1. Kapitel
Lancashire, 2023
»Wir erreichen in Kürze Clitheroe und wünschen allen aussteigenden Fahrgästen einen angenehmen Aufenthalt.«
Es knackte im Lautsprecher über ihrem Kopf, als die Durchsage endete. Thea griff nach ihrem Reisekoffer und dem alten verbeulten Rucksack, den sie sich über die Schulter warf. Mehr hatte sie nicht aus ihrer Londoner Wohngemeinschaft mitgenommen.
Sie stieg aus dem Zug und fand sich bereits jetzt in einer ländlichen Gegend wieder. Automatisch fragte sie sich, wie es dann wohl im noch weiter entfernten Pendle aussehen würde.
Sie entschied sich, Clitheroe Castle zu besuchen, bevor sie weiterfuhr. Die Burgruine aus dem 12. Jahrhundert sollte normannischen Ursprungs sein und interessierte Thea. Ruinen beruhigten sie seit ihrer Kindheit. Sie genoss die Stille und den Geist der Vergangenheit, der darin herumspukte, wie es ihr Vater einst formuliert hatte.
Thea schüttelte den Kopf, um die Gedanken an ihn loszuwerden. Erst seinetwegen war sie ins Nirgendwo in der englischen Einöde gereist. Was er an dieser tristen Gegend gefunden hatte, erschloss sich Thea nicht. Allerdings teilte sie mit ihm das seltsame Faible für Stille. Vielleicht war es das. Nicht hier, nicht jetzt, entschied sie eisern und band sich das schulterlange Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz. In der Spiegelung einer Fensterscheibe sah sie, dass es nicht schwarz, sondern kastanienbraun wie das ihrer Mutter war, sobald die Sonne darauf traf.
Wieder ein Kopfschütteln. Sie wollte sich lieber auf das kleine Clitheroe konzentrieren, solange sie hier war.
Thea streifte samt Gepäck durch das behagliche Städtchen. Neben einer katholischen Privatschule, von der sie noch nie gehört hatte, gab es noch eine alte Bibliothek, ein Pfadfinderzentrum, ein Fußballstadion und einen Rosengarten. Theas Augenmerk lag allerdings weiterhin auf Clitheroe Castle, das auf einem Felsen in der Stadt in den Himmel ragte.
Sie besuchte das Museum in der Burgruine und den rechteckigen Turm, den Donjon, bis es Zeit war, zum Bahnhof zurückzukehren. Theas letzter Blick vom Burggelände aus reichte bis nach Pendle Hill. Von dort aus soll der Teufel Steine auf Clitheroe Castle geworfen und ein großes Loch hineingerissen haben. Auf dem Land glaubten die Menschen vielerorts noch an Sagen, Geister, Gott und das Böse in Gestalt übernatürlicher Wesen.
Eine Windböe streifte ihre Wange, die bereits nach Frühling roch, sich aber nicht so anfühlte. Thea schlug den Kragen ihrer blauen Herbstjacke hoch und riss sich notgedrungen vom Anblick des Hügels los. Sie würde noch genug Zeit haben, sich Pendle Hill genauer anzusehen.
Ihr Weg führte sie zum Bahnhof zurück, wo sie einen Taxistand erspäht hatte. Sie hatte die Wahl zwischen einer zwanzigminütigen Autofahrt oder einem Fußmarsch von gut zwei Stunden. Thea liebte lange Spaziergänge zwar, aber nicht nach einer fast vierstündigen Zugfahrt, einem Umstieg in Manchester und mit mehreren Gepäckstücken im Schlepptau. Sie nannte dem Fahrer die Adresse.
»Sie wollen wirklich nach Pendle? Wussten Sie, dass dieses gottverlassene Stück Land auf Platz eins der Orte in Großbritannien steht, an denen die Menschen am meisten Angst haben zu leben? Kein Wunder bei dieser dunklen Vorgeschichte. Früher lebten dort Hexen, die man gehängt hat.«
An seinen aufgerissenen Augen erkannte Thea, dass er diesen Unsinn tatsächlich glaubte.
»Ich bin mutig genug, es zu versuchen. Mein Vater hat mir ein Haus vererbt. Ich muss es mir wenigstens einmal ansehen.«
»Also ist Ihr Vater tot.«
»Ein Herzinfarkt vor zwei Wochen«, antwortete Thea knapp angebunden und sah aus dem Fenster, während Hügel und Weiden an ihr vorbeiflogen.
Sie erwartete nun die typischen Beileidsbekundungen. Stattdessen hörte sie: »Sehen Sie, Pendle tut niemandem gut. Früher oder später stirbt jeder an diesem teuflischen Ort.«
»Früher oder später sterben wir alle, ob in einem Hexendorf oder in der Großstadt«, erwiderte sie unbeeindruckt.
Der Taxifahrer warf Thea einen letzten skeptischen Blick über den Rückspiegel zu, bevor er für den Rest ihrer Route schwieg. Sie wollte weder Small Talk betreiben noch Freundschaften hier draußen schließen. Thea war einzig aus dem Grund angereist, das alte Herrenhaus ihres Vaters zu übernehmen und gleich danach an den erstbesten Bieter wieder zu verkaufen.
Sie träumte sich bereits in ihre neue Londoner Wohnung. Drei große, helle Zimmer sollte sie haben. Genug Platz, um sich voll auszubreiten. Thea würde morgens mit einer dampfenden Tasse Earl Grey auf dem Balkon sitzen und sich vollkommen auf ihren Blog konzentrieren, während weit unter ihr das Stadtleben tobte. Vielleicht traute sie sich eines Tages sogar einen Podcast zu, sobald sie lernte, ihre eigene Stimme zu lieben. Bis dahin musste ihr der True-Crime-Blog genügen, in den sie ihr ganzes Herzblut steckte.
Thea holte den Laptop aus ihrer Tasche und aktualisierte die Kommentarspalte. Es war kein neuer Follower hinzugekommen. Immer wieder brach die Verbindung ab, während sie durch die hügelige Landschaft fuhren, aber für einen kurzen Check reichte es.
Plötzlich ploppte die E-Mail eines ehemaligen Kommilitonen auf. Er wollte wissen, ob sie zur Veranstaltung heute Abend in der Uni erschien. Thea brachte es nicht übers Herz, zu antworten. Lieber schlug sie den Laptop zu und verstaute ihn wieder in ihrer Tasche. Sie wollte keinen Gedanken an ihr geschmissenes Kunststudium verschwenden.
Sie fühlte sich gestrandet. Als hätte sie keine Bestimmung mehr im Leben. Thea wusste nicht, wohin mit sich. Sie hatte schon oft von solchen Phasen des Umbruchs gehört, in denen sich die Menschen ihrer Selbstfindung widmeten, hätte aber niemals für möglich gehalten, eines Tages zu ihnen zu gehören. Der überraschende Tod ihres Vaters hatte dazu beigetragen, dass Thea ihr Leben plötzlich überdachte.
Als ein großer Rabe beinahe die Frontscheibe streifte und der Fahrer in einem eigenartigen Dialekt schimpfte, erwachte sie aus ihrem Tagtraum. Sie konzentrierte sich nun lieber wieder auf das Hier und Jetzt. Der schnelle Verkauf des Hauses hatte die höchste Priorität, alles Weitere würde sich von selbst ergeben.
Thea hatte keine Erinnerung an den Landsitz ihres Vaters, weil sich ihre Eltern früh hatten scheiden lassen. Sie war daraufhin bei ihrer Mutter in London geblieben und hatte bis vor Kurzem nicht einmal eine Geburtstagskarte von Nathan Shaw erhalten. Sie wunderte sich, dass er das Anwesen nicht jemand anderem vermacht hatte und Thea lediglich der Pflichtteil geblieben war. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass er sie auf diese Weise nach Pendle locken wollte. Selbst im Tod ärgerte er sie noch.
Thea atmete durch und schloss ihre müden Augen, bis sie das nächste Dorf in der Grafschaft Lancashire passierten. Es ging durch Chatburn und Downham bis nach Pendle.
So schlimm, wie es ihr Fahrer angepriesen hatte, erschien es Thea gar nicht. Der kleine Ort machte einen malerischen Eindruck auf sie. Ganz anders als das düstere Loch, das sie erwartet hatte.
Sie kratzte ihr letztes Bargeld zusammen, woraufhin er ihr einen mürrischen Augenaufschlag schenkte. Die Hand des Mannes blieb weiterhin geöffnet, aber mehr folgte nicht. Schnaufend steckte er die Münzen in seine zerschlissene grüne Weste, die sich über einem Wohlstandsbauch wölbte.
»Dafür lohnt es sich kaum, bis hierher zu fahren«, murmelte er. »Verfluchte Städter. Sollten mir lieber eine Gefahrenzulage zahlen.«
Thea holte das Gepäck selbst aus dem Kofferraum. Mit seiner Hilfe rechnete sie nun nicht mehr. Kaum hatte sie den Deckel zugeschlagen, brauste er mit überhöhter Geschwindigkeit zurück nach Clitheroe. Er hinterließ eine Staubwolke, die Thea husten ließ. Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, bis sie wieder etwas sehen konnte.
In Ruhe betrachtete sie die Umgebung und die einsame Straße, auf der sie stand. Die hügelige Landschaft machte einen urigen Eindruck, aber am meisten gefielen Thea die Häuser aus grobem Stein mit alten Schindeln auf den Dächern, denen man den Zahn der Zeit ansah. Wilde englische Gärten mit ersten bunten Blumen und hohen Sträuchern sowie hübsche kleine Cottages, die zu einer Teezeremonie einluden, zierten ihren Weg durch das Städtchen.
