekanntes schoss durch ihr Herz, ein wunderbares Gefühl der Erregung. Amalie war das erbärmlichste aller Geschöpfe, da sie sich so mühelos faszinieren ließ. Londons verdorbensten und aufregendsten Liebhaber verführen?
»Ich kann nicht glauben, dass ihr mir überhaupt vorschlagen würdet, ich solle … so … so etwas …« Amalie versuchte vergeblich, ihr Erstaunen auszudrücken.
»Du bist die am besten geeignete in unserer Gruppe, da du keinen Beschützer hast«, erklärte Bess, Countess Hufford, während sie vorsichtig einen Schluck Wein trank und Amalie aus ihren tiefbraunen Augen ansah.
Die Countess war Amalies beste Freundin, und gerade Bess wusste, wie unglücklich Amalie in den letzten Jahren gewesen war. Bess kannte auch die Wahrheit über Amalies Situation – dass sie mit fünfundzwanzig noch unberührt war, obwohl sie zwei Jahre lang verheiratet gewesen war, bevor sie Witwe wurde.
Sie hatte sicherlich nicht erwartet, dass ihre beste Freundin dem zustimmen würde!
›Es gibt Tage, an denen ich so verzweifelt versuche, die gähnende Leere zu lindern, die in mir schlummert, Bess.‹
Worte, die Amalie ihrer Freundin erst letzte Woche zugeflüstert hatte, als sie auf genau diesem Teppich lagen und wie Verrückte kicherten, nachdem sie zu viel Wein getrunken hatten. Sie waren betrunken gewesen, aber es schien, als hätte sich ihre Freundin Amalies wehmütige Worte zu Herzen genommen.
»Ich wage zu behaupten, dass das überhaupt niemand tun muss«, sagte sie etwas spröde. »Zu welchem Zweck sollte ich Lord Kentwood verführen oder mich seinen Avancen öffnen? Ich habe nicht vor, die Geliebte irgendeines Lords zu sein.« Wie seltsam, dass Amalie diese Welle der Angst verspürte. Es ist nur ein Vorschlag! »Melinda hat ebenfalls keinen Beschützer. Warum wurde ihr dieser Vorschlag nicht unterbreitet?«
Die verwitwete Baroness warf ihren tadellos frisierten Kopf zurück und verzog missbilligend die Lippen. »Ich bin ohne meinen lieben Archibald, weil er beschlossen hat, dass er seiner Frau ab der Heirat treu bleiben würde. Er sagte, nachdem er dieses Buch gelesen hatte, sei er sicher gewesen, dass er keine Geliebte mehr brauchen würde und dass seine Frau sicherlich alle seine Bedürfnisse erfüllen würde. Wenn Männer anfangen, so etwas Unwahrscheinliches zu denken, was wäre dann mit uns Witwen, die kein Interesse mehr an der Ehe haben, sich aber nach der Freiheit sehnen, einen Liebhaber zu haben, der ihnen jederzeit zur Verfügung steht?«
Amalie stellte ihr Weinglas mit einem Klirren auf den langen französischen Rokokotisch. »Ich glaube kaum, dass es eine Rolle spielen sollte, dass dein Lord beschlossen hat, dich nach seiner Heirat fallen zu lassen, Melinda. Als wir unseren Club gründeten und gemeinsam unseren verruchten Machenschaften frönten, waren wir alle übereingekommen, niemals einen Liebhaber zu nehmen, der bereits verheiratet ist, und auch nicht zu versuchen, an ihm festzuhalten, falls er sich danach eine Ehefrau nimmt. Als wir verheiratet waren, hatten unsere Ehemänner Geliebte, und das gefiel uns nicht. Hast du das vergessen, Darling?«, fragte sie sanft.
Melindas Unterlippe zitterte und es kostete sie sichtlich Mühe, ihre Gefühle zu unterdrücken. »Ich habe es nicht vergessen.« Sie schluckte und in ihren hellblauen Augen schwammen Tränen.
Sie strich über ihre elegante Frisur, wohlwissend, dass keine Strähne ihres blonden Haares fehl am Platz war. Melinda senkte die Hände, faltete sie im Schoß und hob das Kinn, um den Blicken ihrer Freundinnen zu begegnen. »Aber ich hatte gehofft … ich hatte inständig gehofft, dass er mich heiraten würde.«
Eine gedämpfte Stille breitete sich über ihrer kleinen Gruppe aus. Oh, Melinda.
Sie hob tapfer das Kinn. »Aber Archibald glaubt jetzt, dass er mich nicht braucht. Dieses verdammte Buch hat ihn glauben lassen, dass eine Debütantin seine fleischlichen Bedürfnisse befriedigen würde. Wie grässlich albern! Wie kann eine Frau mit affektierten Manieren und Unerfahrenheit ihn auf eine Art befriedigen, die mir nicht möglich ist?«
Mit einem gereizten Schnauben stand sie auf und ging zum Sideboard, um Brandy in ein Glas zu gießen.
