Prolog
Dezember 2014
Verzweifelt krallte sich Imogen Gilby an den Küchenboden, während in ihrem Kopf die Schreie, Rufe und hilflosen Gebete ihres Mannes nachhallten. Ihre blutverschmierten Fingernägel rutschten über die glatten Fliesen, bis sie endlich die offene Tür erreichte und sich hinaus in die kalte Nacht schleppte.
Überwältigt von Angst und Schuld warf sie einen Blick über die Schulter. Vielleicht rang Gerald in diesem Moment mit dem Tod. Doch sie konnte ihm nicht mehr helfen. Es war zu spät. Ihr blieb nur der Versuch, sich selbst zu retten. Sie holte tief Luft, sammelte ihre letzten Kräfte und kämpfte sich durch die Dunkelheit, hinein in gefrorenes, gnadenloses Gelände. Der Boden fühlte sich an, als schnitten tausend winzige Glassplitter in ihre Haut. Jeder Meter war eine Qual. Am liebsten hätte sie sich hingelegt, geschrien, um Hilfe gerufen – aber das durfte sie nicht.
Mit brennenden, aufgerissenen Händen tastete sie unter den Sträuchern nach einer Harke oder einem Spaten, den vielleicht jemand im Unkraut, zwischen Brennnesseln, Efeu und Ackerwinde, zurückgelassen hatte – nach irgendetwas, das sie als Waffe benutzen konnte.
Erneut warf sie einen Blick zurück, dann robbte sie weiter, angetrieben von dem Willen, zu überleben. Beharrlich arbeitete sie sich voran, bis sie die Gartenmauer erreichte. Ihre sonst elegante Kleidung, ihr Haar, ihr ganzer Körper waren voller Blut und Dreck. Sie war dankbar für die Dunkelheit, die sie verbarg.
Einen Moment lang schloss sie die Augen und lauschte. Aus dem Haus drang kein Laut mehr. Die Luft war unheimlich still. Ihre Atmung wurde immer schneller. Imogen horchte auf jedes Geräusch, auf jedes Anzeichen, darauf, dass sie vielleicht nicht allein war – dass jemand ihr folgte. Sie betete darum, dass sie bald Polizeisirenen hören würden, dass Hilfe kam. Sie flehte um Erlösung.
Aber sie hörte nichts als das gelegentliche Rascheln durch die winzigen Schritte der Tiere, die im Garten lebten und ihn nachts zu ihrem Spielfeld machten. Und als sie den Kopf hob und sich umsah, wurde ihr bewusst, dass selbst die Mäuse und Ratten das Weite gesucht hatten. Wie alles und jeder andere auch.
Tränen stiegen ihr in die Augen, sie unterdrückte ein Schluchzen. Stück für Stück kroch sie mit dem ganzen Körper raupenartig an der Mauer entlang. Und hielt dann kurz inne. Presste eine Hand auf ihre Seite – dorthin, wo warmes Blut durch den Pullover sickerte. Es klebte an ihren Fingern, der Schmerz kam in Wellen. Sie biss die Zähne zusammen. Kämpfte gegen den Impuls, zu schreien an – denn das hätte sie verraten.
Mit ihrem schmerzhaft zur Seite gelegten Kopf blickte sie auf den Wunschbrunnen am Ende des Gartens. Dahinter ragte die Kirche auf, gleich neben einer langen Zeile von Reihenhäusern. Alle waren in Dunkelheit getaucht. Verzweifelt suchte Imogen nach dem kleinsten Lichtschein – irgendeinem Hinweis darauf, dass in einem dieser Häuser vielleicht jemand wach war, jemand gerade durch ein Fenster hinaussah. Sie vielleicht sogar bemerkt hatte und Hilfe holte.
Sie schluckte, schlang die Arme fest um ihren Körper. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Sie hielt sich selbst ganz fest. Es war das Einzige, was ihr einfiel, um das unaufhörliche Zittern zu stoppen, das ihren Körper überkam. Dann, aus einem tiefen Impuls heraus, schrie sie. Ein rauer, klagender Schrei – langgezogen und verzweifelt. Er durchschnitt die Stille der Nacht. Imogen war sich bewusst, dass sie sich damit verraten haben könnte.
Die Luft war still. Die Kälte drang ihr bis in die Knochen. Doch dann flammte Wut in ihr auf. Mehrmals ballte sie ihre so gut wie eingefrorenen Hände zu Fäusten. Wenn man sie finden würde, das wusste sie, würde sie kämpfen müssen. Einen Kampf, den sie niemals gewinnen konnte. Allein dieser Gedanke löste Panik in ihr aus. Sie krallte ihre Finger in den gefrorenen Boden und zog sich mit letzter Kraft ein Stück vorwärts. Der Tod schien nah. Der Wunsch, sich einfach zusammenzurollen und aufzugeben, blieb. Glühend heiße Tränen verschleierten ihr die Sicht.
Sie biss sich auf die Lippe und starrte in den Himmel. Dunkle Wolken zogen über ihr dahin. Eine Weile lag sie einfach nur da – im Dreck, in der Kälte, reglos – und wartete auf das Ende. Doch tief in ihrem Innern regte sich Widerstand. Erneut fiel ihr Blick auf die Kirche und den angrenzenden Friedhof. Vielleicht würde sie es bis dorthin schaffen. Vielleicht würde das Gotteshaus ihr Schutz bieten.
Noch einmal versuchte sie, sich aufzurichten, presste den Rücken fest gegen die kalte Gartenmauer. Ihr Atem bildete kleine Wolken vor ihren Lippen, während sie gegen die Schmerzen kämpfte.
Ihre Atemzüge waren flach und kurz. Ein leises Schluchzen entrang ihrer Kehle. Sie spürte, wie ihr Bewusstsein zu schwinden drohte, wollte sich unbedingt dagegen wehren – doch ihre Kräfte ließen nach. Sie war am Ende. Zu viel war bereits geschehen. Zu viele falsche Entscheidungen, die sich nicht mehr rückgängig machen ließen. Ein Leben, das sie im Schatten der anderen gelebt hatte. Ein Leben, das nicht mehr ihr eigenes gewesen war.
Nie zuvor hatte sie wirklich über den Tod nachgedacht. Jetzt erschien er ihr wie eine Erlösung. Ein Segen. Die perfekte Flucht aus einer Welt voller Lügen. Obwohl sie durch den Tod endlich die Schuld loswerden würde, die sie so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte, konnte sie das Gefühl der Panik, die in ihr aufstieg, nicht ignorieren. Als würde sich eine riesige Python um ihre Gedanken schlängeln. Ihr kamen all die Menschen in den Sinn, die sie im Stich gelassen hatte. Deren Gesichter tauchten vor ihr auf, mit anklagenden Blicken, die ihre Seele quälten. Sie dachte an die Lügen, die sie erzählt hatte. An die Geheimnisse, die sie für sich behalten hatte. Doch dabei stockte ihr der Atem und sie spürte, wie die Schlange sich um ihre Gedanken schlängelte, ihren Hals und ihre Lungen zusammenschnürte. Ihr den Atem raubte. Sie zu ersticken drohte.
Allein der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu. Es war, als würde sich ein unsichtbarer Ring aus Stahl um ihren Brustkorb legen. Sie sah Gesichter vor sich. Von Menschen, die sie enttäuscht hatte. Ihre anklagenden Blicke brannten sich in ihre Seele. All die Lügen, die sie erzählt hatte, und die Geheimnisse, die sie für sich behalten hatte – sie lasteten schwer auf ihrer Brust und drohten, sie zu ersticken.
In einem letzten, verzweifelten Versuch, sich zu retten, streckte sie einen Arm aus und spürte plötzlich etwas Hartes, Scharfkantiges unter ihren Fingern. Als ob ihre Gebete erhört worden wären. Sie griff zu. Es war die Waffe, nach der sie gesucht hatte. Sie schlang ihre blutigen Finger darum und zog sie zu sich heran.
„Danke“, flüsterte Imogen. Nun hatte sie das Gefühl, sich zumindest verteidigen zu können. Es war nicht viel – aber es war etwas.
Als die ersten Regentropfen auf ihr Gesicht fielen, schloss sie kurz die Augen. Sie brachten ihr einen Hauch von Realität zurück. Und einen letzten Rest Hoffnung. Sie kroch weiter, der Kirche entgegen, in der sie vielleicht Schutz finden würde. Ein letzter Ausweg.
Doch die Hoffnung war schnell vergangen, denn sie vernahm Schritte hinter sich. Jemand kam näher, direkt auf sie zu. Mit der improvisierten Waffe in der Hand schleppte sie ihren Körper hinter den Wunschbrunnen. Ein schmerzverzerrtes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie betrachtete den Brunnen, der so viele ihrer Geheimnisse barg. Sie wusste, dass die Zeit für einen letzten verzweifelten Wunsch gekommen war.
Kapitel Eins
Heute – Dezember 2023
Hattie
Als die Sonne am frühen Nachmittag durch das Fenster der Praxis schien, schloss Hattie Gilby die Augen und genoss ein kleines bisschen die Wärme, die in ihr Gesicht fiel. Gefühlt zum ersten Mal seit Tagen, was für Mitte Dezember sowohl selten als auch trügerisch war.
Zum ersten Mal seit einer Woche brach die Sonne durch die dunklen, fast bedrohlich wirkenden Regenwolken, die zusammen mit einer arktischen Brise, eine unangenehme Kälte aufkommen ließen. Sobald ein kalter Windstoß durch die Eingangstüren sich automatisch öffnenden Türen der Praxis hereinwehte, sobald sich ein Patient näherte, durchfuhr ein Frösteln ihren ganzen Körper.
Hattie stützte ihren Kopf mit der Hand und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Auf den Computer starrend, konnte sie sich ein Aufstöhnen nicht verkneifen, als eine weitere Datei in ihrem Posteingang landete. Obwohl es fast Zeit für den ersehnten Feierabend war, musste sie diese Überweisung noch verschicken.
„Typisch“, knurrte sie leise, „in der gesamten letzten Stunde kam gar nichts mehr dazu und jetzt …“ Sie seufzte genervt, wusste aber, dass das in der Praxis dazugehörte. Von jetzt auf gleich konnte, einfach so, ihre Arbeit von hektisch auf stumpfsinnig langweilig umschalten. Alle Aufgaben, die für sie anstanden, hingen davon ab, welche Patienten zur Tür hereinkamen. Welche Beschwerden sie hatten und welche Art von Nachsorge sie letztendlich benötigten.
„Tut mir leid, ich war auf dem Rückweg und habe alles falsch gemacht …“ Die Stimme eines älteren Herrn unterbrach ihre Gedanken und Hattie sah auf, als er hereinkam und seine Mütze abnahm. „Ich wusste nicht mal, was ich da tun sollte, und … Ich glaube, ich habe den falschen Knopf gedrückt.“ Er lehnte sich gegen den Tresen und fuhr sich mit seiner zarten Hand ängstlich über die Leberflecken, die seine Kopfhaut bedeckten. „Blöde Maschine. Ich sollte mein Geburtsdatum eingeben und habe dann auf die falsche Zahl gedrückt. Jetzt kann sie mich nicht zuordnen.“ Er hielt inne und begann, während er ängstlich die Mütze in seinen Händen knetete, hin und her zu laufen. „Vielleicht weiß ich selbst nicht mehr, wer ich bin“, murmelte er, „aber ich weiß, dass ich um halb zwei einen Termin bei der Schwester habe und …“ Er schaute auf die Uhr. „Und jetzt ist es ungefähr so spät, also … wären Sie so freundlich, mir behilflich zu sein?“ Er blickte hoffnungsvoll von Hattie zu ihrer Kollegin Emma, die in ihrem königsblauen Kittel neben Hattie saß. Für jeden war auf den ersten Blick klar, dass Emma keine Empfangsdame war, dass es nicht ihre Aufgabe war, ans Telefon zu gehen oder am Tresen weiterzuhelfen. Aber am Empfang saß sie am liebsten, auch, um sich vor der Praxisleitung zu verstecken. Ihre Anlaufstelle zwischen Terminen mit Patienten. Hattie konnte sich an keinen einzigen Tag in den letzten zwei Jahren erinnern, an dem Emma nicht dort gesessen und endlos über ihr Liebesleben oder fehlenden Sex geplaudert hatte. Und obwohl es Hatties Aufgabe war, ans Telefon zu gehen und sich um all die Patienten zu kümmern, die den Automaten für die Anmeldung nicht bedienen konnten, schien es, sehr zum Nachteil ihrer eigenen Arbeit, auch ihre Aufgabe zu sein, die Ansprechpartnerin für Emma zu sein.
Sie drehte sich zu Emma, mit einem hoffnungsvollen Blick, in dem vergeblichen Versuch, sie zum Helfen zu bewegen. Aber Emma starrte auf den Bildschirm, war plötzlich nicht mehr ansprechbar und warf ihr langes, blondes Haar stolz, ziemlich übertrieben deutlich, über ihre schmalen, hochgezogenen Schultern und drehte sich weg.
Hattie sah in die Augen des älteren Mannes, der sich nun über ihren Tresen beugte und sie bittend anschaute.
„Sie sind doch Mr Marsh, oder?“ Hattie fragte höflich, als sie sich in seine Richtung bewegte. „Kommen Sie, wir werfen gemeinsam einen Blick darauf, das bekommen wir zusammen hin. So schwer ist es nicht.“ Sie startete auf der Anmeldeseite am Automaten, setzte alles zurück und wollte die Eingabe übernehmen. „Helfen Sie mir, wann sind Sie geboren?“ Sie lehnte sich zur Seite und stieß ihn sanft mit der Schulter an. „Sie können es mir verraten, ich verspreche, dass ich es nicht weitersagen werde.“
Mr Marsh war dankbar über Hatties Hilfe, hielt sich eine Hand vor den Mund und flüsterte ihr sein Geburtsdatum: „Erster Mai 1945“, verriet er, „ich bin achtzig Jahre jung, wissen Sie. Was glauben Sie, werde ich tun, falls ich die hundert knacke?“ Er hob eine Augenbraue und nickte. „Dann darf jeder mein Geburtsdatum wissen. Ich werde es von den Dächern schreien, niemand soll es überhören. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ich fit genug dafür bin, um auf eine Leiter zu klettern.“ Er wies mit dem Finger nach oben und lächelte so verschmitzt, dass Hattie ihren Ärger vergaß und zurücklächelte.
