Leseprobe Das Haus nebenan | Ein fesselnder Psychothriller

Kapitel 1

Sie steht in der Tür und zittert. Sie trägt keinen Mantel und ich kann durch ihre dünne Bluse die Konturen ihrer Brüste sehen. Sie merkt, dass ich sie ansehe, und zieht ihre Strickjacke enger um sich.

„Hallo“, sagt sie. „Eisig kalt, nicht wahr?“

Ihre Unterlippe zittert wegen der Kälte. Sie wirkt schüchtern und verlegen. Ein paar Strähnen haben sich aus ihrem locker zusammengebundenen Pferdeschwanz gelöst, sie streicht sie nach hinten. Regentropfen auf ihren Brillengläsern schränken ihre Sicht ein.

„Ich bin Sharni“, stellt sie sich vor. „Wir sind gerade erst nebenan eingezogen. In die 24.“

Sie zeigt hinter sich und mein Blick folgt der angedeuteten Richtung, bis ich einen Möbelwagen entdecke. Das Haus stand über Monate hinweg leer und Chris und ich hatten uns schon gefragt, wer da wohl mal einziehen würde.

„Ich bin Clare“, sage ich. „Freut mich, dich kennenzulernen.“

Sie wirkt nervös.

„Tut mir leid, wenn ich dir jetzt schon zur Last falle“, redet sie lächelnd weiter. „Man hat mir einen Blumenstrauß geschickt, aber ich kann keine von unseren Vasen finden. Es sind einfach zu viele Kartons und ich …“

„Ja, natürlich. Komm doch erst mal rein“, sage ich und ziehe die Tür weiter auf.

Sie macht sie gleich hinter sich wieder zu, aber der Wind hat bereits einen ganzen Schwung Herbstlaub ins Haus geweht. Das Rostbraun der Blätter passt zu ihrer Haarfarbe.

„Hier ist es wenigstens angenehm warm“, merkt sie an.

„Funktioniert eure Heizung nicht?“

„Doch, doch, aber wenn den ganzen Tag die Tür offen steht, kann es einfach nicht warm werden.“

Sie kommt mir irgendwie bekannt vor und ich versuche mich zu erinnern, wo ich sie schon mal gesehen habe.

„Ich hole dir eine Vase“, sage ich und führe sie in den Salon. „Möchtest du einen Kaffee?“

Sie dreht sich weg und wischt mit dem Ärmel ihrer Strickjacke über die Brillengläser.

„Meine Brille ist sofort beschlagen“, erklärt sie lachend. „Ein Kaffee wäre super.“

Ihre Ohrringe sind kleine goldene Reifen und mir fallen schwarze Schmierer an ihren Händen auf. Vermutlich Druckerschwärze. Ich weiß noch, wie Chris und ich von oben bis unten damit besudelt waren, als wir hier einzogen.

„Falls wir je wieder umziehen, dann erinnere mich daran, dass wir zum Einpacken nicht noch einmal Zeitungspapier nehmen“, hatte er sich beklagt.

Ich suche im Schrank unter der Spüle, ertaste aber nur schmutzige Staublappen und alte Flaschen Putzmittel. Mit einem Finger gerate ich in eine Mausefalle und muss einen Aufschrei unterdrücken, als sie zuschnappt. Hinter mir höre ich Sharni mit Ben reden. Ihre Stimme klingt warm und sanft. Ben gluckst fröhlich. Auch im nächsten Schrank werde ich nicht fündig, schließlich nehme ich die handbemalte Vase vom obersten Regalbrett der Anrichte. Chris hatte sie mir in unseren Flitterwochen gekauft. Einen Moment lang zögere ich, aber es ist ja nicht so, als würde sie die Vase ewig behalten. Bestimmt gibt sie sie mir spätestens dann zurück, wenn sie alles ausgepackt hat.

Der Wasserkocher meldet sich und ich brühe den Kaffee auf.

„Oh, ist die wunderschön“, sagt Sharni, als sie die Vase sieht. Sie hat sich zu Ben auf den Fußboden gesetzt und hilft ihm beim Ausmalen seiner Häschenbilder.

„Mein Mann hat sie mir geschenkt, als wir in Irland unsere Flitterwochen verbrachten.“

„Du willst sie mir wirklich geben?“, fragt sie. „Ich werde sie gleich morgen zurückbringen. Ich will nur nicht, dass die Blumen verwelken.“

„Ist schon in Ordnung“, entgegne ich und schiebe meine Stundenpläne auf dem Wohnzimmertisch zur Seite, damit ich ihr einen Becher Kaffee hinstellen kann.

„Er ist so süß“, sagt sie und sieht dabei Ben an.

„O ja, das ist er“, pflichte ich ihr bei.

Sie streicht ihm über die Haare, ihre Hand bleibt einen Moment auf seinem Kopf liegen.

„Du hast es hier sehr schön“, redet sie weiter, während sie sich umschaut.

„Danke.“

„Ich suche immer nach guten Ideen, weil ich will, dass unser Zuhause richtig gemütlich aussieht. Du hast das toll hingekriegt.“

Während sie die Art déco-Lampe auf dem Beistelltisch berührt, muss ich lächeln. Ben wird mit einem Mal ungehalten und ich beuge mich zu ihm runter.

„Darf ich fragen, wo du die gekauft hast?“

„Bei John Lewis, wenn ich mich nicht irre. Die haben ein wunderschönes Angebot.“

Ben rülpst und wir müssen beide lachen.

„Wie alt ist er eigentlich?“, will sie wissen.

„Fast zwei“, sage ich.

Er windet sich aus meinen Armen und geht mit wackligen Schritten wie ein eben erst zur Welt gekommenes Rehkitz auf Sharni zu.

„Er hat gerade erst festgestellt, wozu seine Beine gut sind“, merke ich lachend an.

Sie fängt ihn auf, als er ihr entgegenstolpert.

„Hast du auch Kinder?“, frage ich.

Ihre Miene verfinstert sich kurz und mir kommt der Gedanke, dass ich so etwas vielleicht nicht hätte fragen sollen. Dann aber lächelt sie und ich frage mich, ob ich mir ihre Reaktion vielleicht nur eingebildet habe.

„Nein“, antwortet sie tonlos.

Mir will nichts einfallen, was ich darauf erwidern soll.

„Bist du Innenarchitektin?“, erkundigt sie sich.

Wieder muss ich lachen. „Ich? O nein, ich wüsste gar nicht, wie ich das machen sollte. Ich bin Lehrerin, aber seit wir Ben haben, arbeite ich nur in Teilzeit.“

„Aber dieses Zimmer sieht so bezaubernd aus. Du hast einen unglaublich guten Geschmack. Ich werde dich um Rat fragen müssen, wenn ich anfange, unser Haus einzurichten.“

„Das wird angenehm werden, Nachbarn in unserem Alter zu haben“, sage ich.

Ihre Augen strahlen. Sie stellt den Kaffeebecher auf den Tisch und beugt sich zu mir vor. „Das bringt mich auf eine Idee. Warum kommst du nicht am Samstagabend mit deinem Mann auf einen Einweihungsdrink zu uns rüber? Dann können wir uns direkt mal besser kennenlernen.“

„Aber ihr habt doch alle Hände voll zu tun, um die vielen Kartons auszupacken“, erwidere ich. Mit ihrer Einladung hat sie mich überrascht.

„Wir werden zwischendurch auch mal eine Pause machen müssen. Kommt zu uns rüber.“

„Ich muss das erst mit Chris abklären, aber ich denke, es wird klappen.“

„Großartig.“ Lächelnd steht sie von der Couch auf. „Sagen wir gegen acht? Wenn ihr keinen Babysitter finden könnt, dann bringt den Kleinen doch einfach mit.“

Ich will etwas erwidern, überlege es mir dann aber anders. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass wir Ben einfach mitnehmen würden. Aber so, wie sie es sagt, hört es sich für mich an, als wäre ihr ein Abend ohne die Anwesenheit eines Kindes lieber.

„Danke“, sage ich und drücke Ben an mich. „Erfreu dich an deinen Blumen.“

„Blumen?“, fragt sie.

„Die, für die du die Vase haben wolltest.“

„Ach so, ja. Meine Mum hat sie mir geschickt. Danke, Clare. Dann bis Samstag.“

***

„Wie ich sehe, bekommt ihr neue Nachbarn“, sagt Helen und deutet mit einer Kopfbewegung auf den Möbelwagen.

Ich folge ihrem Blick. „Ja. Sie habe ich heute Morgen schon kennengelernt. Macht einen ganz netten Eindruck.“

Wir sehen zu, wie ein weißes Sofa ins Haus getragen wird. Ich fange an zu zittern, als mir die kalte Luft entgegenweht.

„Möchtest du einen Kaffee?“, frage ich Helen und mache einen Schritt zurück in die Wärme.

„Nein, ich bin nur vorbeigekommen, um mir die Stundenpläne abzuholen. Ich muss noch einen ganzen Stapel Klassenarbeiten durchsehen.“

Sie macht die Tür hinter sich zu und wartet darauf, dass ich ihr die Pläne bringe.

„Sie haben uns für Samstag auf einen Drink zu sich eingeladen“, sage ich und wundere mich, warum ich Helen davon erzähle. Vielleicht hoffe ich ja auf ihren Zuspruch, weil ich eigentlich gar nicht hingehen will.

„Mein Gott, die sind doch noch gar nicht richtig eingezogen.“

„Ich weiß. Deshalb überlege ich ja auch, ob wir nicht besser absagen sollten.“

„Das wäre doch blöd. Natürlich solltet ihr hingehen. Ganz bestimmt werdet ihr einen Babysitter finden“, meint Helen lächelnd. „Außerdem erzählst du mir doch immer wieder mal, wie sehr sich Chris darüber beklagt, dass ihr so selten ausgeht.“

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. Ich bin schon spät dran, um Kathryn zu bitten, auf Ben aufzupassen. Aber ich vertraue niemandem sonst so sehr wie ihr. Für Helen stellt das alles kein Problem dar. Doch sie hat keine Kinder und kann sich unmöglich in mich hineinversetzen. Ich weiß, sie hält mich für übermäßig ängstlich, vielleicht hat sie damit ja auch recht. Es ist ja auch nicht so, als würde ich nicht ausgehen wollen. Aber es macht mir schon jetzt keinen Spaß, weil ich weiß, dass ich mir die ganze Zeit über Sorgen um Ben machen werde.