Amalie nippte an ihrem Wein. »Nun, ich muss den Autor von Ein Leitfaden für leidenschaftliche Begegnungen zwischen einem Lord und seiner Lady wohl kaum verführen. Wenn ein solches Anliegen wirklich von Bedeutung ist, müssen wir nur das Buch lesen, um zu sehen, was er vorschlägt … und es tun!«
Melinda schluckte den Inhalt ihres Glases in einem langen, undamenhaften Schluck hinunter. »Ich habe es gelesen und ich wage zu behaupten, dass es dort nichts gibt, was ich nicht mit meinem Archibald gemacht habe. Nichts.« Diesen Teil sagte sie mit einem traurigen Seufzer und einem reumütigen Verziehen ihrer vollen Mundwinkel. »Ich dachte wirklich … er hätte mich geheiratet, aber es scheint, dass der Skandal, der um meinen Namen schwebt, für immer bleiben wird.«
Einer der Gründe, warum sie vor einigen Jahren zusammenkamen, war die Tatsache, dass die Gesellschaft ihnen ihre vermeintlichen Verfehlungen nicht verziehen hatte. Welcher Skandal auch immer sie in der Vergangenheit erschüttert hatte, er blieb wie hartnäckiger Schmutz auf makellos weißen Handschuhen haften.
Der ton war eine Welt glamouröser Eleganz und verschwenderischer Extravaganz, doch in ihrem Inneren lauerten eine hässliche Wankelmütigkeit und eine unversöhnliche Natur. Mit den Namen all ihrer Freundinnen war ein Skandal verbunden, und sie hatten eine nette Gruppe gebildet, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie hatten echte Freundschaften geschlossen, die ihnen geholfen hatten, gemeinsam so viel durchzustehen.
Amalie seufzte. Tatsächlich gab das Buch den Männern die Erlaubnis, ihre Frauen so zu behandeln, wie sie es sich sonst nur bei einer Geliebten erlauben würden. Die meisten Leute des ton hielten dies für den unfeinsten und skandalösesten Ratschlag. Sie fand es eher … romantisch.
Sehr süß und romantisch.
Für sie war klar, dass der Autor an Treue und vielleicht auch an Liebe glaubte, denn er hatte seinen Standesgenossen gegenüber sehr ausführlich und kunstvoll geschildert, wie sündig sie sich bei ihren Ehefrauen verhalten konnten. Sinnliche Spiele und Annäherungsversuche, die das Bedürfnis nach einer anderen Frau, die sie befriedigte, zunichtemachen würden. Natürlich hatte es die abgestumpften Sinne der Herren und Damen der Gesellschaft schockiert, erregt … und fasziniert, denn viele glaubten, Ehefrauen seien zarte Wesen und die niederen Bedürfnisse der Männer sollten zwischen den Beinen leidenschaftlicherer Frauen – Huren und Mätressen – befriedigt werden. Vornehme Ehefrauen waren nicht dafür geschaffen, die niederen Triebe der Männer zu befriedigen.
Natürlich völliger Blödsinn.
Sie wedelte abweisend mit den Händen. »Ich glaube kaum, dass ein Mann, der so sehr auf eine gute Beziehung zwischen Mann und Frau bedacht ist, an einer Geliebten interessiert wäre«, meinte Amalie. »Er ist seit fast sieben Monaten der neue Lord Kentwood und die einzigen Gerüchte, die sich um seinen Namen ranken, besagen, dass er der Autor dieses unanständigen Buches ist.«
Bess nippte an ihrem Wein, in ihren haselnussbraunen Augen lag ein teuflisches Funkeln, und sie murmelte: »Vielleicht keine Mätresse, keine Frau, die er unterstützen würde, aber vielleicht eine Geliebte, meine Liebe. Du bist eine finanziell unabhängige Frau und brauchst keinen Mann, der dich versorgt. Aber du brauchst einen, um dein Bett zu wärmen«, sagte sie provokativ. »Wie lange ist es her, fünf Jahre?«
Amalies Herz hämmerte gegen ihr Brustbein. Länger. Ein heißer Schauer durchfuhr sie, als sie sich an zarte Finger erinnerte, die fest über das schmerzende Fleisch zwischen ihren Beinen rieben. Er hatte ihre nackte Haut nicht berührt … aber sie durch den Stoff ihres Nachthemds und ihrer Unterhose gestreichelt und sie so beschämend feucht gemacht. Wie sie erbebt und gezittert hatte, bevor dieses flüchtige Gefühl verschwunden war.
Dieser Mann … ein Junge, in den sie sich verliebt hatte, war der Einzige gewesen, der jemals Lust in ihrem Körper geweckt hatte, auch wenn diese unerfüllt geblieben war. Und dieser Junge hatte sich von dem sorglosen und charmanten jungen Mann, den sie gekannt hatte, in den rätselhaften Earl of Kentwood verwandelt.
Oh, Max. Sie schloss kurz die Augen und hasste es, sich an die Wut und den Ekel zu erinnern, die in seinen Augen gestanden hatten, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Selbst wenn sie eine Freundschaft mit ihm wieder aufleben lassen wollte – eine Erinnerung an jene kostbare, die sie vor Jahren geschlossen hatten –, er hatte sich verändert. Sie konnte nicht erwarten, dass er derselbe liebenswürdige, gut gelaunte und zuvorkommende Junge war. Und vielleicht hatte auch sie sich verändert. Amalie sah in der Frau, die sie im Spiegel anstarrte, nicht mehr das schüchterne, naive Mädchen. Sie sah nicht das dumme Mädchen, das sich danach gesehnt hatte, die ganze Nacht auf Bällen zu tanzen oder mit einem Verehrer unter den Sternen im Garten spazieren zu gehen und auf einen schnellen Kuss auf die Wange zu hoffen.