„Oh, Mr Marsh, Sie sind und bleiben fit wie ein Turnschuh. Das schaffen Sie, keine Frage“, antwortete sie lachend und zeigte auf das Wartezimmer. „Nehmen Sie kurz Platz, ich sage der Krankenschwester, dass Sie da sind. Ihr letzter Patient ist schon vor ein paar Minuten reingegangen, es dürfte also nicht mehr lange dauern.“
Seufzend kehrte Hattie an ihren Platz zurück und warf Emma einen abschätzigen Blick zu. „Wenn du dich schon zu mir setzt, um mich von der Arbeit abzuhalten, kannst du dich zumindest etwas beteiligen. Ein Überweisungsschreiben muss ich noch bearbeiten, bevor ich für heute durch bin. Also: Der nächste Ü40-Patient ist deiner“, murmelte sie, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Sie begann, kräftig in die Tastatur vor ihr zu hämmern. „Warum gibt es hier so wenig anständig aussehende Gleichaltrige – oder, noch besser: Jüngere. Entweder kommen diese Patienten einfach nicht zu uns oder nur Leute über vierzig werden krank.“
„Hey, Finger weg. Die Kleinen gehören mir. Das weißt du doch“, gab Emma zurück. „Außerdem, was willst du mit einem Mann unter 30? Du hast doch Charlie, oder?“ Hatties Reaktion auf Charlies Namen musste offensichtlich gewesen sein. Oder sie stand ihr ins Gesicht geschrieben. Denn Emma beugte sich so nah wie möglich zu ihr rüber und sah sie aufmerksam an. „Äh, was ist passiert? Ich dachte, bei euch läuft alles?“ Sie hob ihre Hände in die Luft und verschränkte die kleinen Finger ziemlich fest miteinander.
„Ja, das dachte ich auch.“ Hattie starrte weiter auf ihren Bildschirm, spürte aber, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sprach nur selten über sich. Zu gefährlich war es, alte Erinnerungen wachzurütteln. Erinnerungen, über die sie nicht reden wollte. Mit zusammengekniffenen Augen überlegte sie, wie sie dieses Thema schnell beenden könnte.
„Du kannst das jetzt nicht so stehen lassen“, sagte Emma. „Ich erzähle dir alles über mein Liebesleben, oder darüber, was mir alles fehlt … Also ist es nur fair, wenn du mir jetzt sagst, was passiert ist. Hast du jemand anderen kennengelernt?“
„Wie um alles in der Welt kommst du darauf?“, schnauzte Hattie. „Wenn du es unbedingt wissen willst …“ Sie hielt inne und seufzte – sie war sich nicht sicher, wie sie die Geschichte erzählen sollte. In den letzten paar Jahren war Charlie alles für sie gewesen, und jetzt, naja, jetzt war er es nicht mehr. Aber den wahren Grund dafür konnte Hattie Emma nicht sagen. Sie konnte nicht darüber sprechen, dass Charlie sie wegen etwas verlassen hatte, das sie vor so vielen Jahren getan hatte. Sie konnte auch nicht sagen, dass er zwar alles über ihre Familie wusste, darüber, wer sie waren und was mit ihnen geschehen war, dass er aber nie wirklich etwas darüber erfahren hatte, wie ihr früheres Leben war. „Wir hatten einen Streit, das ist alles. Charlie ist ausgezogen.“ Zufrieden mit ihrer Version der Geschichte öffnete Hattie die Datei, die gerade in ihrem Posteingang angekommen war, und wollte ihre Kopfhörer aufsetzen.
„Oh nein, stopp.“ Emmas Hand fiel auf ihre. „Niemand streitet einfach so und dann: alles klar, das war's … Es steckt immer mehr dahinter.“ Sie öffnete ihre Augen weit, zog die Augenbrauen hoch und starrte sie an. „Also, geht es dir gut? Was ist mit der Miete für eure Wohnung? Wenn er ausgezogen ist, lebst du jetzt alleine und kommst zurecht oder ist schon der Nächste eingezogen?“ Sie rollte mit den Augen. „Hier verdient niemand so gut, um dir einen Vorwurf machen zu können, falls du dir schon einen neuen Mitbewohner gesucht hast. Selbstverständlich musst du dir auch das Nötigste leisten können, wie einen Wein am Freitagabend.“
Hattie wusste, dass sie ein ganz anderes Leben als Emma führte, aber ein Lächeln über ihre naive Lebenseinstellung konnte sie sich nicht verkneifen. Für Emma ging es nur darum, freitags nach Hause zu kommen und über das Wochenende durchzufeiern. Wenn sie wieder wach wurde, musste sie feststellen, dass schon wieder Montag war. So ging es jede Woche.
„Emma, es gibt dazu nichts Weiteres zu sagen. Wir haben uns gestritten und Charlie ist ausgezogen.“ Sie schluckte ein bedrücktes Schluchzen hinunter. Das wäre ihr fast herausgerutscht. Sie dachte an Charlie. Daran, dass er jetzt, wie durch einen magischen Zufall, mit seinen Jungs in der Schweiz war. Alle hatten es auf wundersame Weise geschafft, sich zur gleichen Zeit Urlaub zu nehmen. Genau einen Tag, nachdem Charlie die Wohnung verlassen hatte. Für Hatties Geschmack war das ein etwas zu großer Zufall.
Hattie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. Diese Geschichte wollte sie nicht erzählen. Und sie wollte auch nicht, dass irgendjemand in dieser Praxis nur die leiseste Ahnung von ihrem Privatleben hatte.
„O mein Gott … Hat er dich auch noch wegen einer anderen verlassen? Oder … Himmel, Hattie, sag mir nicht, dass er dich für einen Mann verlassen hat?“
Hattie ignorierte Emmas Fragen und blätterte durch die Stapel Papierkram, die ihren Schreibtisch überfluteten. Sie wollte wirklich nicht darüber reden. Sie wollte nur die Überweisung fertig machen und nach Hause fahren.
„Hattie?“
„Emma, vergiss es. Es gibt nichts mehr dazu zu sagen. Charlie war ein Arschloch. Er ist ausgezogen. Es ist vorbei. Das ist alles.“ Sie drehte sich um, schaute auf die Uhr und hatte das Gefühl, dass die Zeit stehen geblieben war.
„Hast du keine Angst davor, ganz allein zu leben? So nach allem, was mit deinen Eltern passiert ist?“
Diese Bemerkung ließ Hattie innehalten und aufhorchen. Sie hatte keine Ahnung davon, dass jemand in der Praxis etwas über ihre Vergangenheit wusste. Aber offensichtlich hatte es sich herumgesprochen, und ob es ihr gefiel oder nicht, sie war wahrscheinlich das oberste Gesprächsthema. Schon seit sie hier angefangen hatte.
„Du weißt davon?“ Das war alles, was sie sagen konnte, während sie beobachtete, wie Emma ihre Handtasche aus der Schublade holte, einen kleinen Spiegel herausnahm und sich darin betrachtete. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für den goldenen Stift in dem kleinen Täschchen und trug den zartrosa schimmernden Gloss mit der Präzision eines Chirurgen auf ihre Lippen auf.
„Natürlich wissen wir das. Du glaubst doch nicht wirklich, dass du solche Geheimnisse für dich behalten kannst, oder?“ Emma spitzte die Lippen und rieb sie aneinander. „Wenn du gerne jemanden um dich, in der Wohnung hättest“, sagte sie, „ruf mich einfach an. Jederzeit. Ich könnte für ein paar Tage bei dir bleiben. Vielleicht über das Wochenende. Was hältst du von einem gemütlichen Mädelsabend?“, überlegte sie. „Mit Pizza und so. Und du … Du könntest mir endlich alles erzählen.“
Hattie spürte, wie sich ihr ganzer Körper bei diesem Gedanken versteifte, blickte vom Bildschirm auf und starrte zur Tür. Sie spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit brannten, und dachte an all die Male, bei denen Emma versucht hatte, sie beim Plaudern über alles Mögliche so ganz nebenher auszufragen. Auf der Jagd nach noch mehr Informationen über ihr Leben. Hattie konnte sich daran erinnern, wie sie es immer vermieden hatte, Emmas Fragen oder die der anderen aus der Praxis zu beantworten. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, sich mit niemandem hier anzufreunden. Denn Freunde quatschten über alles Mögliche, tauschten Lebensgeschichten aus, und irgendwann war kein Thema mehr tabu. Nach einer Frage zum optimalen Tee, den man sich in der Pause gemeinsam gönnen würde, verwandelte sich das Geplauder schnell in den Austausch von Geschichten über die glücklichsten und schlimmsten Tage des eigenen Lebens. Und das war das Allerletzte, worüber Hattie sprechen wollte: ihr Leben und die Nacht, die alles verändert hatte. Jede noch so kleine Einzelheit über die Nacht, in der sie die grausam zugerichtete Leiche ihres erstochenen Vaters in der Küche ihres Elternhauses gefunden hatte, würde sie für immer für sich behalten. Auch Details über die brutale Art und Weise, wie ihre Mutter angegriffen wurde und daran beinahe gestorben wäre. Beide Geschichten ließen jedes Gespräch zum Stillstand kommen, und das Gegenüber konnte im ersten Moment nur noch schweigen. Ein echter Gesprächskiller, egal in welcher Runde. Obwohl fast jeder alle blutigen Details darüber hören wollte, wusste einfach niemand, etwas darauf zu sagen oder tat sich mit irgendeiner Reaktion darauf schwer.
„Um ganz ehrlich zu sein, Emma, versteh mich bitte nicht falsch, ich bin gern allein. Die friedliche Ruhe zu Hause ist etwas, worauf ich mich jeden Tag freue. Besonders nachdem ich den ganzen Tag hier gesessen und allerlei Fragen beantwortet habe.“ Sie antwortete voller Unmut. Mit einer Stimme, die selbst für Hattie etwas lauter war, als ihr eigentlich lieb gewesen wäre. „Heute Abend habe ich nichts anderes vor, als mir ein kochend heißes Schaumbad einzulassen und dabei eine richtig schöne Liebesromanze zu lesen, in der alles gut ist. Und ich muss auch niemandem Fragen beantworten.“ Sie wusste, dass sie wie ein bockiges Kind klingen musste, aber das war ihr egal. Mit zusammengekniffenen, wütenden Augen blickte sie auf die Schublade unter ihrem Schreibtisch, zog sie auf und nahm ihre Tasche heraus. Mehr konnte sie nicht tun, um Emmas grimmigen Blick und ihr Stirnrunzeln zu begegnen und ihrer Reaktion die Bedeutung abzusprechen. Sie begann, in ihrer Tasche zu wühlen, um für noch eine Nachfrage zu beschäftigt zu wirken. Verstohlenen warf sie einen Blick auf ihr Handy. Eine ganze Liste verpasster Anrufe und Nachrichten nahm den Display in Beschlag – eine erste Vorahnung versetzte sie in Panik. Anrufe von Adam, ihrem Bruder, und ihrer älteren Cousine Louisa ließen sie normalerweise nichts Böses ahnen, nicht einzeln für sich. Aber eine Anhäufung von mehr als einem Dutzend verpasster Anrufe, auch von Nummern, die sie nicht kannte, konnte nur bedeuten, dass etwas nicht stimmte. Sie sprang auf, lief hin und her, bereitete sich in Gedanken schon auf das vor, was kommen würde. Gedanken und Szenarien schossen ihr durch den Kopf. Sie sah ihren Bruder Luke, ihre Mutter und wieder einmal den Körper ihres Vaters, der in einer hellroten Blutlache lag. Diese Gedanken wollte sie nicht wieder aufkommen lassen, die Bilder nicht noch einmal sehen und das ganze Drama noch einmal erleben. Mit dem fest umklammerten Telefon in der Hand schnappte sich Hattie ihren Mantel und rannte zum Ausgang.
Kapitel Zwei
Heute – Dezember 2023
Hattie
„Okay, Louisa, hol mal Luft.“ Während sie sprach, versuchte Hattie, dem Regen und den Leuten, die ihr entgegenkamen, auszuweichen, und hörte ihrer älteren Cousine aufmerksam zu. „Erzähl mir genau, was passiert ist.“
„Ich habe deine Mutter besucht“, sagte Louisa, „das mache ich an jedem Freitag. Grant arbeitet fast jeden Tag, aber freitags scheint es die meisten Einäscherungen zu geben und die Kinder gehen zum Fußball. Wenn ich deine Mutter besuche, kann ich für ein paar Stunden abschalten. Ich genieße die Zeit, in der mich niemand anschreit, weil jemand wieder etwas will oder braucht.“ Sie seufzte und hielt dramatisch inne, als im Hintergrund wieder Schreie der Kinder zu hören waren. „So wie jetzt, wo das eine Kind zum Tee Fischstäbchen essen möchte, das andere lieber Würstchen mag, und ja, wie du bereits richtig vermutest, Kitty mag beides nicht. Also schnorrt sie in der Küche herum und sucht nach etwas anderem, das sie stattdessen haben könnte.“
„Grant arbeitet also immer noch in dem Krematorium?“ Hattie schauderte bei dem Gedanken an die Verbrennung von Menschen, die man geliebt hatte. Sie konnte sich noch gut an die Worte erinnern, die ihr Vater einmal gesagt hatte: „Man verbrennt nur Müll, Menschen sind kein Müll. Deshalb beerdigen wir sie, aus Respekt.“
„Jap, er ist immer noch da. Es ist ein Job, Hattie. Den übernehmen heutzutage nicht mehr viele und die Aufgabe passt zu ihm. Er hat jedes Wochenende frei, das ist gut für uns als Familie“, sagte Louisa abwehrend. „Grant ist nicht dein Fall, oder?“
„Louisa, entschuldige, ich war abgelenkt. Doch, natürlich mag ich Grant, du hast mich aber angerufen. Wegen Mum.“ Hattie stellte sich vor das Schaufenster eines Ladens und tat so, als würde sie dadurch auf das frisch gebackene Brot schauen. „Und mein Telefon hat mir wiederholte Anrufe angezeigt. War es wichtig?“
„Es geht ihr nicht gut“, sagte Louisa schließlich. „Sie musste Anfang der Woche wieder ins Krankenhaus.“
Hattie schloss für einen Moment die Augen und wartete darauf, dass Louisa weitersprach. Die Stille war so lang, dass Hattie das Telefon vom Ohr nahm und auf den Hörer starrte. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass ihre Mutter krank war und dass sie seit dem Angriff im Krankenhaus ein- und ausging. Sie war ständig da. Ihre Prognose hatte sich aber nie wirklich verbessert. Immer wieder landete sie auf der Intensivstation. Dann folgten weitere Monate der Rehabilitation und die jahrelange Physiotherapie. Nach jeder Behandlung kamen verschiedene neue Operationen, von denen keine ihren Gesundheitszustand verbessert hatte. Hattie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie ihre Mutter schon auf einer Krankenstation besucht hatte.