„Ich werde mit Chris darüber reden“, sage ich.

„Wie gehts Ben?“, fragt sie und wirft einen Blick durch die Tür, um ihm zuzuwinken.

„Ihm gehts prächtig. Ich liebe jeden Tag, an dem ich zu Hause bin.“

Sie drückt mich an sich und öffnet die Haustür.

„Wir müssen mal gemeinsam zu Ikea fahren“, meint sie, wobei ihr Gesicht zu strahlen beginnt.

„Gute Idee.“

„Morgen in der Schule überlegen wir, an welchem Tag wir das machen. Jetzt muss ich mich aber beeilen.“

Ich sehe, wie ein Auto vor dem Haus nebenan anhält. Ein elegant gekleideter Mann steigt aus, holt einen Koffer aus dem Kofferraum und rollt ihn zum Haus. Ich fege ein paar Blätter von den Stufen und mache die Haustür zu.

 

Ein Jahr zuvor

 

Sie saß in ihrem üblichen Sessel im Sprechzimmer der Therapeutin. Die Hände hatte sie gefaltet, die Schultern hochgezogen.

„Möchten Sie über die Geburt reden?“, fragte Leah und hielt ihr einen Becher Kaffee hin.

Nein, ich will nicht über die Geburt reden, dachte sie. Der Regen prasselte gegen die Fensterscheiben und vor ihren Augen verschwamm alles.

„Viel ist mir nicht im Gedächtnis geblieben“, sagte sie schließlich. Die Stimme hörte sich nicht nach ihrer eigenen an. Sie klang zu weit entfernt. „Ich weiß noch, dass es geregnet hat. Und dass Hagelkörner gegen die Fensterscheiben prasselten. Ich war aufgeregt, weil es endlich so weit war.“

Sie ballte die Fäuste, bis sich die Fingernägel scharf und schmerzhaft in die Handflächen drückten.

„Ich erinnere mich noch, dass ich dachte, dass mir die Schmerzen egal sein würden. Es würde die Schmerzen wert sein, und das war es dann auch.“

„Ist das eine schöne Erinnerung?“

Sie nickte.

„Aber ich wollte drei. Ich hatte schon immer drei gewollt. Ich hatte geplant, dass wir das Zweite ein Jahr später bekommen. So hätten sie zusammen aufwachsen können …“

Ihre Kehle war mit einem Mal so zugeschnürt, dass sie kaum noch atmen konnte.

„Brauchen Sie ein Glas Wasser?“, fragte Leah fürsorglich.

Sie schüttelte den Kopf. Es kam ihr so vor, als würde sie hier immer Unmengen Wasser trinken.

„Ich kann es noch immer nicht akzeptieren. Ich gebe mir ja Mühe. Ich erinnere mich noch genau an die Schmerzen, die stundenlang anhielten. Eine natürliche Geburt wäre mir lieber gewesen, aber ich war doch erleichtert, als man mich in den OP brachte. Alle sagten mir, ich solle dankbar sein dafür, dass ich ein Baby habe, aber ich verspürte nur Enttäuschung und Wut. Es war meine Mutter, die mir sagte, dass ich keine Kinder mehr bekommen könne.“

„Sind Sie immer noch wütend auf die Ärzte, die Ihre Gebärmutter entfernt haben?“

Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Hand zitterte. Behutsam stellte sie den Kaffeebecher zurück auf den Tisch und platzierte ihn neben einer einsamen Box mit Taschentüchern. Unwillkürlich fragte sie sich, wie oft Leah die Box austauschen musste. Jeden Tag? Alle paar Stunden?

„Sie müssen das hinter sich lassen, wenn wir Fortschritte machen wollen. Sie müssen es akzeptieren.“

Sie hat gut reden, dachte sie verärgert.

„Haben Sie Familie?“, fragte sie.

„Es geht hier nicht um mich“, antwortete Leah.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie plötzlich und stand auf.

Leah schien das nicht zu verwundern.

Immerhin war sie länger geblieben als beim letzten Mal.

Kapitel 2

„Du siehst fantastisch aus“, sagt Chris.

„Meinst du nicht, dass es etwas übertrieben ist? Ich könnte auch einfach meine Jeans anziehen.“

„Du siehst toll aus. Du gefällst mir in dem Kleid. Allerdings weiß ich nicht, warum wir uns so viel Mühe geben, wenn sie nicht mal in der Lage sind, uns unsere Vase zurückzubringen.“

„Bestimmt hatten sie zu viel zu tun“, sage ich, um Sharni in Schutz zu nehmen.

„Das ist jetzt schon Tage her. Die Blumen sind inzwischen bestimmt schon verwelkt.“

„Ich nehme an, dass sie viel um die Ohren haben und einfach noch keine Gelegenheit hatten, uns die Vase zu bringen. Ich weiß noch gut, wie ich mich gefühlt habe, als wir hier eingezogen sind.“

„Warum nimmst du die beiden so beharrlich in Schutz?“

„Das tue ich doch gar nicht.“

Ich lächle sein Spiegelbild an. Er steht in seinem strahlend weißen Hemd und seiner Unterhose da. Das Bild wirkt so absurd, dass ich lachen muss. Er duftet nach Aqua di Parma.

„Du riechst gut“, lasse ich ihn wissen.

Er gibt mir einen Kuss auf den Hals, seine Hand gleitet nach unten und legt sich um meine Brust. Seine Berührung löst bei mir einen wohligen Schauer aus.

„Ich habe mich gerade erst umgezogen“, sage ich.

„Das lässt sich rückgängig machen“, haucht er mir ins Ohr.

„Kathryn wird jeden Moment klingeln. Außerdem ist Ben …“

„… in seinem Laufstall und beschäftigt sich mit seinen Spielsachen.“

Was, wenn Kathryn klingelt, und wir sind beide nackt und … Was soll sie denken, wenn Chris dann immer noch mit dieser verräterischen Beule in seiner Hose dasteht?

„Chris …“, beginne ich.

Das Kleid gleitet von meinen Schultern, wieder verspüre ich einen Schauer.

„Himmel, Clare, du bist so sexy“, stöhnt er.

Es klingelt an der Tür und ich zucke zusammen.

„Verdammt!“, ächzt Chris.

„Ich habe dich gewarnt“, sage ich lächelnd. „Sie ist immer zu früh.“

Er zieht den Reißverschluss an meinem Kleid zu und eilt ins Badezimmer. Der Duft von Aqua di Parma haftet noch an meinem Kleid, was ich als beruhigend empfinde.

„Ich bin etwas zu früh dran“, erklärt Kathryn und wirft mir einen bewundernden Blick zu. „Das ist ein hinreißendes Kleid, Mrs Ryan.“

„Es ist neu“, antworte ich und klinge dabei wie ein Kind, das ein neues Spielzeug präsentiert. „Ich hole Ben aus dem Schlafzimmer.“

Unwillkürlich frage ich mich, ob Kathryn wohl unser Haus mit den Häusern ihrer anderen Kunden vergleicht, auch wenn ich keine Ahnung habe, wer diese anderen Kunden sind. Chris und ich wohnen erst seit achtzehn Monaten in Kensington, und außer den Kollegen in der Schule kenne ich eigentlich so gut wie niemanden. Und von denen kenne ich auch nur Helen richtig gut.

„Du weißt, wo du alles findest?“, frage ich. „Und wie der Fernseher funktioniert?“

„Ja, ich kann mich daran erinnern“, versichert sie mir amüsiert.

Ich höre mich mal wieder übervorsichtig an.

„Dann werde ich mich jetzt mal fertigmachen.“

Auf der Treppe kommt mir Chris entgegen.

„In zehn Minuten müssen wir los, wenn wir uns so verspäten wollen, wie es gerade in Mode ist“, sagt er und gibt mir einen Klaps auf den Po.

Ich betrachte mich im Spiegel und frage mich, was ich nur mit meinen Haaren gemacht habe. Ich dachte, Locken würden mir stehen. Aber mein Haar ist zu fein und es sieht alles nur platt aus. Die Zeit reicht nicht, um mit etwas Trockenshampoo ranzugehen, und es würde auch zu lange dauern, die Haare hochzustecken. Ich trage etwas Lippenstift auf und tupfe mit einem Kosmetiktuch meine Lippen ab. Ich habe viel zu viel Rouge aufgelegt, also tupfe ich auch noch mit zitternden Händen meine Wangen ab.

„Clare“, ruft Chris. „Bist du so weit? Wir sollten uns auf den Weg machen.“

Ich ziehe meine High Heels an und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Mir fällt ein, dass ich das Parfüm vergessen habe, und sprühe schnell noch meinen Hals mit etwas Jo Malone Grapefruit ein. Verdammt, das wird jetzt viel zu frisch riechen. Ich nehme Ben aus dem Laufstall und eile die Treppe runter.

Chris geht an der Haustür hin und her.

„Ich weiß nicht, wo ich meine Handtasche hingelegt habe“, sage ich und sehe mich um.

„Die ist hier, Mrs Ryan“, ruft Kathryn mir zu.

Ich sehe nach, ob das Fläschchen Diazepam in der Tasche ist, und atme leise erleichtert auf.

„Die wirst du nicht brauchen“, raunt Chris mir zu.

Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.

„Unsere Nummer hast du ja“, sage ich zu Kathryn. „Wenn irgendwas ist – egal was –, dann ruf sofort an. Bens Trinkbecher steht in der Küche. Den Saft habe ich neben den Kühlschrank gestellt.“

Chris seufzt.

„Keine Sorge, Mrs Ryan. Amüsieren Sie beide sich gut.“

„Clare.“ Chris packt mich am Arm und drückt ihn leicht.

Ich nicke und ziehe meinen Mantel an. Dann sehe ich ein letztes Mal nach Ben und folge Chris aus dem Haus.

Kapitel 3

„Du trägst Grapefruit!“, stellt Sharni fest, als sie an mir schnuppert. „Ich liebe Jo Malone.“

„Das ist ein kleiner Luxus, den ich mir gönne.“ Kaum habe ich es ausgesprochen, wird mir bewusst, dass sich das anhören muss, als könnte ich mir das Parfüm eigentlich nicht leisten. Genau genommen kann ich das auch gar nicht. Mein Teilzeitjob als Lehrerin bringt nicht viel ein, und obwohl Chris hart arbeitet und jede Überstunde mitnimmt, die er bekommen kann, bleibt für den Monat nie viel übrig, wenn die Hypothek und alle Rechnungen bezahlt sind. Das Parfüm von Jo Malone hatte ich mir zu meinem Geburtstag gegönnt und ich will davon so lange wie möglich etwas haben.