Sie zog ihren Koffer hinter sich her und streifte neugierig durch das Borough. Hin und wieder waren Wanderwege gekennzeichnet, die man bis weit über die kargen, blassgrünen Hügel verfolgen konnte. Wie dünne Schlangen durchschnitten sie Wiesen und Weiden. Auf ihrer Zugfahrt gen Norden hatte Thea Zeit gehabt, sich etwas einzulesen. Jährlich im August fand die überregional bekannte ›Pendle Walking Week‹ statt, die größte kostenfreie Wanderveranstaltung Englands.
Eine Schafherde blökte, während Thea an ihnen vorbeizog. Sie grasten friedlich, auch wenn es noch nicht viel zu fressen gab. Man sah der Natur den vergangenen harten Winter noch immer an. Erst in einem Monat würden die Hügel wieder saftig grün erstrahlen.
Als sie auf zwei Frauen um die sechzig traf, unterbrachen sie ihr Gespräch abrupt. Argwöhnisch beäugten sie Thea. Eine solche Reaktion war sie gewohnt. Auf dem Land war wahrscheinlich schon ihr winziger Nasenring eine Sünde. Als sie sich auch noch bekreuzigten, weil Thea der leibhaftige Teufel in Menschengestalt zu sein schien, beschleunigte sie lieber ihre Schritte. Aus den Augenwinkeln sah sie noch eine Weile die feuerroten Haare der Griesgrämigen, während ihre mindestens so schlecht gelaunte Freundin den Knauf ihres schwarzen Gehstocks fest umklammert hielt. Sie spürte die neugierigen Blicke der beiden stechend im Rücken, machte sich aber nicht die Mühe, sich umzudrehen. Stattdessen hielt Thea nach jemandem Ausschau, der ihr wohlgesinnter war. Ihr Handy zeigte keinen Balken an. Sie war von der Außenwelt abgeschnitten und fühlte sich genauso.
Thea wurde fündig, als ein Mann Mitte fünfzig sie warm anlächelte und in Pendle willkommen hieß. Er trug eine maßgeschneiderte graue Anzughose zu einem hellen Cardigan. Sein Blick aus großen braunen Augen war einladend und ließ sie dieses Mal tatsächlich lächeln.
Thea wusste, dass sie nicht der freundlichste Mensch war. Dafür war sie meistens zu ehrlich. Mit platten Attitüden konnte sie nichts anfangen. Dennoch war sie gewillt, jeder Person eine Chance zu geben. Die beiden Frauen hatten ihre bereits verspielt – zumindest fürs Erste.
»Was führt Sie in unser kleines Pendle? Doch nicht etwa die Hexenprozesse?«
»Solange diese Tradition für gewisse Leute nicht fortgesetzt wird, wird mich hier wenig halten«, erwiderte sie und deutete auf die zwei Tuschelnden, die eindeutig noch immer über sie redeten.
Ihr Gegenüber lachte so tief, dass es Thea einen Schauer über den Rücken jagte. Sein kurz geschnittenes, dunkles Haar hatte graue Strähnen, die ihm ein gesundes Maß an Reife verliehen. Es glänzte in der Sonne, weil er es offenbar mit viel Gel zurückgestrichen hatte. Selbst der stärkste Windstoß würde seine Frisur nicht durcheinanderbringen.
»Sie scheinen Ihr Herz auf der Zunge zu tragen. Das mag ich. Menschen wie Sie können wir hier gebrauchen. Lassen Sie sich bloß nicht von unseren beiden Tratschtanten dort drüben einschüchtern.«
»Sehe ich etwa eingeschüchtert aus?«, entgegnete Thea mit einem Grinsen für ihren attraktiven Gesprächspartner. »Ich nenne es eher: herausgefordert.«
Sein Händedruck war erstaunlich sanft, als er sich schließlich als John Birming, der Bürgermeister von Pendle, vorstellte. Es wirkte, als hätte er das dazugehörige Lächeln eine Weile geübt, um es so natürlich und ansprechend wie möglich aussehen zu lassen.
Typisch Politiker …
»Alethea Shaw, angenehm. Ich habe nicht vor, zu bleiben. Es gibt da etwas, das ich regeln muss. Danach sieht mich Pendle nie wieder.«
Gerade wollte sie fragen, wo die Kirche St. Benet’s war, neben der sich das Haus ihres Vaters befinden sollte, als Birmings Augen noch ein Stück größer wurden.
»Sie sind Nathan Shaws Tochter, nicht wahr? Nun erkenne ich auch die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Ihnen beiden.«
»So verblüffend scheint sie nicht gewesen zu sein, wenn Sie sie erst jetzt bemerken«, antwortete sie etwas zu flapsig. Den brüsken Umgangston hatte sie sich in London angewöhnt. Auf dem Dorf sollte sie sich lieber etwas zurückhalten. Gemeinhin kannte man sich hier draußen und half einander, wenn man nicht gerade damit beschäftigt war, Gerüchte in die Welt zu setzen. Thea räusperte sich und fragte deutlich netter: »Sie wissen nicht zufällig, wo mein Vater lebte? Sein Haus ist im Internet nicht eindeutig auszumachen gewesen. Ständig bin ich bei irgendeinem historischen Bau aus dem 17. Jahrhundert gelandet. Ich befürchte, bei dieser raren Beschilderung werde ich lange danach suchen. Er lebte in der Blackburn Road 13.«
Ihr Blick glitt zu den veralteten Holzpfeilen, deren Inschrift sie nicht mehr eindeutig entziffern konnte.
»Das ist wahr. Ein Grund mehr, dieser Gemeinde endlich den nötigen Fortschritt zu bringen. Mein Vorgänger hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, die unheimliche Aura eines Hexenstädtchens zu erhalten, dabei aber den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt aus den Augen verloren. Meine Frau Katherine und ich sammeln zurzeit Punkte, an denen wir ansetzen können. Ich werde die Straßenbeschilderung und die Hausnummern auf die Liste setzen.« Voller Tatendrang rieb er sich die Hände. »Lassen Sie mich Ihre Begleitung sein, Mrs Shaw.«
Als er nach ihrem Koffer greifen wollte, drehte sie sich so, dass er nicht mehr herankam.
»Miss«, sagte sie, um ihn abzulenken, und ging langsam neben Birming her. »Ich bin nicht verheiratet. In der Stadt ist es nicht unbedingt üblich, mit fünfundzwanzig schon unter die Haube zu kommen. Leben die Menschen hier denn noch wie im Mittelalter? Ich habe nicht einmal Handyempfang.« Wie zur Untermalung wedelte sie mit ihrem unnützen Telefon durch die Luft.
Birmings Mundwinkel verzogen sich dieses Mal ehrlich, und seine Augen bekamen einen traurigen Schimmer. »Sie haben recht, Miss Shaw. Hier muss sich noch einiges tun. Wie gesagt, wir arbeiten daran. In ein paar Wochen wird ein neuer Mast errichtet, der bis weit über Pendle Hill reicht. Bislang gibt es einige Funklöcher. Das tut mir leid. Waren Sie schon auf dem Berg? Von dort aus hat man einen sagenhaften Ausblick auf das Land. So viel Natur sind Sie von einer Großstadt sicher nicht gewohnt.« Er zwinkerte verschmitzt. Thea hatte das Gefühl, dass er sich betont lässig und nahbar gab. Birming erinnerte sie ein wenig an ihren alten Lateinlehrer, der immer mit den neuesten Jugendwörtern um sich geworfen hatte, obwohl er deren Bedeutung wahrscheinlich bis heute nicht kannte.
Nach einem langwierigen Anstieg deutete Birming auf einen Turm in der Ferne. »Schauen Sie, das ist unser Gotteshaus. Aufregend, nicht wahr?«
Thea fragte sich, was an einer gewöhnlichen Kirche aufregend sein sollte, nahm ihm die Begeisterung aber nicht.
»Das ist die Kirche von Pendle? Sie sieht mir mehr wie ein Rathaus aus.« Thea deutete hinauf zur großen Uhr. Sie hatte die ganze Zeit nach einem spitzen dunklen Turm Ausschau gehalten statt nach einem hellen Flachdach.
Die episkopale Kirche der anglikanischen Gemeinschaft glich mit ihren Zinnen vielmehr einer Festung. St. Benet’s sah dennoch einladend aus.
»Wie lange sind Sie schon in der Politik, Mr Birming?«, fragte Thea neugierig.
»Seit über zwanzig Jahren. Bis vor ein paar Monaten war ich der Stellvertreter des örtlichen Bürgermeisters, nun habe ich seinen Platz eingenommen.«
Bildete sie sich das Endlich in seinem Unterton nur ein, oder war es wirklich da? Thea missgönnte ihm seinen Erfolg nicht, wurde aber auch nicht schlau aus Birming. Sie legte ein natürliches Misstrauen an den Tag. Dieses Verhalten hatte ihr schon mehrere Male dabei geholfen, nicht auf falsche Schlangen hereinzufallen. Vielleicht war sie aber auch bloß viel zu skeptisch für das Miteinander auf dem Land.
»Ist er in den Ruhestand gegangen?«, fragte sie weiter.