„Louisa … Dieses Mal ist es also schlimm, habe ich das richtig verstanden?“ fragte Hattie mit einem Schluchzen, auf das ein tiefer Atemzug folgte. Die Stille am anderen Ende der Leitung war ihr zu viel geworden. Mittlerweile war es mehr als offensichtlich, dass ihre Cousine sich davor drückte, die Nachricht auszusprechen. Hattie wandte sich vom Schaufenster ab, um ihren Blick nach oben richten zu können, in den Himmel. Die Wintersonne war verschwunden, es regnete wieder. Zum ersten Mal, seit sie zu Fuß zur Arbeit ging, anstatt mit dem Auto zu fahren, bereute sie diese Entscheidung.
„Louisa, bitte sag mir einfach, was passiert ist.“ Hattie drückte das Telefon fest an ihr Ohr und bemühte sich, zu schlucken. Ihre Kehle war trocken geworden, die Beine fühlten sich an, als würden sie sie gleich im Stich lassen.
„Ich kann dich nicht anlügen, Hattie. Es geht ihr nicht gut. Es wurden einige Tests gemacht, die Ergebnisse kamen heute Morgen an.“ Nun begann Louisa zu schluchzen und Hattie konnte sich vorstellen, wie ihre Cousine gerade in einer Ecke des Hauses saß, das einst ihren verstorbenen Eltern gehört hatte. Mit drei Kindern, die um ihre Knöchel herumschlichen. Und ein oder zwei Katzen, die sich auf ihren Oberschenkeln zusammenrollten. Louisa war nur drei Jahre älter als Hattie, kam ihr aber immer viel älter vor, weil sie im Alter von sechzehn Jahren schnell erwachsen werden musste. Da kamen ihre beiden Eltern bei einem Autounfall ums Leben. Obwohl Hatties Eltern versucht hatten, sich um sie zu kümmern, war Louisa schnell klar geworden, dass sie allein für sich sorgen wollte. Eine Entscheidung, die nicht alles leichter gemacht hatte.
„Welche Testergebnisse?“ fragte Hattie. „Warum hat mir niemand gesagt, dass wieder Untersuchungen gemacht wurden?“ Sie drückte das Telefon an ihr Ohr und wünschte, sie hätte mit dem Rückruf gewartet. Wenn sie zu Hause gewesen wäre, hätte sie sich dabei wenigstens in Ruhe hinsetzen können, statt von Passanten und einem Ladenbesitzer umringt zu sein, der immer wieder mit den Händen in der Hüfte zur Ladentür kam und seufzend wieder hineinmarschierte.
Hattie schaute sich um, sie wollte einen besseren Ort für das Gespräch finden. Ihr Blick glitt vorbei an den anderen Geschäften und den beiden Dorfkneipen. Obwohl sie schon seit vier Jahren hier wohnte, war sie nur selten im Ort. Sie kaufte lieber außerhalb der Stadt ein. Dort, wo sie niemand kannte.
„Hattie … Wir haben doch alle versucht, dich zu erreichen … Und es fällt mir nicht leicht, dir das zu sagen: Sie hat jetzt auch noch Krebs. Als ob sie nicht schon genug durchgemacht hätte. Jetzt erwischt sie auch noch der verdammte Krebs. Das kann doch einfach nicht fair sein, oder?“
Hattie lehnte sich gegen eine Wand, als jede Luft aus ihrem Körper zu entweichen schien und sie das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. „Wo ist sie?“, konnte sie schließlich fragen. Hast du gesagt, dass sie wieder im Krankenhaus liegt?“
„Sie ist in Friarage, auf der Krebsstation. Aber es gibt keine Behandlungsmöglichkeit mehr. Es gibt nur zwei Optionen: Sie entweder in ein Hospiz zu verlegen oder sie für den Abschied nach Hause zu entlassen“, sagte Louisa. „Wie auch immer ihr euch entscheidet, das muss ziemlich bald passieren. Wenn du mich fragst: Ich würde mich für das Hospiz entscheiden. Dort gibt es Fachpersonal. Menschen, die immer da sind. Sie wäre nicht allein, weißt du?“ Hattie hörte Louisa an, wie schwer es ihr fiel, diese Worte auszusprechen. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, sie sprach sehr langsam.
„Ein Hospiz?“ fragte Hattie. „Ist das nicht ein Ort für Menschen, die sterben müssen?“ Als sie diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr die Dummheit dieser Aussage bewusst. Und das Ausmaß der Situation. Die Verlegung in ein Hospiz bedeutete, dass ihre Mutter nur noch Wochen, vielleicht nur noch Tage zu leben hatte. Sofort begann sie, zu bereuen, dass sie so viele Male einen Besuch bei ihrer Mutter versäumt hatte. Die Ausreden, die sie sich hatte einfallen lassen, und vor allem: all die Dinge, die sie ihr noch sagen musste. Bei denen sie aber nicht wusste, wie sie sie sagen sollte. Oder konnte.
„Hattie …“, zwischen den Worten lag eine Pause. „Ich weiß, du warst lange nicht mehr im Haus, nicht mehr, seit du … Aber es ist langsam der Moment gekommen. Ich glaube wirklich, dass es an der Zeit ist, dass du wieder nach Hause kommst. Jetzt stehen ziemlich viele Dinge an, einiges muss organisiert werden.“ Ihre Stimme war voller Sorge. Sie wusste, wie sehr Hattie den Gedanken daran hasste, dieses Haus wieder zu betreten. Wie viele Erinnerungen sie in dem Moment überkommen würden, in dem sie zurückkehrte.
„Ich … Ich glaube, ich kann das nicht …“, flüsterte Hattie, als sie im Hintergrund einen Tumult aufkommen hörte und merkte, dass Louisa ihre Hand auf den Hörer legen musste. „Hört ihr drei endlich auf, oder, ich schwöre bei Gott, ich schalte das verdammte WLAN aus. Dann kann niemand mehr dieses Spiel spielen“, rief sie laut.
Bei den Geräuschen von drei kleinen Kindern, die stöhnten und ächzten, erinnerte sich Hattie daran, wie sie mit ihren beiden jüngeren Brüdern aufgewachsen war. Streit und Aufruhr gehörten zum Alltag. So wie die ständigen Belehrungen, die dazu geführt hatten, dass sie alle für gefühlte Ewigkeiten in ihre Zimmer geschickt wurden. Damals wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass sie eines Tages nicht mehr zu Hause leben würde. Oder dass sie jemals wegziehen würde. Aber jetzt, neun Jahre später, wusste sie, dass es an der Zeit für ihre Rückkehr war. Aber sie hatte nicht den leisesten Schimmer, wie sie sich dabei fühlen würde.
„Hattie, irgendwann musst du wieder nach Hause kommen“, sagte Louisa, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Also, wenn du wirklich nicht zurück ins Haus willst, kannst du bei uns bleiben, aber ich glaube nicht, dass es dir das leichter machen würde. Du weißt, wie klein mein Häuschen ist. Die Kinder toben die ganze Zeit. Wenn sie wach sind, ist das Haus ein einziges Chaos. Sogar mit den Nachbarn habe ich öfter Mitleid.“.
„Ich kann nicht, Lou. Ich muss hier bleiben, ich habe …“ Sie wollte sagen, dass sie etwas mit Charlie vorhatte, aber plötzlich wurde ihr klar, dass er nicht mehr da war. Sie war komplett allein. Und jetzt, da sie wusste, dass alle in der Praxis über ihre Vergangenheit gesprochen hatten, glaubte sie nicht, dass sie jemals wieder dorthin zurückkehren würde. „Okay, Lou, Charlie gibt es nicht mehr“, gab sie zu. „Und, ja, vielleicht sollte ich zurückkommen.“ Eine Schwere überkam sie plötzlich und sie dachte darüber nach, wie sie sich unbewusst von ihren Brüdern distanziert, sogar entfernt, hatte. Die Telefonate zwischen ihnen waren immer seltener geworden, und nur mit dem Blick auf sie selbst, dachte Hattie daran, wie sie sich wohl fühlen würde, wenn sie den ganzen Weg auf sich nähme und ihre Brüder sie nicht sehen wollten. Aber wenn sie sie nicht dabeihaben wollten, warum hätte Adam dann versucht, sie anzurufen?
„Hattie, da ist noch etwas, das du wissen solltest. Deine Mutter hat in den letzten neun Jahren nicht gesprochen. Nur zusammenhangslos. Ist dir das bewusst?“ fragte sie. „Und, naja, in letzter Zeit … Hat sie doch wieder gesprochen und nach dir gefragt. Ich habe das Gefühl, dass sie dir etwas sagen will, Hattie. Etwas, Wichtiges.“
Kapitel Drei
Heute – Dezember 2023
Hattie
Mit rasendem Herz stieg Hattie in Ugathwaite aus ihrem Auto und stand vor dem Pfarrhaus. Dem Haus, das früher ihr Zuhause gewesen war.
Auf dem Bürgersteig schlich sie unter einer einzelnen, dunstigen Straßenlaterne entlang, deren Flackern immer wieder Lichtblitze aufkommen ließ. Weiße Nebelwolken, die von den Feldern heranrollten, ließen auf der Straße ein unheimliches Gefühl aufkommen. Unbewusst umklammerte sie ihre Schlüssel so fest, dass das kalte Metall zwischen ihren Fingern hervorstach.
Als sie genau hinsah, konnte sie erkennen, dass kein Licht im Haus war. Jeder Raum war in Dunkelheit gehüllt. Ein klares Zeichen dafür, dass keiner ihrer Brüder zu Hause war. Während sie den Schlüssel in der einen Hand hielt, zog sie mit der anderen ihr Handy aus der Tasche und verschaffte sich einen Überblick. Bis ihr Telefon zu vibrieren begann.
„Adam, wo bist du?“ Hattie schloss für einen Moment die Augen und verdrängte den inneren Schmerz, den sie über ihre Rückkehr empfunden hatte. Sie hatte immer schon kommen sehen, wie es sein würde, wenn sie zurück war. Gerade nachdem sie einfach so abgehauen war. Keinen ihrer Brüder hatte sie davon überzeugen können, mit ihr zu gehen.
„Ich bin im Krankenhaus, Mum geht es nicht besonders gut. Das Atmen fällt ihr schwer und, um ehrlich zu sein, Schwesterherz, ich will sie nicht allein lassen …“ Während Adam die Worte flüsterte, öffnete und schloss er eine Tür. Hattie hörte, wie sie hinter ihm zufiel.
In dem Moment atmete Hattie tief ein, biss sich auf die Lippe und begann zu zittern. Ein Gefühl, das sie in den letzten neun Jahren ständig unterdrückt hatte. „Gib mir eine Minute. Ich komme dazu. Auf welcher Station liegt sie …?“
„Nein, bitte, tu das nicht. Deshalb habe ich auch angerufen.“ Adam hielt inne, holte tief Luft. Hattie konnte hören, wie er sich mit laut klackernden Schritten über den harten Fliesenboden des Krankenhausflurs bewegte. „Ich schaue gerade aus dem Fenster und es ist so neblig hier, Hattie. Du kannst die Hand kaum vor Augen sehen. Nicht einmal ich würde da durch fahren, und, um ehrlich zu sein, denke ich, dass es besser wäre, wenn du abwartest und dich bis morgen früh ausruhst.“
„Aber …“ Hattie holte tief Luft, lehnte sich an die Hausmauer und schaute hoch, um ihr Elternhaus genauer zu betrachten. Der Efeu, der an den Mauern hochgewachsen war, hatte bereits die Ziegel und einige der Fenster für sich eingenommen. Es sah so aus, als ob er immer weiter nach oben wachsen wollte und langsam drohte, die Dachrinnen und Regenrohre ganz zu verschlingen. „Aber … Ich wäre lieber da“, fügte sie unmissverständlich hinzu. Sie blickte zwischen dem Haus und dem Auto hin und her, atmete langsam ein und spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Allein hier zu sein und auf Luke warten zu müssen – so hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie griff nach dem Schlüssel und ging einen Schritt zurück in Richtung ihres Autos. Sie hatte bewusst am Straßenrand, anstatt in der Einfahrt vor dem Haus, geparkt. Aber jetzt stellte sie sich die Frage danach, warum sie das getan hatte. Wollte sie in der Lage sein, schnell wegfahren zu können, und sicher gehen, nicht hinter anderen Fahrzeugen in der Einfahrt festzustecken? Oder war ihr unterbewusst klar, wie überwältigend es gewesen wäre, aus dem Auto auszusteigen, um das Tor zur Einfahrt auf den Hof zu öffnen?
„Ernsthaft? Luke braucht nicht mehr lange, und ja, bevor du danach fragst, er ist immer noch verdammt sauer. Aber ihr beide müsst miteinander sprechen. Das Ganze klären, ein für alle Mal.“
„Adam. Ich könnte in weniger als zwanzig Minuten bei dir sein, das Wetter ist sicher nicht so schlecht, dass ich nicht ankommen würde. Komm schon …“ Sie drehte sich um, starrte auf die Felder, über die der Nebel langsam auf sie zukam. „Ich bin doch gerade erst durch das Tal gefahren, so schlimm kann es noch nicht sein, oder?“
„Hattie, warte einfach ab, bis das Wetter sich beruhigt und wieder umschlägt. Du weißt doch, wie schnell das hier oben geht. Innerhalb von einem Augenblick kann alles anders sein. Für einen Wetterumschlag braucht es nur ein paar Minuten. Morgen kommt hier genug auf dich zu, dem musst du dich nicht auch noch heute Abend stellen. Ganz nebenbei, Mum hat darum gebeten, dass wir alle gleichzeitig herkommen. Sie möchte uns alle zusammen hier haben. Und sie sagt, dass sie uns etwas mitteilen möchte, also … Es klingt, als wäre es wichtig, Hattie.“ Das Geräusch eines vorbeifahrenden und langsamer werdenden Autos ließ Hattie nervös um sich blicken. Den Blick auf die hellen Rücklichter gerichtet, hielt sie den Atem an, bis das Auto um die Ecke verschwand.