„Kommt doch rein“, fordert uns Sharni freundlich auf und nimmt uns die Mäntel ab.

Sharni ist eine exzellente Gastgeberin. Ich kann mir zwar nicht erklären, woher sie die Zeit nimmt, aber ich schätze, es hat damit zu tun, dass sie keine Kinder hat. Auf dem Tisch findet sich eine Auswahl an Käsesorten, Schinken, Baguette, selbstgemachten Toast Melba, Pasteten und kleine Stücke Knäckebrot mit Räucherlachs und Frischkäse belegt. Sharni reicht uns einen Mango Bellini und ihr Ehemann Tom hält uns ein Tablett mit Kanapees hin. Ich sage zu Sharni, dass ich nichts Alkoholisches trinken möchte, aber sie will davon nichts wissen. Sie beharrt darauf, dass wir hergekommen sind, um das Haus einzuweihen, und das macht man nun mal am besten mit Champagner.

„Ein Glas bringt dich nicht um“, flüstert mir Chris zu.

Ich bin Champagner nicht gewöhnt. Ich weiß nicht, wann Chris und ich das letzte Mal Champagner getrunken haben. Ich trinke nur bei Hochzeiten und auf einer Hochzeit waren wir schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Wir haben auch keinen Champagner im Haus. Für uns ist schon eine Flasche Wein etwas Besonderes. Tatsache ist, dass ich keinen Alkohol trinken will, wenn ich Diazepam genommen habe. Es ist zwar nicht so, dass ich das nicht dürfte, aber ich muss in der Lage sein, mich um Ben zu kümmern, und genau das ist dann nicht sicher. Mutter zu sein, bedeutet mir einfach alles.

„Ihr habt ein schönes Haus“, sage ich.

„Man sollte nicht meinen, dass ihr gerade erst eingezogen seid“, stellt Chris fest, während er sich umschaut.

Tom lacht auf. Er sieht gut aus. Nicht der Typ Mann, den ich mir an Sharnis Seite vorgestellt hätte. Er ist dynamisch und sticht heraus, während Sharni mit ihrem mausbraunen Haar und ihrer Brille völlig unscheinbar wirkt. Tom hat einen ziemlichen Oberschicht-Akzent, während in Sharnis Stimme ein West Country-Tonfall mitschwingt.

„Ihr habt den ersten Stock nicht gesehen. Da steht alles, was wir noch nicht ausgepackt haben“, lässt Tom uns wissen.

Er schenkt mir Bellini nach, bevor ich ihn davon abhalten kann. Chris und ich setzen uns auf das weiße Sofa, das sich unter mir hart und widerspenstig anfühlt, ganz anders als unser altes, durchgesessenes Sofa, das sich weich an meinen Körper schmiegt. Sharni sieht jetzt nicht mehr so übermüdet wie bei unserer ersten Begegnung aus. Ihre Haare sind ordentlicher frisiert und zu einem Knoten zusammengebunden. Sie trägt große schwarze Ohrringe, die an ihren Ohren baumeln.

Auf der Fensterbank stehen Glückwunschkarten zum Umzug. Ich bin noch nie in diesem Haus gewesen. Zuletzt hatte hier ein älteres Ehepaar gewohnt. Bevor Sharni und Tom eingezogen sind, habe ich die Handwerker arbeiten hören. Die Wand im Salon ist übersät mit Schwarzweißfotos. Etliche von ihnen zeigen Tom in verschiedenen natürlichen Posen. Ich frage mich, ob er ein Model ist. Auf jeden Fall versteht er es, sich für Fotografen zu präsentieren. Ich entdecke auch noch Farbfotos, die ein älteres Ehepaar zeigen, vermutlich Sharnis oder Toms Eltern. Daneben gibt es ein paar Landschaftsmotive und Fotos, die Sharni und Tom als verliebtes Paar zeigen. Ich stehe auf und sehe mir die Bilder genauer an.

„Schöne Fotos“, sage ich, während ich merke, wie der Champagner mich entspannter macht.

Auf einmal bemerke ich Sharni neben mir und rieche ihr Parfüm. Es duftet nach Zitrone.

„Die habe ich aufgenommen“, erklärt sie und schenkt mir Champagner nach.

„Tatsächlich?“, fragt Chris. „Die sind hervorragend.“

„Oh, nicht noch mehr“, sage ich und halte eine Hand über mein Glas. „Ich kann mich nicht im betrunkenen Zustand um einen Zweijährigen kümmern.“

„Im Moment musst du dich aber nicht um ihn kümmern“, sagt sie und schiebt meine Hand zur Seite. „Wenn du willst, kann ich Ben auch mal fotografieren.“

Ich stutze, als ich sie reden höre. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ihr gesagt habe, dass mein Junge Ben heißt.

„Du bist eine gute Fotografin“, erwidere ich.

Ich fühle mich bereits ein bisschen berauscht.

„Das sollte sie auch sein, schließlich ist das ihr Job“, meint Tom lachend.

„Tatsächlich?“, wirft Chris ein. „Für wen arbeitest du?“

„Chris ist Stadtplaner. Er macht ständig Fotos von allen möglichen Straßen. Du weißt, um den Verkehr zu verbessern“, sage ich und nehme mir einen Toast Melba. Der Champagner bewirkt, dass sich in meinem Kopf alles dreht.

„Na ja, das ist nicht ganz das Gleiche“, entgegnet Chris. Einen Moment lang komme ich mir unsäglich dumm vor und ich hasse ihn dafür, dass er mir dieses Gefühl gibt.

„Ich arbeite freiberuflich“, sagt Sharni und greift nach einem Lachs-Knäckebrot. „Ich mache Modefotos und ich entwerfe die Kulissen für Modeshootings. Ich arbeite viel für die Vogue, müsst ihr wissen. In deren Londoner Büro habe ich mein eigenes Studio.“

„Aber die meiste Zeit über kann die Glückliche von zu Hause aus arbeiten“, ergänzt Tom und gibt ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Stadtplanung? Klingt interessant“, fügt er an Chris gewandt an.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass sein Tonfall etwas Gönnerhaftes an sich hat. Ich drehe mich weg und betrachte wieder die Fotos. „Die sind wirklich hervorragend“, sage ich und frage mich, ob ich mit einem Mal etwas undeutlich spreche.

„Es wäre schön, Ben von einem Profi fotografieren zu lassen“, höre ich Chris sagen. „Meinst du nicht auch, Clare?“

„Ich würde ihn liebend gern fotografieren“, stimmt Sharni ihm zu.

Überrascht sehe ich mit an, wie Tom eine weitere Flasche Champagner öffnet. Ich glaube, es ist Chris und mir noch nie gelungen, an einem Abend eine ganze Flasche Wein zu trinken, von zwei Flaschen Champagner ganz zu schweigen.

„Und was machst du, Clare?“, will Tom wissen.

„Ich bin Lehrerin. Momentan arbeite ich aber nur an zwei Tagen in der Woche.“

„Außerdem hilft sie in der örtlichen Kita mit“, fügt Chris an. Auch wenn es albern ist, empfinde ich es als peinlich, dass ich keinen hochkarätigen Job vorweisen kann wie Sharni.

„Das muss für Ben doch toll sein“, sagt Sharni, doch ihre Worte haben einen seltsam hohlen Klang.

„Wir bringen uns gern ein“, fügt Chris hinzu. „Wir sind auch sogenannte Objektverantwortliche. Sollte es irgendwann mal ein Problem geben, stehen wir auf der Liste ganz oben.“

Ich verdrehe die Augen, als ich Chris reden höre. Er übertreibt maßlos, weil er die beiden wohl aus irgendeinem Grund beeindrucken will.

„Ihr Glücklichen“, entgegnet Tom und stößt mit mir an. „Ich habe immer das Gefühl, dass meine Arbeitswoche acht Tage dauert.“

„Tom ist Anwalt. Seine Arbeit ist nie getan“, erklärt Sharni mit einem Ächzen.

„Das muss ja wirklich sehr interessant sein“, sagt Chris. Ich spüre Wut in mir aufsteigen. Muss er sich bei den beiden denn so einschleimen? Schließlich ist deren Haus kaum größer als unseres, und ich frage mich, warum die zwei hier im Viertel wohnen, wenn sie doch so erfolgreich sind.

„Clare versteht sich wahnsinnig gut auf Inneneinrichtung“, wirft Sharni ein.

„Nein, so gut nun auch wieder nicht“, protestiere ich.

„Du bist viel zu bescheiden.“

„Ich hole uns allen Bier“, verkündet Tom.

„Lass mich das machen“, sagt Sharni und fasst mich am Arm. „Ich will Clare die Küche zeigen.“

Ich sehe auf meine Handtasche und finde, dass ich einen Blick auf mein Smartphone werfen sollte, falls Kathryn mir eine Nachricht geschickt hat. Stattdessen werde ich von Sharni in eine unerwartet chaotische Küche geführt. Benutzte Auflaufformen stehen auf dem Tresen, dazwischen leere Räucherlachsverpackungen. Sharni wirft einen Blick in den strahlend neuen Backofen.

„Kannst du mir den Ofenhandschuh geben?“, bittet sie mich. „Er liegt da bei den Tellern.“

Ich drehe mich weg, um den Handschuh zu holen, da fällt mein Blick auf eine Kristallvase auf der Fensterbank mit einem frischen Blumenstrauß darin.

„Liegt er da nicht?“, will sie wissen.

„Oh, doch, doch.“

Sie knallt ein Backblech voll mit Torteletts auf den Tresen. „Mein Gott, ist das heiß.“

Ich überlege, ob ich sie auf meine Vase ansprechen soll. Ganz eindeutig braucht sie sie nicht mehr, aber ich will auch nicht kleinlich erscheinen. Ich werde warten, bis wir gehen. Ganz bestimmt hat sie sie schon irgendwo hingestellt, wo sie sofort griffbereit ist, um sie mir zu geben, wenn wir später aufbrechen.