»Er ist gestorben.« Thea schluckte fest, was Birming zum Schmunzeln brachte. Er hob beschwichtigend eine Hand. »Nicht doch. Er war alt und hatte ein gutes Leben. Nicht jeder stirbt in Pendle auf unnatürliche Weise, wie manch einer in die Welt schreit. Es tut mir leid, dass ich Ihren Vater nicht näher gekannt habe. Wir haben uns nur ein paarmal gesehen. Zu den Sitzungen und Versammlungen ist er nie erschienen. Meine und auch seine Zeit ließ es nicht zu, ein ausführliches Gespräch zu führen. Ich bedaure Ihren Verlust.«
Nun war es an ihr, abzuwinken. »Ich kannte ihn wahrscheinlich noch weniger als Sie. Wir hatten ein … schwieriges Verhältnis. Eher gar keines.«
Als sie nicht weitersprach, entließ der Bürgermeister seinen angehaltenen Atem aus den Lungen, was einem enttäuschten Oh glich. Er hakte nicht weiter nach.
Thea hatte ohnehin keine Lust, über Nathan Shaw zu sprechen. Weder wollte sie wissen, was für ein Mensch er gewesen war, noch Geschichten über sein Junggesellendasein hören. Er hatte seine Frau und seine kleine Tochter im Stich gelassen und war nichts weiter als eine neblige Erinnerung in ihrem Kopf. Das verschwommene Bild eines großen Mannes im dunklen Mantel, der Pfeife rauchend im Eingang steht und einen Koffer in die Hand nimmt, bevor er sich wegdreht und für immer verschwindet.
»Wir sind da«, verkündete Birming unnötigerweise, als sie vor einem alten schmiedeeisernen Friedhofstor zum Stehen kamen. »Nehmen Sie einfach den Pfad zwischen den Grabreihen entlang bis zur Rückseite der Kirche. Das ist der schnellste Weg zu Ihrem Grundstück. Die Blackburn Road führt direkt dahinter vorbei. Ich hoffe, Sie bleiben uns noch eine Weile erhalten, Miss Shaw.«
»Das bezweifle ich, Mr Birming. Bitte machen Sie sich keine großen Hoffnungen. Ich treffe mich um fünf Uhr mit dem Makler, dessen Papiere ich für die Übergabe unterzeichnen soll. Sobald ich das Haus verkauft habe, bin ich auch schon wieder weg.«
Er sah wenig begeistert aus, aber Thea konnte es nicht ändern. Sie wollte sicher nicht den Rest ihres Lebens wie ihr einsamer Vater hinter einem Friedhof wohnen. Obgleich der Gedanke sie reizte. Hier hätte sie immer Ruhe und die wilde Natur direkt vor der Nase.
»Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie mich bitte an.«
Er zückte ein weißes Kärtchen und einen edlen, sehr bauchigen Kugelschreiber aus dunklem, glattem Holz. Die Fasern waren leicht wellig und hatten einen gelben Schimmer. Thea verspürte das unbändige Verlangen, darüberzustreichen. Die Initialen J und B waren in goldenen Lettern darin eingraviert worden.
»Ein schönes Stück.«
Birming schien einen Moment zu brauchen, um zu begreifen, wovon sie sprach.
»O ja, den habe ich mir damals zu meinem Dienstantritt anfertigen lassen. Ich unterschreibe damit, seit ich in der Politik tätig bin. Das ist Dalbergia retusa, also Cocoboloholz. Kennen Sie das?«
»Nein.«
»Normalerweise wird es für Werkzeuge, Messergriffe und Musikinstrumente verwendet. Das Angebot ist begrenzt, weshalb ich dieses Stück wie einen Schatz hüte. So etwas hat nicht jeder.«
Der Bürgermeister reichte ihr das Kärtchen, auf dem nun neben seiner Bürodurchwahl auch seine private Nummer stand, und steckte den Stift zurück in seine Tasche. Wer sich einen so teuren und seltenen Kugelschreiber leisten konnte, hatte es wohl geschafft. Thea beneidete ihn dennoch nicht. Sie stellte sich die Arbeit in der Politik anstrengend und unzufriedenstellend vor. Außerdem wurde man schnell zur Zielscheibe für andere und stand immer in der Öffentlichkeit. Kein Leben für sie; sie hielt sich lieber bedeckt.
Thea sah ihm eine Weile nach. Auch Birming drehte sich ein letztes Mal um, ehe er hinter dem nächsten Cottage verschwand. Eine Bewegung hinter den Gardinen eines Hauses weckte ihre Aufmerksamkeit. Thea wurde beobachtet, seit sie in Pendle angekommen war. Sie fühlte die vielen Blicke der Bewohner wie schwere Steine auf sich lasten.
Thea straffte die Schultern, packte den Griff ihres Koffers fester und zog ihn hinter sich durch das hohe Tor, dessen Spitzen bedrohlich in den Himmel ragten. Das Kirchengelände war übersät mit uralten, überwucherten Grabsteinen, deren Inschriften kaum noch zu lesen waren. Als sie durch den verschatteten und ummauerten Innenhof ging, hatte sie das Gefühl, dass die Temperatur um mehrere Grad abfiel. Es erschien ihr, als wäre sie in einer Parallelwelt gelandet, in der jegliche Geräusche ausgeblendet wurden. Die Stille wirkte ungemein beruhigend auf sie. Thea schloss die Augen für einen Moment und sog die kühle, waldige Luft der umstehenden Tannen ein.
Sie erschrak, als sie jemand von der Seite her ansprach. »Ein wundervoller Ort, nicht wahr?«
Thea sah in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes um die siebzig, dessen aufgeweckte blaue Augen sie aufmerksam musterten. Das weiße Kollar an seinem Hals hob sich perfekt von der schwarzen Soutane des Pfarrers ab, auf der kein Krümel zu sehen war.
»Es hat etwas Magisches«, sagte sie begeistert. »Auch wenn ein Mann wie Sie wahrscheinlich nichts von Magie hören möchte.«
»Das Leben als solches ist ein Wunder. Wieso dann nicht auch ein wenig an Magie glauben?«, erwiderte er milde lächelnd.
Thea schloss den alten Herrn sofort ins Herz. Im Gegensatz zu den beiden grantigen Frauen von vorhin machte er einen aufgeschlossenen und ehrlichen Eindruck auf sie, ohne ihr etwas vorzuspielen, wie es Bürgermeister Birming wahrscheinlich getan hatte.
»Ich bin nicht gläubig, finde Kirchen aber beeindruckend. Verzeihung, wenn ich so direkt bin. Meistens trete ich damit in irgendein Fettnäpfchen.« Zerknirscht erwiderte sie das Lächeln, das noch immer in seinem Gesicht verharrte.
»Mir ist eine ehrliche Seele in Pendle lieber als all die Blender dieser Stadt. Und davon gibt es eindeutig zu viele. Ich bin übrigens Reverend Peter Hughing, leite diese High Church und betreue den Friedhof, seit mein langjähriger Totengräber nicht mehr unter uns weilt. Es freut mich stets, Menschen zu empfangen. Ob gläubig oder nicht, ist dabei zweitrangig. Gott macht seine Liebe zu uns nicht von einem Besuch in der Kirche oder von einem Gebet am Abend abhängig.« Er wies zu einer Bank und ließ sich dort mit einem leisen Stöhnen nieder. »Meine Knochen sind nicht mehr das, was sie einmal waren«, erzählte er. »Kommen Sie und setzen sich bitte einen Moment zu mir. Sie sehen aus, als könnten Sie etwas Ruhe gebrauchen.«
Thea fragte sich, woran er das festmachte. Ihre Augenringe hatte sie unter einer Schicht Make-up versteckt und die Müdigkeit mit schwarzem Tee und Coffee to go erfolgreich verdrängt.
»Eigentlich muss ich weiter«, sagte sie verunsichert.
Sie folgte ihm ganz automatisch und setzte sich schließlich neben den Pfarrer auf die zugewachsene Bank. Jene musste schon eine Weile an derselben Stelle stehen, denn Wurzeln hatten ihre Füße gefangen genommen, während sich Moos und Efeu einen Weg über die verschnörkelten Beine bis hin zur Lehne suchten.
Ein Platz zum Lesen, schoss es ihr durch den Kopf.
Thea warf einen Blick auf die Kirchturmuhr, aber es blieb noch genügend Zeit bis zu ihrem Termin mit dem Makler. Sie wackelte mit dem Bein und konnte sich nicht konzentrieren.
»Atmen Sie tief ein und lauschen Sie.«
»Lauschen? Wem oder was? Ich höre hier nichts.«
»Weil Sie noch immer reden«, entgegnete Hughing in seiner betont ruhigen Art.
Man konnte ihm einfach nicht böse sein. Thea seufzte, ließ sich aber darauf ein und tat es ihm gleich.
Eine Weile sagte niemand etwas. Und endlich hörte sie die vielen Kleinigkeiten, die er ihr hatte begreiflich machen wollen. In der Stille gab es so vieles zu entdecken, was ihr ansonsten verborgen geblieben wäre: Thea hörte das Rascheln einer Maus im Dickicht, das Rauschen des Windes, der durch die Tannen streifte, und einen Specht, der sich an der Rinde zu schaffen machte.
»Wow«, hauchte sie mit geschlossenen Augen. »Sie haben absolut recht.«
»Magisch, nicht wahr?«, antwortete er mit einem Lächeln in der Stimme.
Thea war sich nicht sicher, ob er es ernst meinte oder sie auf den Arm nahm. Sie hatte gleich den Schalk in seinen jungen Augen entdeckt, dem sie nicht traute, vor dem sie sich aber auch nicht fürchtete. Ganz egal, was es war, es hatte ihr dabei geholfen, den Stress der Reise endlich abzuschütteln und wenigstens einen Teil davon beiseitezuschieben.