»Ich werde darüber nachdenken.« Amalie lächelte strahlend, was ihre Freundinnen nicht im Geringsten täuschte.
»Bitte tu mehr, als nur darüber nachzudenken«, sagte Carlotta, die Witwe eines Marinekapitäns. Das war ihr größter Skandal gewesen: Sie hatte es gewagt, mit dem Hauptmann durchzubrennen, obwohl sie die Tochter eines Herzogs war und viel mehr von ihr erwartet wurde.
Die stolze und hinreißend schöne Lady Carlotta ist gefallen … in den Schlamm. Und das ausgerechnet mit einem Marineoffizier. Das war die erste schreiende Schlagzeile gewesen, die ihre Entscheidungen und ihren Ruf verurteilt hatte.
Carlotta strich sich ein paar Strähnen ihres silberblonden Haares hinters Ohr und ihre dunkelgrünen Augen leuchteten vor überraschender Sorge. »Wir haben zwar alle das Buch des Earls gekauft, aber die Nähe zur Quelle dieses Wissens wäre von unschätzbarem Wert. Bess, Julianna und ich haben Liebhaber, in die … in die wir uns, das wage ich zu behaupten, verliebt haben, obwohl wir fest entschlossen waren, unsere Herzen zu schützen. Es ist nicht falsch, wenn wir alles darüber wissen möchten, wie wir sie zufrieden und an unserer Seite halten können. Hoffentlich machen sie uns trotz unserer Missgeschicke Anträge.«
»Es ist nicht falsch«, flüsterte Amalie und ihr brach das Herz für ihre Freundinnen.
Nur wenige Männer in der Gesellschaft würden eine Witwe heiraten, wenn diese durchaus als Geliebte geeignet wäre. Insbesondere Witwen, die diesen Herren nicht gezeigt hatten, dass ihr größter Schatz, wie es die Gesellschaft vorschrieb – ihre Gebärmutter – Früchte getragen hatte, und deren Ruf durch vernichtende Skandale dauerhaft geschädigt worden war.
In ihrer lebensfrohen und verwegenen Schar von Freundinnen war Bess die Einzige mit einem Kind – einer hinreißenden sechsjährigen Tochter. Sie waren unter dreißig Jahre alt und würden wahrscheinlich unverheiratet bleiben. Amalie war klar geworden, dass nicht all ihre Freundinnen danach strebten, die Unabhängigkeit zu bewahren, die ihnen ihre Witwenschaft ermöglichte. Da war immer noch dieses überwältigende Bedürfnis nach einer Familie … eigenen Kindern, einer Liebe, die jedem Sturm standhalten konnte. Und dieses strahlte nun auch in Melinda und Carlotta. Selbst Julianna wirkte ein wenig wehmütig.
Und was möchte ich?
Amalie verfügte über eine wunderbare finanzielle Unabhängigkeit. Ihr verstorbener Ehemann, mit dem sie etwas mehr als zwei Jahre verheiratet war, hatte ihr eine beträchtliche Witwenrente von fünftausend Pfund pro Jahr, ein Stadthaus ohne Eigentumsrechte am Berkley Square, eine Kutsche und Pferde, einen Phaeton und sogar ein bescheidenes, aber wunderschön gelegenes, charmantes Cottage mit zehn Schlafzimmern in Derbyshire hinterlassen.
Trotz des Skandals, der sie nach dem Tod ihres Mannes umgeben hatte, pflegte sie eine enge Beziehung zu seinem Sohn, dem neuen Lord Weatherston, der die Stadt mit seinen üblen Manieren in Aufruhr versetzt hatte. Der Mann hatte ihr vor einigen Monaten erklärt, dass er nicht die Absicht hegte, sich mit einunddreißig Jahren häuslich niederzulassen.
»Findest du nicht auch, Stiefmutter?«, hatte er sie spöttisch genannt, obwohl er genau wusste, dass sie sechs Jahre jünger war als er. Was sie jedoch an James mochte und bewunderte, war, dass er trotz seiner Vorliebe für Glücksspiel und Frauen seine Ländereien recht erfolgreich verwaltete und Geschick bei Investitionen bewies.
Doch er selbst hatte keinen guten Ruf. Im ton kursierte das Gerücht, er habe eine Debütantin ruiniert. Man hatte gesehen, wie James das Mädchen leidenschaftlich küsste, aber er hatte sie nicht aufgesucht, um ihr einen Heiratsantrag zu machen.
»Ich glaube, du solltest deine Gedanken auf dein eigenes Glück konzentrieren, anstatt dich in meine Angelegenheiten einzumischen«, war eine weitere seiner bissigen Antworten, nachdem sie ihn aufs heftigste gescholten hatte.
Mein eigenes Glück. Was für eine faszinierend ungezogene Vorstellung.
Wieder tauchte vor ihrem inneren Auge dieser Blick auf – grau, verwegen, zugleich zärtlich und verlangend. Ihr schnürte es die Kehle zu, als sich dieser blitzartig vor Wut und Abscheu verdunkelte.