„Ich weiß, die Küche sieht ein bisschen wild aus. Ich habe überlegt, ob ich hier tapezieren soll. Was denkst du? Deine Meinung ist mir wirklich wichtig.“

„Ich glaube, Tapete würde gut aussehen.“

„Ich bin mir nicht sicher. Streichen ist viel einfacher.“

„Stimmt, unsere Küche ist auch gestrichen.“

„Möchtest du ein Bier?“, fragt sie und macht den Kühlschrank auf.

Ich schüttele den Kopf.

„Vielleicht können wir ja zusammen zu Libertys gehen und uns die Tapeten ansehen. Wie wärs mit Montag? Montags arbeitest du doch nicht, richtig?“, redet sie freudig auf mich ein.

Ich starre sie an.

„Woher weißt du, dass ich montags nicht arbeite?“ Meine Stimme hat einen schneidenden Tonfall, den ich im nächsten Moment bedauere.

Sie scheint das gar nicht zu bemerken und antwortet: „Wir sind an einem Montag eingezogen. Du warst zu Hause. Also nehme ich an, dass du montags nicht arbeitest.“

„O ja, richtig. Das hatte ich vergessen.“

„Wir könnten dann auch gemeinsam zu Mittag essen“, fährt sie fort.

„Ich muss mich montags um Ben kümmern“, mache ich ihr klar.

„Das ist doch okay. Es wäre toll, wenn wir Ben mitnehmen würden. Dann könnte ich direkt mal ein paar Fotos von ihm machen. Zwei Fliegen mit einer Klappe.“

„Na ja …“

Ehe ich weiß, wie mir geschieht, hat sie mir schon wieder Champagner nachgeschenkt.

„Komm, bringen wir den Jungs ihr Bier“, sagt sie.

***

Es ist fast elf. Ich hatte Kathryn versprochen, dass wir spätestens um halb elf zurückkommen würden. Aber es fühlt sich an, als hätte der Abend gerade erst begonnen.

„Soll ich Kathryn anrufen?“, richte ich mich Chris. „Um ihr zu sagen, dass es etwas später wird? Und um sie zu fragen, ob das okay ist?“

„Es wird bestimmt okay sein, aber ruf sie besser an.“

„Kann ich euer Badezimmer benutzen?“, frage ich Sharni.

„Natürlich. Das ist im ersten Stock, erste Tür links.“

Ich suche in meiner Handtasche nach dem Smartphone. Vor meinen Augen ist alles ein wenig verschwommen und ich habe Probleme, klar zu sehen.

„Dir ist was runtergefallen“, sagt Chris.

Meine Finger ertasten das Smartphone, und als ich es aus dem Chaos ziehe, habe ich auch noch diverse Make-up-Döschen in der Hand. Sharni muss mich für eine völlige Chaotin halten.

Vorsichtig nehme ich Stufe für Stufe in Angriff, da sich durch den Alkohol alles in meinem Kopf zu drehen scheint.

„In der Deckenlampe ist keine Birne“, ruft mir Sharni zu, als ich oben ankomme. „Du musst die Stehlampe anmachen.“

Ich suche den kleinen Tisch auf dem Treppenabsatz ab, bis ich die Lampe ertaste. Als ich sie einschalte, erhellt ihr sanfter Lichtschein die Umgebung. Dabei fällt mir auf, dass die Lampe identisch ist mit der, die wir haben. Und die Sharni so bewundert hat.

„Ich habe sie bei John Lewis gekauft.“

Ihre Präsenz dicht hinter mir lässt mich zusammenfahren.

„Tut mir leid. Habe ich dich erschreckt?“, fragt sie.

„Schon okay“, sage ich mit zittriger Stimme.

„Ich hoffe, das macht dir nichts aus. Sie gefällt mir einfach unheimlich gut. Ich dachte mir, ich stelle sie hier oben hin.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, sage ich und lächle sie an.

„Ist mit euch Mädchen da oben alles in Ordnung? Ich will Kaffee aufsetzen“, ruft Tom von unten.

„Clare hat bloß gerade unsere neue Lampe gesehen“, antwortet Sharni.

„Du hättest besser nicht so einen guten Geschmack, Clare“, scherzt Tom. „Möchtest du auch einen Kaffee?“

„Nein, danke“, rufe ich nach unten. „Wir sollten sowieso allmählich wieder gehen.“

Ich entdecke die Tür zum Badezimmer und gehe hinein. Sharni muss mich für neurotisch halten. Ich gebe zu, ich bin wegen der Vase ein wenig verärgert. Aber wahrscheinlich hatte sie in der letzten Zeit einfach so viel um die Ohren, dass sie gar nicht mehr daran gedacht hat. Ich werde sie in ein paar Tagen daran erinnern. Aber ich muss auch sagen, dass es nett ist, wenn man bewundert wird. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals irgendeine meiner Ideen bewundert wurde. Chris hat die Lampe noch nie leiden können, aber ich fühle mich bestätigt. Es wird angenehm sein, mit jemandem einkaufen zu gehen, der den gleichen Geschmack hat wie ich. Das wird sicher schön werden.

Das Badezimmer ist noch brandneu, es glänzt und ist blitzsauber. Während bei uns die Handtücher überall herumliegen, hängen sie hier ordentlich zusammengelegt auf einer Stange.

***

„Danke für den schönen Abend“, sagt Chris und gibt Sharni einen Kuss auf die Wange.

Es ist halb zwölf und ich bin wegen Ben voller Unruhe. So lange habe ich ihn bislang noch nie in Kathryns Obhut gelassen.

„Das müssen wir unbedingt wieder machen“, meint Tom und umarmt mich.

„Wir sehen uns am Montag“, sagt Sharni und drückt mich ebenfalls an sich. Der Geruch nach Zitrone hüllt mich ein. „Ich kann es kaum erwarten. Ich habe schon ein paar tolle Ideen fürs Haus.“

„Nächstes Mal müsst ihr zu uns kommen“, schlägt Chris vor. „Am besten zum Abendessen.“

Wir winken zum Abschied und Chris hält meinen Arm umfasst.

„Ich habe zu viel getrunken“, sage ich.

„Gut, das werde ich schamlos ausnutzen“, gibt er lachend zurück. „Hast du sie auf die Vase angesprochen?“

„Hab ich vergessen.“

Er kneift mir in den Po.

„Ich werde für Kathryn ein Taxi bestellen“, sagt er. „Wir sehen uns im Schlafzimmer.“

***

„Wie haben Sie sich diese Woche gefühlt?“, wollte Leah wissen.

Die Taschentücherbox hatte diesmal ein Blumenmuster. Sie fragte sich, ob Leahs andere Patienten noch mehr weinten als sie. Erlebten sie in diesem Zimmer ihre Albträume und ihre Tage in der Hölle auch wieder aufs Neue? Sie saß da, die Hände in den Schoß gelegt, und betrachtete ihre angeknabberten Fingernägel.

„So wie immer“, antwortete sie tonlos.

„Helfen Ihnen die Tabletten, die der Arzt Ihnen verschrieben hat?“

Sie seufzte und sah zu Boden.

„Ich nehme sie nicht gern“, antwortete sie. „Sie bewirken bei mir, dass ich Dinge vergesse. Aber ich will nichts vergessen …“ Dann verstummte sie wieder.

„Niemand will, dass Sie etwas vergessen“, versicherte Leah ihr mit sanfter Stimme. „Wir wollen aber, dass Ihr Heilungsprozess Fortschritte macht. Es ist jetzt neun Monate her und es ist wichtig, dass Sie zu diesem Prozess beitragen.“

Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen ihr über die Wangen. Sie versuchte nicht, ihr Tränen zu verbergen, stattdessen schlug sie auf die Taschentücherbox und zerdrückte sie.

„Wie ist es zu Hause?“

Leer. Alles daheim fühlte sich leer an.

„Er ist verständnisvoll und versucht sehr fürsorglich zu sein.“

Leah nickte.

„Er leidet auch. Das weiß ich.“

Sie schnäuzte lautstark die Nase.

Aber er hat mich enttäuscht, dachte sie. Alle haben mich enttäuscht.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie und stand auf.

„Sie sind gerade erst hergekommen“, erwiderte Leah. Ihre Stimme verriet ihre Resignation.

„Ich bin noch nicht so weit“, erklärte sie.

Sie glaubte nicht, dass sie jemals so weit sein würde.

Kapitel 4

„Ich bin nicht sehr angetan davon, diese Medikation so weiterzuführen, Clare.“

Ich setze zu einem Protest an, aber mein Mund ist wie ausgedörrt und meine Kehle fühlt sich zugeschnürt an. Ich spüre, wie mein Herz in meiner Brust laut schlägt.

„Für den Augenblick werde ich noch nichts umstellen“, fährt er dann fort. „Aber ich glaube, wir sollten darüber reden. Wenn Sie immer noch Angstzustände erleben, sollten wir uns vielleicht Gedanken über andere Möglichkeiten machen.“

Dr. Rawlins sieht mich freundlich an. Er muss meinen panischen Gesichtsausdruck bemerkt haben.

Ich nicke.

„Schlafen Sie inzwischen besser?“

„In manchen Nächten geht es ganz gut. Aber meistens …“

Er seufzt.

„Diazepam und Zoplicone sind keine Medikamente, die ich gern auf einer regelmäßigen Basis verschreibe. Normalerweise sind diese Arzneimittel für den kurzzeitigen Einsatz gedacht. Es gefällt mir nicht, wenn Sie sie langfristig einnehmen.“

Ich merke, wie ich mit den Zähnen knirsche, und ich frage mich, ob er so auch denken würde, wenn es um seine Ehefrau ginge. Wenn sie leiden würde, wäre er dann auch in der Lage, ihr seine Hilfe zu verweigern?

„Es ist halt an manchen Tagen …“, beginne ich.

„Wie viele Tabletten nehmen Sie täglich?“

Mein benommenes Hirn versucht sich daran zu erinnern.

„Ich … ich bin mir nicht sicher“, antworte ich ehrlich.