„Adam, findest du es gar nicht seltsam, dass sie jahrelang nicht mit uns gesprochen hat und jetzt, auf einmal, kann sie es?“ Diese Frage brach aus ihr heraus, weil sie gerade an die Jahre, an die Stunden zurückdachte, in denen sie neben ihrer Mutter am Bett saß und ihr über alles und nichts erzählt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass ihre Mutter nicht sprechen konnte, während es offenbar so war, dass sie es einfach nicht wollte. „Ich finde das alles ziemlich seltsam, du nicht? Also … Warum hat sie sich stumm gestellt?“
„Sie erzählt nichts, Hattie. Ihre Worte kommen nicht flüssig, sie spricht nicht so wie früher. Es fällt ihr schwer, in ganzen Sätzen zu sprechen.“ Er hielt inne, schien darüber nachzudenken. „Vielleicht war ihr das alles so unangenehm, dass sie uns nicht um sich herum ertragen konnte.“
Hattie lehnte sich an ihr Auto und spürte, wie die Feuchtigkeit von der Oberfläche der Mauer auf ihre Jeans überging. Seufzend machte sie einen Schritt nach vorn, um sich vor die Wand zu stellen. Das Letzte, was sie wollte, war, hier zu sein. Vor diesem Haus zu stehen. Allein. Ohne Adam. Er war der ältere ihrer beiden jüngeren Brüder. Der bodenständigere und verlässlichere, der sich zumindest bemüht hatte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Deswegen war der Gedanke daran, dass er nicht zurückkommen würde, überwältigend für sie. Sie spürte, wie sie es nicht mehr unterdrücken konnte, verzweifelt aufzuschluchzen.
„Hey. Komm schon, reg dich nicht darüber auf. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Und die kennt im Moment keiner von uns. Ich hoffe einfach, dass wir darauf morgen ein paar Antworten bekommen und darauf, dass es nicht die Wahrheit ist, vor der ich mich immer gefürchtet habe.“ Als er sprach, brach auch seine Stimme weg. Bei dem Gedanken daran, dass Adam im Krankenhaus war und sich allein um ihre Mutter kümmern musste, setzte auch Hatties Herz fast aus.
„Und was glaubst du? Was wird sie uns sagen?“ Ihr schoss eine Erinnerung an den Tag in den Kopf, an dem sie ihn dabei ertappt hatte, wie er das Büro ihrer Mutter mit brennender Wut in den Augen durchsucht hatte. An dem Tag war er geradezu besessen von einem Zettel, auf dem eine scheinbar wichtige Information stand, den ihre Mutter nur beiläufig erwähnt hatte.
„Ich weiß, was du damals vermutet hast, wovon du ausgegangen bist. Aber: Dass Louisa adoptiert worden ist, konnte dich nicht darauf schließen lassen, dass wir es auch sind“, fügte sie hinzu. „Und es war auch kein Geheimnis – ihre Eltern haben es ihr selbst erzählt, als sie sechzehn geworden ist. Ich kann mich immer noch gut daran erinnern, wie schockiert unsere Mutter war. So als wäre es gestern gewesen. Ich bin mir sehr sicher, dass sie ihr die gesamte Geschichte erzählt und nichts ausgelassen haben. Du schon?“
Ein lauter Knall brachte Hattie dazu, sich auf der Stelle umzudrehen. Mit großen, angsterfüllten Augen suchte sie den Parkstreifen gegenüber ab. Eine große Fläche, auf der früher Lastwagen geparkt wurden, und nachdem sie den Ort verlassen hatte, war daraus eine Gemeinschaftsfläche geworden, die von allen Anwohnern genutzt werden konnte. Der Beton war durch Rasen und Parkbänke ersetzt worden, die Ränder der Fläche mit Bäumen und Sträuchern neu bepflanzt. Also bot sie, obwohl es Winter war, mindestens einhundert verschiedene Versteckmöglichkeiten. Besonders jetzt, wo der Nebel aufzog und die vielen Bäume nach und nach einnahm.
„… Um hier bleiben zu können, steht neben Mums Bett ein Sessel. Das Pflegepersonal hat mir gestern Abend auch noch eine Decke gegeben. Also mache ich es mir hier gemütlich, dann ist zumindest jemand bei ihr.“ Offensichtlich hatte Hattie etwas verpasst, was Adam gesagt haben musste. Verärgert starrte sie auf den Hörer.
„Okay, okay, ich bleibe hier …“ Mehr konnte sie nicht sagen, und nachdem sie die Uhrzeit abgesprochen hatten, zu der sich alle am nächsten Morgen treffen würden, beendete Hattie das Gespräch.
Nachdenklich fuhr sie mit den Fingern an der Hausmauer aus Trockenstein entlang, bis sie ein kleines Holztor erreichte, das alt und abgenutzt war, und wie der Rest des Hauses dringend ein wenig liebevolle Pflege brauchte. Das Tor war mit losen Farbsplittern übersät, die sie mit ihren zitternden, kalten Fingerspitzen erstmal wegschnippte. Etwas, das ihr Vater nie hätte durchgehen lassen. Damals hätte es keinen einzigen Holzsplitter auf dem Grundstück gegeben. Das Tor wäre jedes Jahr, zum Frühlingsbeginn, abgeschliffen und neu gestrichen worden. In einem leuchtenden Rot, das zur Haustür passte.
Hattie trat einen Schritt zurück, schwankte, bevor sie weiterging, und ihr wurde schnell klar, dass sie immer darüber nachgedacht hatte, zurück nach Hause zu kommen, es aber nicht getan hatte. Sie erinnerte sich daran, dass es auch Tage gegeben hatte, an denen sie entschlossen war, niemals mehr zurückzukommen. Doch nun war sie hier, und gab dem Tor einen entschlossenen Stoß. Sie spürte den Widerstand unter ihren Fingern, als das Tor laut und bedrohlich knirschte. Ein Geräusch, das keinen Zweifel daran ließ, dass es kaputt war und im Asphalt festklemmt. Vom Wegesrand spähte sie zwischen den Nadelbäumen hindurch, um einen Blick auf das Haus nebenan zu erhaschen. Sie konnte nur einen kleinen Teil des Gartens sehen. Zögernd betrachtete sie den Weg und erkannte eine niedrige Mauer, die den Vordergarten vom hinteren Bereich des Grundstücks trennte. An diese Mauer konnte sie sich erinnern, ihr Vater hatte sie gebaut und sie hätte eigentlich viel höher sein sollen. Da aber die dafür benötigten Steine falsch berechnet worden waren, war die Mauer niedrig genug, um einfach darüber springen zu können. Davor stand ein Weihnachtsbaum, den sie an einem bitterkalten Tag als winziges, zwölf Zentimeter kleines Bäumchen vom Straßenrand gerettet hatte. Aber trotzdem erinnerte sie sich daran, eine gefühlte Ewigkeit herumgelaufen zu sein, um einen Platz für das kleine Bäumchen zu finden. Sie hatte sich eigentlich eine Stelle im hinteren Garten ausgesucht, nah am Wunschbrunnen. Aber da ihr Vater das nicht erlaubt hatte, musste sie das Bäumchen stattdessen vor das Haus an die Mauer pflanzen.
Die Erinnerung daran überkam sie ziemlich überraschend. Das damit verbundene Gefühl versuchte sie, mit Gedanken an ein oder zwei ihrer glücklicheren Tage schnell zu besänftigen. Eine Erinnerung an ihre schöne Kindheit. An die Tage, an denen sie Spaß gehabt und sich geliebt gefühlt hatte – bevor ihre Welt zusammengebrochen war.
Sie schaute sich im Garten um, ihr Blick fiel schließlich auf den Schuppen. Der Ort, an dem sie ihren ersten Kuss hatte. Und auf die alte Holzschaukel, die schon lange nicht mehr genutzt worden zu sein schien und sie wahrscheinlich auch nicht mehr tragen würde. Dort hatte sie mit ihrer ersten großen Liebe, gesessen und Händchen gehalten. Da war auch noch die schmale Ecke des Hofs, wo sie immer ihr Fahrrad abgestellt hatte. Und die lange, niedrige Betonkante, über die sie als Kind oft balanciert war. Hattie konnte auch jetzt nicht widerstehen, stellte die Zehen auf, streckte die Arme aus und bewegte sich wie eine Seiltänzerin, die über ein langes und gefährliches Drahtseil wandert, wie auf Messers Schneide. In ihrer kindlichen Fantasie war das Seil bedenklich wackelig. Heute aber war das keine Vorstellung mehr, sondern Realität. Der Verfall des Grundstücks und das überwuchernde Unkraut im Gebüsch brachten sie wirklich aus der Balance. Sie hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben – bis sie schließlich am Ende absprang und vor Freude in die Hände klatschte. Wie ein Kind, das sich selbst für seine erstaunliche Leistung belohnte.
Als sie ein Geräusch hörte, spähte sie noch einmal durch die Nadelbäume und sah, wie ein Auto auf der Einfahrt nebenan vorfuhr. Das Haus, das früher der etwas älteren Dame Mrs Hicken gehört hatte, einer seltsamen Frau, die im Laufe der Jahre ein oder zweimal auch Streit mit Hatties Eltern gesucht hatte. Sie wollte immer über etwas informieren oder hatte ständig etwas zu bemängeln. Hattie fragte sich, ob sie vielleicht noch dort wohnte. Aber die neu gestrichene Fassade und der Anblick einer jüngeren Frau, die am Fenster im Obergeschoss stand und ein Baby in einem langsamen, aber offensichtlich gut eingeübten Rhythmus in den Schlaf schaukelte, ließen Hattie davon ausgehen, dass das höchst unwahrscheinlich war.
Hattie schenkte der jungen Frau ein kleines Lächeln und beneidete sie etwas. Und sie stellte auch fest, dass sich im Dorf alles, auch die Nachbarschaft, verändert hatte. Aber wer konnte ihnen das verdenken? Niemand, der bei klarem Verstand war, würde neben dem Haus ihrer Familie wohnen wollen. Keinesfalls absichtlich und schon gar nicht freiwillig. Sie war einigermaßen erstaunt, fand es aber auch bewundernd, dass sich überhaupt jemand dafür entschieden hatte, dort einzuziehen.
Hattie lehnte sich an einen der Bäume und spielte mögliche Reaktionen auf ihre Rückkehr durch. In einer idealen Welt wäre Luke bereits hier, um sie willkommen zu heißen. Er wäre ihr gegenüber fröhlich und freundlich. Die Tatsache, dass sie über die letzten neun Jahre nie wieder in ihrem Elternhaus gewesen war, würde er völlig ignorieren und es nicht zum Thema machen. Aber so einfach war das Leben nicht. Mit der Hand immer noch an den Schlüsseln in ihrer Tasche überlegte sie, einfach reinzugehen. Aber schon der Gedanke an ein Treffen mit ihrem Bruder drehte ihren Magen auf links. Ohne, dass er sie beim Herumschnüffeln in dem Haus erwischt hatte, in dem er immer noch wohnte.
Plötzlich spürte sie, wie die Schwere der ganzen Welt auf ihren Schultern zu liegen schien. Das war ein Druck, den sie schon einmal gespürt hatte. Die Schuldgefühle und Zweifel, die ihr durch den Kopf gegangen waren. Genauso hatte es sich beim letzten Mal angefühlt, als sie hier gewesen war. Ohne Vorwarnung wurden ihre Knie schwach, von einer Sekunde auf die andere. Ihre Gedanken kreisten um eine Million Entschuldigungen, von denen sie wusste, dass sie sie aussprechen musste. Ihr Kopf schwirrte. Und dann, ohne Vorwarnung, kam der Geschmack von Säure auf. Ihr Magen rebellierte und ihr ganzer Körper begann zu zittern. Aus einer Angst, von der sie gehofft hatte, dass sie nie wieder zurückkehren würde.
„Jetzt ist es anders. Alles ist anders. Es war nicht deine Schuld.“ Sie sagte die Worte wieder und wieder, wie ein bestärkendes Mantra. Sie schluckte nervös, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Dann hörte sie die Kirchenglocken läuten, scharf wie die Klinge eines Messers, das ihre Gedanken durchschnitt. Es war ein Geräusch, mit dem sie hätte rechnen müssen. Aber sie wollte es eigentlich nicht hören. Nie wieder, seit dem letzten Mal. Als sie in die sterbenden Augen ihres Vaters gestarrt hatte, als sie keine andere Wahl hatte, in dem Blut kniete, das seinen Körper umgab, und sie nur noch das Läuten der Glocken hören konnte, weil sein Puls immer schwächer wurde. Eine Nacht, die sie einfach endlich vergessen wollte. Mit zusammengekniffenen Augen drückte sie sich die Finger auf die Ohren und betete, dass das Läuten endlich aufhörte.
Hattie richtete ihren Blick fest auf die Haustür und stellte fest, dass die Tür, so wie das Tor, seit einigen Jahren nicht mehr nachgestrichen worden war. Jede der Messing-Türnummern wurde auch nur von einer einzigen, noch verbliebenen Schraube gehalten, sodass sie unordentlich herunterhingen. Dann fragte sie sich, was ihr Vater wohl dazu sagen würde und wie wütend er wäre. Für alle Welt, jedem gegenüber, war er der freundlichste, sanfteste Mann gewesen. Aber in Wirklichkeit hatte er das Haus mit seiner Bibel beherrscht: Kleine Erinnerungsfetzen, wie die flackernden Bilder am Anfang eines älteren Kinofilms, füllten jetzt ihre Gedanken. Ein Bild nach dem anderen blitzte vor ihr auf.
Nach dem Gespräch mit Louisa war sie sich sicher gewesen, dass es das Richtige war, in das Haus zurückzukehren. Sie wusste, dass sie es ihrer Mutter schuldig war, hier zu sein. Hatte also ihre Tasche gepackt, in der Praxis angerufen und mitgeteilt, dass sie nicht wiederkommen würde. Ein Anruf, vor dem sie sich gefürchtet hatte. Als er aber vorbei war, kam ein immenses Gefühl der Erleichterung in ihr auf. Obwohl die Miete für ihre Wohnung noch bezahlt werden musste, verschob sie die Suche nach einem neuen Job auf die Rückkehr nach dem Besuch bei ihrer Mutter.
Ihre Finger zitterten vor Kälte, als Hattie nach der Tür griff und diese mit ihrer Hand berührte. „Und jetzt werde ich mich auf die Suche nach der Wahrheit machen“, sagte sie leise, aber bestimmt. „Jetzt bin ich wieder da und werde – selbst wenn es mich das Leben kosten sollte – dafür sorgen, dass Gerechtigkeit für das geschieht, was meiner Familie zugestoßen ist.“
Kapitel Vier
Heute – Dezember 2023
Sophie
Nachdem sie gehört hatte, wie sich nebenan das Tor öffnete, schlich Sophie Alexander durch das schwach beleuchtete Haus in das Schlafzimmer ihres Sohnes Noah. Verdeckt durch die Vorhänge spähte sie durch das Fenster auf das Haus gegenüber.
