Leseprobe Das gefährliche Spiel mit dem Marquess

Kapitel eins

Heute Abend geht es um Vergeltung.

„Vielleicht ist es auch ein wenig mehr“, flüsterte Lady Phillipa Carlisle – Freunde und Familie nannten sie Pippa –, obwohl es recht unwahrscheinlich war, dass bei dem dichten Gedränge in Lady Cringlefords großem Ballsaal irgendjemand ihre Worte hätte hören können.

Heute Abend ging es auch darum, dem kleinen, launenhaften Teil ihres Herzens gerecht zu werden, der sich nicht davor fürchtete, zu träumen. Vor ein paar Jahren noch hatte man über sie gesagt, sie wäre schrecklich schüchtern. Einige hatten sogar behauptet, sie wäre ein welkes Mauerblümchen, während andere meinten, sie wäre still und zurückhaltend. Doch kühne Träume von großer Romantik und davon, das Leben in vollen Zügen zu genießen, hatten Pippas Herz unablässig schlagen lassen wie eine Trommel. Sie hatte nie gewagt, jemandem diese Seite von sich zu zeigen, aus Angst vor Zurückweisung und davor, dass man sie für nicht damenhaft oder gar unanständig halten könnte.

Die letzten Jahre hatten Pippa nicht zu einer anderen Person werden lassen – nein, sie hatte einfach gelernt, ihr wahres Ich zu akzeptieren, ohne sich vor dem Urteil anderer zu fürchten. Ihr Herz vor der Welt und ihrer Familie nun so zu offenbaren, wie es war, ohne sich vor Zurückweisung zu fürchten, erschien bisweilen immer noch beängstigend … doch auch herrlich aufregend.

Lady Theodosia, Duchess of Hartford, wäre vielleicht enttäuscht über Pippas Hoffnung auf eine Chance zur Vergeltung. Sie hatte immer wieder gesagt, dass es heute Abend darum ging, zu feiern, dass sie die Vergangenheit genau da ließen, wo sie hingehörte: in der Vergangenheit. Heute Abend auszugehen, war die Belohnung dafür, dass Pippa ihre lebhafte Art nicht von Ängsten und Zweifeln hatte niederringen lassen und dass sie sogar mit einem Plan für ihre Zukunft daraus hervorgegangen war.

„Bist du aufgeregt?“, murmelte Prudence, Countess of Wycliffe. In ihren warmen grünen Augen lag ein Ausdruck von Geduld und Mitgefühl. „Dein letzter Ball ist eine ganze Weile her.“

Beinahe wäre Pippa der Frage ausgewichen, weil sie es hasste, wenn man sie als Mauerblümchen sah, aber diese Ladys waren ihre Freundinnen. Mehr als nur Freundinnen. Sie liebte sie alle sehr, ganz besonders Harriet und Agatha, die sich als wahre Gefährtinnen erwiesen hatten. Es fühlte sich an, als wären sie alle eine große, ausgelassene, übermütige und lebensfrohe liebende Familie, und Pippa konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Im geheimen Damenklub am Berkeley Square 48 hatte Pippa gelernt, selbstbewusst zu sein und ihre Ansichten freiheraus kundzugeben – auch wenn diese etwas albern waren –, ohne sich vor den Konsequenzen fürchten zu müssen.

Dort zwang sie niemand, den lächerlichen Erwartungen zu entsprechen, was gemeinhin als damenhaftes Verhalten oder Perfektion galt. Viel wichtiger noch: Am Berkeley Square 48 hatte sie gelernt, dass es durchaus statthaft war, sich mit allen Mitteln gegen Wüstlinge und Schufte zu verteidigen, die sich als ehrenwerte Gentlemen verkleidet hatten.

Als wollte er den Mut und die Entschlossenheit verspotten, die Pippa sich so hart erkämpft hatte, erschien am oberen Ende der Treppe zum Ballsaal gerade der Mann, um den sich ihre düsteren Gedanken drehten: Viscount James Shuttleworth. Ihr Atem stockte und ihre Nervosität ließ sie erzittern. Pippa hatte gedacht, sie wäre bereit dazu, ihm ohne Furcht zu begegnen. Und als hätte er ihren Blick gespürt, hob er den Kopf und suchte mit den Augen den Ballsaal ab.

Es erschien unwahrscheinlich, dass er sie im Gedränge bemerken würde – dennoch begegneten sich ihre Blicke über die Köpfe der tanzenden Paare hinweg. Seine Augen weiteten sich, als er sie erkannte, dann ließ der charmante Teufel einen kurzen, aber intensiven Blick über ihren Körper gleiten. Pippa wandte sich ab. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie begeistert gewesen, wenn er sie mit diesem Blick angesehen hatte. Als wäre er tatsächlich wie gebannt von ihr – und nicht nur an ihrer Mitgift und ihrem Erbe interessiert.

„Wann hast du den Viscount das letzte Mal gesehen?“, fragte Prue sanft und führte Pippa durch die Menge.

„Vor beinahe zwei Jahren“, erwiderte Pippa und zog leicht die Nase kraus. „Seit jenem Abend … habe ich mein Bestes getan, ihn zu meiden, was mir wunderbar gelungen ist.“

„Was bedeutet, dass du fast alle gesellschaftlichen Anlässe jener Saisons verpasst hast“, ergänzte Prue mitfühlend.

„Ja.“ Pippa strich mit ihrer behandschuhten Hand über die Vorderseite ihres roséfarbenen Kleides mit den berüschten Ärmeln und dem perlenbestickten Saum. Ihre Kleidung heute Abend war sehr viel gewagter, als sie es noch vor ein paar Saisons gewesen war, als die einzige Hoffnung in ihrem kleinen Debütantinnen-Herzen gewesen war, einen Ehemann zu finden, der sie wertschätzte. „Schaut der Viscount mich noch immer an?“

Prue klang, als unterdrückte sie ein Keuchen. „Ja. Und ich glaube, er ist unverschämt genug, tatsächlich herüberzukommen. Die Dreistigkeit dieses Schufts! Komm, lass uns eine Runde drehen und unsere Freundinnen begrüßen.“

Pippa atmete tief durch und ärgerte sich darüber, dass ihr Herz in ihrer Brust so bebte. Sie hatte geahnt, dass es nicht leicht werden würde, dem Mann wieder zu begegnen, der sie belästigt hatte – rein in der bösen Absicht, ihr Vermögen mit einer höchst verabscheuungswürdigen Intrige zu stehlen. Die Erinnerung an seine schmerzhaften Küsse und sein gewaltsames Verhalten hatte sie noch Monate danach verfolgt. Genau wie die Angst, dass ihr Vater, sollte sie ihm von dem Vorfall berichten, sie zwingen würde, den Viscount zu heiraten.