„Ihnen ist doch bewusst, dass diese Mittel bei dauerhafter Einnahme die Angstzustände weiter verschlimmern können, nicht wahr? Die Nebenwirkungen sind Stimmungsschwankungen und vermehrte panikartige Reaktionen. Mir ist klar, dass Sie eine schwierige Zeit hinter sich haben, aber jetzt haben Sie Ben. Und deshalb glaube ich, dass wir nach anderen Mitteln und Wegen suchen sollten, um Ihre Ängste in den Griff zu bekommen.“

„Ich möchte nicht weiter zur Therapie“, sage ich mit Nachdruck. „Ich habe keine Lust, immer wieder über diese Dinge reden zu müssen.“

Meine Hände zittern, wenn ich nur daran zurückdenke.

„Gut. Ich werde Sie nicht zwingen, etwas zu tun, womit Sie nicht glücklich sind. Ich bin mit Ihrer Vorgeschichte nicht so vertraut wie Ihr vorangegangener Arzt. Versuchen wir erst mal, die Dosierung zu reduzieren. Nur ein wenig.“

Ich möchte ihn ohrfeigen. Er hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe.

„Okay“, sage ich leise. Es wäre sinnlos, mit ihm darüber zu diskutieren.

„Gut. Dann bekommen Sie von mir ein Rezept und wir beobachten, wie es Ihnen geht.“

„Danke.“ Ich muss mich zu einem Lächeln zwingen.

„Gut. Und wie geht es Ben?“

„Es geht ihm gut“, sage ich.

„Hallo, Kleiner, du machst dich richtig prächtig, nicht wahr?“, sagt er, nachdem er sich zu Ben vorgebeugt hat.

Ich nehme das Rezept an mich und verlasse eilig die Praxis. Auf meinem Smartphone sehe ich nach der Uhrzeit, weil ich wissen will, ob ich es noch zur Apotheke schaffe, bevor ich mich mit Sharni treffe.

Ich wünschte, ich hätte Sharni nicht zugesagt. Es ist einer meiner freien Tage und den möchte ich viel lieber mit Ben allein verbringen. Wir hätten in den Park gehen können und später, wenn Ben seinen Mittagsschlaf hielt, hätte ich zu Hause für Chris ein Curry-Gericht vorbereiten können. Er mag meine selbst gemachten Curry-Kreationen. Stattdessen wird es panierten Fisch mit Fritten geben. Dabei kenne ich Sharni gar nicht mal so gut. Sie hat etwas an sich, das mir Unbehagen bereitet. Ich weiß, es ist völlig albern, so zu empfinden. Aber Tatsache ist, dass ich mich neben ihr ziemlich unansehnlich fühle, auch wenn mir der Grund dafür nicht so richtig klar ist. Chris hatte lachen müssen, als ich es ihm gegenüber erwähnt hatte. Sie ist nicht gerade eine Sexbombe, hatte er zu mir gesagt. Schon gar nicht mit dieser Brille. Natürlich hat er damit recht. Sie hat absolut nichts Schillerndes an sich und das dicke schwarze Brillengestell steht ihr überhaupt nicht. Und mit ein paar blonden Strähnchen würden ihre Haare gleich viel besser aussehen. Aber gleichzeitig hat sie eine so überschäumende Persönlichkeit, dass ich mir neben ihr wie halbtot vorkomme. Im Schaufenster der Apotheke betrachte ich mein Spiegelbild. Meine Haut ist blass und ich weiß, ich habe dunkle Ringe unter den Augen. Wenn ich doch nur mal eine Nacht lang durchschlafen könnte! Ich würde alles dafür geben, so wie Chris einfach den Kopf aufs Kissen sinken zu lassen und am Morgen frisch und erholt aufzuwachen. Darum beneide ich ihn wirklich sehr. Du hast bestimmt ein schlechtes Gewissen, hat Helen mal zu mir gesagt. Deshalb schläfst du auch so schlecht.

Ich gebe der Angestellten mein Rezept und schlendere durch die Gänge, während ich warte. Ben spielt vergnügt mit seinem kleinen Auto und ich frage mich, ob ich den Ausflug mit Sharni zu Libertys wohl noch absagen kann. Ich könnte behaupten, dass ich Migräne habe. Ich spiele ernsthaft mit diesem Gedanken, als sich auf einmal mein Handy meldet. Es ist eine Textnachricht, aber die Nummer des Absenders kommt mir nicht bekannt vor.

Hi, bleibt es bei unserer Verabredung heute? Ich habe gerade bei dir geklopft, aber du hast nicht aufgemacht. Bin etwas zu früh dran. S

Woher hat Sharni meine Handynummer? Ich bin mir sicher, dass ich sie ihr nicht gegeben habe. Oder vielleicht doch? Mein Gedächtnis funktioniert in letzter Zeit ziemlich schlecht. Vielleicht hatte Dr. Rawlins ja recht, was das Diazepam angeht. Außerdem hatte ich am Samstag zu viel getrunken und musste mich am Sonntag mit einem heftigen Kater herumschlagen. Tatsache ist, dass ich mich so gut wie gar nicht an diesen Abend erinnern kann.

Musste noch mal zur Apotheke

schreibe ich zurück.

Bin in zehn Minuten wieder zu Hause.

Die Angestellte ruft meinen Namen auf, ich hole mein Medikament ab. Beim Blick in die Papiertüte seufze ich erleichtert, als ich sehe, dass diese Menge Diazepam für drei Monate reichen wird. Ich kaufe noch eine Flasche Wasser, dann schlucke ich zwei Tabletten, ehe ich die Apotheke verlasse. Wieder meldet mein Handy den Eingang einer Nachricht.

Perfekt. Dann komme ich dir entgegen und wir können den Bus nehmen, der vor der Apotheke abfährt. Bis gleich, S

Ich verstaue die Tabletten in meiner Handtasche und schiebe den Kinderwagen nach draußen, um dort zu warten.

„Da kommt auch schon der Bus“, ruft Sharni, die zu uns gelaufen kommt. Sie trägt einen beigen Mantel und hohe braune Stiefel. Beides sieht aus wie gerade erst gekauft. Ehe ich mich zu Ben vorbeugen kann, hat sie schon seine Gurte gelöst und nimmt ihn in die Arme. Sie ist ein richtiger Wirbelwind und ich fühle mich allein durch ihre Gegenwart schon hundemüde.

„Ich komme nicht dahinter, wie man diese Dinger zusammenklappt“, sagt sie und lacht ausgelassen, als sie sich mit dem Kinderwagen abmüht.

Ich versuche Ruhe zu bewahren. Ich weiß, sie will mir nur helfen und sie scheint Ben auch gut festzuhalten. Aber sie kennt sich nun mal nicht mit Kindern aus. Ich falte den Kinderwagen zusammen, während Sharni die Hand ausstreckt, damit der Bus die Haltestelle anfährt.

„Na, das nenne ich doch mal Glück“, sagt sie und steigt ein.

Ich mühe mich mit dem Kinderwagen ab, bis der Fahrer ihn mir abnimmt und ihn vorn im Bus abstellt, wo ein Platz dafür vorgesehen ist. Ich beeile mich, um zu Sharni zu kommen, und nehme auf der Sitzbank in der Reihe vor ihr Platz. Meine Tasche mit allen Utensilien, die man für Kleinkinder braucht, schiebe ich auf den freien Sitz neben mir. Ich strecke die Arme aus, weil ich Ben an mich nehmen will.

Aber Sharni sagt: „Er liegt gerade so schön an mich gedrückt. Kann ich ihn noch ein bisschen halten? Du bekommst ihn zurück, wenn wir ausgestiegen sind. Versprochen.“

„Ja, okay.“ Ich spüre, wie das Diazepam wirkt und mich in wohlige Wärme hüllt. „Sharni, ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dir meine Handynummer gegeben habe.“

Sie lächelt mich an. „Hast du auch nicht. Ich habe Chris gefragt. Du warst ziemlich …“ Sie verzieht das Gesicht. „Es gibt nichts Schlimmeres als Champagner. Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, aber ich war gestern ganz schön erledigt.“

„War ich etwa so betrunken?“, frage ich.

„Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich Chris gefragt habe. Ich wollte nur nicht jedes Mal bei euch anklopfen müssen.“

Ben streckt die Arme nach mir aus und Sharni hebt ihn über die Rückenlehne, um ihn mir zurückzugeben.

„Jetzt hatte er wohl genug von mir“, meint sie und setzt eine gespielt traurige Miene auf. Ich nehme Ben an mich und hülle ihn in die Wärme meiner Arme ein. Ich kann Sharnis Parfüm riechen, das jetzt an ihm haftet. Mit den Händen fährt sie durch ihre Haare, die sie heute offen trägt.

„Danke, dass du heute mitkommst. Ich bin dir dafür wirklich sehr dankbar. Ich hasse es nämlich, ganz allein Dinge fürs Haus zu kaufen. Und Tom ist als Begleitung ein hoffnungsloser Fall.“

Sie durchwühlt ihre riesige Handtasche und holt eine Nikon-Kamera hervor.

„Ich dachte, ich nutze die Gelegenheit, um ein paar Fotos von Ben zu schießen. Die ganz natürlichen Bilder sind doch immer noch die besten, nicht wahr?“

„Danke“, sage ich und setze Ben auf den Platz neben mir. „Das ist ja eine richtige Profi-Kamera.“

Chris und ich benutzen für Fotos immer unsere iPhones. Ich hatte schon mal mit dem Gedanken gespielt, mir eine vernünftige Kamera zuzulegen. Vielleicht kann Sharni mir ja ein paar Tipps geben. Der Gedanke an Libertys hat inzwischen etwas Entspannendes. Es ist eine Ewigkeit her, seit ich das letzte Mal in Ruhe eingekauft habe. Ich hole ein Haargummi aus meiner Tasche und binde mir die Haare zusammen, während Ben über die Lehne sieht, um mit Sharni zu spielen. Jetzt bin ich sogar froh, dass ich keine Kopfschmerzen vorgetäuscht habe. Es ist richtig angenehm, mal wieder rauszukommen und dabei mit einer Freundin unterwegs zu sein. Ich werde eine Flasche Wein holen, die wir heute Abend zum Fisch trinken können. Auf die Weise wird das Essen etwas erträglicher.

***

Sie betrachtete die Blumen auf dem niedrigen Tisch. Es war ungewöhnlich, im Sprechzimmer der Therapeutin Blumen zu sehen.

„Ein Patient hat sie mir mitgebracht“, erklärte Leah beiläufig.

Ihr war nie in den Sinn gekommen, Leah Blumen mitzubringen. Warum auch? Sie bezahlte schon genug für diese Sitzungen.