Sie wiegte Noah im Arm und lächelte darüber, wie er sich an sie schmiegte und verzweifelt versuchte, an ihrer Haut zu saugen.
„Ach, komm. Hör auf damit“, flüsterte sie, „du hattest doch gerade erst dein Abendessen, du gieriger kleiner Kerl. Hungrig kannst du doch nicht mehr sein, oder doch?“ Sie sang die Worte und wiegte ihn in einem beruhigenden Rhythmus hin und her, während sie aus dem Fenster schaute und sich auf die Zehenspitzen stellte, als sie eine junge Frau entdeckte, die im Garten nebenan herumzuschleichen schien.
Sie neigte den Kopf zur Seite, beobachtete die verdächtigen Bewegungen der Frau und versuchte, sich daran zu erinnern, wie lange es her war, dass sie auf dem Gartenweg jemand anderen als Luke, Adam oder das Pflegeteam gesehen hatte, die morgens, mittags und abends da waren, um sich um Imogen zu kümmern. Oft war gegenüber viel los gewesen, regelmäßig wurden auch Pakete zugestellt oder Fast Food geliefert. Seit einigen Monaten war aber niemand mehr da gewesen, deshalb fiel ihr die Frau, die sich im verwahrlosten Garten der Nachbarn herumtrieb, auf. Sie sah auch, dass Nebel auf sie zurollte, wie ein Schleier, der über die Felder zog und alles weiß färbte.
Sophie zog den Vorhang auf eine Seite und lächelte, als die Frau ihre Arme zu beiden Seiten ausstreckte und langsam über eine lange, schmale Betonkante ging, dann absprang und klatschte wie ein kleines Kind. Ihr kastanienbraunes Haar fiel ihr um die Schultern, und für einen kurzen Moment stand ein herzerwärmendes Lächeln in ihrem Gesicht. Doch dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, warf sie einen ängstlichen Blick über ihre Schulter und starrte beunruhigt in die Ferne, als erwarte sie sehnlichst, dass jemand aus dem sie umgebenden Nebel auftauchte.
„Wer bist du wohl?“ Sophie flüsterte über Noahs Kopf hinweg. „Eine Freundin, eine Partnerin? Was meinst du, Noah?“ Sie wiegte ihren Sohn hin und her, streichelte Noahs Rücken und hoffte darauf, dass er wieder einschlafen würde. Sie gähnte und dachte an das letzte Gespräch, das sie mit Luke geführt hatte. Heute Morgen hatten sie geplaudert, als er zur Arbeit fahren wollte. Eine enorme Verbesserung im Vergleich zu ihrem ersten Treffen. Da war er an ihr vorbeigeeilt, ohne auch nur ein Wort mit ihr wechseln zu wollen. Wenigstens hatte er sich jetzt die Zeit dafür genommen, vermutlich aber ohne ein echtes Interesse an den Nachbarn. Sonst hätte er den bevorstehenden Besuch heute Morgen erwähnt, oder? Obwohl das auch bedeuten könnte, dass Luke gar keine Ahnung hatte, dass sie kommen würde. Vielleicht war sie eine Freundin von Adam oder seine Partnerin?
Sophie setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster und schaukelte Noah weiter. Ein guter Platz, um herauszuschauen und den Nebelschleier zu beobachten. Wie Noah jetzt so in ihren Armen lag und eifrig an seiner Hand nuckelte oder nach Milch verlangte, konnte sie hier ein paar Momente der Ruhe genießen und etwas entspannen.
„Schhhh. So ist es gut, Noah. Mach schön die Augen zu, ruh dich aus. Gleich kommt dein Daddy wieder, dann willst du nicht müde sein.“ Sie hielt inne und dachte an Finn. „Er wird bald anrufen, weil er dich sehen möchte, da kannst du dir sicher sein“, sagte sie sanft. „Also komm, wir ruhen uns beide kurz aus. Nur für ein paar Minuten?“ Sie lehnte sich im Sessel zurück, schloss die Augen und lauschte dem ständigen Dröhnen des Verkehrs, der am Haus vorbeifuhr. Sie mochte dieses Geräusch. Eine Erinnerung daran, dass sich die Welt direkt vor ihrer Haustür weiterdrehte und das, obwohl sie den ganzen Tag über noch keine Menschenseele gesehen hatte. Und wusste, dass andere Menschen existierten … Zu jeder Zeit war jemand unterwegs.
Noah hatte ihren Schlafanzug vollgespuckt und sie brauchte zweifellos eine Dusche. Sie hatte keine Zeit für Schlaf und vor allem musste sie sich umziehen, bevor Finn kam und bemerken würde, dass sie schon zum zweiten Mal in dieser Woche noch nicht mal angezogen war.
„Noah, an den meisten Tagen ist das überflüssig, oder? Es passiert nie etwas und außer deinem Papa kommt nie jemand ins Haus.“
Das war die Wahrheit. Ihr ganzer Freundeskreis war in Irland. Ihr Leben hier war der komplette Gegensatz zu dem Leben, das sie früher geführt hatte: Wo die Leute täglich beieinander ein- und ausgegangen waren, gemeinsam Kaffee gekocht und den neuesten Klatsch und Tratsch besprochen hatten. Sie war davon ausgegangen, dass Finn und sie hier immer zusammen sein würden. Dass sie Noah auf die Welt bringen würden und, zu dritt, wie eine kleine perfekte Familie, zusammenleben würden. Darauf hatte sie gehofft, seit sie Finn auf einem Ärztekongress in Durham kennengelernt hatte. Das war ihr Traum vom Familienleben. Mit Finn. Er hatte sich so um sie bemüht, bis er sie schließlich davon überzeugen konnte, von Dublin hierher zu ziehen. Eigentlich hatte sie sich das nicht vorstellen können und auch gar nicht darüber nachgedacht, aber bei einem der vielen Besuche in England war sie mit Noah schwanger geworden. Völlig überraschend, aber sie hatten sich beide gefreut und ihr Umzug war die logische Konsequenz.
Aber ihr neues Leben blieb nur kurz so traumhaft, wie sie es sich vorgestellt hatte. Finn hatte darauf bestanden, dass sie in das Dorf zogen, in dem er auch aufgewachsen war. Warum Sophie dem zugestimmt hat, konnte sie sich nicht mehr erklären. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Ugathwaite war viel zu ruhig. Sie vermisste den Trubel in Dublin. Obwohl Finn ihr versprochen hatte, dass das Landleben dort traumhaft sein würde, war dieser Traum für sie schnell geplatzt. Sehr schnell.
„Finn, bitte“, hatte sie ihn angefleht, „mir gefällt es hier nicht. Ich will nicht neben diesem Haus wohnen.“ Sie erinnerte sich daran, wie beide in dem Zimmer standen, das sie gerade als Kinderzimmer einrichteten und für Noah vorbereiteten, als sie durch das Fenster darauf zeigte. „Weißt du, wie sie das Haus nebenan nennen? Die Frauen in der Klinik haben darüber gesprochen, ich habe sie gehört. Es ist das Mörderhaus. Jeder weiß sofort, welches Haus damit gemeint ist. Was in diesem Haus passiert ist, ist ein blanker Albtraum. Ein Mann wurde abgeschlachtet, genau da, in seiner eigenen Küche! Wusstest du das?“ Sie hatte innegehalten und ihr Gesicht verzogen. „Und die arme Mutter, sie wurde so übel verprügelt, dass sie den Verstand verloren hat. Und jetzt ist sie immer wieder im Krankenhaus, das ist ein permanentes Hin und Her. Gerade ist sie wieder zu Hause, betreut von permanent wechselndem Pflegepersonal, und dann, schwupps, wird sie, wie ein Sack Müll, zurück ins Krankenhaus geschickt und verbringt dort wieder Wochen. Besuch von ihrer Familie bekommt sie auch nur ab und zu.“ Dann schwieg sie, hielt eine Hand auf ihren größer werdenden Bauch, in dem der noch ungeborene Noah sicher heranwuchs.
„Sophie, es ist nur ein Haus“, hatte Finn geantwortet. „Und was dort passiert ist, ist vorbei. Es ist passiert. Vor Jahren. Imogen Gilby ist eine gebrechliche alte Frau geworden und ich kann dir versichern, dass keine Gefahr besteht. Nicht mehr, weder für sie noch für uns.“
„Woher willst du das wissen, Finn? Vielleicht ist die Gefahr noch da. Vielleicht wartet sie nur darauf, dass der Mörder zurückkommt. Dann bringt er zu Ende, was er angefangen hat. Sie ist ihm entkommen. Einmal, wahrscheinlich kein zweites Mal – in dem Zustand. Es ist mir unerklärlich, dass sie überhaupt von sich aus immer wieder in dieses Haus zurückkehrt.“ Als sie diese Worte aussprach, konnte sie sehen, wie Finns Augen glasig wurden. Seine Schultern gaben nach und ihm entfuhr ein tiefer Seufzer. „Ganz im Ernst, Finn. Dieser Mord war überall in den Nachrichten. Auch in Irland. Und wenn ich gewusst hätte, dass wir in einem Haus direkt daneben wohnen würden, wäre ich niemals aus Dublin weg und zu dir gezogen.“ Sophie machte ihre Verzweiflung deutlich. „Es ist unheimlich, möglicherweise immer noch gefährlich und … Und was ist mit unserem Baby“ Sie hatte wieder einmal schützend eine Hand auf ihren Bauch gelegt und schaute misstrauisch und mit einem deutlich verunsicherten Blick aus dem Fenster auf das Haus nebenan. „Was ist, wenn das noch einmal passiert? Wenn sich die Geschichte wiederholt und …“ Sie hatte sich an Finn gelehnt, ihre Arme um seine Taille gelegt und ihren Kopf angehoben, um ihm direkt in die Augen zu schauen. „Und was ist, wenn dann ich, du und unser Baby am Ende mittendrin sind?“
„Ernsthaft, Soph. Sei nicht albern.“ Finn hob die Hand und legte sie unter ihr Kinn. Dann gab er ihr einen weichen, zärtlichen Kuss. „Kein Blitz schlägt zweimal an derselben Stelle ein, erst recht nicht so extrem. In diesem Dorf bin ich aufgewachsen. Für mich gibt es keinen schöneren Ort, und ja, es gibt gute und auch einige schlechte Erinnerungen. Aber fast nur gute. Ich habe hier Freunde, Sophie. Gute Freunde und meine Familie, auch meine Oma ist noch da.“
„Finn. Mit deinen so genannten Freunden machst du nie irgendetwas, also komm mir nicht damit. Bis jetzt hat dich kein einziger von ihnen hier, in diesem Haus, besucht“, hatte sie fast selbstgefällig gesagt. Bis ihr klar wurde, wie traurig sich das anhörte. „Und was ist mit mir? Was ist mit meinen Freunden? Meiner Familie? Alle Leute, die ich kenne, sind in Irland. Ist dir eigentlich klar, was ich aufgegeben habe, um bei dir zu sein?“
„Soph, bitte, belass es dabei“, hatte er abrupt gesagt. „Versuch es bitte, nur für ein Jahr. Für mich. Und wenn du es hier dann immer noch schrecklich findest oder wenn du dann immer noch an der Entscheidung zweifelst, dann verspreche ich dir, dass wir zusammen in den nächsten Flieger nach Irland steigen. Abgemacht?“ Er hatte eine kurze Pause gemacht, ihr tief in die Augen gesehen und gelächelt. „Also, solange meine Oma mitkommen und bei uns leben kann.“ Er hatte gelacht und sich schnell geduckt, als sie ihn verschmitzt wegboxte.
„Nie im Leben, Finn Alexander. Ich werde nicht mit deiner Oma zusammenleben. Nie im Leben. Hast du das verstanden, ein für alle Mal?“, hatte sie scherzhaft geantwortet, aber tief im Inneren jedes Wort ernst gemeint. „Da du ohnehin schon so viel Zeit in ihrem Haus verbringst, können wir das dann auch gemeinsam tun.“
Er hielt inne, sah sie nachdenklich an und griff nach ihrer Hand. „Ganz im Ernst, Sophie. Die Idee, hierher zu kommen, kam auf, um der Stadt zu entkommen. Wir sind hier sicherer als in Dublin, London oder in irgendeiner anderen blöden Großstadt in England. Findest du nicht?“ Er nahm sie wieder beschützend in den Arm und drückte sie fest an sich. „Und, ganz ehrlich, Soph, sieh dir an, was wir hier haben. Meine Oma hat uns dieses Haus geschenkt. Dir ist klar, was für ein großes Geschenk das ist, oder? Wenn du noch in Dublin wärst, würdest du immer noch in dieser Einzimmerwohnung im Souterrain leben, in der sich der schwarze Schimmel wahrscheinlich immer noch die Wände hochzieht.“ Er verzog das Gesicht, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte sie liebevoll an. „Ich weiß, dass du dir nicht mehr leisten konntest, aber du würdest doch nicht dorthin zurückkehren wollen und unseren Sohn einem solchen Leben aussetzen, oder?“
Seufzend stimmte Sophie ihm zu. Finn hatte recht und sie beließ es dabei. Auch weil Finn das Gespräch beendet hatte. In ihrer Naivität hatte sie dem einjährigen Versuch zugestimmt, der Wartezeit, aber auch der Hoffnung darauf, dass sie doch irgendwie in diesem Haus glücklich werden würden. Neun Monate später war sie nun allein hier, denn Finn wohnte wieder bei seiner Großmutter. Nach einer erneuten Meinungsverschiedenheit, die das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
„Sophie, es ist nicht für immer“, hatte Finn an dem Tag, an dem er ausgezogen war, mit einem traurigen Blick über seine Schulter gesagt. „Aber dieser Dauerstreit macht mich fertig, ich kann nichts richtig machen, und du, na ja, gegen deine postpartale Wut habe ich einfach keine Chance. Aber ich kann dir immer noch was dagegen verschreiben …“ Er hatte sich wieder zur Tür umgedreht. „Tut mir leid, dass ich das einfach ehrlich sage, aber ich möchte nicht, dass Noah damit aufwächst, dass sich die Menschen um ihn herum ständig streiten. Nicht jeden Tag. Das wäre ihm gegenüber wirklich nicht fair, diese Verantwortung haben wir.“
Wenn sie jetzt daran zurückdachte, wie sie von Irland hierher gezogen war, stellte sie fest, dass Finn eigentlich fast nie zu Hause gewesen war. Fast immer war er bei der Arbeit und wenn er nach Hause kam, gingen die Streitigkeiten sofort los. Ungebremst, sobald er durch die Tür kam. Manchmal hatte es sich so angefühlt, als ob er sie absichtlich verärgern wollte, als ob er nur einen Grund gesucht hätte, sie zu verlassen. Ja, vielleicht hatte sie manchmal etwas zu hohe Erwartungen, aber ihre Launen überkamen sie und ließen ihr auch keine Energie dafür, an ihrer Beziehung zu arbeiten und wieder zusammen glücklich zu sein. Nicht, wenn Finn so wild entschlossen zu sein schien, alles aufzugeben.