„Ich habe keine Angst, dass er herüberkommt“, sagte Pippa und schenkte Prue ein beruhigendes Lächeln. „Vielleicht brauche ich das, um vollends über das Unbehagen hinwegzukommen, das mich gelegentlich heimsucht.“

Prue lächelte ermutigend, ihre grünen Augen funkelten. „Das sehe ich genauso, aber du musst es ja nicht erzwingen. Lass uns heute Abend tanzen und feiern. Und diesen Schuft ignorieren wir einfach.“

Pippa entwich ein entsetztes Lachen, ehe sie Prues Hand nahm und sie sich gemeinsam durch die Menge bewegten, um sich mit einigen Ladys zu unterhalten. Niemand machte unverhohlene Kommentare darüber, dass Pippa nicht an der letzten Saison teilgenommen hatte, auch wenn in ihren Blicken zu lesen war, dass sie über die Gründe spekulierten. Und auch wenn Pippa fröhlich mit einigen Ladys schwatzte, bat kein Gentleman sie um einen Tanz. Es war schließlich Prues Ehemann, der Earl of Wycliffe, der Pippa freundlicherweise aufforderte, und sie tanzten zwei großartige Tänze. Sonst kam niemand auf sie zu, allerdings war sie auch nicht besonders erpicht darauf, dass einer der umherstreifenden, gut aussehenden jungen Männer sie aufforderte. Ihre Heiratspläne beinhalteten keinen Verehrer, der sie auswählte und mit leeren Schmeicheleien und unehrlicher Zuneigung überhäufte.

„Pippa!“, rief Miss Harriet Thompson, eilte zu ihr herüber und hielt ihr ihre behandschuhten Hände zur Begrüßung entgegen. „Ich bin so froh, dass du gekommen bist!“

Pippa lachte und drückte die Hände ihrer Freundin. Harriet war wirklich wunderschön in ihrem lavendelfarbenen Kleid und mit der Blumenkrone in ihrem dunkelblonden Haar. Ihre braunen Augen glitzerten schalkhaft, und auf ihren Lippen lag wie immer ein fröhliches Lächeln, das so wunderbar zu ihrem freundlichen Wesen passte. Phillipa hatte noch nie jemanden getroffen, der so liebenswürdig, charmant und gutmütig war wie ihre Freundin.

„Ich habe es dir doch gesagt, Harriet: Ich bin mehr als bereit dazu, in dieser Saison meinen Beau zu finden.“

Harriet zwinkerte ihr anerkennend zu. „Bist du immer noch überzeugt davon, dass du nur einen Gentleman auswählen wirst, der dir gefällt?“

„Ja“, antwortete Pippa, ohne zu zögern. „Ich werde auf niemandes Urteil als mein eigenes hören, wenn es um meine Ehe geht.“

Harriet drückte Pippas Hand. „Dann empfehle ich dringend, dass du über Lord Chayton nachdenkst“, sagte sie und seufzte viel zu genussvoll. „Er ist unglaublich gut aussehend und weder zu alt noch langweilig. Er braucht dein Vermögen nicht, also müsstest du dich nicht darum sorgen, dass er dich betrügen wird.“

„Wer ist Lord Chayton?“

Harriet deutete diskret mit dem Kinn auf einen Gentleman, der mit einer wunderschönen Dame in einem goldenen Kleid tanzte. Sie waren ein hübsches Paar, und er war tatsächlich sehr gut aussehend: Er hatte sandfarbenes Haar, ein kräftiges Kinn und eine starke, markant geschnittene Kieferpartie. Lord Chayton schenkte seiner Tanzpartnerin ein breites Lächeln und wirbelte sie mit selbstbewusster Eleganz über die Tanzfläche.

„Du scheinst ihn zu bewundern, Harriet“, sagte Pippa mit einem schelmischen Lächeln.

Harriet schnaubte, wenn auch ein rosiger Farbton auf ihre Wangen trat. „Der Earl ist ein Freund meines Bruders und mir ein Dorn im Auge. Meine Bewunderung … gilt lediglich Lord Chaytons gutem Aussehen und seinem Intellekt. Mehr ist es nicht, das versichere ich dir.“

Pippa warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu und fragte sich, ob diese wohl die Sehnsucht in ihrer eigenen Stimme hörte.

„Dann schaue ich, ob er ein passender Anwärter für meine Liste ist“, sagte Pippa, während sie insgeheim schwor, lediglich festzustellen, ob er ausreichend freundlich und wunderbar für ihre Freundin war.

Harriet verdrehte die Augen. „Ich bin immer noch der Meinung, dass es wenig romantisch ist, dass du deinen Reichtum verbirgst und deinen potenziellen Verehrer anhand einer Liste von Kriterien, die ein Gentleman erfüllen muss, auswählst.“

„Nicht romantisch?“ Pippa schnaubte wenig damenhaft. „Ich denke, du meintest praktisch, klug und sicher.“

„Eine Liste erlaubt wenig Spontanität und ist sehr starr“, erwiderte Harriet und schnappte sich ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeigehenden Dieners. „Was ist, wenn du jemanden triffst, der nicht alle Kriterien deiner Liste erfüllt?“

„Dann ziehe ich ihn eben nicht in Erwägung.“

„Ich finde, dass du in der Liebe impulsiv sein und nur einen Beau suchen solltest, der dein Herz vor Freude und Sehnsucht singen lässt“, sagte Harriet verträumt und trank einen Schluck. „Einen, mit dem du einfach lächeln und tanzen kannst.“

Pippa lachte, obwohl eine Woge tiefer Sehnsucht ihre Brust erfüllte. Sie wandte den Blick ab, sodass Harriet den Wunsch nach einer solchen Ehe nicht darin lesen konnte. Als Pippa vor ein paar Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden war, hatte ihr Vater ihre Mitgift verkündigt: eine atemberaubende Summe von sechzigtausend Pfund und zwei vom Titel unabhängige Anwesen. Diese Mitgift hatte von ihr ausgestrahlt wie ein Leuchtfeuer und viele Gentlemen mit hohler Schmeichelei, desinteressierten Blicken und gleichgültigen Herzen angelockt. Mehrere Gentlemen hatten ihr einen Antrag gemacht, doch nicht einer von ihnen hatte je auch nur gefragt, was sie gern tat oder was sie sich vom Leben erhoffte.