Sie zwang sich, aufzustehen, obwohl ihre Muskeln protestierten. Thea spürte die Anstrengung der letzten Zeit nun deutlich in jedem Glied. Erst das hingeworfene Studium, dann der Tod ihres Vaters und schließlich ihre lange Fahrt ins Nirgendwo. Es wurde Zeit für ein bisschen Ruhe.
»Ich würde gern noch bleiben, aber ich muss los. Ich werde am Haus hinter der Kirche erwartet. Blackburn Road 13.«
Der Reverend sprang erstaunlich geschmeidig auf. Hatte sie ihn eben noch für einen knöchrigen alten Mann gehalten, strahlte sein Körper nun eine seltsame Kindlichkeit aus, die ihn gut zehn Jahre jünger erscheinen ließ.
»Ich wusste es doch! Sie sind Alethea Shaw, Nathans Tochter!«, rief er freudig. Seine Augen leuchteten. »Ihr Vater hat mir schon so viel von Ihnen erzählt.«
»Ach, hat er das? Er kannte mich doch kaum.« Was der Reverend da erzählte, verunsicherte sie.
»Ein Umstand, der ihm ein Leben lang zu schaffen machte«, sagte der schlaksige Pfarrer und begleitete sie hinter das imposante Kirchenschiff. Auch hier eroberten Efeu und Rosenbüsche die hellen Mauern. Im Schatten wurde Thea kalt, weshalb sie die Arme enger um ihren Körper schlang. »Er hat oft von Ihnen gesprochen und erwähnt, dass Sie eines Tages herkommen würden. Nathan hatte also recht.«
»Nur sein Tod hat mich nach Pendle gelockt. Im Leben hat er es leider nicht geschafft, mich einzuladen.«
Thea hörte deutlich ihren enttäuschten Unterton heraus. Auch dem Pfarrer war er wohl nicht entgangen.
»Sie werden schon bald erfahren, dass Ihr Vater nicht der Mann war, für den Sie ihn gehalten haben. Er war ein guter Mensch mit einem großen Herzen, der sich für unsere Gemeinde aufgeopfert hat.«
»Für jeden, nur nicht für seine Familie«, sagte Thea traurig und eine Spur verärgert. »Verzeihung, aber ich glaube kaum, dass Sie unsere Geschichte wirklich kennen. Meine Mutter hat sehr unter der Trennung gelitten. Die Scheidung war alles andere als einfach für sie. Zusätzlich hat sie ein Kind allein großgezogen. So etwas hinterlässt Narben auf der Seele.«
Sie war mit jedem Satz leiser geworden, bis sich ihre Stimme mit dem Wind vermischte und kaum noch zu hören war.
Hughing betrachtete sie mitfühlend. Thea wollte wütend auf ihn sein, aber zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie es nicht. Der Alte verdiente ihren angestauten Zorn nicht, der eigentlich ihrem Vater galt.
»Sie haben allen Grund, ihn zu verteufeln, aber zumindest für unser Borough war er ein wichtiges Mitglied.«
Thea schnaubte. Nach ein paar Atemzügen ging es ihr besser. Sie war ein emotionaler, impulsiver Mensch, wollte ihrem Gegenüber aber nicht gleich am ersten Tag ihre größte Schwäche zeigen: ihr Herz.
»Sie werden irgendwann verstehen, Alethea.«
»Wie Sie meinen. Das Gespräch bleibt aber unter uns«, entgegnete sie hart.
Hughing nickte bedächtig. Der Adamsapfel an seinem sehnigen Hals bewegte sich auf und ab, als er schluckte.
»Ich sehe es als Beichtgeheimnis an. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden feststellen, dass es in Pendle nur sehr wenige Menschen gibt, denen Sie Geheimnisse anvertrauen können. Ich möchte mich nicht zu sehr selbst loben, aber ich gehöre für gewöhnlich dazu.«
Sie schmunzelte, als sie den Stolz in seinen Worten vernahm. »Habe ich Ihnen denn etwas gebeichtet?«
Sein Lächeln sorgte für ein paar Falten mehr in seinem runzligen Gesicht. Plötzlich war sich Thea nicht sicher, wie alt er wirklich war. Im Laufe ihres Gesprächs hatte sie ihn einmal für siebzig, dann wieder für über neunzig oder sogar für Anfang sechzig gehalten. Was jedoch durchweg erhalten blieb, war sein wissender Blick.
»Die Beichte versteckt sich manchmal zwischen den Zeilen, meine Liebe.«
Thea starrte ihn eine gefühlte Ewigkeit nur an. Sie wurde nicht schlau aus diesem geheimnisvollen Pfarrer, der sie mit seinen hellblauen Augen zu durchleuchten schien.
Als sie vor einem zweistöckigen, dunklen Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert haltmachten, traute sie ihren Augen nicht. Es war dasselbe, das sie schon im Internet gesehen hatte. Hier musste es sich eindeutig um eine Verwechslung handeln. Sie suchte nach der Nummer 13, die klar lesbar neben einem schiefen, verrosteten Briefkasten hing.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. Thea hatte ein heruntergekommenes Cottage erwartet, keinen u-förmigen Palast mit zwei Flügeln und einem großen Garten dahinter. Sie standen vor dem perfekten Spukschloss. Das hier war kein Haus zum Wohnen, sondern eines, in dem man einen Gruselfilm drehen konnte. Wahrscheinlich hatte man die Addams Family als Architekten beauftragt.
Irritiert sah sie zu Hughing, der zustimmend nickte.
»Ich dachte, Sie wüssten, dass Nathan der Besitzer des alten Chamberling-Anwesens war. Die Chamberlings sind eine aristokratische Familie, die entfernt mit dem britischen Königshaus verwandt ist. Als es keine Nachfahren mehr gab, ging das Haus laut Testament des letzten Mitglieds in den Besitz unserer Kirche über. Ursprünglich sollte daraus ein Museum werden, doch ich fand es passender, es Ihrem Vater zu vermachen.«
»Was hat er gearbeitet, um sich das hier leisten zu können?«
»Ich habe es ihm aus Dankbarkeit für zwanzig Jahre in meinem Dienst geschenkt.«
Wieder zuckte es um Hughings Mundwinkel. Erst recht, als Theas Gesichtszüge komplett entgleisten.
»Und … was hat er gearbeitet, dass Sie ihm derart dankbar waren?«, hauchte sie verblüfft.
»Er war mein Totengräber.«
2. Kapitel
Myrna beendete vorzeitig ihre bescheidene Mahlzeit im ›Hills Inn‹, dem einzigen Pub am sagenumwobenen Pendle Hill, weil ihr der Appetit redlich vergangen war. Längst hatte sie die neugierigen Blicke der beiden Männer bemerkt, die hier schon zur Mittagszeit ein Ale nach dem anderen in sich hineinschütteten. Während sich ihre Wangen dunkler färbten, wurden ihre blutunterlaufenen Augen immer kleiner. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie Myrna förmlich von ihrem Platz aus ausgezogen hatten.
Sie ließ das belegte Brötchen in ihrer Hand sinken und starrte herausfordernd zurück. Selbst davon ließen sich die beiden Dorftrottel nicht beirren. Im Gegenteil, das lüsterne Grinsen wurde noch ein Stück breiter. Myrna unterbrach den Blickkontakt, um sie nicht zu bestätigen. Auf ein Gespräch mit zwei Betrunkenen hatte sie heute keine Lust.
Die Massenschlägerei vorige Nacht im Herzen Londons genügte ihr. Einen Hieb hatte Myrna selbst einstecken müssen. Ihre Seite schmerzte deshalb noch immer und trug nun einen großen violetten Fleck, der die Umrisse von Afrika hatte.
»Du bist nicht von hier, oder?«, lallte der Linke, ein bulliger Mann mit Elvis-Frisur. »Komm doch mal rüber. In Pendle gibt man einen aus, wenn man frisch anreist.«
»Ach, tut man das«, war das Einzige, was sie darauf antwortete, ohne sich umzudrehen.
Willkommen auf dem Land!, ärgerte sich Myrna im Stillen über die beiden, ließ sich ihre Wut aber nicht anmerken.
Stattdessen zeigte sie ihnen die kalte Schulter. Für einen echten Gefühlsausbruch war Myrna zu geschult. Sie hatte im Laufe ihrer Karriere bei der Polizei mehr als eine Hürde nehmen müssen, sich erfolgreich gegen Vorurteile und toxische Männlichkeit durchgesetzt und sich einen Namen auf dem Revier gemacht. Ihr wurde mehr Respekt entgegengebracht als so manchem Vorgesetzten. Der Name Evans war ein Begriff in der Hauptstadt. Zumindest bildete sie sich das ein. Dagegen sprach, dass sie gegen ihren Willen nach Lancashire versetzt worden war, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
Und nun? Wohin hat es dich verschlagen? In den tiefsten Norden, wo sonst niemand arbeiten wollte. Herzlichen Glückwunsch, Inspector. Reife Leistung, dachte sie.
»Darf es sonst noch was sein? Ein Bier vielleicht?«, fragte der Wirt namens Hank, der in einem verwaschenen Poloshirt vor ihr stand, und riss Myrna aus ihren Gedanken.
Auf den Etiketten der Flaschen prangte eine Hexe, die auf einem Besen ritt. Die Einheimischen wussten anscheinend, wie man die schaurige Vergangenheit dieser Gegend am besten für seine Zwecke ausnutzte.
Sie bestellte sich stattdessen einen Kurzen. Im Dienst war Myrna schließlich noch nicht, also genoss sie den Abend ihrer Ankunft ein wenig.