„Sie sind sehr schön“, sagte sie.

„Mögen Sie Blumen?“

„Ja, aber ich denke nicht oft daran, mir einen Strauß zu kaufen.“

„Sie sehen heute fröhlicher aus“, merkte Leah an.

„Tatsächlich? Ich fühle mich nicht anders als sonst.“

Sie starrte die Blumen an. Ihre Mutter hatte ihr nach der Geburt Blumen mitgebracht. Ein Gesteck, das wochenlang gehalten hatte. Die Erinnerung daran machte sie traurig.

„Was sind das für Blumen?“

„Chrysanthemen, glaube ich.“

„Mum hat gern Sträuße gebunden und …“

So wie üblich ließ sie den Satz unvollendet. Würde es ihr wohl jemals gelingen, eine komplette Erinnerung in Worte zu fassen und auch auszusprechen?

„Möchten Sie über Ihre Mutter reden?“

Ein vertrauter Stich ging ihr wieder durchs Herz und sie schüttelte den Kopf.

„Nein, jetzt noch nicht.“

„Wie fühlen Sie sich genau jetzt?“

„Alleingelassen“, antwortete sie und staunte über sich selbst.

„Von allen?“

Sie spielte mit ihrem Ehering. Es wirkte eigenartig, den Ring so einsam an ihrem Finger zu sehen. Die Haut an ihren Händen war trocken und schuppig. Sie hatte beschlossen, ihren Verlobungsring für ein paar Tage nicht zu tragen. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie sich ohne ihn so nackt fühlen würde.

„Nicht hier“, sagte sie. „Hier fühle ich mich nicht alleingelassen.“

Aber nicht ernst genommen, fügte sie in Gedanken hinzu. Niemand glaubt mir. Ich bin völlig allein.

Kapitel 5

Ich streiche mit den Händen über den Chiffon, dann drehe ich das Preisschild um. Das ist mehr, als ich mir leisten kann.

„Probier es doch mal an“, schlägt Sharni vor.

Behutsam ziehe ich Bens Hände von einem Schal weg, der gleich neben uns aufgehängt ist.

„Es sieht hinreißend aus“, sage ich.

„Und die würde genau dazu passen“, meint sie und greift nach einer zitronengelben Strickjacke.

Ich zögere. Eigentlich hatte ich mir gar nichts zum Anziehen kaufen wollen, aber das Kleid sieht wirklich schön aus. Ich fühle mich ernsthaft in Versuchung geführt.

„Mach schon. Probier es an. Ich kann hier mit Ben warten.“ Sie zeigt auf eine Sitzgruppe.

„Okay“, lenke ich ein und nehme das Kleid in Größe 38 vom Kleiderständer.

Es war schön, mit einer Freundin von Geschäft zu Geschäft zu ziehen. Ich fühle mich zwar erschöpft, aber es ist eine angenehme Form der Erschöpfung. Ich streife das Kleid über den Kopf und habe dann Mühe, es über die Hüften zu bekommen.

„Und? Wie siehts aus?“, ruft Sharni.

Zögerlich verlasse ich die Umkleidekabine.

„Es sitzt ein bisschen knapp. Die Frage ist, ob mein Hintern in dem Kleid dick aussieht.“

Sie betrachtet mich und gibt ein nachdenkliches „Hmmm“ von sich, das ich als ein Ja deute.

„Ich hole dir eine Nummer größer“, schlägt sie vor.

In Größe 40 sitzt es um die Hüften herum locker, ist aber um meine Brüste herum zu weit.

„Das sieht toll aus“, sagt Sharni.

Ich mustere mein Spiegelbild und ziehe die Strickjacke an. Sie sieht hübsch aus und tatsächlich habe ich mir schon seit einiger Zeit nichts Neues mehr gekauft. Aber dann sehe ich das Preisschild an der Jacke und mir bleibt die Luft weg. Ich kann nicht hundert Pfund für zwei Kleidungsstücke ausgeben.

„Nimmst du sie?“, will Sharni wissen, als ich aus der Umkleidekabine komme. Ben sieht mich an und fängt an zu weinen.

„Die Sachen sind ziemlich teuer“, erwidere ich.

„Ach, ab und zu musst du dir doch mal was gönnen“, beharrt sie lächelnd. „Dafür arbeitest du schließlich auch, oder nicht?“

Ich kann mir vorstellen, dass es für Sharni selbstverständlich ist, ein paar hundert Pfund für sich selbst auszugeben. Allerdings hat sie schon recht, denn ich habe mir in letzter Zeit kaum noch etwas angeschafft. Auf jeden Fall nicht mehr, seit wir Ben haben. Aber das stört mich auch nicht, weil ich mein Geld lieber für meinen Sohn ausgebe. Doch dieses eine Mal kann ich mir auch etwas gönnen.

„Du hast mich überredet“, gebe ich zu und muss lachen.

„Die sind einfach wunderschön“, sagt sie, während sie gedankenverloren über die Kleider am Ständer gleich neben uns streicht.

Ich gehe schnell zur Kasse, bevor ich es mir anders überlegen kann, dann schlendere ich zu Sharni zurück. Sie hat die Kamera herausgeholt und macht noch ein Foto von Ben.

„Das wird sehr schön werden“, murmelt sie, während sie durch den Sucher schaut und ein Auge zukneift.

Ich habe längst aufgehört, mitzuzählen, wie viele Fotos Sharni von ihm inzwischen gemacht hat. Uns tun die Arme weh von den vielen Einkaufstaschen, die wir mit uns herumschleppen. Meine Kehle ist wie ausgedörrt. Ich hätte mir noch eine Flasche Wasser kaufen sollen. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass es bereits halb vier ist. Ben ist hellwach, dabei hätte er längst seinen Mittagsschlaf halten sollen. Wenn er noch viel länger auf ist, wird er mich die halbe Nacht über auf Trab halten.

„Ich sollte versuchen, ihn in den Schlaf zu wiegen“, sage ich. Sharni soll mich nicht für undankbar halten, immerhin hat sie so viele Fotos von ihm gemacht. Aber es ist ihre Begeisterung, die ihn wachhält.

„Sollen wir irgendwo einen Kaffee trinken?“, schlägt sie vor.

„Gute Idee“, stimme ich ihr zu. Mir tun die Füße weh und die Vorstellung, sich irgendwo hinsetzen zu können, ist einfach himmlisch. Ich kann Ben in seinem Kinderwagen in den Schlaf wiegen, während wir unseren Kaffee trinken.

„Ich spendiere den Kaffee“, sage ich. „Du hast schon das Mittagessen bezahlt.“

Wir finden einen Tisch in der gut besuchten Cafeteria. Ich atme auf, als ich meine Taschen abstellen und meinen Mantel über die Stuhllehne werfen kann. In den Geschäften ist es unerträglich heiß und ich verziehe missmutig den Mund, als ich den Schweißgeruch bemerke, der von meinen Achseln aufsteigt. Was muss Sharni von mir denken?

„Kann ich alles hier bei dir lassen?“, frage ich.

„Natürlich“, erwidert sie und überfliegt ihre Einkaufsliste. „Ach, bevor wir zurückfahren, muss ich unbedingt noch irgendwo ein paar Blumen kaufen.“

Ich will sie auf die Vase ansprechen, verkneife mir dann aber diese Frage. Es würde sich so kleinlich anhören, wenn ich bedenke, was sie heute alles für mich getan hat. Ich werde einfach noch ein paar Tage warten. Und vielleicht fällt es ihr ja ein, wenn sie die Blumen kauft.

Ich sehe zu Ben, der in seinem Kinderwagen mit Armen und Beinen fuchtelt. Er wirft seine Decke zur Seite und kneift einen Moment lang frustriert die Augen zu.

„Er ist müde“, stelle ich leise seufzend fest.

„Ihm passiert schon nichts“, beteuert sie lächelnd.

„Was möchtest du haben?“, frage ich und bemerke mit Schrecken, wie lang die Schlange vor der Kasse ist.

„Ich nehme einen Cappuccino“, sagt sie.

Ich stelle mich hinter die endlos lange Reihe aus Kunden. Mir war völlig entfallen, dass es schon bald Weihnachten ist, aber die Menschenmengen in den Geschäften haben mich wieder daran erinnert. Ich sehe kurz zu Sharni, die Ben in seinem Kinderwagen leicht hin und her schaukeln lässt. Als ich mein Smartphone aus der Handtasche hole, fällt mir auf, dass Chris mir eine Nachricht geschickt hat.

Ich hoffe, du verbringst mit Sharni eine gute Zeit. Es wird heute spät werden. Außerplanmäßiges Meeting. Iss schon mal ohne mich. Ich halte dich auf dem Laufenden.

Enttäuschung überkommt mich. Und ich hatte schon eine ganz gute Flasche Wein fürs Abendessen gekauft.

Okay. Gib mir Bescheid, wie es läuft

schreibe ich zurück.

Gleich darauf frage ich mich, wie es sein kann, dass Chris ein außerplanmäßiges Meeting hat. Sofort hasse ich mich für diesen Gedanken. Ich darf nicht schon wieder damit anfangen. Ich muss jetzt an Ben denken. Ich reibe mir über den Nacken und rücke mit der Schlange langsam weiter. Das Scheppern der Tassen und das Klirren der Löffel und Gabeln bereiten mir Kopfschmerzen.

„Hallo, was darf es sein?“

Ich sehe die Bedienung an, dann fällt mein Blick auf die Theke voll mit Kuchen und Gebäck. Mir ist nicht der Gedanke gekommen, Sharni zu fragen, ob sie etwas essen möchte.

„Ähm …“

Die Frau wird ungeduldig.

„Zwei Cappuccino und …“ Ich drehe mich zu Sharni um, aber ihr Tisch ist verwaist. Weder sie noch der Kinderwagen sind zu sehen.

„Und …?“, fragte die Bedienung.

Ich suche den Bereich ab, in dem sich Sharni und Ben eigentlich befinden sollten. Das laute Geräusch der Kaffeemaschine lässt mich zusammenzucken.

„Was möchten Sie noch haben?“, fragt die Frau.

Ich verstehe nicht, wieso Sharni nicht mehr an diesem Tisch sitzt. Ich bin mir sicher, dass es genau dieser Tisch war. Ich sehe ein junges Paar, das seinen Kaffee trinkt, und bin davon überzeugt, dass die nicht neben uns gesessen haben.