Es hatte ihr Herz schmerzen lassen und sie hatte bei ihrer Mutter bittere Tränen geweint. Die hatte Pippa zu trösten versucht, indem sie sie daran erinnert hatte, dass nicht jede Ehe aus Liebe geschlossen wurde. Dennoch würde die Zuneigung mit der Zeit kommen, wenn Pippa es zuließe. Pippa hatte diese Worte nicht hören wollen – vor allem nicht angesichts der wunderbaren Liebe ihrer Eltern, die Pippa jeden Tag sehen konnte, wenn diese einander verstohlen anlächelten oder sanft berührten.

Dann war Pippa dem Viscount begegnet, der ihr so charmant, liebenswürdig und aufmerksam erschienen war. Doch nach nur einer Woche, in der er ihr den Hof gemacht hatte, hatte er ihr mitgeteilt, dass er ihr zugetan sei und hoffe, sie zu heiraten. Pippa hatte gedacht, dass es sicherlich zu früh für eine derartige Absichtsbekundung des Viscounts gewesen war, und hatte nichts als Verunsicherung empfunden. Sie war sehr schüchtern gewesen und hatte Schwierigkeiten gehabt, ihre Gefühle auszudrücken. Dennoch hatte sie ihm schließlich mitgeteilt, dass es zu früh war, um über die Ehe und romantische Empfindungen zu sprechen. Seine Verzweiflung hatte ihn daraufhin dazu gebracht, sich wie eine Bestie zu verhalten, da er ihr Erbe gebraucht hatte.

Der Schmerz und die Angst, die Pippa an diesem Abend hatte ertragen müssen, regten sich erneut in ihrem Inneren, und sie sperrte beides wieder an jenem Ort ein, von dem es nicht wieder an die Oberfläche gelangen würde.

„Komm mit“, sagte Harriet. „Ich sehe Agatha. Lass uns herausfinden, ob sie wirklich vorhat, die Herausforderung anzunehmen, den preisgekrönten Hengst des Dukes zu stehlen.“

Pippa stöhnte, als sie an die lächerlichen Herausforderungen und Wetten dachte, die sie erst vor ein paar Tagen auf die Tafel im Damenklub geschrieben hatten. Gerüchten zufolge hatte der Duke of Ranford behauptet, dass er sich lieber mit seinen Pferden als mit der Brautwerbung beschäftigte. Daraufhin hatte jemand lachend vorgeschlagen, den Prachthengst zu stehlen, in den der Duke so vernarrt war, damit ein paar Stunden lang auszureiten und das Tier dann zurückzubringen. Natürlich war Agatha beschwipst gewesen, als sie die Worte ‚Herausforderung angenommen‘ auf die Tafel geschrieben hatte. Es war bereits die zweite oder dritte Herausforderung, die ihre gemeinsame Freundin angenommen und noch nicht erfüllt hatte. Manchmal fragte sich Pippa, ob Agatha sich davor fürchtete, zu gewagt zu handeln.

Es verging fast eine Stunde, in der sich Pippa, Harriet und Agatha unter die Leute mischten, und Pippa war sich qualvoll bewusst, dass der Viscount sie höchst indiskret beobachtete. Sie verbarg ihr Lächeln – das gleichermaßen ihrer Nervosität wie ihrer Entschlossenheit entsprang – in ihrem Champagnerglas, hinter ihrem Lachen und dem oberflächlichen Geplapper.

Pippa leerte das Glas in einem Zug und stellte es auf einem der Tische ab. „Ich muss mich einer Sache annehmen“, raunte sie Harriet und Agatha zu. „Ich bin in wenigen Minuten wieder hier.“

Ihre Freundinnen nickten. Pippa atmete tief durch und bahnte sich ihren Weg durch die Menge, schlüpfte diskret hinaus und über die Terrasse in den schwach von Laternen beleuchteten Garten. Niemand Bedeutsames schien sie bemerkt zu haben, dennoch warf sie einen Blick über ihre Schulter sowie zu den etwas abgelegeneren Ecken des Gartens, ehe sie über den gepflasterten Weg zum Irrgarten eilte. Bei der Nische befanden sich keine anderen Gäste, und Pippa wartete, lauschte ihrem schmerzhaft pochenden Herzen. Es dauerte nicht lange, bis der Viscount erschien, seine Schritte schnell und sein Gesichtsausdruck beinahe besorgt.

Er verfolgt mich.

Der Viscount blieb wie angewurzelt stehen, als er sie erblickte. „Lady Phillipa“, sagte er und nestelte an seinem Halstuch herum. „Es … ist schön, Sie zu sehen.“

Sie starrte ihn an, erspürte bewusst die Gefühle, die in ihrem Inneren umherwirbelten. Das stärkste von ihnen war Erleichterung. Es war Pippa nicht möglich gewesen, ihm seit jenem schrecklichen Abend gegenüberzutreten, an dem er sie ihrer romantischen Illusion beraubt hatte. Nachdem der Viscount ihren Mund mit seinen brutalen Küssen verletzt und ihr Kleid mit seinen gierigen Händen zerrissen hatte, hatte er sie in Tränen aufgelöst im Garten zurückgelassen.

Dort hatte sie gesessen wie ein alberner Dummkopf, zitternd und schluchzend, in dem Glauben, dass alles verloren war und sie nur darauf warten konnte, entdeckt zu werden und die unvermeidbaren Konsequenzen dieses Skandals erleben zu müssen. Doch es war Theodosia gewesen, die Pippa entdeckt und in so vielerlei Hinsicht gerettet hatte.

