Kapitel 1
London, Mittsommernacht
„Der Himmel sei mir gnädig“, flüsterte Alasdair Hugh Morley, der Marquess of Westcliffe, mit heiserer Stimme.
Ein wahrhaftiges Zauberwesen.
Anders ließ es sich nicht erklären, wie magisch sie seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die kapriziöse Schönheit stand vollkommen regungslos. Der leicht nach links geneigte Kopf lenkte den Blick des Betrachters auf den anmutig geschwungenen Hals; die Lippen umspielte ein sinnliches Lächeln. Lady Willow Rosalind Arlington, Tochter des Dukes und der Duchess of Milton, war außergewöhnlich schön, wenn auch nicht auf die Art, wie es in vornehmen Kreisen gerade Mode war. Manche, darunter seine Mutter, hätten gesagt, die junge Dame sei zu rundlich, ihr Haar zu dunkel und ihre Haut zu blass, doch in Alasdairs Augen war sie wie ein kostbarer Rubin inmitten glitzernder Diamanten.
Ihr Anblick löste in ihm unerwünschte Lustgefühle aus. Doch Lady Willow war wirklich eine Augenweide. Ihr Alabasterteint bildete einen lebhaften Kontrast zu ihrem saphirblauen Kleid mit der hohen Taille. In ihr dunkles, zu einer hohen Frisur aufgestecktes Haar waren Blumen geflochten, und ihr Körper war zwar ein wenig füllig, wies aber auch ansehnliche Kurven auf. Da er davon ausgehen konnte, dass sie auf dem heutigen Mittsommerball anwesend war, hatte er sich auf ihren Anblick gefasst gemacht. Doch selbst in seinen wildesten Fantasien hätte er sich nicht vorstellen können, welche Gefühle sie auch nach all den Jahren noch in ihm weckte – ein verwirrendes Gemisch aus Freude, kalter Wut und heißer Begierde.
Zum Teufel nochmal!
Ihren Mund umspielte ein geheimnisvolles, verführerisches Lächeln, das in ihm die Erinnerung an den Geschmack dieser vollen Lippen wachrief. Was zum Geier war bloß mit ihm los? Hatte nicht gerade sie ihm seine schmerzvollste Lektion erteilt? Worte, die er niemals vergessen würde, drängten sich in sein Bewusstsein, wo er sie keinesfalls gebrauchen konnte.
Ich werde Seine Durchlaucht, den Duke of Salop, heiraten. Mein Vater hat gestern seinen Antrag angenommen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie mir freundlicherweise entgegengebracht haben, aber ich kann Sie nicht heiraten.
Bitte vergessen Sie meine vormaligen Erklärungen. Ich hätte mir niemals erlauben sollen, Ihnen zu sagen, dass ich Sie liebe und heiraten will. Sie, Alasdair, sind ein dritter Sohn … Mein Vater würde es nie gestatten, dass Sie um mich werben.
Diese Worte, fast sechs Jahre zuvor geäußert, hatten noch immer die Kraft, ihn zu peinigen. Dabei hatte er gedacht, er könnte es ertragen sie wiederzusehen, als sei sie nur eine blasse Erinnerung aus seiner Vergangenheit. Hätte sie damals nur gewusst, dass seine Chancen, den Titel zu erben, größer waren als vermutet. Denn jetzt war er der Marquess of Westcliffe und letztes Mitglied seiner fluchbeladenen Ahnenreihe.
Fast vergaß er, dass es ein bestimmter Grund war, der ihn auf den jährlichen Mittsommerball des Dukes und der Duchess of Milton geführt hatte. Alasdair verabscheute nämlich Bälle und andere gesellschaftliche Ereignisse, die er langweilig und banal fand. Seine Mutter hatte seine Haltung nie verstanden. Daher war sie entsetzt gewesen, dass ihr Sohn sich sträubte, an diesem Ball teilzunehmen, der sich zu einer Siegesfeier zu Ehren des Duke of Wellington entwickelt hatte.
Zwar war Alasdair froh, dass sie nun vor Napoleons vorrückenden Truppen und seinen finsteren Machenschaften sicher waren, doch er brauchte bloß die Augen zu schließen und schon erstanden die Gräuel des Krieges erneut in seiner Vorstellung. Es hatte keinen Sieger gegeben. Der Krieg hatte Hoffnungen und Träume zerstört und das Leben tausender Männer, Frauen und Kinder ausgelöscht.
