Prolog
1945
Die Frau, eine dunkle Silhouette vor grauen Mauern, schaute kurz von der alten Auffahrt aus hinauf zu den mit Brettern vernagelten Fenstern, bevor sie dem Haus den Rücken zukehrte und zu dem Feuer am Strand hinunterging. Menschen bewegten sich in den rauchgeschwängerten Schatten, kleine Gruppen, die nach der spannenden Versteigerung noch staunend verharrten. Als sie sich ihnen näherte, eine hagere Fremde im schwarzen Mantel, wichen sie raunend zurück.
Piuthar Blake!
Sie trat zu den Flammen.
Bho Lunnainn …
Der Wind wirbelte Funken auf, denen die Frau mit dem Blick folgte, bis sie sich über dem trockenen Sand verloren.
Blakes Schwester. Aus London.
Dinge aus dem Haus landeten krachend auf dem Scheiterhaufen – eine kaputte Vitrine aus dem Arbeitszimmer, eine wurmstichige Staffelei. Einen Augenblick lang drückten sie die Flammen nieder, dann umzüngelten diese die Opfergabe und verschlangen sie – und mit ihnen die Zeugen eines Lebens.
Es war eine bizarre Szene gewesen, als man die mottenzerfressenen Vögel und die anderen ausgestopften Tiere herausgebracht hatte und die Flammen den Glasaugen einen vorwurfsvollen Ausdruck verliehen. Ein Hotelbesitzer hatte den ausgestopften Hirschkopf aus dem Treppenhaus erstanden, die wertvolleren Stücke waren nach Edinburgh gebracht worden, während eine ramponierte Lumme schon für ein paar Pennys zu haben war. Der verstaubte, verblichene Rest war ins Feuer gewandert. Die Frau hatte das Ganze beobachtet und sich lediglich abgewendet, als man den einst so geliebten schwarz-weißen Eistaucher aus dem Esszimmer ebenfalls heraustrug. Man hatte ihn, von Mäusen angenagt, zusammen mit einigen in Sackleinwand eingewickelten Gemälden ganz hinten in einem alten Schuhschrank entdeckt, zu spät, als dass er noch unter den Hammer des Auktionators hätte kommen können.
Die Frau hatte die Vernichtung der Bilder verfügt, mit groben Pinselstrichen gemalte Ergüsse eines gequälten Geistes, die sie erschreckten und nur zu deutlich die psychischen Nöte ihres Bruders offenbarten. Nur eines hatte sie behalten, ein Aquarell, an das sie sich gut erinnerte, entstanden in seiner besten künstlerischen Phase. Sie betrachtete es, während die anderen verbrannten. Dann legte sie es beiseite.
Jemand näherte sich ihr. »Das wär’s dann, Mrs Armstrong.«
Donald. Sie nickte lächelnd, und gemeinsam blickten sie in die Flammen, die flackernde Schatten auf ihre Gesichter warfen. »Erinnerst du dich noch an das letzte Feuer, an dem wir miteinander gesessen haben?«, fragte sie wehmütig.
»Der Tag, an dem wir alle zu den Seehundjungen hinausgefahren sind und am Strand Fisch gegrillt haben?« Einen Moment lang leuchtete ihr altes verschmitztes Lächeln in ihrem Gesicht auf. »Ein wunderbarer Tag. Ich denke oft daran.« Eine Möwe zog ihre Kreise, stieß einen Schrei aus und flog über den Machair davon. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig.« Die lichterloh brennende Staffelei rutschte auf dem Scheiterhaufen herunter, dass die Funken sprühten. »Ich meinte damals, dieser Tag wäre der Beginn einer neuen Welt, doch es war der Anfang vom Ende …« Und auf den Feldern von Flandern war die Hölle losgebrochen.
Sie sah zu den Booten hinüber, die am Strand lagen, und wandte sich dann noch einmal Donald zu. In dem Mann mittleren Alters erkannte sie den Jungen wieder, mit dem sie als Kind in der heißen Sonne barfuß durch glitzernde Pfützen geplanscht war, ohne dass der Klassenunterschied eine Rolle gespielt hatte. Aber da waren noch andere Kinder gewesen. Ihr Bruder und seiner. Sie schob den Schmerz beiseite und hob den Blick zum leuchtenden Hebridenhimmel. Mittsommerlicht. Wenn die letzten Farben im Westen verschwunden waren, würde ein fahles Licht im Osten auftauchen, das wusste sie. An diesen Gedanken klammerte sie sich, den Rücken entschlossen dem Haus zugekehrt.
Die Männer waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, die Fenster mit Brettern zu vernageln, aus dem Haus eine Gruft zu machen. Das Klopfen ihrer Hämmer hallte noch in ihrem Kopf nach, doch sie war froh, dass die Arbeit getan war und sie am Morgen abreisen konnte.