Pippa hob das Kinn. „Lord Shuttleworth. Das Gleiche kann ich leider nicht behaupten.“

Sein gut aussehendes Gesicht zuckte kaum merklich. „Es hat eine Zeit gegeben, da haben Sie mich James genannt.“

Pippa drückte ihre eigenen Hände, um sich zu beruhigen. „Ich dachte damals, wir wären Freunde, Mylord. Doch das sind wir nicht.“

Ein Ausdruck von Bedauern blitzte in seinen Augen auf und er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, ehe er ein paar Schritte auf sie zutrat. Es kostete Pippa unglaublich viel Kraft, nicht herumzuzappeln oder gar wegzulaufen, als er näher kam, doch sie blieb standhaft. Heute Abend drehte sich alles darum, diesem Mann entgegenzutreten, der ihr die Scheuklappen abgenommen und ihr Herz mit Misstrauen und Schuldgefühlen erfüllt hatte.

„Ich bin mehrmals zu Ihrem Haus gefahren, Phillipa“, sagte er mit eigenartiger Ernsthaftigkeit. „Ich wollte mit Ihnen sprechen, nach dem, was zwischen uns passiert ist, und Sie … Sie haben an dem Abend den Ball verlassen und waren einfach verschwunden. Erst Monate später habe ich erfahren, dass Sie mit Ihrer Mutter für einen längeren Aufenthalt nach Bath gefahren sind, und dann … dann hatte ich bereits eine andere geheiratet.“

Nun war sie an der Reihe, auf ihn zuzutreten. „Was an jenem Abend passiert ist, Lord Shuttleworth, ist, dass Ihr die Freundschaft ausgenutzt habt, von der ich glaubte, dass wir sie teilen würden. Ihr seid mir hinausgefolgt und habt mich attackiert. Ich habe Euch angefleht, aufzuhören, habe versucht, Euch wegzustoßen, und Ihr habt mich geohrfeigt.

Er zog die Schultern hoch, als versuchte er, ihre Anschuldigungen damit abzuwehren.

„Hätte sich nicht das Geräusch von Schritten genähert, glaube ich nicht, dass Ihr es dabei belassen hättet, lediglich mein Kleid zu zerreißen.“ Und mein Herz und meinen Mut und meinen Glauben. Doch dieses Eingeständnis ihrer Verletzlichkeit ihrerseits verdiente er nicht – nur jene, die ihr am nächsten standen, wussten, wie sehr sein Angriff Pippa zugesetzt hatte.

Er presste die Lippen zusammen, ehe er sagte: „Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass ich mein Verhalten zutiefst bereue, Lady Phillipa.“

Pippa reckte ihr Kinn vor. „Ich habe weder meinem Vater noch meinem Bruder erzählt, was vorgefallen ist, da ich fürchtete, in Eure kompromittierende Falle zu tappen. Aufgrund dieser schrecklichen Furcht ist meine Ehre zwei Jahre lang nicht verteidigt worden und Ihr habt keinerlei Konsequenzen für Euer widerwärtiges Betragen erfahren müssen.“

Der Viscount verzog das Gesicht. „Lady Phillipa …“

Sie hob die Hand, um seiner Antwort zuvorzukommen. „Ich habe vermutet, dass Ihr mir heute Abend hierher folgen würdet.“ Sie holte tief Luft und sammelte ihren Mut. „Ich fordere Euch zum Duell.“

Seine Augen weiteten sich in komischer Bestürzung. „Sie … wa-was?“

„Ihr habt mich gehört, Mylord: Ich fordere Euch zum Duell. Hier und jetzt.“

Der Viscount schüttelte den Kopf und stieß ein ersticktes, fast spöttisches Lachen aus. „Warum verhalten Sie sich so eigenartig, Phillipa? Das ist gar nicht Ihre Art.“

„Ihr habt weder eine Ahnung, was für eine Art Lady ich bin, Lord Shuttleworth, noch habt Ihr das Recht, dies zu behaupten.“ Pippa hob die Fäuste und nahm die perfekte Haltung für einen Boxkampf ein. „Habt Ihr Angst, Euch mir zu stellen?“

Er verengte die Augen zu einem gereizten Gesichtsausdruck. „Als Gentleman biete ich Ihnen eine Entschuldigung an und wir werden über diese … Geschmacklosigkeit hinwegsehen.“

Als Gentleman? Entschuldigung?

Pippas Lächeln war bar jeglicher Belustigung, als sie einen Schritt nach vorn trat und ihm – mit perfekt abgestimmter Geschicklichkeit und Stärke – direkt auf die Nase schlug.

Kapitel zwei

William Coventry, Marquess of Trent, war unbestreitbar überrascht und beeindruckt. Diese Gefühle hatten seit vielen Jahren nicht mehr, wenn überhaupt jemals, gleichzeitig in seinem Inneren existiert. Er drückte sorgsam die Zigarre aus, die er geraucht hatte. Vorsichtig, um nicht entdeckt zu werden, erhob er sich von der Steinbank am Eingang des kleinen Irrgartens, um einen besseren Blick auf das Spektakel im Garten erhaschen zu können. Schadenfreude erfüllte ihn. Das Mädel war kaum größer als fünf Fuß – ein zartes kleines Ding, auch wenn sie ein markantes Kinn und volle Lippen hatte, die sie zu einer entschlossenen Linie zusammengepresste.

Das wagt sie nicht wirklich … oder?

Es geschah so schnell, dass William es beinahe verpasst hätte. Ein Schlag auf die Nase, ein schneller Ausfallschritt zur Seite, dann eine harte Rechte direkt unter den Kiefer.

Hölle noch eins.

„Das hat wehgetan, du Teufelsweib!“, brüllte der Viscount, taumelte rückwärts und presste sich eine Hand auf die Nase. „Ich blute! Du elende …“

Ein weiterer eleganter Satz vorwärts, dann schoss die kleine Faust nach vorn, und der Kopf des Viscounts wurde nach hinten geschleudert, ehe der Mann zu Boden ging, als hätte ein Schwergewichtsboxer ihn sich zur Brust genommen.

Wie ein gefällter Baum.

Hätte William es nicht mit eigenen Augen gesehen, hätte er die Geschichte nicht einmal seinem vertrauenswürdigsten Freund abgekauft. Er konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken, während er sich im Schutze der Schatten der Szene näherte, bedacht darauf, nicht in den Lichtkegel der Laterne zu treten.