»Das nächste Thema auf unserer Tagesordnung.« Jules, die Witwe des Earl of Darby, lächelte strahlend. »Mein sündhafter Maskenball! Ich möchte, dass unsere Kostüme unglaublich attraktiv sind … und schockierend. Wenn sie nach Hause gehen und anschließend in den Skandalblättern über unsere rasche und launische Natur spekulieren, wird das ein noch größerer Skandal sein als die Schlagzeile des letzten Jahres.«
Ein Ereignis, das sie nur arrangierte, um ihren Vormund – den mächtigen und widerspenstigen Lord Pembroke – zu schockieren. Wie sehr es Julianna ärgerte, dass immer noch jemand ihr Geld verwaltete, obwohl sie Witwe war. Mit dreiundzwanzig war sie das jüngste Mitglied ihrer Gruppe. Ihren Mann hatte sie nur wenige Monate nach ihrer Hochzeit mit neunzehn an ein Fieber verloren. Seit jenem Tag führte sie – bis sie fünfundzwanzig wurde – einen stillen, hartnäckigen Krieg gegen den Mann, der gekommen war, um Ordnung in ihr Leben zu bringen. Auf Juliannas Partys waren alle Arten von Unmoral erlaubt, und das hatte in erster Linie das Ziel, den durchaus korrekten Marquess of Pembroke zu verärgern.
Unter fröhlichem Gelächter und dreistem Geplänkel wandte sich das Gespräch Jules’ berüchtigtster und exklusivster jährlicher Party zu, zu der viele Lords und Ladies sehnlichst hofften, eingeladen zu werden. Doch Amalies Gedanken waren erfolgreich zerstreut worden. Wie wäre es, unter einem Mann zu liegen, der während seiner Zeit im Ausland solch wunderbare Fähigkeiten erworben hatte? Wie wäre es, ausgezogen und auf Laken gelegt zu werden und mit leichten Berührungen und Zungenschlägen gereizt zu werden, so wie er in seinem Buch den Ehemännern befahl, die ›Muschi‹ ihrer Frauen vorzubereiten?
Plötzlich wurde sie von einer verzweifelten Sehnsucht erfüllt, die ihren gesunden Menschenverstand zu überwältigen drohte. Amalie gestand sich ein, dass sie, wenn sie jemals den Mut aufbringen würde, Max über den Weg zu laufen, dies nicht tun würde, weil ihre Freundinnen es wollten … sondern um eine Freundschaft zu kitten, von der sie lange geglaubt hatte, sie sei nicht mehr zu retten. Möglicherweise war es eine törichte Hoffnung, doch sie hatte sich in ihrem Herzen festgesetzt. Und was noch beunruhigender war: War es nicht Max gewesen, von dem Amalie in einsamen Nächten geträumt hatte? Vielleicht war der Vorschlag ihrer Freundinnen doch nicht so närrisch. Sie hatten lediglich die Wünsche, die sie tief in ihrem Herzen trug, angestoßen und sie mit schockierender Intensität an die Oberfläche gebracht.
Oh, Max, wie könnte ich es wagen, dich anzusprechen?
Kapitel 2
Nur wenige Stunden nach dem Treffen mit ihren Freundinnen überreichte Amalie dem Butler am Eingang des Mitternachtsballs der Gräfin von Rushworth ihren Umhang. Sie begrüßte Bess, die ein bezauberndes rosafarbenes Kleid mit einem sehr freizügigen Dekolleté trug, als sie bei ihr ankam. Sie unterhielten sich, während sie die Treppe hinuntergingen, die zum Zentrum des Balls führte. Mit eleganter Energie wirbelten Lords und Ladies zu den sinnlichen Klängen eines Walzers über die Tanzfläche. Gespräche und Gelächter lagen in der Luft und der Champagner floss in Strömen.
Dennoch schoss keine Welle der Aufregung durch ihre Adern. Amalie erinnerte sich an das allererste Mal, als sie mit siebzehn zu ihrem Debüt nach London geschickt wurde, und wie geblendet und beeindruckt sie von allem gewesen war. Es waren zwar nur acht Jahre seitdem vergangen, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
»Also«, Bess beugte sich näher, »hast du noch einmal über unseren Vorschlag nachgedacht?«
»Das habe ich.«
»Und?«, fragte ihre Freundin mit hochgezogener Augenbraue.
»Ich könnte … eine erneute Bekanntschaft anstreben.« Sie lächelte, wohl wissend, wie geheimnisvoll sie wirkte.
Bess sog die Luft ein und griff nach ihren behandschuhten Fingern. »Eine erneute Bekanntschaft? Wann hast du Lord Kentwood kennengelernt, und warum erfahre ich erst jetzt davon?«
Amalie legte ihre Hand um den Arm ihrer Freundin und ignorierte die Herren, die ihr einladend zulächelten. So viele von ihnen hatten ihr im Laufe der Jahre skandalöse Anträge unterbreitet, und sie hatte zu ihrer großen Enttäuschung alle ihre Annäherungsversuche zurückgewiesen. Sie hatte sich dadurch den Ruf erworben, unerreichbar – aber auch eine aufregende und anspruchsvolle Geliebte zu sein. Je reißerischer die Gerüchte wurden, desto maßloser wurden ihre Eroberungen und desto mehr wuchs ihre Gleichgültigkeit gegenüber ihrem lächerlichen Streben.
Anfangs war es einigermaßen amüsant gewesen, doch in dieser Saison empfand Amalie nur Langeweile und das beängstigende Gefühl, allein auf der Welt zu sein. »Ich … ich habe dir, meine liebe Bess, von der Begegnung mit dem Mann in meinem Schlafzimmer vor fünf Jahren erzählt.« Hitze strömte in ihr Gesicht.