Er blickte sich im hell erleuchteten Ballsaal um, sah die extravaganten Dekorationen und das Gedränge der Gäste, die sich durch die Menge schoben, um einander zu begrüßen. Ihr leeres Geschwätz klang ihm in den Ohren und übertönte die anschwellenden Klänge des Orchesters. Paare wirbelten über die Tanzfläche, lachend und plaudernd in ihren glänzenden Roben, und gaben sich dem Frohsinn und dem Rhythmus der Musik hin. Sie waren begeistert, weil sie am wichtigsten Ereignis der Saison teilnehmen durften, weit entfernt von den Grausamkeiten des Daseins. Und plötzlich war Alasdair froh, weil sie alle das Glück hatten, in diesem geschützten Raum Zuflucht zu finden, sicher vor Angst, Schmerz, Verzweiflung, Hunger und Terror.
Doch in gewisser Weise fand er die Situation hier fast so beängstigend wie auf dem Schlachtfeld. Denn seine Anwesenheit diente einem bestimmten Zweck, ein Gedanke, der einen bitteren Geschmack in seinem Mund hinterließ. Er wollte sich eine Frau suchen, genauer gesagt eine junge Erbin. Wer sie war, spielte dabei keine Rolle. Allerdings wünschte er sich, sie würde über eine gewisse Intelligenz und ein angenehmes Äußeres verfügen. Denn auch wenn es ihm nicht um Liebe ging, so würde er schließlich während ihres gemeinsamen Lebens mit ihr reden und sie ansehen müssen, und da sollte sie schon etwas mehr mitbringen als nur ihr Geld.
„Die junge Dame, die du unhöflicherweise mit den Augen verschlingst, ist Lady Willow, die einzige Tochter Seiner Durchlaucht. Ich glaube, du kennst sie von deinen Besuchen in Hadley House vor einigen Jahren“, flüsterte ihm seine Mutter, die verwitwete Marchioness, verschwörerisch zu. „Lady Willow war seit Jahren nicht mehr in London, und ihre Familie ist sehr zugeknöpft, was den Grund dafür angeht. Man munkelt, ihre Mitgift würde fünfundzwanzigtausend Pfund betragen. Dazu kommt noch ein jährliches Einkommen von zehntausend Pfund. Lass uns unsere Gastgeberin begrüßen und sie bitten, uns noch einmal ihre Tochter vorzustellen. Bestimmt werden sie heute Abend noch einen Walzer spielen; sieh zu, dass du sie dafür als Tanzpartnerin bekommst.“
Alasdair brummte nur. Das Letzte, was er wollte, war, auch nur in Lady Willows Nähe zu kommen. Sie zu berühren, ihren Duft wahrzunehmen und zu beobachten, wie ein Ausdruck von Abneigung in ihre schönen moosgrünen Augen trat, während er sich nach einem winzigen Lächeln von ihr verzehrte.
Bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz kalt, und die Wut, die er in sich hineingefressen hatte, wuchs. Vielleicht sollte er das Versprechen einlösen, das er sich vor Jahren selbst gegeben hatte, nämlich, die bezaubernde Schönheit zu verführen, seine quälende Begierde an ihr zu stillen und sie dann sitzenzulassen. Es war eine äußerst befriedigende Vorstellung. Ob sie schon jemandem versprochen war? Er hoffte nicht, denn so groß sein Wunsch auch war, sie durch Liebe und Schmerz zu bestrafen, ließ er sich grundsätzlich nicht mit Frauen ein, die schon vergeben waren.
Als er nicht antwortete, blickte seine Mutter ihn scharf an. „Du hast es versprochen, Alasdair“, ermahnte sie ihn vorwurfsvoll.
„Ach, sei ruhig, Mutter.“ Er legte ihre Hand auf seinen Arm, und gemeinsam schlenderten sie durch den überfüllten Ballsaal zum Kartenzimmer, wobei er Lady Willow keinen Augenblick aus den Augen ließ. „Ständig bettelst und drängelst du, und ich gehorche. Ich kann mir meine Tanzpartnerinnen auch ohne deinen Rat aussuchen.“
Als er spürte, wie ihr Griff um seinen Arm sich verstärkte, schaute er sie an und sah ihre grauen Augen, die den seinen so ähnlich waren, zornig aufblitzen. Ihre Lippen waren unwillig zusammengepresst. Doch er würde nicht nachgeben. Er war schon fügsam genug und hatte sich tagtäglich ihre Tiraden darüber angehört, was von ihm erwartet wurde. Ihm war durchaus bewusst, dass sie ihm heute Abend bei der Suche nach einer geeigneten Braut helfen wollte, denn seine Mutter verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, sich zu sorgen, weil er immer noch ledig war.