Die junge Lady, die diesem lüsternen Wüstling gerade eine verpasst hatte, lehnte sich vor, um ihr Werk zu bewundern. Dann richtete sie sich auf und schüttelte ihre Hand, wahrscheinlich um den Schmerz darin zu vertreiben. Sie legte den Kopf in den Nacken, atmete tief ein und wieder aus. Und dann lachte sie.

Es klang … unglaublich. Sanft und sinnlich, dennoch leicht und frei. William konnte förmlich spüren, wie das Lachen immer unbekümmerter wurde, so als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. Sie krümmte sich vor Heiterkeit, schlang die Arme um ihren Leib. Ihr Lachen endete in einem leisen Schluchzen, dann schien sie sich zu sammeln und richtete sich wieder auf.

Erst dann sah sie sich im Garten um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie noch immer allein war. William achtete darauf, dass die Schatten ihn verbargen, aufrichtig fasziniert davon, sie einfach nur … zu beobachten.

Der Gedanke überraschte ihn – dennoch war dieses Bedürfnis nicht eigenartig genug, dass er es weggewischt hätte und gegangen wäre.

Die Lady trat noch näher an den Viscount heran und schaute auf ihn hinab. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sie stolperte zurück, als wäre sie geschlagen worden.

Ich frage mich, welche Farbe deine Augen haben.

Dann realisierte er, wie alarmiert sie aussah, und folgte ihrem Blick zu dem am Boden liegenden Mann. Er lag reglos da. Nicht einmal ein Heben und Senken seiner Brust war zu sehen.

„Du liebe Güte!“ Ihr entsetzter Aufschrei hallte durch den Garten.

William nahm an, dass der Schurke ohnmächtig war. Nicht aufgrund ihrer beeindruckenden Faust – wahrscheinlich war er mit dem Kopf auf die Steinbank hinter ihm aufgeschlagen und deshalb bewusstlos.

„Seid Ihr tot?“, flüsterte sie, ihre Stimme erfüllt von nachvollziehbarem Grauen. Sie schob ihren Fuß ein Stück vor und tippte damit gegen seine Schulter. Weder ein Stöhnen noch eine Bewegung des Viscounts. Sie wich erneut zurück. „Du lieber Gott, sag, dass das nicht wahr ist!“

Ein Hauch von Panik schwang in ihrer Stimme mit und ihre Brust hob und senkte sich mit ihren wilden Atemzügen.

William hob eine Augenbraue und fragte sich, was sie jetzt tun würde. Zweifelsfrei würde sie fortlaufen oder in Hysterie verfallen.

Die Lady sah sich abermals im Garten um und biss auf ihrer Unterlippe herum. „O verdammt“, murmelte sie. „Was würde Theo tun?“ Sie nestelte am Rock ihres Kleides herum. „Vielleicht sollte ich den Leichnam verstecken?“

William verschluckte sich. Den Leichnam verstecken? Das war mitnichten die Reaktion, die er von irgendeiner jungen Lady erwartet hätte. Eine Woge der Bewunderung erfüllte ihn angesichts ihres Muts und ihrer schieren Ungeheuerlichkeit.

Wer bist du?

William begab sich über einen anderen gepflasterten Pfad zum Seiteneingang des Gartens, sodass sie ihn nicht bemerkte. Dort winkte er einen Bediensteten heran. „Guter Mann, besorgen Sie mir einen Eimer mit Eis und hinterlassen Sie ihn diskret neben der Steinbank beim Irrgarten.“

Der Bedienstete nickte und strahlte, als William ihm eine Münze zuwarf.

William kehrte zu dem unerhörten Mädel zurück und hätte beinahe laut gelacht, weil sie den Fuß des Viscounts gepackt hatte und mit all ihrer Kraft daran zog. Der Mann bewegte sich jedoch kein Stück. Mit einem Schnauben ließ sie den Fuß wieder ins Gras plumpsen.

„Haben Sie sichergestellt, dass er wirklich tot ist?“

Sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, wirbelte zu ihm herum und stolperte vor Schreck ein Stück zurück. Verdammter Mist. Sie war … unbeschreiblich liebreizend. Williams Herz begann heftig gegen seinen Brustkorb zu trommeln und er hatte alle Mühe, seinen Gesichtsausdruck zu einer gleichgültigen Maske zu zähmen.

„Sie haben mich erschreckt, Sir!“, sagte sie atemlos und presste sich eine Hand auf die Brust.

„Ich gestehe, ich hätte mein Annähern klarer ankündigen können“, erwiderte William.

Ihr prüfender Blick schweifte über ihn. Sie schluckte sichtbar und er nahm an, dass ihr Herz ebenso raste wie seines. Sie war eine zierliche, dunkelhaarige und wild anmutende Schönheit, die wohl kaum bei denjenigen Anklang finden würde, deren Ästhetik sich auf helles Haar und rosige Pausbäckchen beschränkte. Ihre Augen hatten einen wunderschönen Blauton … fast wie Lavendel. Sie war außerdem jünger, als er zunächst angenommen hatte. Ihr Gesicht besaß zarte Züge, ihre Lippen waren voll und ihre Nase elegant. Ihr Haar war rabenschwarz und zu einem geschmackvollen Knoten hochgesteckt, mit zwei Strähnen, die sanft ihr Gesicht umspielten. Das Mädel konnte kaum älter als achtzehn Jahre sein.

Kalter Zorn erfüllte ihn, als er sich daran erinnerte, was sie dem Viscount vorgeworfen hatte. Dieser verdammte Schuft! William wurde erst dann bewusst, wie seine Anwesenheit auf sie wirken musste: Er war größer und breitschultriger als der Viscount, und sie waren allein in diesem abgeschiedenen Teil des Gartens. Er trat vorsichtig einen Schritt zurück. „Ich hatte nicht beabsichtigt, Sie zu ängstigen. Ich hatte lediglich angenommen, dass Sie Hilfe dabei wünschen, den Leichnam zu verstecken.“

Ihre Augen wurden so groß, dass er einen Moment lang glaubte, sie würde in Ohnmacht fallen.

„Kommen Sie schon“, sagte er, während ein Hauch Belustigung in seiner Brust aufstieg. „Sie waren eben noch so herrlich kühn. Sagen Sie nicht, dass Sie jetzt ohnmächtig werden.“ Er schnalzte mit der Zunge.

