Kapitel 1
Stimmengewirr und Gelächter erfüllten das Café. Zufrieden ließ Bekki die Szenerie auf sich wirken. Selbst jetzt, am späten Nachmittag, waren immer noch alle Tische besetzt. Auf den in Pastellfarben lackierten Stühlen saßen zufriedene Gäste, tranken Cappuccino oder aßen Torte. Herrlicher Duft nach Kaffee und frisch gebackenem Kuchen erfüllte den Raum. Auch von der angrenzenden Terrasse erklangen Gespräche und das Klappern von Besteck auf Tellern.
Bekki stand hinter dem Tresen, genoss einen seltenen Augenblick der Ruhe und nippte an ihrem Latte macchiato. Wie sie ihren Job liebte! Wenn ihre Gäste glücklich waren, war sie es ebenfalls. Gesa, ihre Mitarbeiterin, kassierte gerade einen Tisch ab und scherzte mit den Besuchern. Als ein weiterer Gast sich suchend umsah und die Hand hob, ging Bekki hinüber.
„Wir möchten zahlen“, sagte der Urlauber, der mit Frau und zwei Kindern am Tisch saß.
„Sehr gern. Hat es Ihnen geschmeckt?“ Im Grunde erübrigte sich ihre Frage. Alle Teller und Tassen waren leer, die Familie wirkte zufrieden.
„Wie immer absolut köstlich“, antwortete die Frau, während der Mann zustimmend nickte. „Die Heidelbeer-Joghurt-Torte war ein Gedicht.“
„Das freut mich, vielen Dank.“ Lächelnd nahm Bekki den Geldschein entgegen und gab das Restgeld heraus.
Die Touristen standen auf und verabschiedeten sich. Nach und nach leerte sich das Café. Gesa räumte bereits das Geschirr von den Tischen auf der Terrasse und brachte es in die Küche.
Bald war nur noch ein Tisch besetzt. Eine dreiköpfige Familie, die ihren Urlaub regelmäßig auf Eiderstedt verbrachte und schon häufig hier eingekehrt war, leerte ihre Tassen. Während Bekki einen Tisch abwischte, bemerkte sie, dass der Ehemann sich umdrehte und ihr ein Zeichen gab.
„Ich komme!“, rief sie, legte das Tuch ab und ging zu ihm hinüber.
„Einmal zahlen, bitte“, erklärte er.
Rasch rechnete Bekki nach und nannte den Preis. Er kramte in seinem Portemonnaie.
„Der Eierlikörkuchen war megalecker“, lobte die Urlauberin im weißen Sommerkleid.
„Vielen Dank“, erwiderte Bekki. „Das freut mich sehr.“
„Zu schade, dass der Urlaub vorbei ist. Heute ist unser letzter Tag.“ Die Frau strich ihrem etwa siebenjährigen Sohn über den Kopf. Der Junge wirkte betrübt.
Bekki lächelte ihn an. „Zu Hause warten bestimmt deine Freunde schon auf dich, oder?“
Tatsächlich bewirkte die Erwähnung seiner Kumpels ein kleines Wunder. Freude blitzte in seinen Augen auf und er nickte. „Mit Ben, Leon und Hakan spiele ich immer Fußball. Ich bin der Mittelstürmer.“
„Das klingt großartig. Da wünsche ich dir viel Erfolg. Und Ihnen noch einen schönen Urlaubstag“, wandte sie sich an die Eltern und nahm vom Familienvater das Geld entgegen.
„Das machen wir auf jeden Fall. Stimmt so“, sagte er.
„Vielen Dank! Ich wünsche Ihnen morgen eine gute Rückreise.“
„Danke.“ Der Mann steckte sein Portemonnaie ein und stand auf. „Nächstes Jahr kommen wir bestimmt wieder.“
„Das wäre schön. Haben Sie bis dahin eine gute Zeit.“
„Sie ebenfalls“, wünschte die Frau und erhob sich ebenfalls. Auch der Junge kletterte vom Stuhl. Seine Traurigkeit schien verschwunden.
Mit einem letzten Winken wandte sich das Paar ab und verließ das Café.
Durch die offenstehende Haustür beobachtete Bekki, dass die Frau im Garten vor dem Haus noch einmal stehen blieb. Sie stellte sich mit ihrem Sohn neben die blau und pink blühenden Hortensienbüsche, während der Mann beide fotografierte. Malerisch säumten sie den Weg zum reetgedeckten Haus aus rotem Backstein mit dem hübschen Friesengiebel und der mit wunderbaren Drechselarbeiten verzierten, blau und weiß bemalten Eingangstür. An der Hausmauer erstreckten sich Blumenbeete, in denen die ganze Palette aus Sommerblumen ihre Farbenpracht zeigte. Gelbes Mädchenauge stand neben blauem Rittersporn, rosa Rosen blühten Seite an Seite mit weißen Margeriten und orangenen Ringelblumen.
Für den wunderbaren Garten war ihr Café Hildchens weithin bekannt und beliebt. Die bunten Blumen und blühenden Büsche waren ein beliebter Anziehungspunkt für viele begeisterte Gäste, unzählige Fotos waren dort entstanden.
Hildegard, liebevoll Hildchen genannt, war Bekkis verstorbene Urgroßmutter, die einst die Idee zu diesem Café gehabt und es eröffnet hatte. Und ihre Liebe zur Gartenarbeit schien sie an ihre Nachkommen vererbt zu haben.
Zufrieden wandte sich Bekki ab und begann, den Tisch abzuräumen. Die Teller und Tassen trug sie in die Küche. „Das war’s für heute“, sagte sie.
Ihre Oma Helga nahm das gewaschene Geschirr aus dem Geschirrspüler und stellte es in den Schrank. Dann sank sie mit einem Seufzer auf einen Stuhl und griff nach einem Wasserglas. „Ein Glück. Ich habe das Gefühl, dass mit jedem Tag immer mehr Gäste kommen.“ Sie trank durstig.
„Ja, auch heute war wieder sehr viel los. Wie üblich, würde ich sagen. Über Langeweile können wir uns nicht beklagen.“ Bekki lachte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. „So soll das ja auch sein, oder? Andersherum wäre es wirklich nicht das Wahre. Trotzdem tun mir die Füße weh.“
„Ich fand es heute auch besonders anstrengend.“
Besorgt musterte Bekki ihre Oma. „Du siehst müde aus. Was hältst du davon, wenn du schon mal hochgehst und dich ausruhst? Den Rest machen Gesa und ich allein fertig.“
Immerhin zählte ihre Oma schon vierundsiebzig Jahre, und im Grunde wäre sie längst in Rente.
„Unsinn, das musst du nicht“, wehrte die alte Dame ab. „Ich habe nur eine kleine Pause gemacht. Heute ist es so heiß, das vertrage ich nicht gut.“ Damit stand sie auf – und schwankte.
Sofort griff Bekki nach ihrem Arm und drückte sie sanft, aber bestimmt auf den Stuhl zurück. „Für dich ist heute Feierabend, Omi. Komm, ich bringe dich hoch. Und dann machst du es dir vor dem Fernseher gemütlich und rührst heute keinen Finger mehr.“
„Aber ich muss noch …“
Lächelnd hob Bekki ihren Zeigefinger. „Was habe ich gesagt? Keine Widerrede. Morgen ist ein neuer Tag, okay?“
„Na gut, du bist die Chefin.“
Wie sich das anhörte. Obwohl Bekki seit drei Jahren Besitzerin des Hauses und Herrin des Cafés war, erschien es ihr mitunter immer noch unwirklich.
„So gefällst du mir schon besser.“ Lachend half Bekki ihrer Oma aufzustehen und die Treppe in den Wohnbereich hochzusteigen, den sie sich teilten. Sie liebte sie über alles und machte sich Sorgen. Vor allem wünschte sie sich, dass die alte Dame keinen einzigen Tag mehr arbeiten sollte. Ihren Ruhestand hatte sie sich nach Jahrzehnten harter Arbeit mehr als verdient.