Geschäftig wischte er über den zerkratzten, schwarzen Tresen. Der Lappen, den Hank dafür benutzte, hatte schon bessere Tage gesehen. Waren das da nicht sogar Blutflecken? Myrna schüttelte diese grausige Vorstellung ab und zwang sich zu einem Lächeln. Ihre Arbeit vermischte sich gern mit ihrem Privatleben. Sie hatte immer schon viel zu viel davon mit nach Hause genommen. Vielleicht waren aus diesem Grund all ihre Beziehungen von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
»Ein Zimmer in diesem … in Pendle würde mir helfen. Kennen Sie jemanden, der welche vermietet?«
»Die alte Mrs Downing müsste noch eines übrig haben, wenn Sie sich nicht am Geruch von Knoblauch oder Fisch stören.«
Allein beim Gedanken daran wurde Myrna übel. Sie schob den Teller mit dem angefangenen Mittagessen von sich und fuhr durch ihre Haare. Myrna verscheuchte ihr schwammiges Gefühl im Magen mit dem viel zu starken Schnaps, den er ihr herüberschob.
»Sonst noch jemand? Ich bin mit dem Auto da. Es darf also gern im Nachbarort sein.«
»Nicht, dass ich wüsste.« Nun legte er seine breiten Unterarme auf die Theke und beugte sich verschwörerisch zu ihr. Sein Atem roch nach einer Mischung aus Zigarettenrauch und Pfefferminz. »Sie sehen mir nicht wie eine Frau aus, die mehr als eine Nacht an einem verfluchten Ort wie Pendle verbringt.«
»Wie sähe denn Ihrer Meinung nach so eine Frau aus? So wie auf Ihren Bierflaschen? Bucklig und mit dicken Warzen auf der spitzen Hakennase? Mir ist zu Ohren gekommen, dass es hier von Hexen gewimmelt haben soll. Aber wie wir alle wissen, entsprangen die Anschuldigungen der Fantasie eines jungen Mädchens, das unter Druck gesetzt worden ist und dadurch ihre gesamte Familie in den Abgrund gerissen hat«, erwiderte sie lächelnd. Hanks Augen weiteten sich minimal. »Sie merken, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Im Internet kann man einiges über die Hexenprozesse von Pendle 1612 nachlesen. Schließlich waren sie das Vorbild für die berühmten Verfahren in Salem.« Sie machte eine kurze Pause, um ihren Worten Bedeutung zu verleihen. »Wenn alles gut läuft, werde ich auch nicht lange bleiben.« Sie setzte eine entschuldigende Miene auf.
»Schade, ich könnte mich an Sie gewöhnen«, antwortete er zu Myrnas Überraschung.
Zum ersten Mal sah sie ihm direkt in die treuen braunen Augen, die perfekt zu seiner brünetten Kurzhaarfrisur passten. Sein Lächeln war schief und ehrlich, sein Hundeblick herzzerreißend. Sie hatte ihn beim Eintreten älter geschätzt, als er war. Myrna erwiderte das Lächeln. Zum Glück besaß sie das Talent, nicht zu erröten, wenn sie verlegen war. Dieser smarte Hüne mit dem kantigen Kinn, auf dem ein modischer Anchor-Bart wuchs, hätte einmal genau in ihr Beuteschema gepasst. Allerdings war sie weder auf der Suche nach einer neuen Beziehung noch würde sie lange in Pendle bleiben. Mehr als eine aufregende Nacht würde für Myrna ohnehin nicht herausspringen. Außerdem wusste sie nichts über Hank und er nichts über sie und die dunklen Schatten, die ihr auf Schritt und Tritt folgten.
»Hey, mein Freund hat dich um was gebeten!«, rief der zweite Betrunkene und schob seinen Stuhl so heftig zurück, dass er umfiel und unbeachtet liegen blieb. »Niemand behandelt uns schlecht, verstanden?«
Hank füllte zwei Schnapsgläser mit einer farblosen Flüssigkeit.
»Benehmt euch gefälligst vor unserem Gast. Wo sind denn eure Manieren geblieben, Jungs? Willst du die Dame gleich wieder vergraulen, Nate? Und was ist mit dir, Brian? Zieh erst mal bei deiner Mutter aus, ehe du die Klappe aufreißt. Kommt her und holt euch euren Drink, aber lasst sie in Frieden. Ihr kennt die Regeln in meinem Lokal.«
Statt sein Friedensangebot anzunehmen, packte einer der Männer Myrna an der Schulter und drehte sie grob zu sich um. Ihr Barhocker wackelte gefährlich. Nicht minder unheilvoll war der Blick, den sie dem Möchtegern-Elvis schenkte. Sein Freund, ein Kerl mit strähnigem, aschblondem Haar und Boxernase, ließ die Muskeln spielen und ballte die Fäuste.
Sie glaubten wohl, die zierlichere Myrna einschüchtern zu können. Sie unterdrückte ihr Lachen lieber, weil sich die beiden sonst noch mehr aufgeregt hätten. Als Hank heldenhaft eingreifen wollte, machte ihm Myrna deutlich, hinter dem Tresen zu bleiben.
Ich regle das, sagte sie ihm mit einem entschlossenen Blick.
Sie wandte sich zu den Störenfrieden um und sondierte die Lage. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Schwachstellen ausgemacht hatte. Sowohl Bauch-, Hals- als auch Intimbereich waren ungeschützt. Zudem waren die beiden betrunken. Leider tat ihr die Seite noch immer höllisch weh und hinderte sie daran, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.
Verfluchte Hooligans, dachte sie wütend und biss die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen.
»Ihr solltet besser wissen, wann ihr zu weit geht. Wir können alle gesund und munter aus diesem Pub verschwinden. Oder ihr beide geht mit gebrochenen Nasen und höllischen Schmerzen an einer Stelle, die euch sicher sehr wichtig ist, nach Hause. Ich lasse euch die Wahl.«
Sie sahen sich verdutzt an. Wahrscheinlich kannten sie keine toughen Frauen hier in Pendle – oder überhaupt eine Frau bis auf besagte Mutter.
»He, Brian, dieses Weibsbild tanzt uns ganz schön auf der Nase herum. Lass uns ihr ein paar Manieren beibringen.«
Als Nate sich zu einem Angriff hinreißen ließ, parierte Myrna seinen Schlag gekonnt und boxte ihm gleichzeitig in die Magengrube. Er keuchte auf und krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Danach landete ein Hieb am Kehlkopf seines Freundes, der Anstalten machte, Nates Platz einzunehmen. Beide lagen letzten Endes am Boden und röchelten. Das Ganze hatte keine Minute gedauert.
Myrna stellte in aller Ruhe die umgeworfenen Barhocker an ihren ursprünglichen Platz und sorgte für Ordnung im Schankraum.
»Auf gebrochene Nasen habe ich verzichtet. Macht sonst nur unschöne Flecken auf Ihrem Holzboden«, erklärte sie dem erstaunten Hank, dessen Kinnlade herabgefallen war.
Wie in Trance schob er ihr die Drinks zu, die für seine Bekannten gedacht gewesen waren. »Die haben Sie sich redlich verdient«, sagte er begeistert und erwiderte ihr amüsiertes Grinsen. »Ich wiederhole mich wahrscheinlich, aber: Wollen Sie nicht noch eine Weile bleiben? An jemanden wie Sie könnte ich mich gewöhnen. Chapeau!« Er deutete eine Verbeugung an.
Ein Stöhnen drang zu ihnen herauf, als Brian sich wieder bewegte. Nate hingegen machte ein Nickerchen. Ob er sich später noch an alles erinnerte oder sich über den Schmerz in seiner Magengrube wunderte, würde sie wohl nicht erfahren.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Hank und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich.
Er kümmerte sich kaum um die Männer am Boden. Für ihn schienen sie zum Alltag zu gehören.
Myrna überlegte, das ›Hills Inn‹ einfach zu verlassen, aber sie hatte einen Narren an diesem Mann und seinen braunen Augen gefressen, denen sie sich einfach nicht entziehen konnte.
Sie trank beide Gläser in je einem Zug leer und sagte: »Meine Freunde nennen mich Evans.«
Myrna tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an die Schläfe und verließ Hanks Lokal mit seinem Blick im Rücken.
***
»Können Sie das genauer erklären? Mein Vater war Ihr Totengräber, also ein Angestellter auf dem Friedhof? Wie kam er zu so einem ungewöhnlichen Beruf? Und wieso bezahlte die Kirche ihn? Ich dachte, das machen die Verwandten der Verstorbenen.«
Fragen über Fragen schossen Thea durch den Kopf, in dem die Gedanken einfach nicht mehr stillstehen wollten.
»In Pendle hat man sich darauf geeinigt, die Pflege und das Ausheben der Gräber sowie die Vorbereitung der Beerdigungen ganz der Kirche zu überlassen. Die Menschen spenden uns Geld, das wir neben dem Ausbau und der Erhaltung des Gebäudes auch dafür nutzen. Das Begräbnis selbst müssen sie allerdings eigenhändig organisieren. Ihr Vater stand somit im Dienste aller, könnte man sagen.«
»Laut meiner Mutter hat er als Börsenmakler gearbeitet und in einem Büro am Computer gesessen. Ich kenne ihn wohl noch weniger, als ich dachte.« Es sprudelte nur so aus Thea. Ihr Herz schlug ungesunde Purzelbäume, während sie sich mit Reverend Hughing unterhielt. »Wer war Nathan Shaw wirklich?« Sie wandte sich an den Pfarrer, der schweigend dastand und keine Miene verzog. Stattdessen hörte er ihr immer bis zum Ende zu.
Allgemein schien er ein äußerst besonnener und geduldiger Mensch zu sein. Jemand, der seinen Beruf definitiv nicht verfehlt hatte, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater.