Ihr Blick landete zielgenau auf der Nische nahe dem Eingang zum Irrgarten und ihre Wangen nahmen einen hübschen Rosaton an. „Sie haben uns belauscht, Sir“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Und?“

„Ein Gentleman hätte sich in dem Moment entfernt, in dem er bemerkt hätte, dass er einer privaten Unterhaltung beiwohnt.“

„Ich habe dort seit einer guten Stunde gesessen, werte Dame. Ich denke, Sie waren es, die in meine Privatsphäre eingedrungen ist.“

Sie starrte ihn an, als wäre sie unentschlossen. „Darf ich erfahren, wer Sie sind?“

Er verbeugte sich knapp. „Marquess of Trent, zu Ihren Diensten.“

Sie machte sofort einen Knicks und William sah erneut, wie sich ihr eleganter Hals bewegte, als sie schluckte. Wie wahrlich zart, fast schon … ätherisch sie wirkte. Es war erstaunlich, dass sie einen Mann vom Format des Viscounts niedergestreckt hatte, und das mit solch bewundernswerter Leichtigkeit.

„Mylord, ich bitte um Eure Diskretion angesichts dessen, was Ihr … gehört und gesehen habt.“

„Natürlich.“

Sie entspannte sich etwas. „Ich danke Euch, Mylord!“

„Ich habe in der Tat vor, Ihnen zu helfen, den Leichnam zu beseitigen. Wir könnten es als gegenseitig zugesicherte Diskretion betrachten. Sollte ich irgendjemandem davon erzählen, wäre ich eindeutig ein Komplize.“

Ihr entfuhr ein überraschter Laut. „Ihr würdet mir helfen?“

„Natürlich.“

„Ihr zögert nicht einen Augenblick, Mylord“, sagte sie und zog die Stirn kraus.

William erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Ich bin ein großzügiger Mann.“

Sie schnaubte. „Hat diese Großzügigkeit einen Haken?“

„Ich habe drei jüngere Schwestern. Wenn diese sich auf so spektakuläre Weise eines ehrlosen Schurken erwehren und ihn dabei töten sollten, erweist ihnen hoffentlich ebenfalls jemand die Freundlichkeit, beim Verstecken des Leichnams zu helfen, statt die Obrigkeit zu informieren.“

„Ihr fandet meine Verteidigung spektakulär?“

Das war das Letzte, was er von ihr zu hören erwartet hatte. „Sie waren brillant.“

Ihr Mund öffnete sich zu einem lautlosen Seufzen und sie starrte ihn an. William sagte nichts, erwiderte ihren Blick lediglich und wunderte sich über die beharrliche Regung in seinem Inneren. Er befasste sich nicht mit jungen Mädchen wie ihr – jenen, von denen süße Unschuld ausging und die von nichts anderem als der Hochzeit träumten, wenn sie einem Gentleman begegneten. Er mied diese fieberhaft heiratsbesessenen jungen Ladys rigoros, denn William hatte keinerlei Interesse an einer Ehe. Die meisten seiner Beziehungen war er mit etwas erfahreneren Ladys eingegangen, die sich mit romantischen Liaisons und diskreten Affären auskannten. Sie verstanden, was er anzubieten hatte, und er verstand, was sie zu geben bereit waren.

Die Lady wandte zuerst den Blick ab und biss sich auf die Unterlippe. „Glaubt Ihr, dass ich ihn umgebracht habe?“

Wie entsetzt sie klang.

„Vielleicht.“

Ihr gesamter Körper zitterte.

„Es wäre nicht Ihre Schuld.“

„Ich würde mit Sicherheit gehenkt!“, erwiderte sie mit schwacher Stimme und schüttelte den Kopf, als wäre sie benommen. „Meine Familie wäre ruiniert. Oh, Theo hat mich gewarnt, dass man zwei Gräber graben soll, wenn man plant, sich zu rächen. Und ich habe nicht auf sie gehört!“

„Eine überaus böse Vorahnung.“

„I-Ihr lächelt“, flüsterte sie erstickt.

„Männer haben einander wegen sehr viel weniger in einem Duell um die Ehre getötet. Ich nehme an, dies war ein ähnliches Duell.“

Sie starrte ihn an, als wären ihm Hörner gewachsen. „Ich bezweifle, dass noch jemand so verständnisvoll denkt wie Ihr, Mylord. Sicherlich sind die meisten Gentlemen der Auffassung, dass Ladys nicht an Duellen um die Ehre teilnehmen können.“

„Ich bin nicht die meisten Gentlemen, werte Dame, und dies bleibt unser Geheimnis, nicht wahr?“

Unser Geheimnis?“

„Natürlich. Gegenseitig zugesicherte Diskretion, erinnern Sie sich?“

Ein überraschtes Lachen entwich ihr, ehe sie sich eine behandschuhte Hand auf den Mund schlug. „Ich war im Begriff, ihn dort hinüber ins Gestrüpp zu ziehen.“

Kein sehr guter Plan, besonders angesichts der Tatsache, dass sie ihn einfach hier liegen lassen könnte. William erwähnte das nicht. Er schaute lediglich in die Richtung, in die sie deutete. „Erlauben Sie?“, fragte er und verbeugte sich galant.

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu und wich zurück, als er vortrat. Als William sich hinabbeugte, stöhnte der Viscount und begann sich aufzusetzen.

„Gütiger Himmel, er ist am Leben! Wir müssen gehen, bevor er wieder vollends zu Sinnen gekommen ist!“

Ohne großartig darüber nachzudenken, rammte William dem Mann seine Faust gegen den Kiefer und sah mitleidlos zu, wie er wieder in sich zusammensackte. „Ich denke, er wird noch ein paar Stunden bewusstlos bleiben.“

Ihr entsetztes Keuchen hing zwischen ihnen in der Luft. „Mylord! Warum um alles in der Welt habt Ihr ihn geschlagen?“

„Er verdiente mehr für die abscheuliche Art und Weise, wie er sich Ihnen gegenüber verhalten hat“, sagte William leise und zog den Viscount mit wenig Mühe dorthin, wo sie ihn haben wollte.

Er spürte ihren Blick auf seinem Rücken, scherte sich jedoch wenig darum, während er den Körper des Mannes in die Büsche rollte. Der Viscount würde zu Recht in Verlegenheit geraten, wenn er von einem anderen Gast oder einem Bediensteten entdeckt würde – oder wenn er von selbst aufwachte, ohne zu wissen, was passiert war.