„Danke, Liebes, ich komme schon klar“, erklärte ihre Oma, als sie oben im Wohnzimmer angekommen waren. Ihr Gesicht verriet anderes – Oma Helga wirkte müde und abgekämpft, ihre Gestalt war gebeugt.
„Das geht so nicht weiter“, erklärte Bekki nicht zum ersten Mal und wartete, bis ihre Oma im Sessel Platz genommen hatte. „Ich kann das nicht länger von dir verlangen, Omi. Die Arbeit ist inzwischen viel zu schwer für dich. Gesa hilft schon, wo sie kann, aber du musst unbedingt kürzertreten. Ach, was sage ich … Im Grunde solltest du ganz aufhören. Ich werde nach einer zusätzlichen Aushilfe suchen.“
Und wie bisher noch jedes Mal erhob ihre Oma umgehend Einwände. „Das kommt gar nicht infrage! Die Kosten können wir uns sparen. Leg das Geld lieber für einen Notfall zurück. Was, wenn das Auto kaputtgeht, die Heizung oder der Kaffeevollautomat? Dann freuen wir uns über jeden Cent. Es geht mir doch schon wieder gut, Bekki. Morgen bin ich wieder fit, du wirst schon sehen.“
„Du kannst gern weiterhin deine himmlischen Kuchen oder Torten zaubern, Omi. Aber der ganze Abwasch überfordert dich. Die Hitze des Geschirrspülers, ständig das schwere Geschirr … Vorerst übernehme ich das allein. Keine Widerrede! Und zwischendurch höre ich mich nach einer weiteren Hilfe um.“
Munterer als erwartet sprang Helga auf. „Nein! Es tut mir gut, wenn ich etwas zu tun habe. Seit mein Werner nicht mehr …“ Sie hielt inne, senkte den Kopf und ließ sich wieder in den Sessel fallen.
Liebevoll ergriff Bekki die Hand ihrer Großmutter. „Ich weiß, er fehlt dir. Das geht mir genauso.“ Ihr Opa war vor knapp zwei Jahren an Nierenversagen gestorben. Sein Tod hatte ihrer Omi sehr zugesetzt. „Aber mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das zusammen hin, hörst du? Backe weiterhin deine Kuchen, doch sag es mir bitte ehrlich, wenn es dir zu viel wird. Und den Abwasch teilen wir uns. In Ordnung? Wenn ich gerade keine Gäste bedienen muss, übernehme ich das. Einverstanden?“
Müde lächelnd sah die alte Frau auf. „Ich bin einverstanden. Ach, wenn doch wenigstens Birgit noch hier wäre.“ Das war ihre Tochter, Bekkis Mutter. Sie hatte sich Hals über Kopf in einen Feriengast aus Bayern verliebt und war vor drei Jahren zu ihm gezogen. „Was ist bloß in sie gefahren, uns mit allem allein zu lassen?“ Helga nahm es ihrer Tochter übel, diesen Schritt gegangen zu sein, und hielt nicht viel von ihrem neuen Schwiegersohn.
„Ja, ich vermisse Mama auch. Aber sie hat ihre große Liebe gefunden, das ist doch wunderschön. So, und jetzt ruh dich aus, ja? Ich mache unten Klarschiff und dann ebenfalls Feierabend.“
„Ist gut. Bis nachher, Liebes.“
Zögernd ließ Bekki Omis Hand los, ging hinunter in die Küche und widmete sich dem restlichen Abwasch.
Nach kurzer Zeit steckte Gesa ihren Kopf hinein. „Ich bin fertig, alles ist bereit für morgen.“
„Super! Dann ab in den Feierabend mit dir.“
Gesa zögerte. Eine Strähne ihres rotblonden Haars hatte sich aus ihrem Dutt gelöst und hing ihr in die Stirn. „Brauchst du mich noch? Ich habe mitbekommen, dass es Helga nicht gut geht.“
Bekki schüttelte den Kopf. „Lieb von dir, aber nein, geh nach Hause. Wir sehen uns morgen wieder.“
„Danke! Bis dann.“
Während Bekki das Besteck polierte, dachte sie erneut darüber nach, wie sie die Arbeit schaffen sollte, falls Omi tatsächlich kürzertrat.
„Es wäre so schön, wenn du endlich den passenden Mann an deiner Seite hättest, der dich unterstützen kann“, sagte Omi oft.
Doch der war Bekki seit ihrer Trennung von ihrem Ex-Freund Torben vor drei Jahren noch nicht über den Weg gelaufen.
Seufzend wischte Bekki den Fußboden und fegte die Terrasse. Anschließend legte sie im Innenbereich frische Läufer auf die Tische und stellte je eine kleine Vase mit einigen Blumen dazu. Auf der Terrasse tat sie das erst am folgenden Morgen, falls es nachts ein Gewitter oder einen Regenguss geben sollte.
Nachdem das erledigt war, ging sie nach draußen in den vorderen Garten. Immer noch lag die Hitze des Tages in der Luft. Trotzdem atmete sie tief durch, erleichtert, dass der Feierabend nah war.
Prüfend betrachtete sie die in voller Blüte stehenden Hortensienbüsche, die ihr inzwischen beinahe bis zur Brust reichten.
Langsam ging sie an den Beeten entlang, zupfte Verblühtes ab und fischte vereinzelte abgefallene Blätter vom Boden.
Zu guter Letzt holte sie den Wasserschlauch und begann, die Blumen zu gießen und den Rasen zu sprengen. Gemächlich ging sie von Staude zu Staude und freute sich über den herrlichen Duft von nasser Erde und das Geräusch des plätschernden Wassers. Unzählige Bienen, Hummeln und Schmetterlinge flatterten über den Blüten. Bekki nahm sich die Zeit, sie eine Weile zu beobachten, und lächelte zufrieden vor sich hin. Im nassen Gras pickte eine Amsel nach Würmern, im Baum sang ein Vogel.
Auch wenn sie viel Arbeit, nur einen freien Tag pro Woche und fast niemals Urlaub hatte, so würde sie trotzdem nicht tauschen wollen. Dafür liebte sie ihr Leben in ihrem Elternhaus, das einer Postkartenidylle gleichkam, viel zu sehr.
Schließlich waren alle Pflanzen mit Wasser versorgt. Bekki räumte den Schlauch weg, streckte den Rücken und atmete tief durch. Noch vor wenigen Jahren wäre sie jetzt wahrscheinlich nach Sankt Peter-Ording gefahren, um sich mit ihren Freundinnen in eine Kneipe zu setzen und etwas zu trinken. Das Ortszentrum lag nur wenige Kilometer von hier entfernt, und es war immer etwas los. Bekki liebte die vielen Restaurants, Cafés und Bars, Eisdielen, Kinos und Geschäfte. Noch näher, fast um die Ecke, lag der schier endlos breite, feinsandige Strand, an dem sie spazieren ging und entspannte, wann immer sie die Zeit dafür fand.
Inzwischen jedoch machte sie es sich an den Abenden am liebsten zu Hause gemütlich. Natürlich lernte sie so keinen potenziellen Partner kennen, aber nach einem langen Arbeitstag fehlte ihr mitunter einfach die Energie auszugehen.
Bekki zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Hinter der Terrasse erstreckte sich eine Rasenfläche, die durch hohe Bäume von den Wiesen dahinter getrennt wurde. Wenn nicht gerade ein Bauer seine Wiesen mähte, hatten sie herrliche Ruhe. Man hörte nur das Zwitschern der Vögel, das Summen der Insekten und gelegentlich das Blöken von Schafen.