»Was wird damit geschehen, Donald? Wenigstens das Land ist in guten Händen, und das Farmhaus gehört jetzt dir.« Sie winkte ab, als er sich bedanken wollte. »Noch ein paar Unterschriften, dann ist die Sache erledigt.« Die Flammen erschöpften sich; das Feuer hatte schnell gebrannt, angefacht vom Wind, der ungehindert über drei Kilometer offenes Land wehte. »Ich glaube nicht, dass ich je wieder hierherkommen werde.« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und ihre Wangen glänzten feucht im Schein des Feuers.
Donald trat einen Schritt näher zu ihr, und sie legte den Kopf wie ein Kind, nicht wie die fast schon alte Frau, die sie nun war, an seine Schulter – den Geruch von Holzrauch in dem Tweedstoff seiner Jacke empfand sie als tröstlich. Da knackte es laut, und ein Funke sprang aus dem Feuer, entzündete das trockene Gras und loderte kurz auf, bevor er verlöschte und einen schwarz verkohlten Fleck hinterließ.
»Ich habe die Geister der Vergangenheit besucht, Donald.« Er drückte sie wortlos an sich. »Gott sei Dank hast du den armen Theo gefunden und nach Hause gebracht.«
Die Schaulustigen entfernten sich über den Strand oder den Machair zu ihren Häusern.
»Lass die Geister ruhen, Emily.« Er nahm ihren Arm. »Und komm jetzt mit zu uns.«
Sie verließen die ersterbende Glut, ein Leuchtfeuer in der hereinbrechenden Dunkelheit, und gingen den ausgetretenen Pfad entlang, der die beiden Häuser verband. Die Frau blieb nur ein einziges Mal stehen, um sich zu Bhalla House umzudrehen, das düster vor dem westlichen Abendhimmel aufragte. Er ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, bevor er sie weiterschob, auf den freundlich hellen Schimmer des Verwalterhauses zu.
Eins
2010
Den ersten hatte er noch für einen Schafsknochen gehalten, weil er inmitten von Kaninchenkötel und Schutt schon auf andere Gerippe gestoßen war. Doch der nächste war ziemlich lang, und er hielt ihn eine Weile nachdenklich in der Hand, bevor er sich abrupt aufrichtete. Das war kein Schaf. Neugierig geworden, begann er im Boden zu scharren, unter dem sich weitere fleckige Knochen mit Stofffetzen daran verbargen. Er versuchte, das verrottete Brett, das die sterblichen Überreste bedeckte, zu entfernen, doch es ließ sich nicht bewegen. Erschrocken richtete er sich auf, als ihm klar wurde, dass es sich um eine alte festgenagelte Bodendiele handelte, und darunter lag ein Skelett. Er schob mit trockenem Mund vorsichtig die Erde beiseite, bis er auf einen hellen Schädel stieß. Das Skelett ruhte, den Kopf auf einen Stein im Fundament des Hauses gestützt, auf der Seite, das Kinn auf der Brust. Am Schädel befand sich eine mit Sand gefüllte rissige Delle.
Die Gedanken des Mannes überschlugen sich, als er Mörtelreste von dem halb unter der Erde liegenden Kiefer entfernte, eine Bohrassel von den entblößten Zähnen wegschnippte und mit zitternder Hand mehr von der zertrümmerten Schläfe und der dunklen Augenhöhle freilegte. Er richtete sich, die Kelle achtlos in der Hand, auf und betrachtete sein Werk. Flügelschlag riss ihn aus seinen Gedanken. Er duckte sich unwillkürlich, als eine Taube aus ihrem Nistplatz in einer Nische flatterte.
Der Mann sah auf die Uhr, rückte sie an seinem Handgelenk zurecht. Er hatte die Zeit vergessen. Die Flut kam bereits seit über einer Stunde herein, starker Wind kündigte einen Sturm an. Er schüttete das Skelett rasch wieder zu, ergriff seine Jacke und hastete zum Land Rover.
Der menschenleere Strand wurde schnell schmaler, als der zerbeulte Wagen, eine Fontäne hochspritzend, durchs seichte Wasser brauste. Hatte er zu lange gewartet? Er fuhr in hohem Tempo um die Felsnase, die sich auf halbem Weg zwischen Bhalla Island und der Hauptinsel befand, und folgte den schwindenden Spuren seiner Hinfahrt am Nachmittag. Herabstürzende Seeschwalben begleiteten die hereinkommende Flut, die den Sand zwischen den Landspitzen hinter ihm überspülte. Im Rückspiegel betrachtete er das große graue Haus, dessen Konturen sich auf dem Hügel abzeichneten, und schloss die Hände fester ums Lenkrad.
Gütiger Himmel, ein Skelett!
Auf seiner rasanten Fahrt über den feuchten Sand entdeckte er eine Gestalt in einem langen dunklen Mantel, die von einer Landzunge aus zum Haus hinüberblickte. Eine Frau? Er sah genauer hin. Eine Fremde. Der Land Rover holperte in die letzte tiefe Furche, und der Mann gab Gas, um wieder herauszukommen. Als er festen Boden unter den Reifen spürte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus, lenkte den Wagen nach rechts, wischte sich die feuchten Handflächen an der abgetragenen Jeans ab und folgte der einspurigen Straße entlang der Bucht, um Ruairidh aufzusuchen.