Wenn jemand eine seiner Schwestern so behandeln würde, wie Shuttleworth es mit der jungen Lady getan hatte, hätte er ein Messer genommen und sein Innerstes nach außen gekehrt. William verabscheute jene, die Gewalt gegenüber dem schönen Geschlecht oder sonst irgendjemandem anwendeten.

„Habt Ihr alles gehört, Mylord?“, flüsterte die Lady.

Er sah auf und bemerkte ihre Blässe sowie die Scham in ihren lieblichen Augen. „Ich habe alles gehört.“

Sie kniff die Augen zu und presste sich eine Hand auf die Brust. „Ich bin zutiefst beschämt.“

„Sie haben Ihre Ehre leidenschaftlich verteidigt. So etwas habe ich noch nie gesehen.“

Sie öffnete die Augen und musterte ihn einen Moment lang, ehe sie den Mund zu einem zögerlichen Lächeln verzog. „Höre ich da Bewunderung von einem Mann, der für seine zynische, beißende Art bekannt ist?“

„Sie haben von mir gehört, ja?“

„So einiges“, erwiderte sie kess und verengte nachdenklich die Augen. „Genug, um zu wissen, dass ich nicht mit Euch allein sein sollte, egal aus welchen Gründen, Mylord. Noch sollte ich mich zu einer gegenseitig zugesicherten Diskretion mit Euch verpflichten.“

„Ah, Sie haben fragwürdige Dinge über mich gehört.“

„Debütantinnen wird tatsächlich angeraten, einige Gentlemen zu meiden, selbst wenn diese gut aussehen und viel zu charmant sind.“

„War das eine Verallgemeinerung oder glauben Sie wirklich, dass ich außergewöhnlich gut aussehend und charmant bin?“

Sie schnappte nach Luft. „Ich habe nichts von außergewöhnlich gut aussehend gesagt.“

„Die Wärme in Ihrer Stimme hat es suggeriert.“

Sie machte ein ersticktes Geräusch der Entrüstung. „Ihr seid ein Schuft, mit mir zu tändeln!“

„Ich verführe nur jene, die willens sind“, murmelte er und ließ seinen Blick über sie gleiten. „Und ich lasse mich nicht mit Damen ein, die jung und unschuldig sind.“

Erneut öffnete sie den Mund zu einem Keuchen, dann aber entzückte sie ihn mit einem Lachen, tief und heiser. Dennoch trat die Lady einen vorsichtigen Schritt zurück, brachte einen angemessenen Abstand zwischen sie.

Gutes Mädchen.

William wandte sich ihr zu. Sie zögerte einen Moment, ehe sie über ihre Schulter zum Ballsaal schaute. Erneut biss sie sich auf die volle Unterlippe, schien einen Moment unsicher. „Ich sollte wieder hineingehen, Mylord.“

„Das sollten Sie.“

„Danke für …“ Ihr Blick schweifte hinüber zum Viscount zwischen den Büschen, ehe sie William wieder ansah. „Danke, Mylord.“

„Einen Moment noch, bevor Sie gehen.“

Er ging hinüber zur Steinbank, wo der Bedienstete diskret eine Schüssel mit zerstoßenem Eis hinterlassen hatte. William zog sein Taschentuch hervor und wickelte etwas Eis darin ein. „Ich bin mir sicher, dass Ihre Hand wehtut. Das wird gegen die Schwellung und den Schmerz helfen.“

Ihr Atem stockte hörbar und etwas Heißes, Unbehagliches erwachte in ihm zum Leben, als ein höchst betörender Duft zu ihm herüberwehte.

„Ziehen Sie Ihren Handschuh aus.“

Sie schniefte und warf ihm einen finsteren Blick zu.

„Ich bin ein Mann, der es gewohnt ist, dass seinem Befehl Folge geleistet wird“, sagte er und lächelte leicht, weil er ihren Ärger über seine Überheblichkeit verstand. William würde sich jedoch nicht für seine direkte Art entschuldigen. „Ziehen Sie schon Ihren Handschuh aus. Oder soll ich das für Sie übernehmen?“

„Das kann ich sehr wohl selbst, Mylord.“ Sie machte ein zartes, schmerzerfülltes Geräusch, als sie den Stoff von ihrer rechten Hand zog. Drei ihrer Finger waren tatsächlich rot und geschwollen. Dennoch waren sie in besserer Verfassung, als er erwartet hatte. Vorsichtig streckte er seine Hand nach ihrer aus und hielt erst inne, kurz bevor er sie berührte. Sie hielt ihm ihre Hand entgegen und er bemerkte, dass ihre langen, eleganten Finger leicht zitterten. Eine angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus, doch William bemühte sich nicht, die seltsame Anspannung mit Konversation zu füllen. Er ergriff sanft ihr Handgelenk und ihr Herzschlag unter seinen Fingerspitzen schien durch seinen gesamten Körper zu pulsieren. Er legte das Taschentuch auf ihre Finger und ließ die Kälte auf ihre gereizte Haut wirken, ließ sie den Schmerz lindern.

Sie seufzte. Das Geräusch erreichte eine Leere in ihm, von der er nicht gewusst hatte, dass sie existierte, und füllte sie mit einem seltsamen Gefühl des Begehrens. William verengte die Augen und betrachtete ihren geneigten Kopf, unerklärlich gereizt von seiner unmittelbaren Reaktion auf ihre Nähe. Sie blieben einige Minuten so stehen, der Lärm von Musik und Gelächter im Hintergrund schien weit entfernt. Keiner von ihnen sprach, als er mehr Eis in sein Taschentuch füllte und etwas von dem kalten Wasser direkt auf ihre Hand goss.

„Tut es jetzt weniger weh?“

Der Herzschlag unter seinen Fingern stolperte in einen schnelleren Rhythmus.

„Ja“, flüsterte sie.

Ihre Finger nahmen einen intensiveren Rosaton an und mit einem Anflug von Staunen realisierte William, dass sie errötete … und zwar am gesamten Körper. Gütiger Himmel, es schien, als wäre sie sich seiner Nähe ebenso bewusst wie er sich der ihren, genau wie der skandalösen Ungehörigkeit seiner Berührung.