Was zum Teufel hatte er auf einem Friedhof zu suchen gehabt? So langsam türmten sich die Fragezeichen auf, aber für heute war es genug, befand Thea, deren Gehirn förmlich rauchte.
»Ich kannte Nathan als einen Mann des Wortes«, erzählte Hughing schließlich. »Er stand für das ein, was er sagte und versprach. Von seiner Vergangenheit weiß ich nichts und kann sie deshalb auch nicht beurteilen. Ich würde Ihnen aber raten, sich einmal ganz in Ruhe auf seinem Grundstück umzusehen. Soweit ich weiß, wurde daran nichts verändert. Ihr Vater hat verfügt, dass nur Sie allein über Haus und Garten walten dürfen. Die Möbel sind mit Tüchern überspannt worden, damit sie nicht einstauben. Es sollte also noch alles dort sein, wo es war.«
»Woher wissen Sie all das von ihm?«, fragte sie verwundert nach und runzelte die Stirn. »Sie sprechen von meinem Vater, als wäre er ein enger Freund gewesen.«
»Er hat es mir erzählt, weil er sichergehen wollte, dass man seine Wünsche berücksichtigt und ihn nicht übergeht«, antwortete Hughing und lächelte versöhnlich. Dann warf er einen Blick auf die Kirchturmuhr. »Ich muss nun die Glocke läuten. Wenn ich mich verspäte, gibt es wieder Ärger mit Miss Miller. Sie achtet penibel auf die Einhaltung der Regeln in Pendle. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Alethea, und würde es begrüßen, Sie vielleicht eines Tages doch in meiner Messe zu sehen.«
Als er bereits auf dem Rückweg war, wollte Thea ihn zurückrufen. Ihr lagen noch so viele Fragen auf der Zunge. Sie wurde jedoch von einem hageren Anzugträger mit Aktentasche und Nickelbrille abgelenkt, der sich als der Immobilienmakler Mr Benning vorstellte. Als sie erneut zurücksah, war der Pfarrer bereits hinter einer Mauer verschwunden.
Es wurde Zeit, dass sie ihre Gedanken an Nathan Shaw beiseiteschob. Dennoch hatte Hughing wenigstens eine Sache mit seinen Worten erreicht: Thea war nun unfassbar neugierig auf das alte Herrenhaus mit der unheimlichen Fassade und überlegte bereits, wo sie mit der Renovierung starten würde.
Was denkst du dir nur?, schalt sie sich selbst. Du verkaufst diesen alten Kasten schnellstmöglich und ziehst mit dem Geld in eine schicke Londoner Wohnung. Nicht vom Plan abweichen, nur weil ein alter Mann dir ein paar seltsame Geschichten von deinem Vater erzählt hat. Hier auf dem Land mag er ein Held gewesen sein, in der Stadt war er alles andere als das.
»Können wir?«, fragte der Makler zeitgleich mit einem tosenden Glockenschlag, der Theas Brustkorb vibrieren ließ, und bedeutete ihr, voranzugehen.
Es folgten vier weitere.
Er streckte Thea den Schlüssel hin, damit sie selbst die Führung übernahm. Als sie danach griff, war das Metall warm. Auf seltsame Weise fühlte es sich vertraut an, diesen Schlüssel in Händen zu halten.
Kaum hatte sie die ersten paar Zimmer gesehen, breitete sich die Wärme auch in ihr aus. Thea konnte den Kamin beinahe schon knistern und die Bücher zu ihr flüstern hören, als hätte das Haus ein Eigenleben. Sie fühlte sich mehr als wohl, wo andere Reißaus genommen hätten. Schließlich war das Anwesen zu groß für eine einzelne Person und schaurig obendrein. Es bedurfte viel Arbeit, um daraus wieder das Paradies zu machen, das es einmal gewesen war.
»Das Haus stammt aus dem Jahr 1677 und gehörte der landesweit bekannten, britischen Familie Chamberling«, erzählte Benning ihr. »Ihr Vater übernahm es von der Kirche, um es zu renovieren, wurde damit aber nie fertig. Es hat zwölf Zimmer, darunter Salon, Studierzimmer und Bibliothek. Im Laufe der Jahre wurde es mehrfach erweitert und verändert und diente im Krieg als wichtige Spionageeinrichtung. Haben Sie bis hierher Fragen?«
»Sie wollen mir weismachen, dass ich ein Haus mit zwölf Zimmern geerbt habe, das von Spionen und Adeligen bewohnt wurde? Und all das ohne Hintergedanken?«
Er schürzte die Lippen und sah sich seine Unterlagen an. »Es gibt weder Klauseln noch Voraussetzungen, die Ihr Vater festgelegt hat. Ja, Sie haben das gesamte Grundstück mit allem, was darauf steht, geerbt, als Nathan Shaw verstarb. Es gehörte offiziell ihm und nun Ihnen.«
»Was hat er noch darüber erzählt? Er hat doch mit Ihnen über das Haus gesprochen, bevor er sein Testament aufsetzte?«, fragte sie misstrauisch.
Thea glaubte noch immer nicht daran, einen riesigen Landsitz geschenkt zu bekommen. Sie suchte nach einem Haken an dieser Sache.
»Alles, was Sie wissen müssen, finden Sie in der Bibliothek des Anwesens. Dort steht die gesamte Geschichte der Chamberlings. Sie können aber genauso gut unser bescheidenes Stadtarchiv aufsuchen. Die Mitarbeiter dort helfen Ihnen sicher gern weiter.«
Nathan hatte also nicht mit jedem so viel über sein Haus gesprochen. Thea war inzwischen deutlich interessierter. Sie streifte durch das Studierzimmer und folgte dem Weg bis zu einer zweigeschossigen Bibliothek, in der es nach alten Büchern roch. Ein paar Leitern erleichterten es, Bände aus den oberen Reihen herauszusuchen. Verträumt fuhr sie über die zahlreichen verzierten Buchrücken. Sie hinterließ feine Linien im Staub.
Zu euch ist man nicht so nett gewesen wie zu den antiken Möbeln, dachte sie niedergeschlagen.
Thea liebte Bücher, in denen sie über Stunden versank. Durch sie konnte sie sich erden und zur Ruhe kommen.
Als sie ein besonders hübsches Exemplar entdeckte, zog sie es kurzerhand heraus, um darin zu blättern. Sie war bei der Auswahl ihrem Instinkt gefolgt.
Plötzlich hörte Thea ein Schaben. Verwundert drehte sie sich zu ihrem Begleiter, doch auch der zuckte bloß mit den Schultern. Sie folgte dem unheimlichen Geräusch bis zu einer hölzernen Pforte, die von Spinnweben überspannt war.
»Hat sich dieses Regal gerade nach rechts bewegt? Die Tür war vorher noch nicht zu sehen gewesen, oder?«, fragte sie sicherheitshalber, weil sie nicht wusste, ob sie sich die Veränderung im Raum einbildete.
»Ähm … also … Ehrlich gesagt, steht davon nichts im Bauplan«, antwortete Benning verblüfft und sah hektisch seine Unterlagen durch. »Ihr Vater muss diesen Zugang ohne das Wissen der Stadt gelegt haben. Es war schließlich sein Haus. Mr Shaw konnte damit verfahren, wie er wollte.«
Theas Bauchgefühl übernahm von ganz allein das Steuer. »Ich behalte es«, sagte sie, ehe sie sich’s versah.
Der Makler blickte wieder auf. »Sie haben sich also umentschieden? Am Telefon sagten Sie, dass Sie es am liebsten nicht einmal besichtigen würden. Ich habe bereits ein paar Interessenten bei der Hand.«
Sie drehte sich zu ihm. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. »Ich habe nicht das Haus gewählt, sondern das Haus mich. Das ist ein entscheidender Unterschied. Ich mache aus diesem heruntergekommenen Landsitz eine Perle, von der jeder in ganz Lancashire sprechen wird.« Thea erträumte sich bereits ihre Zukunft in dem alten Herrenhaus.
»Wie Sie meinen. Dann setze ich den Übernahmevertrag auf. Geben Sie mir zwei bis drei Tage für die Bürokratie.«
»Wie bezahle ich Sie? Nun erhalten Sie gar keine Provision«, sagte sie eilig, doch ihr Gegenüber winkte entspannt ab.
»Ihr Vater hat alles im Vorfeld geregelt und mich großzügig entlohnt. Sie als seine Tochter sollten auf keinen Kosten sitzen bleiben.«
»Er hat also gewusst, dass ich hierbleibe?«
»Nathan Shaw war für seine gute Menschenkenntnis bekannt. Das wird Ihnen jeder in Pendle bestätigen. Es gibt kaum jemanden, der ihn nicht kannte.«
Bürgermeister Birming ist schon einer davon. Sie behielt den Gedanken für sich.
Weiter führte er seine Antwort nicht aus. Er lächelte geheimnisvoll und legte ihr das vom Notar beglaubigte Testament vor, damit sie es sich durchlas. Danach nahm sie offiziell ihr Erbe mit ihrer geschwungenen Unterschrift an. Benning überließ Thea den großen Hausschlüssel und versprach, die Schlösser demnächst gegen modernere wechseln zu lassen. Noch so eine heimliche Übereinkunft mit ihrem alten Herrn. Um alles Weitere würde sie sich selbst kümmern müssen.
Als er fort war, fiel ihre Vorfreude auf ein Abenteuer wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Thea hatte nicht bedacht, dass sie die Renovierung natürlich nur mit einer Menge Geld bewerkstelligen konnte. Da sie das Haus nun doch nicht verkaufte, blieb ihr nichts außer löchrigen Dielen, abgewetzten Tapeten und undichten Fensterläden.