Nach wenigen Minuten Entspannung meldete sich bei ihr der Hunger. Hatte man jeden Tag stundenlang mit süßem Kuchen zu tun, brauchte man abends unbedingt etwas Herzhaftes. Bekki ging ins Haus, holte Brot, Butter, Käse und Wurst aus dem Kühlschrank und bestrich zwei Scheiben für sich und eine für Helga. Omi aß wie ein Spatz. Kein Wunder, dass sie so zart war. Dann schnitt sie zwei Tomaten in Scheiben und garnierte die Brote damit. Anschließend nahm sie beide Teller mit nach oben ins Wohnzimmer. Omi saß vor dem Fernseher und sah sich eine Quizsendung an.
„Kennst du die Hauptstadt von Montenegro?“, fragte sie, als Bekki den Raum betrat.
„Äh …“
„Podgorica!“, rief ein aufgeregter Kandidat.
„Ja!“, frohlockte Omi. Sie liebte das Mitraten und hatte sich dadurch inzwischen ein umfangreiches Allgemeinwissen angeeignet. „Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, meinte aber, dass es das war.“
„Hätte ich nicht gewusst“, gab Bekki zu und stellte den Teller vor ihre Großmutter auf den Tisch. „Bitte schön, lass es dir schmecken.“
„Ach, ich hätte ja beinahe das Abendessen vergessen.“ Mit einem dankbaren Lächeln nahm Omi das Brot und biss vorsichtig davon ab.
„Geht’s dir etwas besser?“, fragte Bekki und aß ebenfalls einen Happen.
„Mir geht es doch gar nicht schlecht, ich bin nur etwas müde. Es ist alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen. Schmeckt übrigens sehr gut.“ Kauend wies sie auf das Brot.
„Das freut mich.“
„Wie viele Zebra-Arten gibt es?“, wollte der Moderator wissen.
„Du meine Güte!“, rief Omi. „Jetzt hat er mich kalt erwischt.“
„Drei“, antwortete Bekki grinsend.
Während sie aß und fernsah, überlegte Bekki vielleicht doch einen kurzen Abstecher nach Sankt Peter-Ording zu machen und in ihre Lieblingskneipe, die Seemöwe, zu gehen. Möglicherweise war jemand dort, den sie kannte, und ein kühles Bier wäre jetzt am Abend doch nett. Omi jedoch war so begeistert von ihrer Sendung, dass sie sich immer wieder aufgeregt an Bekki wandte, ob sie die Antwort wüsste. Deshalb verschob sie ihren Ausflug erneut.
Kapitel 2
Die Hitze hielt auch am folgenden Tag an. Der August hatte gerade begonnen und zeigte, was er konnte. Nach mehrmaliger Ermahnung nahm sich Omi bei der Arbeit tatsächlich zurück und saß, nachdem sie ihre Kuchen gebacken hatte, die meiste Zeit auf ihrem Stuhl in der Küche. Nur das Kaffeekochen ließ sie sich nicht nehmen. Bekki war froh darüber, denn der Ansturm an Gästen riss auch heute nicht ab. Es war so viel zu tun, dass Gesa und sie mit der Arbeit kaum hinterherkamen. Unermüdlich bediente Bekki die unzähligen Besucher und erledigte zwischendurch den Abwasch, um ihre Oma zu entlasten.
Trotzdem nahm sie sich zwischendurch Zeit für das eine oder andere Pläuschchen mit den Urlaubern. Sie spielte mit einem Kleinkind, indem sie ihm hinterherlief und so tat, als wollte sie es fangen. Lachend rannte es vor ihr her und drehte sich immer wieder nach ihr um. Das Spiel sorgte für große Heiterkeit unter den Gästen. Und dann war da der niedliche Welpe, den jemand mitbrachte, ein junger weißer Schäferhund, der einem lebenden Teddy glich. Bekki konnte sich gar nicht von ihm losreißen und musste immer wieder sein flauschiges Fell streicheln.
Am späten Nachmittag, als es ruhiger wurde, die letzten Gäste fort waren und auch Gesa nach Hause gegangen war, erschien Bekkis Freundin Alea mit ihrem kleinen Sohn Yannik. Er war gerade zwei Jahre alt geworden, und Bekki war seit seiner Geburt unsterblich in ihn verliebt.
„Das ist ja eine Überraschung!“, rief sie begeistert und kniete sich neben die Karre, in der er saß. Sie stupste ihm an die winzige Nase. „Hallo, junger Mann.“ Er kicherte und ließ seine schneeweißen Milchzähnchen sehen.
Alea seufzte. „Das ist wohl das Los einer Mutter. Sobald man ein Kind hat, spielt man nur noch die zweite Geige. Ich freu mich auch, dich zu sehen!“
Bekki richtete sich auf und schloss ihre Freundin in die Arme. „Oje, da hab ich ja was angerichtet. Sorry! Aber Yannik hat so eine Anziehungskraft, dass ich nicht widerstehen kann. Er ist einfach zu niedlich.“
„Ja, das ist er.“ Alea strahlte. Sie zog sich einen mintgrün gestrichenen Stuhl heran und setzte sich. „Und er hält mich echt gut auf Trab. Gerade war ich mit ihm im Freibad. Du glaubst nicht, wie voll es war! Immerhin fand ich mit ihm im Kinderbecken ein klitzekleines Fleckchen Wasser, in dem er spielen konnte. Jetzt ist er völlig fertig. Und ich ebenfalls!“ Alea strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß, du hast gleich Feierabend, aber könnte ich vielleicht noch einen Cappuccino bekommen? Ich schlafe sonst auf dem Heimweg ein.“
„Na klar, kommt sofort. Und was möchte der süße Schatz?“
„Ein Apfelsaft wäre super.“ Alea holte einen Plastikbecher aus der Tasche und reichte ihn Bekki. „Du kannst ihn hier reinfüllen.“
„Kleinen Moment!“ Bekki nahm den Becher und lief in die Küche, wo ihre Oma am Tisch saß und Besteck abtrocknete. „Rate, wer gekommen ist!“, rief sie, holte eine Tasse aus dem Schrank und bediente die Kaffeemaschine.
„So aufgekratzt, wie du bist, muss es ein beeindruckender Gast sein.“
„Der niedlichste der Welt!“ Bekki öffnete eine Saftflasche und schenkte den Becher voll.
„Oh, sag bloß, der kleine Wonneproppen ist da.“ Omi stand auf und legte Handtuch und Besteck auf den Tisch. Dann nahm sie ein paar Kekse aus dem großen Glas und eilte in den Gastraum. „Ja, wer ist denn da?“, rief sie so laut, dass Bekki sie deutlich hören konnte.
Sie grinste, nahm den Cappuccino und den Becher und stellte alles vor ihrer Freundin auf den Tisch.
Ihre Oma hatte Yannik inzwischen aus der Karre genommen und hielt ihn auf dem Schoß. Der Kleine knabberte zufrieden an einem Keks, während Omi ihn verzückt ansah und über sein weiches Haar strich.
„Ich hab’s dir ja gesagt.“ Alea zog die Tasse zu sich heran, griff zum Zuckerstreuer und gab Zucker in ihren Cappuccino. „Ich stehe nur noch in der zweiten Reihe.“ Liebevoll betrachtete sie ihren Sohn und rührte ihre Tasse um.
„Damit musst du rechnen, wenn du so ein zauberhaftes Wesen mitbringst.“ Sogar Oma hatte Sternchen in den Augen. Der Lütte hatte inzwischen seinen ersten Keks verdrückt und sie gab ihm den nächsten.
Schließlich reichte sie Yannik Bekki. Sanft nahm sie ihn entgegen und betrachtete sein Köpfchen mit dem flaumigen Haar, seine langen Wimpern und seine kleinen Hände, die den inzwischen zermatschten, halb aufgegessenen Keks festhielten.
Alea gab Bekki den Becher mit dem Apfelsaft und nickte ihr ermunternd zu.
Behutsam hielt Bekki ihn an den Mund des Kleinen. „Möchtest du etwas trinken, Yannik?“, fragte sie zärtlich. Und schon öffnete der Zweijährige seinen Mund wie ein kleiner Vogel seinen Schnabel, und sie ließ ihn ganz vorsichtig trinken.