„Du hättest einfach zurück nach Dublin ziehen sollen …“, sagte sie sich zum millionsten Mal. „Nach Irland zurück, wo du Freunde gehabt hättest, die dir geholfen hätten, deinen Sohn aufzuziehen.“ Das wäre einfach gewesen – abgesehen von der Tatsache, dass sie Finn liebte. Irgendwie musste sie einen Weg finden, Finn wieder eine Rolle in ihrem Alltag spielen zu lassen. Vor allem jetzt, da Noah geboren und sie eine Familie waren. Dazu war sie aber nur bereit, wenn Finn sich darum auch bemühen würde. „Ich bekomme das hin, das schaffe ich schon“, sagte sie. Überzeugt davon, dass sie, wenn sie die Chance dazu bekäme, Finn und ihr einen Neustart verschaffen konnte. So wie es zwischen ihnen war, als sie sich zum ersten Mal sahen, kennenlernten und verliebten.
„Ach, Noah, du musst jetzt schlafen.“ Mit einer Stimme, die fast ein Flüstern war, dachte Sophie an den Moment zurück, als Noah geboren wurde. Der Moment, in dem sich ihr Leben komplett verändert hatte. Sie hatte sich Hals über Kopf verliebt, in einem Sekundenbruchteil. An diesem Gefühl hatte sich nichts geändert, selbst wenn sie stundenlang dasaß, so wie heute Abend: Noah sanft über den Rücken streichelte und um Schlaf betete.
„Deine Mummy“, sagte sie zu Noah, „wird einen Weg finden, dass du eine Mummy und einen Daddy hast, die dich beide lieben und unter demselben Dach leben.“
Während Sophies Gedanken fest bei Noah waren, schloss sie die Augen, lehnte sich zurück und ließ sich in eine Welt treiben, in der die Gedanken an eine Frau, die draußen im Nachbargarten herumspazierte, beiseitegeschoben werden konnten und nur noch Finn, Noah und das Leben, das sie in der Zukunft führen würden, zählten.
Kapitel Fünf
Heute – Dezember 2023
Sophie
„Schläft er?“
Aufgeweckt von Finns Stimme sprangen Sophies Augen auf und sie spürte sofort wieder, wie sie sich ärgerte. Sie hatte sich fest vorgenommen, vor Finns Ankunft zu duschen und sich zurechtzumachen. Ärgerlich blickte sie auf den knallrosa Disney-Schlafanzug, voll mit Spucke von Noah, dazu auch noch der Rest von der Süßkartoffel und der Banane, die Noah zu Mittag gegessen hatte. Als i-Tüpfelchen noch ein schlammiger Abdruck von Jaspers Pfote, den er auf ihrem Bein hinterlassen hatte. All das, bei fehlendem Make-up und den ungekämmten Haaren, zusammengebunden zu einem unordentlichen Zopf, ließ sie fluchen über den Gedanken daran, wie schrecklich sie aussah.
„Finn, du hast mich fast zu Tode erschreckt! Du hättest an die Tür klopfen können“, brummte sie hastig. „Du wohnst hier nicht mehr, hast du das vergessen? Und ich weiß, dass das Haus deiner Oma gehört, aber du kannst nicht einfach hineinspazieren, das ist dir bewusst, oder?“ Sie drehte sich weg und versuchte, trotz müder, schmerzender Augen ihren Blick zu schärfen und wieder klar zu sehen. Das helle Licht auf dem Flur ließ seine Silhouette eher groß und bedrohlich wirken. Das ließ ihre Gedanken zu den Bibelstunden fliegen, an denen sie als Kind teilgenommen hatte. Und für den Bruchteil einer Sekunde war alles, woran sie denken konnte, der Engel Gabriel, der vor ihr stand, mit einem Blitz im Gesicht und Augen wie brennende Fackeln. Diesen Gedanken wischte sie schnell beiseite und setzte alles daran, Finns schönes Gesicht in dem Schatten wiederzufinden.
„Ja, tut mir leid“, flüsterte er, während er seine Krawatte lockerte, „ich … Naja, du kennst mich ja, ich denke nicht nach und bin es gewohnt, einfach hereinzuplatzen. Ich habe nicht daran gedacht, dass ich das nicht mehr tun sollte.“
„Große Klasse, du hast mich fast zu Tode erschreckt.“ Sie atmete tief ein, streckte einen Arm über den Kopf und suchte den Raum ab, bis ihr Blick auf der Uhr landete. „Wie spät ist es, bist du zu früh oder zu spät?“ Sophie richtete sich auf und blinzelte, als Finn den Raum betrat, was ihr die Möglichkeit gab, sein kaltes und schroffes, aber wie immer gutaussehendes Gesicht zu erkennen. Ein Schatten von Bartstoppeln bedeckte sein Kinn, und wie immer trug er einen dunkelblauen Anzug mit einem feinen Streifen, dazu seine polierten Schuhe und eine darauf perfekt abgestimmte Krawatte.
Heute Abend hatte er sie ausnahmsweise etwas gelöst, sie hing unordentlich über seinem blassrosa Baumwollhemd. Ein kleines Zeichen, das Sophie verriet, wie anstrengend sein Tag gewesen sein musste. Sofort bereute sie, ihn angeschnauzt zu haben. Mit einem kurzen Blick auf Noah konnte sie sehen, dass er von dem plötzlichen Auftauchen seines Vaters unbeeindruckt geblieben und wieder in einen tiefen, erholsamen Schlaf gefallen war. Noahs Schlaf war immer ein Anblick, der ihr Herz aufgehen ließ. Er hatte lange, blonde Wimpern, perfekte rosige Lippen und einen süßen Daumen, der immer zu seinem Mund wanderte, wenn er wieder für ein paar Sekunden versuchte, daran zu saugen.
„Soll ich ihn mitnehmen?“ fragte Finn mit einem entschuldigenden Lächeln. „Und nein, ich bin nicht zu früh, mir ist etwas dazwischengekommen und ich bin etwas spät dran. Schon wieder.“ Er seufzte bedauernd. „Ich hatte einen anstrengenden Tag in der Praxis, ehrlich gesagt, einen der schlimmsten Tage überhaupt.“
„Wirklich?“
„Ja, eine Patientin ist im Wartezimmer verstorben. Gerade saß sie noch da und plauderte einen Moment lang fröhlich mit der alten Mrs Pemberton über das Wetter. Im nächsten Moment war sie weg. Tot. Einfach so.“ Er ging zurück zur Schlafzimmertür und schaltete das Licht an. „Dann mussten wir sofort das Zimmer räumen, Termine verschieben und einen medizinischen Transportdienst bestellen. Das frisst ganz schön viel Zeit …“
„O Finn, wie furchtbar.“ Jetzt wo das Licht den Raum erhellte, blickte Sophie plötzlich an ihrer Kleidung hinunter und wünschte sich wieder einmal, sie hätte sich umgezogen.
„Soph, konntest du dich heute Morgen nicht anziehen?“ Sie bewegte sich durch den Raum, bis er neben ihr stand, und sah, wie Finn sie von oben bis unten musterte und dann Noah, dessen Augen sich geöffnet hatten. Ein Lächeln hatte sich auf sein Gesicht gelegt. Plötzlich warf er sich nach vorne und Finn hob ihn hoch, nahm ihn in die Arme. „Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich dir etwas verschreiben könnte, und als Arzt, kann ich dir nur empfehlen, dir das zu überlegen“, sagte er. Er sah ihr mit demselben besorgten Blick ins Gesicht, mit dem er sie fast jeden Tag seit Noahs Geburt anschaute. „Und das sage ich als Arzt, nicht als Ehemann.“
„Klingt super, Finn, warum wirfst du mir die Tabletten nicht direkt in den Hals? Dann wird alles wieder gut, oder?“ Sophie spürte, wie die Wut in ihr anstieg. Sie hielt ihren wütenden Blick auf das Fenster gerichtet. Finns Antwort auf alles, war, ihr etwas zu verschreiben. Dagegen eine Pille, dafür eine Tablette oder eine Therapiesitzung mit jemandem besonders Geeignetem, von der oder dem sie noch nie gehört hatte. Genervt dachte sie an all die Momente, in denen sie daran gedacht hatte, sich anzuziehen – und all die Dinge, die sie wieder davon abgehalten hatten. Immer war etwas zu erledigen gewesen. Noah hatte gefüttert oder gewickelt werden müssen, und Jasper, der noch ein Welpe war, hatte auch oft ihre Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Betten mussten gemacht und Wäsche gewaschen werden. Danach hatte sie keine Energie mehr dafür, etwas nur für sich selbst zu tun.
„Ich bin nicht krank, heute war nur ein schlechter Tag. Noah hat sich nicht beruhigt, er …“ Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie konnte den Blick der Enttäuschung in Finns Gesicht nicht ertragen und tief in ihrem Inneren fühlte sie auch selbst ein Gefühl der Enttäuschung. „Also, um deine Frage zu beantworten: Ich will deine verfluchten Tabletten nicht, ich hätte nur gerne ein bisschen Hilfe. Anstatt hier herumzustehen und mich zu kritisieren, könntest du vielleicht morgens vorbeikommen und mir die Möglichkeit geben, zu duschen, während du deinen Sohn mit seinem Frühstück fütterst, und dann hast du die Spucke und Essensreste vielleicht auf deinen Klamotten, nicht ich.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und spürte, wie ihre Unterlippe bebte. Ihr Leben verlief nicht so, wie sie es sich erhofft und gewünscht hatte. Mit einer Hand hielt sie sich am Vorhang fest, schaute weiter nach draußen. Die Vorhänge waren voller bunter Löwen, Tiger und anderen Tieren aus dem Zoo und hatten ihr schon oft ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, aber heute Abend war das Chaos um Noahs Kinderbett kein schöner Anblick. Wie dicht der Wickeltisch an der Heizung hinter den Vorhängen stand. Wie viele Windeln sich darauf stapelten, voll mit Wickelauflagen und allen Cremes, die für ein Neugeborenes wichtig waren. Auf der anderen Seite des Zimmers standen auch noch mindestens dreißig Kartons. Mit dem Auspacken war sie immer noch nicht vorangekommen. „Ich scheine einfach für gar nichts Zeit übrig zu haben. Zeit, um irgendetwas zu erledigen …“ Sie sah auf Noah hinunter, der jetzt seelenruhig in den Armen seines Vaters schlief. „Und ich wollte gerade sagen, dass dein Sohn, verdammt noch mal, nie schläft. Ironischerweise aber …“ Sie meckerte, setzte sich in den Sessel, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und sah Finn mit einem strengen, fragenden Lächeln an. „Du hast überhaupt keine verdammte Idee davon, wie anstrengend das für mich ist, Finn. Hier, ganz auf mich allein gestellt. Selbst wenn du hier wohnen würdest, wärst du immer bei der Arbeit. Ich bin hier komplett allein, die ganze Zeit … Das wird mir einfach alles zu viel.“ Sie schaute wieder aus dem Fenster. „Und dann ist da noch Jasper. Ich war vorhin mit ihm im Garten, aber er gräbt überall rum und ich bin noch nicht dazu gekommen, einen richtigen, langen Spaziergang mit ihm zu machen.“ Sie sah zu Finn auf, erwartete eine Reaktion, nahm den Gürtel ihres Morgenmantels in die Hand und begann, ihn sich wütend um ihren Finger zu wickeln. „Jeder will was von mir, und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich noch irgendwem gerecht werden kann.“
„Gut. Alles klar. Ich verstehe, was du sagst. Ich gehe runter und, für dich, mit Jasper spazieren.“
„Für mich? Sag nicht für mich, Finn. Er ist auch dein Hund.“
„Sophie, ach, komm schon. Sei nicht so.“ Finn neigte seinen Kopf zur Seite und gab Noah einen sanften Kuss auf die Stirn. „Ich habe Pizza mitgebracht.“ Er ging in Richtung Tür und sah so aus, als würde er gleich wieder gehen. „Ich dachte, wir könnten wenigstens zusammen essen. Soll ich sie in den Ofen schieben, während du duschen kannst?“
Sophie nickte und spürte, wie jetzt Tränen zu fließen drohten, aber sie drehte sich weg. Zum Fenster, damit Finn sie nicht sehen konnte. „Ja, sicher …“ Sie zog den Vorhang auf und starrte durch den wieder dichter werdenden Nebel auf den Garten nebenan. „Was glaubst du, wer sie ist?“
„Wer?“
„Da war eine Frau. Sie stand auf dem Weg. In Lukes Vorgarten.“
„Woher sollte ich das wissen?“, antwortete er. „Wie sah sie aus?“
Sophie dachte darüber nach und schaute wieder aus dem Fenster. „Ich glaube, sie war so alt wie ich, wahrscheinlich etwas größer, aber das konnte ich von hier oben nicht genau erkennen. Und sie hatte kastanienbraunes Haar, lang und ein wenig gewellt.“ Sie nickte bestätigend, als sie sich an die Frau erinnerte. „Ich würde sagen, sie war wirklich ziemlich hübsch.“ Sophie schaute runter auf die Fensterbank und versuchte, sich an mehr Details zu erinnern. Aber außer dem schulterlangen Haar fiel ihr nichts mehr ein. Für eine Weile schien auch ihr Verstand vernebelt zu sein und sie begann, sich die Frage zu stellen, ob sie die Frau überhaupt gesehen hatte oder ob sie, wie so viele andere Dinge, nur in ihrem Kopf gewesen war und nicht wirklich im Nachbargarten.
„Sophie. Dir ist doch klar, dass Lukes Besucher uns nichts angehen, oder?“ Er machte einen Schritt zum Fenster, runzelte die Stirn und versuchte, über ihre Schulter zu schauen. „Außerdem passt Stalking nicht zu dir.“ Er schob sie spielerisch aus dem Weg, während er mit nachdenklichem Blick nach draußen schaute.