Sie trat in den Garten, der verwildert und unbegehbar war. Falls ihr Vater etwas an dem Haus verändert hatte, dann sah man es auf den ersten Blick nicht. Er hatte sich anscheinend mehr auf den Ausbau geheimer Gänge konzentriert als auf hübsche Fassaden und Gemüsebeete.
»Was hattest du wirklich damit vor, Dad?«, fragte sie in die Stille des anbrechenden Abends.
Ein Knacken im Gebüsch war die Antwort darauf. Thea erschrak und wendete den Kopf, konnte aber niemanden sehen. Wahrscheinlich streifte ein Tier durchs Dickicht.
Ein Windzug ließ sie frösteln. Sie schlang die Arme um ihren Körper und ging zurück ins Haus.
***
Alethea Shaw hatte also tatsächlich das alte Chamberling-Haus übernommen.
Vorsichtig zog sich Jolene zurück. Als sie auf einen Ast trat, hielt sie inne und wartete ab, ob sie jemand an der Schulter packte und zurückriss, doch nichts dergleichen geschah. Sie hielt den Atem an, bis die kleine Shaw im Haus verschwunden war. Erst danach wagte es Jolene, aus dem Garten zu flüchten.
Sie ärgerte sich maßlos, dass ihr dieses Gör das Anwesen vor der Nase weggeschnappt hatte. Wäre es zu einem Verkauf gekommen, hätte Jolene als Erste auf ihrer Fußmatte gestanden. Darauf hatte sie Jahre gewartet und hingearbeitet, doch nun war all ihre Mühe vertan. Wieso hatte der Pfarrer auch ausgerechnet Aletheas Vater das Grundstück vermachen müssen? Nathan Shaw war zeit seines Lebens viel zu naiv gewesen, um zu begreifen, was er dort bewohnte und welche Geheimnisse hinter den Mauern des Chamberling-Hauses schlummerten.
Und nun wütete eine junge Frau mit Ringen in Nase und Ohren darin, die Jolene gerade noch gefehlt hatte. Sie hatte geahnt, dass Miss Shaw ihr Ärger einbrachte, kaum dass sie sie das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte. Nicht einmal vernünftig grüßen konnte diese hochnäsige Städterin, die sich wahrscheinlich für etwas Besseres hielt als die Menschen in Pendle!
Schnaubend stützte sich Jolene auf ihren Gehstock und humpelte nach Hause, um sich einen neuen Schlachtplan auszudenken, wie sie doch noch an das Chamberling-Anwesen herankam.
Ihre Gedanken wurden von einer Blondine unterbrochen, die offenbar vor ihrem Haus auf sie gewartet hatte. Sie trug einen dieser modernen Pixie-Haarschnitte, die Jolene für Teufelswerk hielt. Wieso wollten Frauen unbedingt wie Männer aussehen? Auch Lucretia war nicht davon abzubringen gewesen.
»Guten Abend, mein Name ist Myrna Evans. Ich suche ein Zimmer, und man sagte mir, dass ich bei Ihnen fündig werde. Sie sind doch Mrs Downing?«
Sie streckte ihr die Hand entgegen, die Jolene, statt sie zu ergreifen, nur misstrauisch musterte. An ihrem Finger steckte kein Ring.
Die kam Jolene gerade recht! Sie brauchte Gäste für ihre paar Zimmer, die sie vermietete. Es reisten nicht mehr so viele Leute nach Pendle, seit es diese Umfrage zu den gruseligsten und unbewohnbarsten Orten von Großbritannien gegeben hatte. Man traf kaum noch auf Touristen, bis auf durchgeknallte Geisterjäger und Verschwörungstheoretiker, auf die Jolene gern verzichtet hätte.
»Da der Name auf dem Klingelschild steht, werde ich es wohl sein«, erwiderte sie brüsk. »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. So sind sie, die jungen Leute. Können nichts weiter, als aufs Handy zu starren und blind durch die Welt zu laufen.«
Die andere zuckte weder zusammen noch verlor sie das Lächeln, das auf ihren Lippen lag. Eines musste Jolene der Kurzhaarigen lassen: Sie hatte mehr Biss als die meisten Männer in Pendle.
3. Kapitel
Thea versuchte ein paarmal, das alte Telefon auf dem breiten Eichentisch im Studierzimmer zu aktivieren, hörte aber nur ein Tuten, wenn sie den Hörer von der Gabel nahm. Sicher war der Anschluss abgestellt worden, als ihr Vater verstorben war.
Seufzend lehnte sie sich zurück und ging noch einmal die krakelige Liste in ihrer Hand durch. Sie hatte ein paar Stunden damit totgeschlagen, einen Schlachtplan zu erstellen. Thea musste sich entscheiden, was davon die höchste Priorität hatte und was sie eher nach hinten verschieben konnte.
Sie hatte sich eine Decke aus dem Salon über die Schultern geworfen, weil der Wind durch das düstere Herrenhaus jagte und sie frösteln ließ. Manchmal hörte er sich wie das Säuseln und Jammern eines verletzten Tieres an, dann wieder wie das Weinen eines Menschen. Geisterjäger kämen in diesem maroden Gemäuer sicher auf ihre Kosten.
Draußen war es mittlerweile stockdunkel. Für gewöhnlich gruselte sie sich nicht, aber dieser einsame Ort schaffte es wahrlich, Thea ein mulmiges Gefühl zu verleihen.
Kurzerhand schnappte sie sich ihren Laptop und legte ihn auf die zum Schneidersitz gekreuzten Beine. Genervt ließ sie den Kopf nach hinten an die Lehne fallen, als sie sich daran erinnerte, dass sie nicht überall Empfang hatte.
Sie begab sich auf die Suche nach einer aufrechten Verbindung und streifte dafür einmal durchs Haus. Schließlich wollte sie heute noch auf die Kommentare ihrer Follower antworten.
An einem Fenster in der Bibliothek konnte sie sich endlich ins Internet einwählen. Das war der passende Ort, um sich einen Lese- und Arbeitsplatz einzurichten. Von Anfang an hatte Thea einen Narren an den historischen Buchreihen und den Leitern gefressen.
Die Seiten bauten sich nur langsam auf, aber besser als nichts. Währenddessen suchte Thea in der Küche nach einem Wasserkocher, fand aber nur verbeulte Töpfe und Pfannen in den Schränken. Kurzerhand erhitzte sie das Wasser auf dem Herd. Sie war überrascht, als sie neben einer Tasse auch eine Packung ihres Lieblingstees aufspürte. Ihr Vater hatte Earl Grey also genauso gern getrunken wie sie. Leider musste sie auf den Schuss Milch verzichten, den sie sonst hineintat, da sie noch nicht zum Einkaufen gekommen war. Thea aß vorerst ihren Proviant und wollte sich morgen früh um alles Weitere kümmern.
Eines war jedoch gewiss: Sie musste sich schnellstmöglich eine Arbeit suchen, um ihr Leben in diesem Haus zu finanzieren. Auch wenn das Anwesen abbezahlt war und ihr gehörte, so war der Kühlschrank doch noch immer leer.
Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf lockte sie bereits zum dritten Mal zurück in die Bibliothek. Doch statt sich an den Laptop zu setzen, wie sie es ursprünglich geplant hatte, stellte sie sich mit ihrem dampfenden Becher vor die geheime Tür und starrte das alte, abgewetzte Holz angespannt an. Es juckte ihr in den Fingern, sie zu öffnen, aber ihr Verstand schaltete sich jedes Mal ein, wenn sie einen Schritt darauf zuging. Sie konnte fast schon das lang gezogene Quietschen der ungeölten Scharniere hören, das in den Ohren schmerzte.
Ich kann doch nicht einfach völlig allein irgendeinen Geheimgang betreten, dachte sie und schüttelte die Neugier schnell wieder ab. Was, wenn sich das Regal verschiebt, sobald ich hineingehe? Niemand würde mich jemals finden, hören oder überhaupt nach mir suchen.
Sicher machte sie sich selbst verrückt mit ihren vielen schaurigen Kriminalfällen, an denen ihr Herz hing. Manchmal träumte sie nachts sogar von ihnen oder war Teil der Szenarien. Dennoch siegte auch jetzt die Vernunft.
Sie überflog stattdessen eine Weile die neuen Kommentare unter ihrem letzten Beitrag zum Unglück am Djatlow-Pass. Theas Blog beschäftigte sich mit ungeklärten Fällen aus der Welt der Kriminalistik. Auch heute wurde darauf wieder heiß diskutiert und spekuliert.
›Wookieeboy‹, den Thea heimlich den ›UFO-Spinner‹ getauft hatte, weil er bei jedem erdenklichen Fall direkt an Außerirdische dachte, hatte sich gemeldet:
Es waren Aliens, die ein Menschenexperiment durchgeführt haben!
Die etwas kritischere ›Peach92‹ sprach klar dagegen:
Wahrscheinlich haben sie die beste Drogenparty ihres Lebens gefeiert und es übertrieben. Wer rennt sonst bei Minusgraden halb nackt in den Schnee raus?
Ob sich dahinter wirklich das jeweils vermutete Geschlecht verbarg, wusste Thea nicht. Jeder blieb anonym hinter seinem Avatar verborgen.
Gemeinsam versuchten sie für gewöhnlich, Täter zu ermitteln und Komplizen zu entlarven. Natürlich ohne wirklichen Erfolg, aber es machte Spaß, sich mit anderen Interessierten über den Zodiac-Killer, Jack the Ripper, Lizzie Borden oder die Morde auf dem deutschen Hinterkaifeck-Hof auszutauschen. Manchmal fanden sie sogar Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen.