„Wenn du deine Bekanntschaft mit Lady Willow nicht erneuern willst, solltest du dich Lady Madalene vorstellen, der ältesten Tochter des Earl of Gilmanton. Es heißt, ihre Mitgift sei verdoppelt worden.“
Ohne eine Antwort zu geben, begleitete Alasdair seine Mutter zum Kartenzimmer und verließ sie dann mit einer kurzen Entschuldigung. Er verstand ihre Besorgnis durchaus, doch die einzige junge Dame, die zurzeit sein Interesse erregte, war Lady Willow.
Wie unter Zwang ging sein Blick zu ihr hinüber, und als er den sehnsuchtsvollen Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerkte, raubte es ihm fast den Atem. Er war so eindringlich, schmerzvoll und geradezu herzergreifend schön, dass Alasdair nichts lieber wollte, als ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Dabei kam er sich selbst idiotisch vor, da er normalerweise nicht zu Fantastereien oder romantischer Versponnenheit neigte. Nicht mehr, seit sie ihm das Herz gebrochen und er die Grausamkeit des Krieges kennengelernt hatte.
Er folgte ihrem Blick und zog verwundert die Stirn kraus, denn sie schaute auf die Kübelpflanzen auf der Veranda. Die konnten ja wohl kaum der Grund für ihren verlangenden Blick gewesen sein. Wie von einer unsichtbaren Macht gelenkt, näherte sie sich jetzt der Stelle, von der die Musik kam. Ihre Schritte waren unsicher und zögernd, als wüsste sie nicht recht, was sie tun sollte. Unsicher nagte sie an ihrer Unterlippe, um dann plötzlich eine andere Richtung einzuschlagen.
Und zwar so plötzlich, dass sie mit einem Diener zusammenstieß, der ein Tablett mit Champagnergläsern trug.
Das Klirren war ohrenbetäubend. Lady Willow wurde kreidebleich und fasste sich mit der Hand an die Kehle. Dann blickte sie sich wie suchend um, und wenn Alasdair sich nicht irrte, wurde sie in der plötzlich einsetzenden Stille noch blasser. Hier und da war leises Gemurmel zu hören, und einige Damen reckten sogar den Hals, um zu sehen, was vorgefallen war. Bestimmt waren sie froh um jedes noch so banale Bröckchen Klatsch, das sie morgen verbreiten konnten. Warum ging Willow nicht weg? Stattdessen raffte sie mit angstvoller Miene und schwer schluckend ihren Rock zusammen. Auf einmal wirkte sie sehr verletzlich.
Irritiert nahm Alasdair die Welle von Zärtlichkeit wahr, die ihn durchströmte, und biss wütend die Zähne zusammen. Zärtliche Gefühle waren das Letzte, was er für sie empfinden wollte. Wo war auf einmal sein Zorn auf sie? Der Wunsch, ihr wehzutun, weil sie ihn so grausam missachtet hatte? Sie waren verflogen, und das erschreckte ihn. Schließlich hatte er jahrelang mit Bitterkeit an sie gedacht, nachdem sie ihm eine Abfuhr erteilt hatte. Zu dumm. Alles, was er wollte, war, Lady Willow zu verführen und sich all das zu nehmen, was sie ihm in ihrem Wankelmut verweigert hatte. Für immer sollten sein Geschmack und das Gefühl seines Körpers ihr in Leib und Seele eingeprägt bleiben, damit sie ebenso sehr litt, wie er gelitten hatte, wenn er sie dann schließlich verließ. Doch die panische Angst in ihrem Gesicht brachte das Eis tief in seinem Inneren zum Schmelzen, und plötzlich wollte er sie nur noch trösten und ihr die Furcht nehmen.
Ohne auf die gemurmelten Worte und das Kopfnicken zu achten, mit dem die anderen Männer ihn begrüßten, schlenderte Alasdair gemächlich auf sie zu.
Lass es sein, du Idiot. Hau ab … und kümmere dich nicht um sie.
Doch seine Füße setzten wie von selbst ihren Weg fort. Dabei trieb ihn nicht nur der Wunsch an, ihre Reaktion zu beobachten, wenn sie erfuhr, dass er jetzt der Marquess of Westcliffe war und sie an ihr gebrochenes Versprechen erinnern wollte. Insgeheim verlangte es ihn danach, ihr hübsches Gesicht von Nahem zu sehen; dieses Lächeln, das ihn einst um den Verstand bringen konnte. Er wollte sich in der Schönheit ihrer grünen Augen verlieren und ihre Stimme hören … sanft und ein wenig rauchig, die mit einem bloßen Lachen seinen Schwanz abrupt zum Leben erwecken konnte.
Er war verdammter Idiot.