Bess’ Augen weiteten sich vor fassungsloser Überraschung. »Es war Lord Kentwood?«
»Ja. Aber damals war er einfach Mr Maximilian Langdon. Ein Freund … ein Junge … ein Junge, den ich von ganzem Herzen geliebt habe.« Es erforderte so viel, diese Wahrheit zuzugeben, und noch mehr Mut, Bess in die Augen zu sehen, als sie sie zum Stehen brachte.
»Oh, Amalie, es tut mir so leid. Du musst am Boden zerstört gewesen sein, als er ohne ein Wort gegangen ist.«
Sie hatte ihrer Freundin die gesamte Situation rund um ihren schrecklichen Skandal erzählt, aber nie verraten, dass der Mann in ihrem Zimmer Max gewesen war. »Ich vermute, du hast Jules, Thea und Melinda zugestimmt, dass ich den Earl wegen meines Versprechers letzte Woche verführen sollte.« Sie holte tief Luft. »Ich liebe dich dafür, dass du an mich denkst, Bess, und ich gebe es zu, ich bin furchtbar einsam, furchtbar gelangweilt und desillusioniert von den Frivolitäten der Saison.« Und vielleicht auch vom Leben im Allgemeinen. Genauso wie in der letzten Saison und in der davor.
Obwohl sie mehrere Wohltätigkeitsorganisationen unterstützte und aufregenden Hobbys nachging – Bogenschießwettbewerben, Angeln und Malen – fehlte ihr etwas, und frustrierenderweise konnte sie nicht erkennen, was sie brauchte, um diese Leere zu füllen. Die Beziehung zu ihren Eltern war angespannt und es bestand wenig Hoffnung auf eine Besserung. Eine Heirat kam für sie schon lange nicht mehr in Frage und sie sehnte sich nicht danach, da Amalie die Herausforderungen ihrer Situation verstand. Kein Gentleman von Rang, Vermögen und Ansehen würde eine Frau mit einem derart befleckten Ruf um ihre Hand bitten.
Ihre wohlmeinenden Freundinnen hatten sie jahrelang ermutigt, sich einen Liebhaber unter den geeigneten Herren des ton zu suchen. Viele Witwen hatten solche Vereinbarungen, darunter auch ihre Freundinnen. Obwohl jeder aus unterschiedlichen Gründen eine affaire de coeur einging – etwa weil sie sich an vergangene Freuden nicht mehr erinnern konnten, weil sie einsam waren oder weil sie finanzielle Sicherheit brauchten.
»Ich weiß, dass Max … Lord Kentwood seit ein paar Monaten wieder in der Stadt ist, und ich habe die Veranstaltungen gemieden, von denen ich dachte, er würde sie besuchen.«
»Unsinn.« Bess‘ Augen blitzten. »Du hättest es mir eher sagen sollen.«
»Vielleicht«, erwiderte sie und drückte leicht die Hand ihrer Freundin. »Aber ich glaube, ich werde versuchen, die Freundschaft wieder aufleben zu lassen.«
Da … sie hatte es gesagt! Eine Mischung aus purer Angst und Aufregung durchströmte ihre Adern, die Mischung der widerstreitenden Gefühle ließ ihr Herz rasen. »Vielleicht eine mit Küssen …«, murmelte sie mit einem leichten Lachen.
In diesem Moment ging ein Raunen durch die Menge, und als sie sich umdrehte, sah sie genau den Teufel, von dem sie gesprochen hatten, mit Countess Rushworths Sohn George, Viscount Bramwell, die Treppe herunterkommen. Es kam selten vor, dass einer dieser beiden in den Skandalblättern erwähnt wurde, ohne dass der andere ebenfalls genannt wurde. Amalie fragte sich beiläufig, wann sich Max und der Viscount so eng angefreundet hatten.
»Meine Güte«, murmelte Bess bewundernd. »Er ist ziemlich gut aussehend, nicht wahr? Und dabei so unglaublich anziehend, wenn man seine Erfahrung in Liebesdingen bedenkt!«
Und es war dieses Wissen um seine angeblichen Fähigkeiten, das viele Frauen dazu brachte, ihre Fächer aufzuklappen und sie heftig zu benutzen. Die Gesellschaft hatte ihn als Casanova abgestempelt, und von der unschuldigen jungen Frau bis zur erfahrensten Kurtisane schien jeder im Ballsaal mit diesem Mann unter die Laken schlüpfen zu wollen!
Seine Kleidung war perfekt auf seinen schlanken, anmutigen Körperbau zugeschnitten und er machte in seiner schwarzen Hose, der gut sitzenden, dazu passenden Jacke und einer exquisit gestalteten blauen Weste eine wahrhaft schneidige Figur. Mitternachtsschwarzes Haar betonte seine schlanken, starken Gesichtszüge und selbst Amalie musste zugeben, dass er ein auffallend gut aussehender Mann war.
Er war die Art Mann, von dem sich jede tugendhafte junge Dame fernhalten sollte, doch Lady Emily ließ absichtlich ihr Spitzentaschentuch fallen, als er sich näherte.
Sie kicherte und klimperte mit ihren schönen Wimpern, als er es aufhob und ihr reichte. Er übte eine enorme Anziehungskraft auf die Damen aus, denn er war der Meinung, dass Ehefrauen Vergnügen haben sollten … dass solche Abenteuer nicht nur Mätressen vorbehalten sein sollten.