„Wie auch immer, Finn … Ich werde jetzt duschen gehen …“ Sophie sagte es, bewegte sich aber nicht. Stattdessen begann sie, Noahs Kleidung vom Heizkörper zu nehmen und sie auf einen neuen Stapel auf der Wickelauflage zu legen. „Und während ich duschen bin, kannst du vielleicht auf deinen Sohn aufpassen und die Pizza in den Ofen schieben. Oh, und wenn du schon in der Küche bist, vergiss nicht, den Tisch zu decken, Noahs Fläschchen zu machen, die Spülmaschine auszuräumen und mit dem verfluchten Hund eine Runde zu drehen. Wenn du das alles während meiner Duschzeit schaffst, auch ohne dich im Chaos wiederzufinden, kannst du vielleicht nachvollziehen, dass der Anblick einer Unbekannten im Garten nebenan sehr gut zum Höhepunkt eines Tages werden kann.“
Finn schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. „Gut. Also gut. Ich gehe nach unten, schiebe die Pizza in den Ofen, flitze mit Jasper durch den Garten und suche die Person, die du zwischen den Bäumen gesehen hast. Sobald ich sie gefunden habe, verhöre ich sie für dich und komme danach zurück, um dir über alle Details der Befragung Bericht zu erstatten.“ Ein sarkastisches Lächeln lag auf seinen Lippen, die drückte er dann liebevoll auf Noahs Wange und legte ihn in sein Bettchen. „Ich bin gleich zurück, mein Kleiner.“
Sophie blickte auf ihren Sohn, der nun friedlich im Kinderbett schlief. Dass Finn Noah aber in sein Bettchen legen konnte, um seine Aufgaben zu erledigen, war ihr nicht entgangen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er die Treppe blitzschnell hinuntergeschossen war, um mit dem Hund Gassi zu gehen – etwas, das er vorher kaum getan hatte. Nur weil sie eine Frau mit langem kastanienbraunem Haar erwähnt hatte, die sich im Garten nebenan versteckt hatte.
Ein letzter Blick aus dem Fenster ließ die Frau kurz aus ihrem Versteck kommen und zu Sophie, die sie beobachtete, hinaufschauen. Als sie sich in die Augen sahen, konnten beide Frauen absolutes Misstrauen im Gesicht der anderen erkennen und, nur für einen ganz kurzen Moment, blickten sie direkt in die Seele der anderen.
Seltsam war, dass Sophie, während sie aus dem Fenster starrte, keinen Gedanken mehr daran verlor, ob die Frau hier war, um Luke zu sehen. Oder ob sie eine bis jetzt abgetauchte Freundin von Adam war. Sorgen machte sie sich wegen Finn. Sie wusste, dass er sein Leben hier geführt hatte, bevor sie sich kennengelernt hatten. Eine Zeit, an die er sich so gerne erinnerte, dass er die Möglichkeit, wieder hier zu leben, sofort ergriffen hatte. Problematisch war allerdings, dass sie auch von schlechten Erinnerungen wusste. Dinge, über die er nie gesprochen hatte, zumindest nicht mit ihr. Sophie war sich sicher, dass es für Finn einen ausschlaggebenden Grund gegeben haben musste, diesem großen schwarzen Loch, in das er nicht mehr zurückkehren wollte, zu entkommen.
„Ich könnte mich natürlich irren, Finn … Aber ich glaube, du weißt genau, wer diese Frau ist. Ich weiß nur nicht, ob sie Teil deines guten oder deines schlechten Lebens hier war.“
Kapitel Sechs
Neun Jahre zuvor
Hattie
Hattie setzte sich erschrocken auf und unterdrückte ein Gähnen, als sie das laute, anhaltende Geräusch hörte. Jemand schlug heftig gegen die Haustür.
Sie lehnte sich zurück ins Kissen, blickte durch ihr Schlafzimmer und blinzelte, als sie den kleinen Lichtschein bemerkte, der unter ihrer Tür durchschien. Er kam aus dem Flur und gab ihr gerade genug Licht, um sich im Zimmer umsehen zu können. Und während ihr der Alkohol, den sie nur ein oder zwei Stunden zuvor getrunken hatte, in den Kopf stieg, griff Hattie nach ihrem Telefon. Ein so beunruhigendes Ende ihres Abends hatte sie nicht kommen sehen. „Wer zum Teufel …“, brummte sie. Der Bildschirm war schwarz geworden, der Akku war leer. Ohne ein einziges Flackern, das ihr Hoffnung darauf gab, es doch benutzen zu können, legte sie es genervt zurück auf den Nachttisch und sah zu, wie es von der Kante fiel. Es landete neben einem leuchtend roten Leinenkleid, das in einem wilden Haufen von Kleidungsstücken auf dem Boden lag. Das Kleid hatte sie gerade erst ausgezogen. Eines, von dem sie sich wünschte, dass sie es nie getragen hätte. Aber auch ein Kleid, das ihrem Vater Herzrasen bereitet hätte, wenn er sie jemals darin gesehen hätte. Das war für sie also wahrscheinlich der entscheidende Grund, um es nie wieder zu tragen.
Mit angehaltenem Atem wartete sie ab und lauschte dem Klopfen. Sie hoffte, dass ihr Vater die Tür öffnen würde, der Besuch dann reinkommen und wieder gehen würde, ohne allzu viel Unruhe ins Haus zu bringen. So, wie sie es in der Vergangenheit schon oft erlebt hatte. Da sie im Pfarrhaus lebte, kamen oft und zu jeder Zeit – Tag und Nacht – die Ärmsten der Armen vorbei, um sich Hilfe zu holen. Sowohl Männer als auch Frauen, die auch mal schnell wütend und gewalttätig werden konnten. Besonders an den Tagen, an denen sie ganz einfach davon ausgingen, dass die Kirche, wie selbstverständlich, bereitstünde, wenn Hilfe nötig war. Ihr Vater hatte zwar jedes Mal so viel gegeben, wie er konnte, aber nicht immer war es genug oder das, auf was sie gehofft hatten. Aber sie befürchtete trotz all dessen, dass der jetzige Besucher sie sehen wollte. Nicht ihren Vater. Und dass ihre Nacht noch viel schlimmer werden würde, als sie es schon war.
Hattie zog die Bettdecke hoch, bis zum Kinn. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich verstecken zu können. Bis der Kater wieder verschwunden war. Da sie die Uhrzeit nicht von ihrem Handy ablesen konnte, suchte sie am anderen Ende des Zimmers nach einer Uhr. „Zwei Uhr sechsunddreißig“, murmelte sie leise vor sich hin. Sie war seit weniger als einer Stunde zu Hause. Und obwohl es sich anfühlte, als hätte sie viel länger geschlafen, war es immer noch mitten in der Nacht und Hattie ärgerte sich über die Unterbrechung ihres bitter nötigen Schlafs.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Besucher wegen ihres Vaters gekommen war – seine Hilfe wurde oft mitten in der Nacht benötigt und einige Gemeindemitglieder hatten echte Gründe dafür, ihn um Hilfe zu bitten. Sie beriefen sich oft auf ihren Glauben, wenn ein Angehöriger kurz vor seinem Tod stand, und baten ihren Vater um die Krankensalbung und Beistand. Darum, dass er sich an das Bett setzen würde, die Hand des sterbenden Angehörigen halten und die letzte Ölung spenden würde. Neugeborene wurden getauft, wenn ihre Eltern befürchteten, dass sie nicht bis zum Morgen überleben würden. Obdachlose brauchten eine Mahlzeit oder eine Unterkunft. Also fühlte ihr Vater sich wie das Eigentum der Gemeinde. Als würde er dem ganzen Dorf gehören, vereinnahmt von jedem Gemeindemitglied. Er war die erste und einzige Person, zu der man ging, wenn etwas Außergewöhnliches passierte oder wenn ein Wortführer gebraucht wurde.
Heute Abend klang das Klopfen allerdings anders. Wütender, lauter und hartnäckiger als sonst. Also warf Hattie ihren Kopf zurück ins Kissen, atmete wütend und ängstlich in ihre aufgeblähten Wangen, während das ständige Klopfen durch die Mauer ins Haus geriet und dort nachhallte.
Als ihr Vater die Treppe hinunterging, hielt Hattie den Atem an und lauschte, wartend auf sein normales Murren und seine übereifrigen Beteuerungsrufe. „Okay, okay, ich komme.“ Aber der Besucher hatte es entweder nicht gehört oder sich entschieden, den Zuruf zu ignorieren, und hämmerte weiter an der Tür. „Wie gesagt, ich bin hier. Geben Sie mir eine Minute.“
Einen Moment lang dachte Hattie wieder an ihre Vermutung und daran, dass die Person sie sehen wollte. Während sie den Atem anhielt und aufmerksam zuhörte, ging sie den ganzen vergangenen Abend in Gedanken durch. Von Anfang bis Ende. Bei einer Verabredung, zu der sie nicht hätte gehen sollen, und in einer Situation, in der sie nicht sein wollte, in der Drohungen ausgesprochen worden waren. Und jetzt, wo es an der Haustür hämmerte, betete sie, dass sie den Ärger nicht auch noch vor die Haustür ihrer Eltern gebracht hatte.
„Hattie, was ist hier los?“ Mit angehaltenem Atem beobachtete Hattie, wie die Tür langsam aufgeschoben wurde. Mit einem langen, langsamen Knarren, das von einem Scharnier ausging, das ihr Vater nie hatte ölen wollen. „Ich möchte gerne wissen, wenn du nachts dein Bett verlässt, junge Dame. Und ich bin froh, dass diese Tür dich verrät.“ Hattie wusste, dass das nur eine weitere Methode ihres Vaters war, um zu wissen, wo sie war und was sie tat. Seine übermäßige Kontrolle hatte sie allerdings noch entschlossener gemacht, endlich ihr eigenes Leben zu leben. Sie war neunzehn Jahre alt und zog eine Grimasse bei dem Gedanken daran, was er tun würde, wenn er jemals herausfände, wie oft sie die alte Dienstbotentreppe hinunterschlich und das Haus verließ, ohne dass es jemals jemand mitbekommen würde. Anfangs war sie einfach mit Freunden ausgegangen und hatte sich in den Kneipen und Nachtclubs von Northallerton herumgetrieben. Aber heute Abend war das anders gewesen, heute Abend hatte man sie überredet, Louisa zu helfen. Man hatte ihr auch viel Geld dafür angeboten, zweihundertfünfzig Pfund in nur einer Nacht. Alles, was sie dafür tun musste, war, zu einer Verabredung zu gehen, ein schönes Kleid zu tragen und sich am Arm eines Mannes festzuhalten, der alt genug gewesen war, um ihr Vater zu sein. Was sie nicht bemerkt hatte, war, wie hoch die Erwartungen waren und wie schnell die Situation eskalieren konnte. Der Abend endete verletzend für sie, auch im Hinblick auf ihre Würde und ihren Selbstwert. Und jetzt, als sie mit den Fingern über die Stelle an ihrem Hals fuhr, von der sie sich sicher war, dass sie zu stark zusammengepresst worden war, hatte sie mehr als nur Angst vor den Drohungen, die im Zusammenhang damit ausgesprochen worden waren. Und vor dem, was das Ganze – ziemlich sicher – zur Folge haben würde.
Als die Tür aufschwang und der Raum halb durch das Licht des Flurs erhellt wurde, konnte sie ihren jüngeren Bruder Luke erkennen. Er war gerade dreizehn Jahre alt, ein paar Jahre jünger als Adam, aber größer und schlanker. Sie amüsierte sich darüber, wie er auf Zehenspitzen und mit beiden Armen nach vorne ausgestreckt den Raum betrat. Dabei sah er aus wie Shaggy aus einer alten Folge von Scooby Doo.
„Du bist ein bisschen zu alt für so etwas, oder?“ Sie tätschelte liebevoll die Bettdecke und sah zu, wie ihr jüngerer Bruder durch das Zimmer schlurfte und sich auf ihre Bettkante setzte. „Du und Adam, ihr seid beide als Kleinkinder damit durchgekommen, euch in mein Zimmer zu schleichen. Aber du bist jetzt ein junger Mann. Ich bin mir nicht sicher, ob Dad das noch gutheißen würde …“ Hattie warf einen zweifelnden Blick zur Tür, legte ihre Arme um ihren Bruder und umarmte ihn fest. „Wir würden wahrscheinlich in die Hölle geschickt werden, in einer Handkarre. Nur weil du hier drin bist“, flüsterte sie lächelnd. „Du weißt doch, wie streng Papa bei sowas ist, und du kannst davon ausgehen, dass in dieser verdammten Bibel etwas steht, was ihm sagt, dass es falsch ist.“ Sie dachte daran, wie ihr Vater beim Schreiben all der Predigten, die er ihnen darauf halten müsste, wahrscheinlich den Verstand verlieren würde.
„Hattie … warum sollte er uns in die Hölle schicken wollen?“ fragte Luke mit einem Stirnrunzeln. Es war mehr als offensichtlich, dass er gerade erst aufgewacht war. Und während er die selten gewordene Umarmung spürbar genoss, dachte Hattie an den kleinen ruhigen Jungen zurück, der er immer gewesen war. Ein eher introvertierter Junge unter sonst sehr geselligen Menschen in diesem Haushalt. Ganz im Gegensatz zu seinem älteren und Rugby spielenden Bruder Adam, der immer erst dann zufrieden war, wenn er die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen hatte. „Das Türklopfen, dieses Hämmern, hat mich aufgeweckt“, seufzte er und legte sich neben sie, schmiegte sich so eng an sie, als wäre er ein viel jüngeres Kind. „Es klingt richtig wütend, oder?“ Luke hob den Kopf vom Kissen und drehte sich ängstlich um, als er versuchte, dem Murren ihres Vaters zu lauschen.
„Okay, okay. Wie gesagt, gib mir eine Minute.“ Auf Vaters Worte folgte ein Knurren und der Schlüssel wurde umgedreht. Als die Tür geöffnet wurde, erfüllte die laute Stimme einer Frau, die, ihrer Sprache nach zu urteilen, aus Liverpool stammen musste, über den Flur das ganze Haus. Die Lautstärke ließ Hattie zusammenzucken, als sie der Stimme lauschte, die an jeder Wand abzuprallen schien, um sich in ihrem Zimmer vollständig auszubreiten.