„Zwei Muffins“, sage ich beiläufig, während ich hektisch die Cafeteria absuche. Vielleicht ist sie ja zur Toilette gegangen.

„Blaubeer oder Schokolade?“

„Was?“

Die Bedienung seufzt und ich kann spüren, wie die anderen Kunden hinter mir allmählich ungeduldig werden.

„Möchten Sie einen Blaubeer- oder einen Schokoladenmuffin?“

„Das ist egal.“

„Ich kann nicht für Sie entscheiden.“

„Blaubeer“, herrsche ich die Frau an und entschuldige mich gleich darauf. Ich kann Sharni nirgends entdecken. Mein Herz rast. Was habe ich mir bloß dabei gedacht, mein Kind bei einer Frau zurückzulassen, die ich so gut wie gar nicht kenne? O Gott, was ist, wenn sie … Mir gehen die entsetzlichsten Möglichkeiten durch den Kopf. Was, wenn sie … O mein Gott, was habe ich nur getan? Welche Mutter lässt eine wildfremde Person auf ihr Kind aufpassen? Ich krame die Packung Diazepam aus der Tasche und nehme zwei Tabletten. Dabei ignoriere ich die verwunderte Miene der Bedienung und nehme das Tablett an mich. Ich eile zur Kasse und remple dabei die Frau vor mir an. Cappuccino schwappt über und sammelt sich auf der Untertasse.

„Tut mir leid“, murmele ich.

In meinem Kopf dreht sich alles, ich habe so weiche Knie, dass ich es kaum bis zu dem Tisch schaffe, an dem das junge Paar sitzt. Ich halte Ausschau nach meinem Mantel, der irgendwo hier noch über einer Stuhllehne liegen sollte. Aber er ist verschwunden. Mir wird schwindlig und ich muss mich an einem Stuhl festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Soll ich die Polizei anrufen? Aber was soll ich sagen? Dass meine Nachbarin mit meinem Einverständnis mit meinem Kind verschwunden ist? Mein Gott, wie konnte ich nur so dumm sein? Ich stelle das Tablett auf einem freien Tisch ab und wische mir den Schweiß von der Stirn.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragt die junge Frau vom Nebentisch.

„Mir ist nur etwas heiß“, antworte ich und suche in meiner Handtasche nach dem Smartphone. Ich muss Chris anrufen. Er wird bestimmt wissen, was zu tun ist. Gerade will ich seine Nummer wählen, da geht eine Nachricht ein.

Wir sitzen am Fenster.

Ich drehe mich um mich selbst und entdecke Sharni, die mir von der anderen Seite des Lokals zuwinkt. Wieso habe ich sie da nicht schon eher entdeckt? Ich bin mir sicher, dass ich da auch hingesehen habe. Ich habe Mühe, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, während ich versuche, mich zu entspannen. Vielleicht sollte ich tatsächlich weniger Diazepam nehmen. Dr. Rawlins hatte ja gesagt, dass die Angstzustände dadurch noch eher auftreten könnten. Schweiß läuft mir über die Stirn, aber als ich den Tisch erreicht habe, hat sich meine Atmung wieder normalisiert.

„Du siehst aus, als wärs dir zu warm“, sagt Sharni und nimmt mir das Tablett ab.

„Hier drin ist es ziemlich stickig“, erwidere ich und frage mich, ob ihr das Zittern in meiner Stimme auffällt.

„Wir mussten leider umziehen“, erklärt sie. „Da drüben hat es schrecklich gezogen und ich glaube, das wäre für Ben gar nicht gut gewesen.“

„Ich hatte mich schon gefragt, wohin ihr beide verschwunden seid“, sage ich und zwinge mich zu einem ruhigen Tonfall.

„Oh, sieh mal, er ist eingeschlafen“, bemerkt sie lächelnd und legt die Decke über ihn. „Ooh, Muffins!“, fügt sie begeistert an, als sie sich das Tablett genauer ansieht.

Ben ist warm eingepackt, sein süßes Engelsgesicht lugt aus der Decke hervor. Am liebsten würde ich ihn aus dem Wagen holen und ihn für alle Zeit an mich drücken.

„Ich wusste nicht, was du magst. Darum habe ich Blaubeer mitgebracht.“

„Am liebsten nehme ich Schokolade, aber Blaubeer ist auch gut.“

So dumm es eigentlich ist, komme ich mir trotzdem vor, als hätte ich etwas falsch gemacht. Ich lasse mich auf den Stuhl sinken und drehe den Kinderwagen zu mir herum.

„Ich kann es noch gar nicht fassen, dass wir bald Weihnachten haben“, sagt Sharni, während sie den Schaum von ihrem Kaffee löffelt. „Was macht ihr an Weihnachten?“

„Keine Ahnung. Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht.“

„Kommt euch die Familie besuchen?“

Ich schaue auf den Tisch, damit sie mir nicht in die Augen sehen kann.

„Nein, mit meiner Familie habe ich eigentlich nichts zu tun. Meine Mum …“

„Das tut mir leid, Clare. Familie ist an Weihnachten wichtig.“

„Ich habe meine Familie“, erwidere ich trotzig.

Ich beschließe, dass wir dieses Jahr einen richtigen Baum haben werden. Nicht wieder dieses alberne verbogene Plastikding, das Chris im ersten Jahr unserer Ehe gekauft hatte. Ich kann ihn dekorieren, während Ben mir zusieht. Das wird ihm gefallen. Und dann lasse ich für ihn Weihnachtslieder laufen.

***

Wir sitzen da, jeder in seine eigene Welt versunken, trinken unseren Cappuccino und lauschen der Weihnachtsmusik, die aus den Lautsprechern des Cafés klingt.

„Warum kommt ihr nicht zu uns?“, schlägt sie plötzlich vor.

Das kommt so aus heiterem Himmel, dass ich mich an meinem Kaffee verschlucke.

„Alles in Ordnung?“, fragt sie besorgt, während ihr Parfüm mich einhüllt.

Ich nehme sie durch einen Schleier aus Diazepam wahr. „Ich hab mich bloß verschluckt.“

Sie lehnt sich zurück und streicht ihre Haare nach hinten. „Hier drinnen ist es wirklich heiß“, stimmt sie mir zu und fragt dann wieder: „Was hältst du davon, Weihnachten bei uns zu feiern?“

„Ich … Seid ihr nicht bei euren Familien?“

„Nicht dieses Jahr.“

Ich will nicht weiter nachhaken, also entgegne ich nur: „Ich werde Chris fragen.“

Sie muss wohl denken, dass ich zu allem „Ich werde Chris fragen“ sage. Ich sehe auf mein Smartphone und erschrecke. „Bereits vier Uhr durch!“, murmele ich.

„Ja, es ist schon spät. Du musst mit Ben nach Hause. Sollen wir aufbrechen? Wir könnten ein Taxi nehmen, wenn du nicht auf den Bus warten willst.“

Ich zögere. Ein Taxi wäre himmlisch, aber in dieser Gegend von London sind die Gebühren kriminell hoch.

„Ich bezahle auch“, fügt sie an, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Ehrlich gesagt wäre mir ein Taxi viel lieber als der Bus. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin stehend k. o.“

„Clare? Bist du das?“

Ich drehe mich zu der Stimme um und entdecke Helen. Sie zieht einen Stuhl nach hinten und nimmt Platz.

„Was machst du denn hier?“, frage ich und merke erst dann, wie vorwurfsvoll mein Tonfall klingt. „Ich dachte, du bist noch in der Schule“, füge ich fast kleinlaut hinzu.

„Ich hatte um drei Uhr Feierabend und dachte mir, ich erledige die Weihnachtseinkäufe dieses Jahr mal früher. Scheint so, als hätte nicht nur ich das gedacht.“

„Wir wollten gerade gehen“, sagt Sharni und reicht ihr die Hand. „Ich bin übrigens Sharni Wilson, Clares neue Nachbarin.“

„Hi. Und? Schon eingelebt?“

„Ein bisschen“, meint Sharni lächelnd. „Clare gibt mir einige fantastische Tipps für die Inneneinrichtung.“

„Das ist schön“, sagt Helen und sieht auf ihre Armbanduhr. „Ich muss auch wieder los. Die Geschäfte sind nur noch zwei Stunden geöffnet und wir wissen ja alle, wie lange Weihnachtseinkäufe dauern können.“

Ben rührt sich in seinem Kinderwagen und ich wippe ihn sanft vor und zurück.

„Ich hole mir noch schnell ein paar Blumen drüben in der Halle und bestelle dann ein Taxi“, sagt Sharni und sammelt ihre Tüten ein.

„Sie macht einen netten Eindruck“, meint Helen, als Sharni gegangen ist.

„Ja“, pflichte ich ihr bei. „Dann sehen wir uns morgen in der Schule.“

„Du hast morgen deine Leistungsbeurteilung, richtig?“, fragt Helen und verzieht den Mund.

„Ich versuche, nicht darüber nachzudenken.“

Ich hasse Leistungsbeurteilungen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass alles okay sein wird. Aber ich habe in diesem Jahr ein paar Tage versäumt, als Ben krank war. Ich konnte ihn nicht mit Fieber in der Kita lassen. Um ehrlich zu sein, gefällt es mir grundsätzlich nicht, ihn da zurückzulassen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich muss arbeiten gehen, wenn Chris und ich unsere Darlehensraten pünktlich zurückzahlen wollen. Ich gebe Helen einen Kuss auf die Wange und sammele meine Einkaufstaschen ein.

„Viel Glück morgen.“

„Danke, Helen. Ich bin ein bisschen nervös.“

„Es wird schon gut laufen.“

Das Diazepam zeigt Wirkung, da ich mich bereits ruhiger fühle. Ich könnte noch länger einkaufen, aber ich muss Ben nach Hause bringen. Wenn wir daheim sind, werde ich mir ein heißes Bad gönnen und dabei ein Glas von dem Wein genießen, den ich heute gekauft habe. Ben kann in der Zeit in seinem Laufstall spielen. Sharni kommt zu mir und deutet auf ein Taxi vor der Tür.

„Bist du so weit?“, fragt sie.

Ich nicke, und noch bevor ich etwas unternehmen kann, hat sie Ben aus seinem Kinderwagen genommen. Ich falte den Wagen zusammen und folge ihr, während ich an mein heißes Bad denke.