Max machte die Runde. Viele Damen näherten sich schamlos dem Earl und er schien jeder von ihnen nachzugeben. Doch sie konnte an seinem Gesichtsausdruck nicht erkennen, ob er die Aufmerksamkeit besonders genoss oder ob er gelangweilt war. Seine Miene war betont neutral, und ihr kam der Gedanke, dass Lord Kentwood lediglich höflich war.
»Wirst du zu ihm gehen?«, fragte Bess leise.
»Um ihn herum ist eine Schar Damen«, entgegnete sie mit einem erstaunten Lachen. »Selbst die Männer lauern ihm auf. Ich kann es nicht glauben.«
Bess beugte sich näher zu ihr. »Ich denke, dass sein Buch vielleicht für viele funktioniert. Ich habe gehört, dass Lady Shelton und ihr Mann in letzter Zeit ein sehr gutes Verhältnis hatten und dass er seiner Geliebten, mit der er sechs Jahre lang zusammen war, sogar den Laufpass gegeben hat! Den Gerüchten zufolge strebt er auch keinen Ersatz für diese Geliebte an, sondern widmet seine romantischen Bemühungen seiner Frau. Ich finde das alles unglaublich entzückend!«
Dies sagte sie so wehmütig, dass Amalie ihren Blick von dem Mann losriss und ihre Aufmerksamkeit ihrer Freundin zuwandte.
»Bess«, begann Amalie zaghaft. »Hast du keine … Freude an deiner Zeit mit Lord Deveraux?«
Der derzeitige Beschützer ihrer Freundin wirkte zwar etwas kühl und distanziert, doch angesichts der Tatsache, dass der Mann seine Leidenschaft mit einer Mätresse auslebte, hatte sie erwartet, dass er auftauen würde, sobald er seine Geliebte in die Arme schloss. Bess war nun seit sechs Monaten mit ihm zusammen und Amalie dachte, dass ihre Freundin mit Lord Deveraux glücklich war.
Eine heftige Röte überzog Bess’ ganzen Körper und sie holte tief Luft. »Darüber werden wir hier nicht sprechen!«
Sie klappte ihren Fächer auf und wedelte ihn mit einigem Elan. »Ich kann Jules sehen, die sich in die Gärten schleicht. Ich habe einige Fragen zum diesjährigen Maskenball. Überleg dir, wie du Lord Kentwoods Aufmerksamkeit erregen könntest, wenn jede einzelne Frau in London entschlossen zu sein scheint, die nächste Geliebte dieses Mannes zu werden.«
Dann huschte sie durch die Menge, bevor Amalie eine passende Antwort finden konnte. Seufzend sah sie sich um, doch weder Max noch sein Freund waren irgendwo auszumachen. Sich ihm zu nähern musste warten, bis sie ihn allein erwischen konnte.
Traue ich mich wirklich, auf ihn zuzugehen?
***
»Ich bitte um Verzeihung?«, fragte George, Viscount Bramwell, einen schockierten Ausdruck auf dem Gesicht. Sogar seine braunen Augen wirkten glasig, als hätte er zu viele Drinks gehabt, aber Max wusste, dass das Glas in seiner Hand sein erstes an diesem Abend war. »Du bist was?« Die Worte brachen in einem scharfen und sehr untypischen Keuchen aus Georges Mund hervor.
Maximilian Langdon, Lord Kentwood – Max für seine engen Freunde und Verwandten –, runzelte die Stirn über das schlecht verhohlene Erstaunen seines Freundes. Er trommelte mit den Fingern auf dem dicken Polster des Ohrensessels, auf dem er saß, und riss seinen Blick von Georges fassungslosem Gesicht los. Max neigte den Kopf zur Decke und fragte sich, ob es richtig war, seinen Freund ins Vertrauen zu ziehen.
Max hatte beschlossen, sich eine Geliebte zu suchen, und war davon ausgegangen, dass sein Freund, der ein echter Casanova zu sein schien, ihm einige weise Ratschläge geben könnte. Es war wirklich lächerlich, dass der ganze ton glaubte, dass er wahnsinnig gut im Liebesspiel war, und dass die Damen in Scharen zu ihm strömten, aber er war sich nicht sicher, was er tun sollte, um eine von ihnen zu verführen und davon zu überzeugen, seine Geliebte zu werden. Begann es mit kunstvollen Gesprächen oder unerlaubten Berührungen? Wollte er überhaupt eine Frau? Doch in ihm brannte ein namenloser Hunger, und in Max’ Augen hatte er alles, außer jemanden zum Berühren, Halten, Küssen und Lieben.
»Du hast mich gehört.« Es gefiel ihm nicht, dass sich sein Herz ein wenig zusammenzog und dass ein schweres, unangenehmes Gefühl in seinem Magen drückte.
»Habe ich nicht«, murmelte George, leerte sein Glas Brandy in einem großen Schluck, schnappte sich die Karaffe auf seinem Schreibtisch und füllte es rasch wieder auf. »Ich kann nicht ernsthaft gehört haben, wie mein bester Freund und einer der begehrtesten Liebhaber Londons gesagt hat, dass er …« George erstickte an einem schmerzerfüllten Keuchen. »Ich kann es wirklich nicht sagen! Es ist blasphemisch.«
»Ich bin Jungfrau«, sagte Max trocken.