„Wo zum Teufel ist sie?“ Die Worte waren giftig und mehr als bedrohlich. „Ich schwöre bei Gott, wenn Sie ihr auch nur ein Haar gekrümmt haben, werde ich Sie wegen Mordes vor Gericht bringen. Der Lärm dröhnte durch das Haus, eine Innentür nach der anderen wurde geöffnet und dann mit Gewalt wieder zugeschlagen.
„Okay, Mrs … Äh … Ich bin mir nicht sicher, von wem Sie gerade sprechen, aber wenn ich Ihnen helfen kann, tue ich das gerne. Zum … Zum Büro geht es hier entlang. Selbst um diese Uhrzeit und trotz der laut schreienden Frau versuchte ihr Vater, höflich zu bleiben. Er war gut darin, sich um andere zu kümmern. Auch wenn Hattie es ihm verübelte, dass er so viel Zeit in der Kirche verbrachte.
„Imogen. Imogen … Könntest du kurz runterkommen? Ich … Ich glaube, diese Dame möchte dich sprechen.“ Ihr Vater rief die Worte mit einer Stimme, gerade laut genug, um gehört zu werden, aber dennoch sehr ruhig – für die Außenwelt fast hypnotisch.
Hattie saß aufrecht, den Blick auf Luke gerichtet. Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, als sie hörte, wie sich die Schlafzimmertür ihrer Eltern öffnete und wieder schloss. Auf das Geräusch folgten schnell leise Schritte. Ein Zeichen dafür, dass ihre Mutter auf dem Weg ins Badezimmer war, wo sie sich wie üblich erst zurechtmachen würde, bevor sie die Treppe hinunterging.
„Sie war in der letzten Nacht hier …“, fuhr die raue Stimme der Frau fort. „Man hat mir gesagt, sie sei auf dem Weg zu Ihrer Frau gewesen … Und seitdem ist sie nicht mehr zurück ins Haus gekommen. Niemand hat sie gesehen. Es ist, als ob sie verschwunden wäre. Einfach in Luft aufgelöst.“ Eine weitere Tür wurde geöffnet und zugeschlagen, so dass es für Hattie mehr als offensichtlich war, dass die Frau durch das Haus marschierte, sich in jedes Zimmer drängte und hineinsah. Hattie behielt ihre eigene Tür im Auge und fragte sich, ob die Frau so dreist sein würde, auch noch die Treppe hinaufzugehen.
Auf Zehenspitzen ging Hattie durch den Raum, stellte sich hinter ihre Zimmertür und spähte durch den Türspalt. Sie beobachtete, wie sich die Badezimmertür öffnete und ihre Mutter mit der Eleganz eines Filmstars über die Treppenstufen trat. Langsam und bedächtig ging sie die Treppe hinunter. Dabei schaltete sie das Licht aus.
Die plötzliche Dunkelheit bot Hattie die perfekte Gelegenheit, durch die Tür zu schlüpfen. Der hochgezogene Kragen ihres Schlafanzugs verbarg ihre blauen Flecken. Sie stellte sich hinter einen alten Hochschrank aus Mahagoniholz, der am oberen Ende der Treppe stand. Von ihrem Versteck aus hatte sie freie Sicht auf den großen Flur, wo sie beobachtete, wie ihr Vater Gerald, den missglückten Versuch unternahm, eine spärlich bekleidete Frau in das Büro ihrer Mutter zu führen. Aber ihr kurzer Rock, ihr tief ausgeschnittenes Oberteil und ihre Brüste, die offensichtlich dem Ausschnitt zu entkommen versuchten, machten ihn offensichtlich nervös. Mit einem verärgerten Blick wandte er sich an seine Frau. Vermutlich in der Hoffnung darauf, dass sie die Kontrolle übernehmen würde und er sofort von seinen Pflichten entbunden wäre.
„Berni, nicht wahr? Wir haben uns schon mal getroffen. Es ist schön, Sie wiederzusehen.“ Imogen Gilby nickte ruhig und anerkennend mit dem Kopf. „Bitte, wischen Sie sich die Tränen ab.“ Sie reichte der Frau ein Taschentuch und warf ihr einen besorgten Blick zu. Als Berni sich um die Augen wischte, blieben lange schwarze Streifen ihrer Mascara auf beiden Wangen zurück. „Bitte. Kommen Sie doch in mein Büro. Hier können wir uns unterhalten.“ Es war der Tonfall mit dem Hatties Mutter schon mindestens tausendmal mit ihr gesprochen hatte. Ein Ton, der fest und doch sanft, fürsorglich und einfühlsam zugleich war. „Das ist ein geschlossener Raum, also diskreter und … Sie müssen verstehen: Meine Familie schläft.“
„Ich pfeife auf deine sogenannte Familie“, kreischte Berni. „Du glaubst doch nicht, dass hier irgendjemand auf deine La-di-da-Art und dein vorgetäuschtes Gefühl von Wichtigkeit, eher eine Überheblichkeit, hereinfällt, oder? Wir alle wissen, wer du bist. Ich weiß noch, was du getan hast, und ehrlich gesagt, Leute wie du machen mich einfach krank. Keinen Deut besser als wir, und ich habe keine Ahnung, woher ihr euch das Recht nehmt … “
„Das reicht“, schnauzte Imogen, während sie zu ihrem Schreibtisch hinüberging. Dort nahm sie einen Stift in die Hand, tippte ihn ängstlich gegen eine Schreibunterlage und schrieb etwas auf. Hattie, Luke dicht hinter ihr, glitt die Treppe hinunter, bis sie den halben Treppenabsatz erreicht hatten. Da der Vorhang sie versteckte, konnten sie fast unerkannt bleiben und daran vorbeischauen, direkt in das Büro ihrer Mutter.
„Ich möchte nur wissen, wo meine Tochter ist. Sie ist nicht zum Haus zurückgekommen und ich suche schon die ganze Nacht nach ihr.“ Die Frau zog an ihrem Oberteil, um ein wenig mehr von ihren Brüsten zu zeigen. „Es hat sich herumgesprochen, dass sie bei Ihnen war.“ Sie streckte den Arm aus und deutete mit dem ausgestreckten Finger direkt auf die Stelle, an der Hatties Mutter stand. „Ich kann mir aber nicht vorstellen, warum?“
Nach einem Blick zu Luke runzelte Hattie die Stirn und zog den Vorhang weiter zu. Hier versteckte sie sich oft, um die Patienten ihrer Mutter beim Kommen und Gehen zu beobachten. Jeden Abend kamen ein oder zwei Personen zu ihr. Einige waren wohlhabende Geschäftsfrauen, andere eher wie diese Frau, die gerade unten in der Bürotür stand. Sie war knapp bekleidet und auf der Suche nach Antworten. Weil ihre Mutter selten darüber sprach, wusste Hattie, selbst mit neunzehn Jahren, noch nicht genau, wie eine Psychotherapeutin arbeitete oder was sie in ihrer Praxis anbot. Nur so viel, dass ihre Mutter mit anderen Menschen über ihre Probleme sprach.
„Berni … Sie wissen, dass ich Ihnen nicht sagen kann, warum sie bei mir war. Ich bin meinen Klienten gegenüber verpflichtet …“ Imogen schüttelte den Kopf und sah mit gerunzelter Stirn von Berni zu ihrem Mann. „Ob sie nun Ihre Tochter ist oder nicht, ich kann wirklich nicht sagen, wer hier gewesen ist. Oder warum jemand gekommen ist. Das tut mir sehr leid.“
„Nun, ich bin mir sicher, dass sie keine Ihrer Beratungsstunden nötig hatte. Aber wenn sie nicht deswegen hergekommen ist, warum dann? Es ist ja nicht so, dass sie das nötige Geld hätte, um Sie zu bezahlen. Vor allem nicht, da sie schon einen Monat mit ihrer Miete im Rückstand ist.“ Sie nickte und zog wieder ein neues Taschentuch aus der Schachtel, um sich über die Augen zu wischen. „Der Chef ist nicht zufrieden. Er will Alice und das Geld von ihr. Sie muss wieder nach Hause kommen und zurück auf die Straße.“ Sie warf einen Blick über ihre Schulter und zog eine Seite ihrer Lippe spöttisch nach oben. „Sie denken vielleicht, dass es in Ordnung ist, Menschen wie uns vorzuschreiben, wie wir unser Leben zu leben haben. Sie protzen mit Ihrem Geld, sind aber nicht besser als wir.“ Sie drehte sich im Büro und sah Imogen von oben bis unten an. „Ihr Leben ist doch nicht so gottverdammt perfekt, wie es aussehen soll? Das war es nie, oder?“
Ihr Herz klopfte wie eine große Trommel. Hattie holte Luft. Berni hatte sich auch über den Lebensstil ihrer Mutter lustig gemacht, was Hattie verärgert aufstöhnen ließ. Es war mehr als offensichtlich, dass die Frau etwas zu sagen hatte. Hattie versuchte, sich jedes Detail zu merken. Sie wollte herausfinden, wer sie war und warum sie so gemein wurde. Dann fiel ihr Blick wieder auf ihren Vater, der inzwischen nicht mehr auf und ab ging, sondern sich mit der Hand an der Türklinke abstützte. Plötzlich riss er die Tür ruckartig auf. Er stand auf der Schwelle, um Luft zu holen und die kühle Nachtluft einzuatmen. Er schaute erst nach links, dann nach rechts, schien die Häuser auf eine Reaktion zu überprüfen, die um sie herum waren. Hattie nahm an, dass er besorgt war, die Nachbarn durch diesen Auftritt zu stören. Auch wenn die Häuser ein Stück entfernt waren.
„Berni?“ Gerald hatte sich wieder gefangen und drehte sich zu ihr. Streckte zaghaft seine Hand aus, als sie zurück in den Flur kam. „Berni, ich setze jetzt heißes Wasser auf und mache uns einen Tee.“ Er schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln, dann schloss er die Haustür und ging in Richtung Küche. Dort blieb er in der Tür stehen: „Tee hilft immer, egal was ist. Da sind wir uns doch einig, oder?“
Plötzlich verstummte die Frau und wischte sich die Tränen aus beiden Augen, die ihr schon wieder über das Gesicht liefen. „Wenn sie nicht bei Ihnen gewesen ist, mit wem hat sie sich dann getroffen? Mit einem Ihrer Söhne? Ist einer von ihnen wohl der Vater des Babys? Falls dem so ist, dann werden sie dafür bezahlen!“
Ein Satz, der Hatties Atem stocken ließ. Sie warf Luke einen fragenden Blick zu. Weil sein Gesicht aber nichts verriet, stand sie auf und schob ihn so leise wie möglich die Treppe hinauf, in Richtung seines Schlafzimmers. Bevor Berni noch mehr sagen konnte. „Komm schon. Los, geh zurück ins Bett“, sagte sie.
„Gerald, koch du uns in Ruhe einen Tee.“ Die Stimme ihrer Mutter drang in sanftem Ton die Treppe hinauf. Immer wenn es darauf ankam, konnte sie ruhig bleiben und strahlte diese Ruhe auch aus, übertrug sie – fast immer. „Berni. Meine Jungs sind viel zu jung für Alice, und ich habe nicht geleugnet, dass sie hier war. Ich habe nur gesagt, dass ich Ihnen nicht weitergeben kann, warum sie hier war.“ Sie lächelte nachdenklich. „Ich bin mir sicher, dass Alice nicht weit weg sein kann. Also lassen Sie mich einen Vorschlag machen: Ich ziehe meinen Mantel an, wir gehen gemeinsam los und suchen nach ihr. Wie klingt das?“
So schnell sie konnte, schlich Hattie zurück in ihr Zimmer, stellte sich ans Fenster und versteckte sich auch hier hinter dem Vorhang, um nach draußen sehen zu können. Ihr Blick fiel automatisch auf die Autos und Lastwagen, die an der anderen Straßenseite geparkt waren. Dort hatte Hattie Alice oft gesehen. Dort, wo auch die anderen Prostituierten waren. Auf dem Parkstreifen parkten und übernachteten viele Lastwagenfahrer. Dort ließ sich schnell Geld verdienen und Hattie hatte keinen Zweifel daran, dass Alice sich genau dort aufgehalten haben könnte. Weil sie schon so viele Frauen gesehen hatte, die für ein kurzes Gespräch auf den Parkplatz gegangen waren. Oft fiel dann eine der Frauen auf die Knie oder kletterte für etwa 30 Minuten in das Fahrerhaus. So oder so, es schien, als würden sowohl die Prostituierten als auch die Trucker genau das bekommen, was sie wollten. Sie sah die Prostituierten oft fröhlich lachend davonziehen. Nie schien Hattie das, was auf dem Parkstreifen geschah, gefährlich zu sein. Bis zum heutigen Abend, an dem aus einem Kuss ein heftiger Schlagabtausch geworden war. Nach ein paar schrecklichen Minuten war Hattie aus dem Auto gesprungen und mit der einzigen Würde, die ihr noch geblieben war, selbstbewusst in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, zu ihrem eigenen Haus. Dabei blickte sie die ganze Zeit über zurück und wartete darauf, dass der Mann, der sie angegriffen hatte, wieder aus dem Dorf wegfuhr. Erst danach ging sie zurück ins Haus, unbemerkt. Durch die Hintertür und über die alte Holztreppe nach oben, in ihr sicheres Schlafzimmer.
Bis zu diesem Abend hatte sie vor nichts und niemandem Angst gehabt. Nichts konnte sie schocken, noch nie. Gerade weil sie damit aufgewachsen war, dass sich das wirkliche Leben direkt gegenüber, auf dem Parkstreifen, abspielte. Eine dunkle Welt, die aber für jeden, der sie sehen wollte, unübersehbar war. Jetzt sah sie allerdings ihre Mutter, Arm in Arm mit einer Prostituierten, die Straße entlanggehen, so als wäre sie eine lange nicht gesehene Freundin. Hattie beobachtete sie aufmerksam. Es war mehr als offensichtlich, dass Berni und ihre Mutter sich gut kannten. Nach dem, was sie miteinander besprochen hatten. Auch bei diesem so vertrauten Umgang der beiden miteinander, den Hattie jetzt beobachtete. Eine seltsame Vertrautheit unter Frauen, die völlig unterschiedliche Persönlichkeiten und Hintergründe hatten. Vielleicht hatten sich ihre Wege in der Vergangenheit schon gekreuzt. Auf eine Weise, die sich Hattie jetzt nur vorstellen konnte. Sie musste die Wahrheit, die Geschichte dahinter, herausfinden.