„Sieht schon total geübt aus“, lobte Alea und lehnte sich lächelnd zurück. „Ich glaube, ich muss öfter herkommen. Alle betüdeln meinen Sohn. Ich habe dann endlich etwas Freizeit und kann mal durchatmen.“
„Ja, mach das gern!“, frohlockte Oma. Sie hielt dem Kleinen ihren Finger hin und Yannik packte ihn ganz fest. Sie lachte und auch Yannik verzog das Gesicht zu einem Grinsen.
Gerührt beobachtete Bekki ihre Oma. Wie glücklich sie wäre, wenn sie endlich einen Urenkel bekommen würde.
Damals, mit Torben, hatte sie zum ersten Mal darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, ein Kind zu haben. Aber mit der Trennung war diese Idee natürlich hinfällig. Das Gewicht des kleinen Körpers auf ihrem Schoß holte den Gedanken jedoch wieder hervor. Sie lächelte zärtlich und bemerkte, wie Alea und Omi einen wissenden Blick tauschten.
Als ihre Freundin tief Luft holte, wandte sie sich ihr schnell zu.
„Eigentlich wollte ich es noch gar nicht erzählen“, sagte Alea geheimnisvoll und schien mit einem Mal heller zu strahlen als die Sonne. „Aber wo wir hier gerade alle so gemütlich beisammensitzen … Yannik bekommt ein Geschwisterchen.“
„Was?“, rief Bekki.
„Oh!“, machte ihre Oma.
„Das ist ja wunderschön!“, schwärmte Bekki. „Wann ist es denn so weit?“
„Oh, das wird noch lange dauern. Ich habe es selbst soeben erst erfahren, bin noch ganz am Anfang. Wie gesagt, eigentlich wollten Heiko und ich es noch eine Weile für uns behalten. Gerade zu Beginn kann ja viel passieren. Bitte erzählt es nicht sofort überall rum, okay?“
„Nein, machen wir nicht“, versprach Bekki, während ihre Oma zustimmend nickte. Sie hatte ganz leuchtende Augen bekommen. „Ach, ich freu mich so für euch!“
„Wir uns auch“, stimmte Alea zu. „Wir versuchen es schon seit einem dreiviertel Jahr, weißt du? Und jetzt hat es endlich geklappt. Ich bin so glücklich!“
„Hach, der nächste Cappuccino wird dann aber entkoffeiniert sein“, sagte Omi.
„Ja, daran hab ich vorhin überhaupt nicht gedacht. Alles ist noch so neu. Okay, jetzt müssen wir uns langsam auf den Heimweg machen, damit der Papa pünktlich sein Abendessen bekommt“, erklärte Alea und stand auf.
Bekki erhob sich ebenfalls und setzte Yannik in seine Karre, und Alea schnallte ihn an.
Helga verschwand kurz in der Küche und kehrte mit einem Tütchen voller Kekse zurück, das sie Alea gab. „Hier, für den Lütten. Die mag er doch so gern.“
„Ach, das ist ja lieb. Vielen Dank!“ Alea umarmte Omi und Bekki. „Wie viel bekommt ihr von mir?“
Beide winkten synchron ab. „Gar nichts, wie immer“, sagte Bekki.
Alea lächelte gerührt. „Und ihr seid verrückt. Ganz lieben Dank.“
„Gern geschehen.“
Alea schob mit ihrem Sohn wieder los.
„Das war ja ein netter kleiner Besuch“, sagte Omi, während sie in die Küche zurückkehrten. „Und wie schön, dass Alea wieder ein Kind erwartet. Sie und ihr Mann sind bestimmt sehr glücklich.“
„Das glaube ich auch. Ich freu mich riesig für die beiden.“ Bekki schmunzelte. „Wenn das Geschwisterchen auch so goldig ist wie Yannik, wird Alea vollkommen unsichtbar.“
Omi lachte. „Das Schicksal aller Mütter. Wir stehen immer im Schatten unserer Kinder. Aber das macht man nur zu gern.“ Sie legte ihre Hand auf Bekkis Arm. „Du wirst das eines Tages selbst erleben. Darauf freue ich mich schon!“
„Mama und du, ihr habt beide jung ein Kind bekommen. Ich habe nicht einmal einen Mann. Damit habe ich unsere Familientradition leider nicht fortgeführt.“
„Ich könnte Torben jetzt noch die Ohren lang ziehen!“, schimpfte Omi. „Wie konnte er dir das antun und dich dermaßen übergehen? Ihr könntet längst eine Familie haben. Das hast du dir damals gewünscht, oder? Ich habe dein Gesicht gesehen, als der Lütte auf deinem Schoß saß. Ich verstehe einfach nicht, was damals in Torben gefahren ist.“
Torben arbeitete als Koch in einem Restaurant und hatte sich ohne Bekkis Wissen für einen Job in Hamburg beworben. Als er eine Zusage bekam und seinen Umzug plante, stellte er sie ohne vorherige Erklärung vor vollendete Tatsachen und ging wie selbstverständlich davon aus, dass sie ihn begleiten würde. Aber natürlich war sie nicht mitgegangen. Hier auf Eiderstedt war ihr Zuhause. Vor allem war Bekki viel zu enttäuscht über Torbens Eigenmächtigkeit und fehlende Rücksichtnahme gewesen.
„Das weiß wohl nur er selbst.“ Bekki winkte ab. „Unter diesen Umständen kann ich mir sowieso nicht vorstellen, dass er ein passender Vater gewesen wäre.“
„Hat er sich inzwischen mal wieder gemeldet?“
Bekki schüttelte den Kopf. „Zuletzt hat er vor ungefähr drei Wochen angerufen. Keine Ahnung, was er sich davon verspricht, dass er seit einigen Monaten sporadisch anruft. Vorher hatte er mich doch auch in Ruhe gelassen.“
„Er wird seinen Fehler eingesehen und Sehnsucht nach dir haben“, vermutete Omi.
„Das kann er sich schenken. Erkläre ich ihm auch jedes Mal. Hoffentlich hat er es endlich begriffen.“ Dabei wollte Bekki sich gar nicht beklagen. Sie hatte ihr Café mit dem paradiesischen Garten, das sie liebte, und ihre Großmutter. Was wollte sie mehr?
Anderthalb Stunden vor Feierabend des folgenden Tages erschien ein Gast, den Bekki noch nie gesehen hatte. Er nahm an einem Tisch an der Wand Platz, griff nach der Karte und warf einen Blick hinein. Er hatte etwas an sich, das bewirkte, dass Bekki eine Sekunde länger hinsah als üblich. Vielleicht auch zwei. Lag es an seinem vollen blonden Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel? An dem anziehenden Grübchen in seinem Kinn? Nein, wahrscheinlich fiel er ihr eher wegen der Wehmut in seinem Gesicht auf. Um seinen Mund lagen scharfe Linien und um seine Augen herum dunkle Schatten. Vielleicht war er vollkommen überarbeitet, und heute begann sein erster Urlaubstag.
Freundlich lächelnd trat Bekki an den Tisch. Der Mann schaute auf. Er hatte saphirblaue Augen, die traurig wirkten.
„Guten Tag“, grüßte sie. „Haben Sie schon etwas gefunden oder soll ich gleich noch einmal kommen?“
Er erwiderte ihr Lächeln, was seine Gesichtszüge sofort weicher machte. Auch die Linien um die Mundwinkel glätteten sich. „Hallo! Nein, ich bin bereits fündig geworden. Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee und ein Glas stilles Wasser.“
„Sehr gern. Möchten Sie auch ein Stück Kuchen?“ Bekki wies zur Vitrine hinüber, in der die Torten und Kuchen ausgestellt waren. „Es ist alles hausgemacht.“
„Nein, vielen Dank.“
„In Ordnung. Die Getränke kommen sofort.“ Bekki wandte sich ab und ging in die Küche.