»Eine Jungfrau«, wiederholte George schwach. »Wie eine Person, die noch nie sexuelle Beziehungen mit einer Frau oder einem Mann hatte?«
Max nippte ruhig an seinem Brandy. »Ja.«
Sein Freund kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ist das wieder einer von Simons ausgefallenen Streichen und du machst tatsächlich mit?«
»Mein Gott, Mann, sei kein Arsch, warum sollte ich so tun, als hätte ich noch nie eine Frau gevögelt?«
Georges Kiefer lockerte sich und er sog scharf die Luft ein. »Geht es um einen Mann –«
»Verdammt noch mal!«, blaffte Max und sprang auf die Füße. Plötzliche rastlose Energie durchfuhr ihn. »Ich fühle mich nicht zu meinem eigenen Geschlecht hingezogen. Aber wie dem auch sei, ich hatte nie eine Geliebte.«
Irgendetwas in seiner Stimme musste seinen Freund endlich erreicht haben, denn George starrte Max nun verwundert an.
»Ist es etwas Religiöses?«
»Nein.«
»Du hast ein Keuschheitsgelübde für jemanden abgelegt, den du liebst?«
»Nein.«
»Aber du bist siebenundzwanzig.«
»Das ist mir bewusst.« Max stöhnte und schloss resigniert die Augen. »Vergiss, dass ich es erwähnt habe«, sagte er tonlos und stürzte seinen Drink in einem einzigen Schluck hinunter. »Ich kann deine idiotischen Reaktionen nicht mehr ertragen.«
»Also gut.« George stieß ein gereiztes Grunzen aus. »Ich glaube dir. Ist dir klar, dass du, wenn das herauskommt, das Gespött von ganz London sein wirst? Ich bin sicher, der Skandal würde sogar den Kontinent erreichen.«
Max lächelte. »Du übertreibst. Ich habe dich nur informiert, weil ich daran denke, mir endlich eine Geliebte zu suchen.«
Erleichterung leuchtete in Georges Augen auf. »Gott sei Dank!«
Dem Viscount schien noch etwas anderes eingefallen zu sein, und es fiel ihm offensichtlich schwer, das auszusprechen, was auch immer es war.
Max seufzte. »Was ist los, George?«
»Du hast das Buch geschrieben. Moment … du warst es doch, der es geschrieben hat, richtig?«
»Ja, das war ich«, antwortete er mit einer gewissen Verzweiflung. Wenn sein guter Freund auf diese Weise reagierte, wollte Max sich nicht vorstellen, wie sich die Gesellschaft verhalten würde. Doch jedes Mal, wenn er über ihre mögliche Reaktion nachdachte, wurde ihm klar, dass ihm ihre Wankelmütigkeit letztlich gleichgültig war.
Wenn ihm nur im Traum eingefallen wäre, er würde Earl werden, hätte er dieses verdammte Buch vielleicht nicht geschrieben. Dieses verdammte Buch! Ein Moment des Wahnsinns, in dem er vor seinen Freunden damit geprahlt hatte, dass alle Frauen fleischliche Wesen seien und es unglaublich dumm sei, eine Ehefrau anders zu behandeln als eine Geliebte im Bett. Was als Mutprobe begonnen hatte, war zum Fluch von Max’ Existenz geworden.
In der Ferne hörte er das gedämpfte Klirren von Champagnergläsern, die Streicher des Orchesters, das einen Walzer spielte, und fröhliches Lachen und Plaudern. Ein Ball sollte Spaß machen, aber der Gedanke, sich wieder ins Getümmel zu stürzen, war ihm unerträglich. Seit seiner Ankunft im Gedränge hatte er drei Damen der Gesellschaft abgewehrt, die mit ihren Fingern am Revers seines Gehrocks verweilten. Die Mutigste unter ihnen, eine Freundin der Countess, hatte ihm mehrmals verführerisch zugelächelt, doch das anzügliche Lecken ihrer Lippen ließ ihn kalt und er war zutiefst verärgert über sich selbst. Zum gefühlt hundertsten Mal stellte er seine Entscheidung, sich eine Geliebte zu nehmen, in Frage, da er so wenig Interesse an den Frauen hatte, die ihn in ihr Bett eingeladen hatten.
Das Gespräch, das er vor mehreren Monaten mit George und einigen anderen Freunden in genau diesem Raum geführt hatte, kam ihm wieder in den Sinn.
»Ehefrauen sind fügsame, leidenschaftslose Geschöpfe«, hatte Simon, Lord Cornick, ausgerufen. »Ich sollte es wissen … ich bin seit drei Jahren verheiratet!«
»Dieses Buch wird scheitern«, hatte ein anderer gemurrt.
»Ich denke«, hatte George gesagt, »dass es viele Herren natürlich aus purer, unkontrollierter Neugier kaufen werden, aber keiner würde die abenteuerlichen Stellungen mit seiner Ehefrau ausprobieren. Den vornehmen Damen ist es nicht gestattet, solche ausschweifenden Freuden zu empfinden.«
»Doch, das ist es«, hatte Max widersprochen. »Jeden unanständigen Kuss, den du deiner Geliebten gibst, kannst du auch deiner Frau geben, und jeden vorsichtigen Kuss und jede Liebkosung, die du deiner Frau gewährst, kannst du deiner Geliebten geben!«
»Sag, dass das nicht stimmt, Mann!«, hatte Lord Benoit ausgerufen. »Ich bin verheiratet und liebe meine Laura von ganzem Herzen, aber ich könnte sie niemals mit meinen groben Bedürfnissen und Wünschen beschämen. Das muss ich mir für meine Geliebte aufheben.«
Max hatte verächtlich geschnaubt. »Haben deine Geliebte und deine Frau nicht die gleiche anatomische Form? Dieselben Brüste, denselben Bauch und die gleiche Möse? Haben beide eine Klitoris und erogene Zonen?«
Sie hatten ihn in nachdenklichem Schweigen angestarrt.