„Wo haben Sie gelernt, so zu kämpfen?“

„Warum fragt Ihr, Mylord?“

Er überdachte das Bedürfnis, das diese Frage über seine Lippen gebracht hatte, und antwortete wahrheitsgemäß: „Neugier.“

Sie hob den Kopf und sah in seine Augen. „Eine liebe Freundin hat es mir ermöglicht.“

„Hat diese liebe Freundin einen Namen?“, fragte er trocken.

Mit einem Mal leuchteten ihre Augen belustigt. „Als ob ich den verraten würde.“

„Verraten Sie mir dann Ihren Namen?“

Sie schluckte. „Lady Phillipa Carlisle.“

Die Tochter des Earls of Beauford. Er erinnerte sich an das Getuschel vor einigen Jahren, dass das einzig Reizvolle an der Tochter des Earls deren Mitgift wäre. Einige hatten behauptet, sie wäre zu unscheinbar, schüchtern und langweilig. Was für verdammte Narren. William kannte außerdem ihren Bruder. Der junge Viscount hatte ein recht hitziges Temperament und war impulsiv, aber ein feiner Kerl.

„Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Phillipa.“

Sie entzog ihm ihre Finger und streifte ihren Handschuh wieder über.

„Remington hätte Shuttleworth getötet, hätte er von dessen Taten gewusst“, fuhr William fort.

Sie musterte sein Gesicht, als versuchte sie jede Regung darin zu lesen. „Ich habe nie an der Reaktion meines Bruders gezweifelt. Ich habe mich nur um ihn gesorgt.“

„Also haben Sie die Bürde des Angriffs allein getragen. Das tut mir verdammt leid.“

Lady Phillipa starrte William an, als wüsste sie nicht recht, was sie von ihm halten sollte. „Ich werde Euch Eure Freundlichkeit niemals vergessen, Mylord.“

„Das war gar nichts.“

„Das war alles, Mylord.“

William erwiderte nichts darauf, schaute ihr lediglich nach, als sie herumwirbelte und den gepflasterten Weg zurück zum Ballsaal entlangeilte.

Er fischte die Zigarre aus seiner Tasche und zog die Augenbrauen zusammen, während er Lady Phillipas Rücken betrachtete. Mit einem gereizten Knurren wandte er sich ab und marschierte los, entschlossen, nach seiner Kutsche zu verlangen und nach Hause zu fahren.

„Will!“ Der gedämpfte Ruf von Lady Vinnette ließ ihn innehalten. Die weithin bekannte Schönheit, die derzeit mit Lord Thompson verheiratet war, eilte auf ihn zu, während sie immer wieder verstohlen über ihre Schulter blickte. „Mein Liebster, ich konnte mich nicht früher davonmachen.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Brust. „Hast du lange auf mich gewartet?“, fragte sie kokett.

Recht überrascht stellte er fest, dass ihr Charme ihn nicht mehr berührte und er sie nicht mehr annähernd so verlockend fand wie zuvor. „Ich habe vergessen, dass wir uns treffen wollten.“

Sie errötete und verengte die Augen. „Du neckst mich nur, du Schuft! Mein Ehemann wird heute Nacht bei seiner Mätresse sein. Sag, dass du zu mir kommst!“

William blickte hinab auf ihre unvergleichlichen Vorzüge und wollte wirklich, dass das unanständige Angebot und die vulgären Herrlichkeiten, die ihr Blick versprach, ihn in Versuchung führten. Sie war schöner als viele andere Ladys der Gesellschaft, mit dunkelblondem Haar und herrlich grünen Augen, doch er stellte fest, dass die Aussicht darauf, mit ihr ins Bett zu steigen, ihn kaum noch mit Lust erfüllte. Stattdessen schaute er an Vinnette vorbei zum Ballsaal. Ein unerklärliches Verlangen zog ihn dorthin. Er zischte leise und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. „Vinnette …“

Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste ihre Brüste an ihn. Trotz des koketten und provokativen Spiels zwischen ihnen hatte er bisher noch nicht mit ihr geschlafen. Er war sich so sicher gewesen, dass sie seine neuste Geliebte werden würde, doch jetzt war er entschieden desinteressiert. Er seufzte, legte die Hände an ihr Gesicht und drückte ihr einen sanften Kuss auf die Lippen. Er hoffte, so die Schärfe seiner Zurückweisung abzumildern, denn sie war eine eitle Frau, die höchst unangenehm werden konnte, wenn man sie verärgerte. „Ich fürchte, ich bin nicht länger interessiert“, murmelte er.

Sie erstarrte und grub die Finger in sein Jackett wie Klauen. „Was sagst du da, Trent?“

Er hob den Kopf und strich beruhigend mit dem Daumen über ihre Lippen. Sie entspannte sich etwas. „Leider ist eine Affäre für uns vom Tisch.“

Sie sah ihn an, konnte wohl nicht ganz glauben, in welche Richtung sich die Dinge entwickelten. Er schwieg und schaute sie bedeutungsvoll an.

„Warum?“, rief sie schließlich und festigte den Griff an seinem Jackett.

Zur Hölle, das weiß ich selbst nicht einmal.

„Wir bleiben aber weiterhin Freunde, ja?“

Trotz blitzte in ihren Augen auf und sie machte einen Schmollmund. „Lord Petersfield hat begierig sein Interesse bekundet, Will. Du wirst mich an ihn verlieren.“

„Dann geh zu ihm, wenn es das ist, was du brauchst.“

Er küsste sie auf die Stirn und befreite sich geschickt aus ihrem Griff. Dann verabschiedete er sich von der Marchioness, verließ den Garten durch einen Seiteneingang zur Straße und ließ die ausgelassene Stimmung des Balls hinter sich zurück. Er zündete seine Zigarre an und schlenderte in Richtung der Straßen von Mayfair, während er träge mit seinem Spazierstock auf die Pflastersteine klopfte.

Lady Phillipa Carlisle. Eine junge Lady wie keine, die er je getroffen hatte. Der Gedanke an ihre ungewöhnliche Kühnheit ließ William leise lachen. Dann vertrieb er sie mit einem Zug an seiner Zigarre aus seinen Gedanken. Junge, unschuldige Mädchen hatten darin nichts zu suchen, selbst dann nicht, wenn sie außergewöhnlich interessant waren. Und wie so viele Dinge, von denen William entschied, dass sie nicht in sein Leben passten, schloss er auch sie rigoros daraus aus.