Zufrieden stellte sie fest, dass Omi sich an ihre Anweisung gehalten hatte und bereits nach oben in die Wohnung gegangen war. Sie bereitete die Bestellung zu und legte einen selbst gebackenen Keks auf die Untertasse.
Dann trug sie das Tablett an den Tisch des neuen Gastes und stellte alles mit einem Lächeln vor ihm ab. Ein feiner Duft seines Aftershaves zog ihr in die Nase. „So, bitte sehr, hier kommt die Stärkung.“
„Vielen Dank. Es ist dermaßen heiß, dass man gar nicht genug trinken kann.“
„Da haben Sie recht. Was mich betrifft, darf es gern ein paar Grade kühler werden. Andererseits wollen wir uns nicht beschweren. So ist es immer noch besser als Dauerregen.“
Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen. „Ja, es ist ein zweischneidiges Schwert.“
„So kann man es nennen. Lassen Sie es sich schmecken.“ Bekki nickte dem Mann zu und wandte sich ab.
Während sie arbeitete, sah sie mitunter verstohlen zu ihm hinüber. Üblicherweise behielt sie ihre Gäste nicht so genau im Blick, aber dieser hatte etwas an sich, das ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf ihn lenkte. Sein Wasser hatte er inzwischen zur Hälfte ausgetrunken. Jetzt stellte er einen Laptop auf den Tisch, klappte ihn auf und nippte mitunter an seinem Kaffee.
Das Eintreffen einer Gruppe neuer Gäste lenkte Bekki ab. Für eine Weile war sie damit beschäftigt, Getränke, Kuchen und Torte zu servieren. Andere Besucher wollten zahlen und als Bekki bemerkte, dass ihre Großmutter herunterkam und in die Küche ging, atmete sie erleichtert auf, obwohl sie ja eigentlich wollte, dass sie kürzertrat.
„Mir ist langweilig“, erklärte Omi, als Bekki mit einem fragenden Blick auf sie zuging. „Ich weiß nicht, was ich anderes machen soll. Ob du es willst oder nicht, aber ich werde jetzt etwas tun.“ Sie sah sich in der Küche um und begann, den Geschirrspüler zu befüllen. „Und keine Sorge, ich werde mich nicht stressen.“
„Danke! Aber ich hätte das auch allein …“
„Ja, ja. Kümmere du dich um die Gäste und ich mache hier klar Schiff.“
Schmunzelnd ging Bekki wieder in den Gastraum, trat an den Tisch des einsamen Mannes und nahm das leere Glas. „Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“
Er sah von seinem Laptop auf, in den er offenbar sehr vertieft gewesen war. Die Farbe seiner Augen war wirklich außergewöhnlich und passte hervorragend zu seinem blonden Haar. „Oh! Ja, ich denke, ein Cappuccino geht noch.“
„Natürlich. Bringe ich Ihnen sofort.“
Anschließend wollte die große Gruppe zahlen, einige andere Gäste ebenfalls. Langsam leerten sich das Café und die Terrasse.
Der Feierabend rückte näher, Bekki atmete auf.
Als einer der letzten zahlte der Mann und verließ mit einem freundlichen Lächeln das Café. Bekki räumte den Tisch ab und trug alles in die Küche.
Dort saß ihre Oma auf ihrem Stuhl und polierte Besteck. Obwohl sie sich heute viel ausgeruht und dann darauf bestanden hatte, wieder zu arbeiten, wirkte sie etwas blass.
„Omi, du kannst jetzt Feierabend machen“, sagte Bekki sanft, aber bestimmt. „Das bisschen Abwasch, was noch übrig ist, schaffe ich auch allein.“
Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. „Nein, lass nur, ich mach das gern. Sonst fühle ich mich ja vollkommen nutzlos.“
„So ein Unsinn! Deine Torten sind die besten der Welt. Die Friesentorte war schon nach wenigen Stunden weg, und mit der Mokkatorte sah es nicht viel anders aus. Die Gäste waren wie immer voll des Lobes.“ Bekki lächelte liebevoll.
Das Gesicht ihrer Oma hellte sich auf und bekam wieder etwas Farbe. „Das freut mich. Zufriedene Gäste kommen wieder.“ Das war seit vielen Jahren ihr Leitspruch.
„Und wie sie das tun!“ Bekki lachte. „Sie überrennen uns noch. Aber genauso wollen wir das ja haben. So, und du machst jetzt bitte Feierabend, okay? Es ist unerträglich heiß hier drinnen. Ich möchte nicht, dass du dich übernimmst.“
„Du hast ja recht, die Hitze ist wirklich schlimm“, gab ihre Oma zu. „So schlapp wie zurzeit war ich schon lange nicht. Ich vertrage die hohen Temperaturen einfach nicht mehr.“
Bekki schenkte ihr neues Wasser ins Glas. „Hier, du musst mehr trinken. Das ist wichtig für dich.“
Gehorsam trank Omi einen winzigen Schluck. „Morgen ist Montag und du hast frei. Ich habe auch eine Anweisung für dich, Liebes: Ich möchte, dass du heute Abend mal wieder ausgehst. Triff deine Freundinnen, habe Spaß. Das ist wichtig für dich, hörst du?“ Sie schmunzelte. „Du siehst, ich habe von dir gelernt. Vor allem sollst du nicht jeden Abend mit einer alten Frau vor dem Fernseher verbringen.“
„So alt bist du nun auch wieder nicht“, widersprach Bekki. Zugleich wusste sie, dass ihre Omi recht hatte. Es würde ihr guttun, mal wieder etwas anderes zu sehen als nur ihren Arbeitsplatz.
Und so rief sie kurz danach ihre Freundin Inka an.
„Moin, hier ist Bekki. Ich weiß, es ist etwas spontan, aber hast du heute Abend Zeit und Lust, etwas trinken zu gehen?“
„Hi, super von dir zu hören. Das trifft sich sogar fantastisch; ich hätte dich gleich auch noch angerufen. Ich habe gerade mit Alea telefoniert. Wir treffen uns nachher in der Seemöwe. Sie hat babyfrei. Ihr Mann passt heute auf und Jan ist mit seiner Tochter unterwegs.“ Jan war Inkas Lebensgefährte. „Die Gelegenheit müssen wir ausnutzen. Magst du dich dazugesellen? Wir drei sehen uns ohnehin viel zu selten.“
„Großartig!“, rief Bekki und freute sich. „Ich komme sehr gern.“
„Super, das ist schön! Wir treffen uns um zwanzig Uhr“, sagte Inka. „Komm einfach hin, wenn du fertig bist, okay? So schnell laufen wir nicht weg.“ Sie lachte.
„Das mach ich. Bis später!“
Erfreut legte Bekki auf, wusch den Rest ab und goss die Blumen. Alles andere konnte sie morgen erledigen. Montag war zwar ihr freier Tag, aber zu tun gab es ja immer genug. So war das eben, wenn man selbstständig war.
Anschließend duschte sie, zog sich einen luftigen Rock und ein Top an, band ihr kastanienbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz und legte etwas Mascara auf.
Bevor sie aufbrach, sah sie noch einmal nach ihrer Oma. Dieses Mal schaute sie eine Kochsendung im Fernsehen an.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte Bekki.
„Nein. Lieb, dass du fragst. Und jetzt fahr los, damit du was vom Abend hast.“
Sie lächelte so liebevoll, dass Bekki von einem warmen Gefühl der Liebe und Rührung durchflutet wurde. Rasch trat sie zu ihrer Großmutter, umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich hab dich lieb!“
„Ich habe dich auch lieb. Aber wenn du jetzt nicht sofort aufbrichst, schiebe ich dich aus dem Zimmer.“
Bekki lachte. „Ich gehe ja schon!“
Während der kurzen Fahrt zu ihrer Lieblingskneipe in Sankt Peter-Ording dachte sie über Omi nach. Sie war alles, was sie an Familie noch hatte. Klar, da war noch ihre Mutter, aber seit die in Bayern lebte, war sie voll und ganz mit ihrem neuen Mann beschäftigt und meldete sich nur selten. Bekki musste sich unbedingt etwas überlegen, damit ihre Großmutter dauerhaft entlastet wurde.