»Ja«, hatte George gesagt, »aber sie haben doch sicherlich unterschiedliche Empfindsamkeiten, und das muss bei unserer Überlegung ganz oben stehen, wenn wir mit ihnen ins Bett gehen.«
»Ihr seid bescheuert«, hatte Max gespottet. »Ich werde alles aufschreiben, was ich auf meinen Reisen gelernt habe, und ihr werdet schon sehen!«
»Wir nehmen dich beim Wort!«, hatten sie einstimmig erwidert.
Nach diesem Gespräch war er zum Verlag marschiert – und nur wenige Wochen später wurde sein Buch veröffentlicht. Natürlich nicht unter seinem echten Namen, doch selbst diese kleine Täuschung flog auf, und man identifizierte ihn peinlicherweise als den Autor. Die Welle, die ihn in den letzten zehn Monaten verfolgte, hätte er nie für möglich gehalten. Er wartete darauf, dass sich die Aufregung legte, doch niemand schien auf die Idee zu kommen, einfach ein Exemplar zu kaufen, es zu lesen und weiterzumachen. Nein, sie wollten immer noch darüber diskutieren, um weitere Hinweise bitten oder ihm zu seinem großartigen Durchbruch gratulieren! Und dieser verdammte Verleger druckte und inserierte und freute sich über die Summen, die er ihnen beiden einbrachte, obwohl er selbst das Geld nicht nötig hatte.
George rieb seine Hände aneinander, ein bisschen zu aufgeregt für Max’ Geschmack.
»Also willst du ein oder zwei Geliebte, die dein Bett wärmen.«
Oder vielleicht etwas Dauerhafteres, sinnierte er. Max war nicht immer der Earl gewesen. Nein, sein Vater war der dritte Sohn einer höchst angesehenen Familie gewesen, der diese enttäuscht hatte, indem er eine Tochter des Landadels geheiratet hatte, die weit unter ihrem Ansehen stand. Dennoch hatten sie Max’ Mutter nach einiger Zeit akzeptiert, und ihm und seinen Schwestern war die Eleganz des ton nie fremd gewesen. Seine Mutter hatte das gesellschaftliche Leben, das ihr als Frau des Sohnes eines Grafen offenstand, genossen. Selbst wenn er der dritte Sohn war.
Einer von Max’ Onkeln – der zweite Sohn – und sein Großvater waren einen Monat vor seiner Geburt gemeinsam bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen. Dann war Max’ Vater vor ein paar Jahren gestorben. Er hinterließ seine trauernde Frau, Max, seine neunzehnjährigen Zwillingssöhne und zwei Mädchen im heiratsfähigen Alter. Allerdings hatte Max’ Onkel – der Earl – obwohl er mit einer entzückenden Lady verheiratet war, zwei Töchter und keine männlichen Nachkommen gehabt, als er erst vor acht Monaten nach langer Krankheit verstarb.
Max hatte sogar gedacht, dass die Veröffentlichung seines Buches nur wenige Wochen zuvor dem Mann ins Grab geholfen haben könnte. Die Witwe seines Onkels hatte darüber unter Tränen gelacht und gesagt, der Earl sei schon seit einiger Zeit krank gewesen, und es sei ein wunderbarer Segen, dass sie ihn dennoch so lange bei sich hatten. Max hatte nicht gewusst, dass es so ernst war, und obwohl er seinem Onkel nicht sehr nahestand, war er tief betroffen.
»Oder eine Ehefrau«, sagte er schließlich und erinnerte sich an das Argument seiner Mutter und Schwestern, dass er früher oder später eine Frau brauchen würde, um den wichtigsten Teil seines Erbes zu erfüllen – einen Erben und einen weiteren Sohn für den Fall der Fälle zu haben. Oder, wie seine Mutter gesagt hatte: »Wenn man bedenkt, was mit deinen Onkeln passiert ist, brauchst du mindestens sechs Jungs, behaupte ich!«
Max hatte nichts gegen diese lächerliche Aussage seiner Mutter einzuwenden. Er war sich seiner Pflicht gegenüber seinem Titel und seiner Familie bewusst. Es war über einen Monat her, seit er erkannt hatte, dass er sich eine Frau und Kinder wünschte und dass sich sein schönes und kunstvoll eingerichtetes Heim langsam wie ein Zuhause anfühlen musste. Seine Mutter, seine älteste Schwester und seine beiden Brüder, die alle glücklich verheiratet waren und eigene Kinder hatten, fragten ihn immer wieder, wann er angesichts der neuen und sehr wichtigen Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete, endlich den Sprung ins häusliche Glück wagen würde.
Die Gewissheit, dass er lieber früher als später heiraten wollte, erfüllte sein Herz. »Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, sinnierte er leise.
»Was?«
»In dieser Saison eine Ehefrau zu finden.«