Kapitel 6

Ich wiege Ben behutsam vor und zurück, aber er weint unaufhörlich. Mein Kopf schmerzt bei jeder Bewegung. Ich hätte ihn niemals so lange schlafen lassen dürfen. Aber es war so angenehm gewesen, im Badewasser zu liegen und ein Glas Wein zu trinken. Es war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, seit ich mich das letzte Mal so entspannt habe. Ich wollte einfach nicht, dass es ein Ende nimmt. Und das ist jetzt die Quittung für meine Entspannung. Ben ist hellwach und der Wein, der so angenehm geschmeckt hatte, rächt sich jetzt und sorgt dafür, dass es sich jedes Mal anfühlt, als müsste mein Kopf zerplatzen, wenn Ben nach dem Luftholen weiter lauthals weint und kreischt. Ich habe nur gut eine Stunde geschlafen und durch die Mischung aus Diazepam und Wein fühlt sich mein Verstand schwammig an. Egal, was ich versuche, Ben kommt einfach nicht zur Ruhe.

Ich sehe auf die Uhr auf meinem Smartphone und stöhne auf. Halb vier in der Nacht. Meine Augen fühlen sich rau an, weil ich keinen Schlaf bekomme. Außerdem ist mein Magen so gereizt, dass mir übel ist. Ich betrachte die eine Wand und frage mich, ob Sharni und Tom wohl Bens lautes Weinen hören können. Vermutlich nicht. Ich stelle mir vor, wie Sharni tief und fest neben ihrem Tom schläft, und spüre eine völlig unbegründete Wut in mir aufsteigen. Es war nicht ihre Schuld. Ich hätte darauf beharren müssen, dass Ben zur gewohnten Zeit seinen Mittagsschlaf bekommt.

„Himmel, Clare“, knurrt Chris. „Kannst du ihm nicht etwas Calpol geben?“

„Das ist keine Lösung, Chris, und außerdem weißt du, dass ich es ihm nicht geben würde.“ Meine Verärgerung steigert sich noch etwas mehr.

„Ich muss morgen früh raus“, herrscht er mich an und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.

Ich muss auch früh raus, möchte ich ihm an den Kopf werfen, aber ich tue es nicht. Stattdessen klettere ich übermüdet aus dem Bett, drücke Ben an mich und mache mich mit ihm auf den Weg ins kalte Wohnzimmer.

„Ben, bitte“, flehe ich ihn an. „Hör einfach auf zu schreien.“

Ich gehe zum Heizlüfter und schalte ihn ein. Dann ziehe ich die Decke von der Rückenlehne der Couch und wickle uns beide darin ein. Flüchtig geht mir der Gedanke durch den Kopf, was Sharni jetzt wohl von unserer Inneneinrichtung halten würde. Ich lege mich aufs Sofa und wiege Ben leicht hin und her. Seine Schreie bohren sich in meinen Kopf, gleichzeitig kämpfe ich gegen das Gefühl an, mich übergeben zu müssen. Ich höre das Bett knarren, als Chris sich auf die andere Seite dreht. Mit geschlossenen Augen liege ich da und denke an die Fotos, die wir von Ben haben werden, wenn Sharni sie ausdruckt. Wir haben keine professionellen Fotos von unserem Sohn. Ich überlege, ob ich sie bitten soll, ein Foto von uns dreien zu machen, ein Familienporträt. Auf dem Kaminsims würde sich das Foto in einem schönen Rahmen sicher gut machen.

Plötzlich reiße ich die Augen auf, da mir ein Gedanke durch den Kopf jagt. Was, wenn sie die Fotos in irgendeinem Magazin veröffentlicht? Mein Herz rast, mein Atem geht so flach, dass ich Mühe habe, tief Luft zu holen. Ich kann nicht noch mehr Diazepam schlucken. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, ich drücke Ben an mich. Ich werde sie bitten, die Fotos nicht zu veröffentlichen. Das wäre eine Verletzung unserer Privatsphäre. Das wird sie bestimmt verstehen, wenn ich ihr sage, dass ich nicht will, dass fremde Leute Bilder von Ben zu sehen bekommen. Das ist das Risiko nicht wert. Aber ich sage mir auch, dass sie Modefotografin ist. Sie ist nicht auf Kinder- oder Babyfotos spezialisiert. Ich nehme nicht mal an, dass sie die Fotos überhaupt behalten wird. Warum auch? Welches Interesse sollte sie daran haben? Meine Atmung wird wieder ruhiger und auf einmal wird mir bewusst, dass Ben nicht mehr schreit. Ich bewege mich ein wenig und sofort gehen seine Augen wieder auf.

„Es ist alles gut, Sweetie. Mummy ist bei dir“, flüstere ich ihm zu und wiege ihn wieder sanft.

Ich überlege, ob ich zwei Paracetamol nehmen sollte, aber ich komme nicht an meine Handtasche heran, ohne dass ich Ben wieder aufwecke.

Also schließe ich wieder die Augen. Morgen werde ich mit Sharni über die Fotos sprechen. Und vielleicht werde ich sie dann auch bitten, mir die Vase zurückzugeben. Schließlich kann sie jetzt wirklich keine Verwendung mehr dafür haben. Ich fühle Bens Stirn, aber zum Glück hat er kein Fieber. Seine Haut fühlt sich erfreulicherweise ganz normal an. Ich kann spüren, wie ich allmählich einschlafe.

***

„Clare … Clare.“

Ich mache die Augen auf und spüre einen stechenden Schmerz, der durch mein Genick jagt. Meine Arme halten nicht mehr Ben umschlungen. Ich sehe mich suchend um.

„Wo …?“

„Er ist in seinem Laufstall. Ich habe dich etwas länger schlafen lassen. Hier ist eine Portion Porridge.“ Chris drückt mir eine Schale in die Hand.

Ich versuche aufzustehen, aber meine Beine sind eingeschlafen. „Wie spät ist es?“

„Sieben Uhr. Kein Grund zur Eile.“

Mein Kopf pocht brutal und meine Augen sehen noch nicht alles ganz klar.

„Du hättest ins Bett zurückkommen sollen“, sagt er.

„Das wollte ich auch, aber ich muss eingenickt sein.“

„Ich mache jetzt los. Ich habe heute ein Meeting nach dem anderen. Geht es dir gut? Du siehst etwas mitgenommen aus.“

Ich stelle das Porridge zur Seite und reibe über meine Augen. Übelkeit überkommt mich und ich muss tief durchatmen.

„Du musst heute aber nicht wieder länger arbeiten, oder?“, frage ich, zucke dabei innerlich zusammen, weil meine Stimme einen vorwurfsvollen Tonfall hat. Ich könnte es nicht ertragen, noch einen Abend allein zu Hause zu sein.

„Nein, natürlich nicht. Ich werde gegen sechs Uhr wieder hier sein. Wenn du willst, bringe ich uns was vom Chinesen mit. Dann musst du nicht kochen.“

Ich umarme ihn dankbar. „Das wäre eine gute Idee, Chris. Übrigens habe ich heute meine Leistungsbeurteilung.“

„Oh, stimmt ja. Das hatte ich ganz vergessen. Viel Glück.“

Er gibt mir einen sanften Kuss und streicht mir übers Haar. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Mit Sharni hast du eine nette Freundin gefunden. Wie war es gestern eigentlich? Tut mir leid, dass ich nicht direkt gefragt habe, als ich nach Hause gekommen bin, aber ich war völlig erledigt.“

Ich lächle ihn an. „Es war gut. Sie hat ein paar Fotos von Ben gemacht und … na ja, ich werde sie bitten, die Fotos nicht zu veröffentlichen.“

Er sieht mich verdutzt an. „Warum sollte sie sie veröffentlichen? Wir sind doch nicht prominent.“

„Ich weiß“, sage ich, als mir klar wird, wie dumm ich mich angehört haben muss.

„Bis später.“ Er nimmt seine Sporttasche an sich.

„Ach, Chris, kannst du anderen Leuten meine Handynummer erst geben, wenn du mich gefragt hast?“

„Ich habe niemandem deine Nummer gegeben“, widerspricht er und sucht nach dem Wagenschlüssel.

„Die Schlüssel liegen auf dem Tisch“, rufe ich ihm zu. „Du hast sie Sharni gegeben.“

Er steckt den Schlüsselbund ein. „Nicht, dass ich wüsste.“

„An dem Abend, als wir bei ihnen waren.“

Er schüttelt den Kopf.

„Wir hatten ziemlich viel getrunken“, betone ich.

„Ja, stimmt. Vielleicht habe ich sie ihr gegeben, ohne mir was dabei zu denken. Tut mir leid. Bis später.“

Ich nehme Ben aus seinem Laufstall und gehe nach oben, um zu duschen. Ich werfe die Tür hinter mir zu und höre nicht, dass mein Handy klingelt.

***

Das Handyklingeln ließ sie zusammenzucken. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte es eigentlich abschalten.“

„Nicht so schlimm.“

„Haben Sie Kinder?“

„Das fragen Sie mich jedes Mal.“

„Nicht jedes Mal.“

„Aber oft.“

„Und Sie sagen immer, dass es nicht um sie geht.“

„Das ist korrekt.“

„Ich habe gestern Nacht wieder davon geträumt.“

Ihre Augen sind offen. Sie erwartet, dass sie sich mit Tränen füllen werden, doch das passiert nicht. Es passiert nicht, weil sie keine Tränen mehr hat.

„Was ist in dem Traum geschehen?“

„Alles im Traum war okay. Das Ende war anders. Niemand ist gestorben.“

„Dann haben Sie also genau genommen nicht ‘davon’ geträumt, nicht wahr?“

„Das sagen Sie“, flüstert sie und spielt mit der Taschentücherbox. Diesmal ist es eine rosa Box. Die mit dem Blumenmuster hat ihr besser gefallen. Sie wirkte fröhlicher.

„Ich werde mir von niemandem das wegnehmen lassen, was ich glaube.“

„Und worin unterscheidet sich das, was Sie glauben, von dem, was alle anderen glauben?“

Alle anderen irren sich, denkt sie, spricht es aber nicht aus. „Ich möchte über meine Mutter reden“, erklärt sie stattdessen.

Die Therapeutin lächelt, denn genau das wollte sie von ihr hören: „Gut, dann reden wir über sie.“