Kapitel 3
Als Bekki bei der Kneipe angekommen war, schob sie ihr Fahrrad in einen Ständer, schloss es ab und betrat die Seemöwe. Laute Musik und Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Suchend sah sie sich um und entdeckte ihre Freundinnen an einem Tisch an der Wand, die ihr zuwinkten.
Gleich darauf umarmte Bekki Inka und Alea zur Begrüßung, beide standen auf.
„Super, dass du gekommen bist!“, rief Alea.
„Es ist ja schon wieder eine ganze Weile her“, meinte Inka und setzte sich. „Ich muss auch unbedingt mal wieder zu euch ins Café kommen. Alea hat mir gerade erzählt, dass sie gestern bei euch war. Deine Oma war ganz verliebt in Yannik.“
„Ja, sie schmilzt jedes Mal förmlich dahin.“ Bekki lachte und nahm auf der Bank Platz. „Das ist ja kein Wunder, so goldig, wie der kleine Schatz ist.“
Die Bedienung trat an ihren Tisch und Bekki bestellte einen Aperol-Spritz wie Inka. Alea entschied sich für Maracujaschorle. Sie strahlte.
„Nanu?“, fragte Inka verwundert. „Was ist denn mit dir los? Ich dachte, wir wollen heute unser Wiedersehen ein wenig feiern und unsere baby- und männerfreie Zeit ausnutzen.“
„Machen wir doch auch. Und übrigens gibt es noch einen Grund mehr zum Feiern.“
„So? Jetzt machst du mich aber neugierig“, sagte Inka.
Alea holte Luft. „Bekki hab ich es gestern schon erzählt, obwohl Heiko und ich es eigentlich noch für uns behalten wollten. Aber ich kann das einfach nicht! Dafür bin ich viel zu aufgeregt!“
Inka schaute zwischen ihren Freundinnen hin und her, dann begann sie zu grinsen. „Nee! Echt jetzt? Ist es das, was ich vermute?“
Alea nickte heftig. Gleich darauf lagen sie und Inka sich in den Armen und zogen auch Bekki dazu.
„Das ist ja wunderschön!“, rief Inka sichtlich ergriffen. „Ein Brüderchen oder Schwesterchen für Yannik. Ach, ich freu mich so für euch!“
„Und ich mich erst!“, sagte Bekki.
„Was meint ihr, wie es mir geht?“ Alea wischte sich über die Augen und lächelte verlegen. „Diese ollen Hormone. Ich bin schon wieder so nah am Wasser gebaut wie damals bei Yannik.“
„Das ist doch schön!“, rief Inka.
Alea nickte. „Wir haben auch lange genug drauf gewartet. Mal sehen, wie es wird, wenn das Baby da ist. Yannik hält uns schon gewaltig auf Trab. Er läuft wie ein Weltmeister durchs Haus und hinterlässt überall Chaos. Momentan steht er total drauf, die Schubladen zu öffnen und auszuräumen. Das schafft er dreimal so schnell, wie wir brauchen, um sie wieder einzuräumen. Also falls euch mal langweilig sein sollte, kommt gerne her und übernehmt das für uns.“ Sie lachte.
„Ach, der süße kleine Kerl“, sagte Bekki. „Wird Zeit, dass ich dich mal wieder besuche. Und ich räume auch gern deine Schubladen wieder ein.“
„Das ist eine Heidenarbeit“, erklärte Inka lachend. „Ich war gerade bei ihnen zu Besuch. Hinterher taten mir die Knie weh. Aber der Kleine ist so goldig. Einfach zum Verlieben.“
Die Bedienung kam und stellte ihre Drinks auf den Tisch. Die Freundinnen hoben die Gläser und stießen miteinander an.
„Wann ist es denn bei euch so weit?“, fragte Bekki Inka neugierig.
„Lasst euch überraschen“, antwortete sie geheimnisvoll. „Ihr werdet auf jeden Fall die ersten sein, die es erfahren.“
„Das will ich auch hoffen!“, rief Alea.
Sie lachten gemeinsam und stießen miteinander an.
Inka nippte an ihrem Drink und wandte sich an Bekki. „Wie läuft es mit dem Café? Habt ihr immer noch so viel Arbeit?“
Bekki nickte. „Arbeit ist gar kein Ausdruck. Die Hütte ist brechend voll, und das jeden Tag. Dazu kommt das Saubermachen, der Einkauf und natürlich der ganze Papierkram. Mitunter spüre ich meine Füße nicht mehr, dafür meinen Rücken umso deutlicher. Aber zugleich macht es irre viel Spaß.“
„Klingt ziemlich anstrengend“, sagte Inka besorgt. „Schafft ihr das denn noch alles zu dritt, Gesa, du und deine Oma?“
„Wir kommen schon klar. Ich liebe meinen Job. Omi erscheint mir mitunter allerdings etwas blass und kraftlos. Sie behauptet, es läge an der Hitze.“ Bekki rührte gedankenverloren mit ihrem Strohhalm im Glas. Die Eiswürfel klirrten leise. „Es ist ja wirklich übel heiß. Deshalb schicke ich sie öfter mal zum Ausruhen, auch wenn ihr das gar nicht recht ist und sie jedes Mal herummeckert.“
„Sie muss gut auf sich aufpassen, sag ihr das bitte von mir. Aber das mit Svenjas Job ist auch ein Hammer, oder?“, wechselte Alea das Thema.
Svenja war die vierte in ihrem Freundinnen-Quartett.
„Ich habe sie angerufen, ob sie heute auch kommen möchte, aber sie hat abgelehnt“, erzählte Inka.
„Kein Wunder. Es muss furchtbar sein, nach so vielen Jahren plötzlich den Job zu verlieren.“ Alea wirkte betrübt.
„In letzter Zeit soll die Stimmung im Hotel so schlimm gewesen sein, dass Svenja fast froh war, dass es endlich vorbei ist“, erzählte Inka.
„Sie tut mir total leid“, sagte Bekki. „Sie hat in dem Hotel ihre Ausbildung gemacht und seitdem ununterbrochen dort gearbeitet. Und sie hat den Job geliebt. Ihre Kollegen waren fast wie eine zweite Familie, hat sie mal gesagt. Jetzt ist plötzlich alles vorbei und das nur, weil irgendein Idiot das Hotel gekauft hat und alles umstrukturiert. Die Löhne, die er zahlt, sind eine Frechheit, ebenso die Arbeitszeiten.“
„Ja, wirklich schlimm. Da kann man nur kündigen. Die arme Svenja.“ Alea nickte.
„Hat sie bereits etwas Neues in Aussicht?“, erkundigte sich Inka.
„Keine Ahnung.“ Bekki zuckte die Schultern.
„Ich glaube, sie braucht erst einmal etwas Zeit, um sich zu erholen“, warf Alea ein.
„Das sei ihr gegönnt. Wenigstens hat sie Tim. Der wird sie schon trösten“, hoffte Bekki. Die beiden waren seit Teenagerzeiten zusammen. Jedes Mal, wenn sie Tim sah, musste sie an Torben denken. Die beiden waren beste Freunde.
„Apropos Männer …“, sagte Inka und sah Bekki an. Alea folgte ihrem Blick.
Bekki lachte und winkte ab. „Ihr braucht mich gar nicht so anzugucken. In der Hinsicht gibt es bei mir nach wie vor nichts zu berichten.“
„Steckt dir etwa immer noch Torben in den Knochen?“, fragte Inka.
„Zumindest bin ich immer noch sauer“, gestand Bekki. „Er hat damals sein eigenes Ding durchgezogen, ohne Rücksicht auf mich zu nehmen. Oder auf Omi und Opi, denn die beiden hätte ich ja allein zurücklassen müssen. Mama brach zu der Zeit gerade ihre Zelte ab und zog nach Bayern. Ich konnte die beiden nicht mit der ganzen Arbeit im Café im Stich lassen. Vor allem wollte ich hier gar nicht weg. Was soll ich in Hamburg? Eiderstedt ist mein Zuhause, das Hildchens und natürlich ihr.“ Sie schenkte ihren Freundinnen ein liebevolles Lächeln.
„Das war echt absolut egoistisch von ihm“, ärgerte sich Alea. „Und das alles nur, weil Eiderstedt ihm zu eng wurde und er meinte, ohne die Aufregungen der Großstadt nicht mehr leben zu können. Und dafür hat der Idiot eure Beziehung in den Sand gesetzt. Eine so tolle Frau wie dich findet er nie wieder.“
Bekki bedachte ihre Freundin mit einem dankbaren Lächeln.
„Er ist eben eine Riesenknalltüte“, ergänzte Inka. „Aber von den Erinnerungen an ihn darfst du dir dein Leben nicht mehr versauen lassen. Du bist schon viel zu lange solo. Ich finde, du hast es verdient, mal wieder richtig glücklich zu sein.“
„Finde ich auch!“, pflichtete Alea ihr bei.
Bekki hob die Schultern. „Bin ich doch. Ich bin vollkommen zufrieden.“
Aber natürlich wusste sie, dass ihre Freundinnen recht hatten. Immer häufiger spürte sie dieses sehnsüchtige Ziehen in sich, wenn sie ein glückliches Paar beobachtete. Wie schön wäre es, nach einem langen Arbeitstag einfach einmal ihren Kopf an eine starke Schulter lehnen zu können. Nicht allein einschlafen zu müssen. Die große Verantwortung, die sie trug, teilen zu können.
Plötzlich sah sie das wunderschöne Paar saphirblauer Augen vor sich, das so wehmütig wirkte. Das blonde Haar, das sie verlockte, mit den Fingern hindurchzufahren.
Was zur Hölle dachte sie denn da? Sie kannte diesen Mann überhaupt nicht. Vor allem schien er irgendein nicht unbeachtliches Päckchen mit sich herumzutragen, wie unschwer an seiner traurigen Miene zu erkennen gewesen war. Den sollte sie sich am besten gleich wieder aus dem Kopf schlagen.
Als Bekki am nächsten Morgen in den Keller ging, um Kaffeebohnen hochzuholen, erwartete sie ein noch viel größeres Problem. „Ach du Scheiße!“, entfuhr es ihr, als sie unvermittelt in eine Wasserlache trat. Eine große Pfütze bedeckte den Kellerboden. Zum Glück standen ihre Waren alle etwas höher und waren trocken geblieben. Aber woher zum Teufel kam das viele Wasser?
Sofort stellte sie den Haupthahn ab. Dann ging sie von einer bösen Ahnung getrieben in den Nebenraum und betrachtete die dort verlaufenden Wasserrohre. Sie waren bereits sehr alt und hätten im Grunde längst ausgetauscht werden müssen. Allerdings galt das für die Leitungen im ganzen Haus. Und bisher hatte Bekki weder das Geld für so umfangreiche Maßnahmen aufbringen können, noch hätte sie die Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.
„Verdammter Mist!“, fluchte sie und tastete die Wände entlang der Rohre ab. Tatsächlich waren sie feucht. Und aus einem der Rohre tropfte es.
Verzweifelt schlug Bekki die Hände vor den Mund. Das war eine Katastrophe! Natürlich lief das Café jetzt im Sommer super. Im Winter hingegen wurde es ruhiger, aber um die laufenden Kosten aufbringen zu können, mussten sie während der Sommermonate so viel wie möglich einnehmen. Da blieb kaum etwas übrig, um es auf die hohe Kante zu packen. Deshalb durfte sie auf keinen Fall jetzt das Café schließen. Vor allem, wenn nun womöglich teure Reparaturmaßnahmen auf sie zukämen.
Verdammt, warum musste das ausgerechnet jetzt passieren? Was sollte sie bloß machen?
Sie lief die Treppe hoch und fand ihre Großmutter an der Kaffeemaschine. Gerade stellte sie eine Tasse darunter.
„Ah, da bist du ja. Für zwei Tassen dürften die Bohnen noch reichen, aber dann müssen wir dringend nachfüllen.“ Ihr Lächeln verging, als sie erkannte, dass Bekki mit leeren Händen gekommen war. „Oh, haben wir keine mehr?“
Bekki schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Handy. „Der Kaffee ist nicht das Problem. Der Keller … er steht unter Wasser. Ich muss sofort den Installateur anrufen und alles so gut es geht aufwischen. Bitte, stell keine Wasserhähne an. Ich habe den Haupthahn zugedreht.“
Ihre Oma sah sie erschrocken an. „Wasser im Keller? Haben wir einen Rohrbruch?“
„Es sieht so aus. Ich hoffe, dass es nicht noch schlimmer wird. Auf jeden Fall müssen wir jetzt einiges sanieren lassen, fürchte ich.“
„Was? Das können wir uns doch überhaupt nicht leisten.“
Überfordert hob Bekki die Schultern. „Ich weiß. Aber es wird notwendig sein, ob es uns gefällt oder nicht.“
„Und wie soll das mit dem laufenden Cafébetrieb funktionieren? Um Himmels willen! Wer weiß, wie lange das alles dauert! Und wie teuer es wird!“
Nervös wählte Bekki die Nummer der zuständigen Firma. „Ich hoffe, dass wir bald mehr wissen, Omi. Wenn wir Glück haben, ist es ja vielleicht gar nicht so schlimm.“ Sie lauschte dem Freizeichen, dann wurde abgenommen.
Ihre Großmutter ließ sich auf den Stuhl fallen, als hätte alle Kraft ihre Beine verlassen.
In knappen Worten erklärte Bekki dem Installateur das Problem. „Wirklich, Sie können heute noch jemanden schicken?“, rief sie erleichtert. „Das wäre großartig. Dann bis später.“
„Was hat er gesagt?“, fragte ihre Oma angespannt.
„Es kommt heute noch jemand vorbei, um sich die Rohre anzusehen. Mehr konnte er mir erst einmal nicht versprechen. Du weißt ja selbst, wie ausgebucht die Handwerker alle sind.“
„Dass das aber auch passieren musste“, klagte Omi. „Ausgerechnet jetzt, wo wir so viel zu tun haben und nicht schließen können. Nicht schließen dürfen!“ Das letzte Wort rief sie, ihre Stimme klang verzweifelt.
Bekki griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Jetzt mach dir keine zu großen Sorgen, hörst du? Wir warten erst einmal ab, was der Installateur sagt. Ich gehe runter und wische das Wasser auf, damit die Wände und der Boden nicht noch feuchter werden.“
„So ein Unglück!“
Bekki lächelte zuversichtlich, obwohl sie sich absolut nicht so fühlte. „Es wird alles wieder gut. Ich bin bald zurück, ja?“
Sie holte einen Eimer, einen Wischer sowie diverse Lappen und ging wieder in den Keller. Erneut schockierte sie der Anblick des Wassers. Sie hatte viel zu tun. Eine Stunde später erkannte sie einen Fortschritt und atmete erleichtert auf. Wenn jetzt kein Wasser mehr nachkam, ging vielleicht alles noch vergleichsweise glimpflich aus. Unter das Rohr, aus dem es getropft hatte, stellte sie den Eimer. Dann wagte sie es, den Haupthahn wieder zu öffnen, und merkte erleichtert, dass das Tropfen nicht stärker wurde, als es vorhin gewesen war. Sie lief nach oben, um ihrer Oma alles zu erzählen.
„Was für ein Glück, dass das Café heute ohnehin geschlossen ist“, sagte Bekki. „Wer weiß, vielleicht kommen wir ja mit einem blauen Auge davon.“
„Hoffentlich!“ Ihre Oma seufzte aus vollem Herzen. Sie wirkte ganz mitgenommen.
Am späten Nachmittag erschien der Installateur, Herr Wilkens, und begutachtete den Schaden. Nachdem er den Keller inspiziert hatte, überprüfte er auch die Rohrleitungen im Erdgeschoss und im ersten Stock sowie die Wände auf mögliche Feuchtigkeit.
Gespannt verfolgten Bekki und ihre Oma jeden seiner Handgriffe, wobei Bekkis Herz vor Sorge wie wild klopfte. Ihre Oma sah immer noch so blass aus. Bekki hätte es gern gesehen, dass sie sich hinsetzte, aber das lehnte die alte Frau entschieden ab.
Endlich war der Handwerker fertig und wandte sich ihnen zu. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
Bekkis Mut sank ins Bodenlose.
„Soo“, begann er lang gezogen, als müsste er sich selbst erst ermuntern, das Unvermeidliche auszusprechen. „Es tut mir leid, aber das sieht leider überhaupt nicht gut aus. Sämtliche Rohrleitungen im Haus sind porös. Im Grunde hätten sie längst ausgetauscht werden müssen. Ich habe entlang der Leitungsverläufe in den Wänden Feuchtigkeit festgestellt. Sie haben Glück, dass sich das nun gebrochene Rohr im Keller befindet. Wäre das hier oben passiert …“
Er musste den Satz nicht vervollständigen. Gar nicht auszudenken, wenn ihre Wohnung überflutet worden wäre oder das Café!
Omi hatte ganz runde Augen bekommen. „Das heißt denn das?“, wagte sie zu fragen.
Die Miene des Installateurs wurde noch finsterer. „Da die Schäden bereits großflächig und die Wände feucht sind, reicht es auf lange Sicht nicht aus, wenn ich einzelne Rohre austausche. Natürlich kann ich als erste Sofortmaßnahme zumindest das brüchige Rohr im Keller erneuern, ehe es vollends bricht und der ganze Keller unter Wasser steht. Das ist allerdings keine dauerhafte Lösung. Langfristig müssen sämtliche Rohrleitungen erneuert werden. Und wegen der Feuchtigkeit in den Wänden müsste leider zumindest die betroffene Hausseite kernsaniert werden, wenn Sie keine Folgeschäden wie Schimmelbefall oder Ähnliches riskieren wollen.“
„Kernsaniert?“, krächzte Bekki. Ihre Oma keuchte vor Schreck.
„Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine günstigere Prognose stellen“, sagte Herr Wilkens. Nun wirkte er mitleidig.
„Gilt das denn für das ganze Haus?“, hakte Bekki nach. „Also auch für die Räume, in denen überhaupt keine Wasserleitungen verlaufen?“
„Bedingt durch die Heizung ziehen sich Rohrleitungen natürlich durch das ganze Haus“, erklärte er. „Ich müsste genauer nachschauen, ob Schäden vorhanden sind und wenn ja, wie ausgeprägt sie sind. Ich habe jetzt erst einmal nur die Wände kontrolliert, an denen Wasserleitungen verlaufen und Feuchtigkeit ausgetreten sein könnte. Es handelt sich lediglich um eine erste Einschätzung.“
Ein wenig Hoffnung stieg in Bekki auf, sie konnte etwas leichter atmen. „Vielleicht ist es ja doch nicht ganz so schlimm.“
„Könnten Sie denn die anderen Räume auch nachsehen?“, bat ihre Großmutter. „Ebenso die Heizungen. Damit wir wissen, worauf wir uns möglicherweise einstellen müssen.“
„Das kann ich gern machen, heute allerdings leider nicht mehr, es tut mir leid. Ich habe Sie nur dazwischengeschoben, weil es nach einem akuten Notfall klang, aber davon abgesehen bin ich für längere Zeit ausgebucht.“
„Was bedeutet das genau?“, erkundigte sich Bekki. „Wir betreiben ein Café. Können wir überhaupt öffnen oder besteht irgendeine Gefährdung für die Gäste?“ Vor Anspannung hielt sie den Atem an, während sie auf das Urteil des Fachmanns wartete.
Zu ihrer Erleichterung schüttelte er den Kopf. „Oh, nein, keine Sorge. Sie müssen nicht befürchten, dass die Wände einstürzen oder Ähnliches. Allerdings kann ich nicht vorhersagen, wie lange die Rohre noch halten, ehe sie vollends kollabieren, zumindest das Rohr unten im Keller. Wie gesagt, ich könnte Ihnen anbieten, wenigstens den besonders porösen Teil dieses Rohrs vorläufig auszutauschen. Außerdem würde ich schnellstmöglich noch einmal herkommen und die anderen Räume inspizieren. Anschließend kann ich Ihnen hoffentlich mehr sagen.“
„Und wann … Also wie lange …“, stotterte Omi.
Zum ersten Mal lächelte der Installateur. Sofort schien es etwas heller im Raum zu werden. Und in Bekkis Seele.
„Da das Café Ihre Existenzgrundlage ist, wie ich annehme, handelt es sich tatsächlich um einen Notfall“, erklärte er. „Ich werde in die Firma fahren, den bisher festgestellten Schaden protokollieren und mit meinen Kollegen besprechen, ob wir terminlich nicht etwas deichseln können. In dem Fall könnten wir vielleicht spätestens in einer Woche die vorläufige Reparatur des Rohrs im Keller vornehmen und die übrigen Zimmer überprüfen.“
Bekki fiel ein Stein vom Herzen. „Das wäre großartig! Müssen wir bis dahin etwas beachten? Können wir wirklich problemlos öffnen?“
„Ich würde Ihnen empfehlen, regelmäßig nach den Rohrleitungen im Keller zu sehen, die am schlimmsten betroffen sind. Stellen Sie einen Eimer darunter und leeren Sie ihn regelmäßig.“
„Das habe ich schon“, erklärte Bekki.
„Sehr gut. Wie gesagt, Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass Ihnen das Haus über dem Kopf zusammenfällt. Die Wasserleitungen sind allerdings so marode, dass ich Sie wirklich zu großer Vorsicht anhalten möchte. Nutzen Sie sie nur, wenn es tatsächlich nötig ist. Über Nacht würde ich Ihnen empfehlen, den Haupthahn zu schließen.“
„Das werden wir alles beherzigen.“
„Gut. Wegen des nächsten Termins sage ich Ihnen Bescheid, sobald ich etwas erfahren habe.“ Herr Wilkens streckte Bekki die Hand hin.
Sie schüttelte sie. „Vielen Dank. Auch, dass Sie so schnell hergekommen sind.“
„Sehr gern.“ Er gab auch Helga die Hand und lächelte freundlich. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bekommen das alles wieder hin. Dafür sind wir ja da.“
„Wenn Sie das sagen …“ Omi klang zweifelnd.
„Ich bringe Sie zur Tür“, bot Bekki an. Dort verabschiedete sie sich von Herrn Wilkens und ging ins Haus zurück.
Ihre Oma war erneut auf einen Stuhl gesunken. Sie wirkte plötzlich zehn Jahre älter. „Das schaffen wir niemals, Rebekka. Das Geld wird vorn und hinten nicht reichen. Eine Kernsanierung bricht uns das Genick.“
Bekki setzte sich zu ihr und strich beruhigend über ihre Schulter. „Das wissen wir doch noch gar nicht, Omi. Lass uns abwarten, was der nächste Termin ergibt. Vielleicht ist ja alles weniger schlimm, als es heute den Anschein hatte.“ Aber wenn Bekki ehrlich zu sich war, wusste sie, dass sie sich nur etwas vormachte. Womöglich war alles sogar noch viel schlimmer.