Thea äußerte sich zu allen Vermutungen, hinterfragte und nutzte neue Informationen aus dem Netz, um Hinweise zu streuen und Möglichkeiten für eine Diskussion zu eröffnen.
Ein paar Verschwörungstheorien sorgten immer für Schmunzeln, aber auf ›Theas Krimiblog‹, wie sie die Seite vor drei Jahren getauft hatte, durfte jeder zu Wort kommen und seinen Senf dazugeben, der wollte. Sie ging auf jede noch so beleidigende Nachricht ein. Thea nahm auch online kein Blatt vor den Mund und feuerte, falls nötig, zurück. Doch meistens blieb es ein harmonisches Miteinander. Die wenigen Stunden vor dem Laptop waren Theas Form von Entspannung und Reißaus vom tristen Alltag.
Sie verfasste einen neuen Blogeintrag passend zum Thema, da sie sich erst kürzlich auf ihrer Zugfahrt in eine alternative Sichtweise zu den mysteriösen Todesfällen am Djatlow-Pass eingelesen hatte. Es würde wohl nie ganz aufgeklärt werden, was den Studenten damals zugestoßen ist. Je schauriger ein Fall war, desto mehr entfesselte er Theas Neugier. Eine Bekannte hatte sie einmal als krank und gestört bezeichnet, was Thea als Kompliment aufgefasst hatte. Besser gestört als dröge, sagte sie sich für gewöhnlich.
Sie streifte danach weiter durch das Haus, von Etage zu Etage, Zimmer zu Zimmer und Flügel zu Flügel. Spinnweben und Mäusekot zeugten davon, dass sich Nathan Shaw kaum um sein Eigenheim gekümmert hatte. Diese Geschichte wurde immer rätselhafter für Thea. Sie konnte beim Anblick der schmutzigen Ecken und milchigen Fensterscheiben bloß den Kopf schütteln.
»Was hattest du damit vor? Und wieso soll ausgerechnet ich es haben?«, fragte sie in die Stille, die sich mit jedem Schritt über die knarrenden Dielen erdrückender anfühlte.
Als ihr Blick durch das speckige Glas nach draußen auf den Friedhof fiel, hatte Thea einen Geistesblitz. Sie wusste endlich, wie sie an Geld kam.
***
Thea plünderte am folgenden Morgen ihr Bankkonto für ein leckeres Frühstück im ›Café Healy‹ und ein paar Einkäufe danach. Wenigstens die Inhaberin, die persönlich hinter dem Tresen stand, zeigte sich begeistert von ihr, weil sie neu in Pendle war, und schenkte ihr ein Brötchen extra. Es war alt und pappig und wahrscheinlich vom Vortag, aber der Wille war immerhin da gewesen.
Danach besorgte sie sich Werkzeug, Nägel, Schrauben sowie erste Dielenbretter, um nicht durch irgendein Loch im Boden bis in den Keller zu fallen. Auch ein paar neue Fensterdichtungen durften nicht fehlen, um die Zugluft zu stoppen und das Haus nicht dem Schimmel zu überlassen. Sie würde dafür sorgen, dass die Wärme aus dem Kamin erhalten und jedes Zimmer trocken blieb. Zum Glück funktionierten Herd, Kühlschrank und Lampen. Auch das Badezimmer hatte einen ordentlichen Eindruck auf sie gemacht. Leider war Thea von eiskaltem Wasser überrascht worden, während sie unter dem Strahl gestanden hatte, um sich zu entspannen. Die Leitungen waren sicher allesamt veraltet. Nun war sie hellwach, gesättigt und bereit für die Arbeit in ihrem neuen Haus.
Auf dem Rückweg vom Baumarkt fielen ihr erneut die beiden alten Frauen auf, von denen sich die mit dem grauen Dutt und dem Gehstock sogleich bekreuzigte.
»Guten Morgen!«, rief sie freundlich herüber, doch eine Antwort blieb aus. »Was habe ich Ihnen eigentlich getan?« Sie legte eine Pause ein, da die Dielenbretter schwer und unhandlich waren. Unter deren Last keuchte sie leise. »Möchten Sie sich mir nicht wenigstens vorstellen? Mein Name ist Alethea Shaw, und ich beiße nicht!«
»So weit kommt es noch!«, giftete die Dame mit dem rot gefärbten Kurzhaarschnitt und reckte trotzig das Kinn. »Mit Hexen reden wir nicht!«
»Schon einmal in den Spiegel geschaut?« Thea verdrehte die Augen. »Ich habe sowieso Besseres zu tun!«
»Das glauben wir gern, nachdem du dir das beste Haus in der Gegend geschnappt hast, ohne je dazugehört zu haben! Das Chamberling-Anwesen gehört der Gemeinde und nicht einer dahergelaufenen Großstadtgöre!«, keifte nun die Frau mit dem Gehstock und erhielt Beifall ihrer Busenfreundin.
»Dann sollten Sie sich besser noch einmal mit der Erbfolge beschäftigen! Aber wissen Sie was? Ich will sowieso nichts mit Ihnen zu tun haben, also ist es mir recht, wenn Sie mich nicht mehr ansprechen!« Thea hatte sich richtig in Rage geredet. Sollten diese alten Schabracken ruhig wissen, dass sie bei ihr an der falschen Adresse waren. Solche Menschen brauchte Thea in ihrem Leben nicht. Sie brauchte niemanden.
»Komm, Lucretia. Ich habe Brian gesagt, er soll uns Kaffee aufsetzen«, hörte sie die Grauhaarige noch sagen, bevor die beiden mit hocherhobenen Nasen davongingen, als wären sie die Königinnen dieser Ortschaft.
Thea wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Das alles war so verrückt! Sie hätte sich vor einem Tag noch nicht einmal vorstellen können, aus London wegzuziehen und ausgerechnet in Pendle ein neues Leben zu beginnen. Doch ihr erster Versuch, sich mit den Einwohnern gut zu stellen, war bereits verlorene Mühe gewesen. Sicher redeten sie hinter ihrem Rücken schlecht über die Neue und verteufelten sie als Hexe, die für Missernten und Krankheiten sorgt.
Thea lachte bei diesem absurden Gedanken, aber auf dem Land musste sie mit allem rechnen – auch, auf einem Scheiterhaufen zu landen oder mit Steinen beworfen zu werden.
Nach einer halben Stunde ohne weiteren Zwischenfall kam sie wieder nach Hause. Ein Mann in grauer Latzhose wartete am Zaun. Sie schätzte ihn auf Anfang dreißig. Der Wind hatte aufgefrischt und wehte ihm die langen schwarzen Haare in die Stirn. Er band sie sich zu einem Zopf und machte sofort einen verwegenen Eindruck auf sie. Dazu passten seine vielen Tätowierungen auf den trainierten Oberarmen, die keltische Symbole und nordische Runen zeigten. Sie wunderte sich über seinen sommerlichen Aufzug, denn immerhin hatte es letzte Nacht noch Bodenfrost gegeben. Seltsamerweise wurde Thea immer wärmer, je länger sie ihn betrachtete. Ein Werkzeugkoffer stand neben ihm und sorgte für noch mehr Neugier bei ihr.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sprach sie den Besucher schließlich an.
Sein Blick huschte zu ihr herüber und fokussierte sie. Die eisblauen Augen hypnotisierten Thea.
»Sind Sie Mrs Shaw?«
»Miss Shaw. Ja, die bin ich.« Sie stellte die schweren Bretter zur Seite.
»Ich komme, um Ihre Schlösser zu wechseln.«
Thea erinnerte sich an die Worte des Maklers. Dass es so schnell gehen würde, hätte sie allerdings nicht vermutet. Umso besser.
»Natürlich. Kommen Sie bitte herein.«
»Man sagte mir, dass es vier Türen sind plus eine Kellerpforte auf der Rückseite des Hauses?«
Dieser Mann kannte sich anscheinend besser im Chamberling-Anwesen aus als sie. Thea nickte, obwohl sie sich nicht sicher war, ließ ihn in Ruhe arbeiten und kümmerte sich derweil um andere handwerkliche Angelegenheiten.
Nach zwanzig Minuten gab sie ihre Versuche auf, die Dichtungen der Fenster im Erdgeschoss auszuwechseln. Ihre Talente lagen eindeutig woanders.
»Ich lege eine kurze Pause ein und mache dann hinten weiter. Die Haustür sowie die Tür zum Garten sind bereits fertig«, hörte sie die markante Stimme des Schlossers hinter sich. Er legte ihr zwei identische Schlüssel in die offene Hand. »Und Sie wollen wirklich hier in Pendle bleiben?«
Seine blauen Augen durchdrangen Theas Barriere erneut. Dieser Mann hatte das Talent, ihr bis auf die Seele zu blicken. Sogar noch etwas mehr als Reverend Hughing.
»Wieso nicht? Immerhin hat mir mein Vater ein Haus vermacht. Das kann nicht jeder von sich behaupten. Aber ich habe mich wohl etwas übernommen damit. Ich weiß nicht einmal, wie ich diese Dichtungen in die Fenster bekomme. Wahrscheinlich werde ich später heulend zusammenbrechen und im Winter dann frieren. Selbst schuld.«
Sein Schmunzeln erwischte sie eiskalt. Theas Herz hüpfte kurz, obwohl sie sich nicht erklären konnte, weshalb. Männer hatten sie bislang noch nie aus der Fassung gebracht. Sie mochte diesen einfachen, bodenständigen Handwerker – mehr nicht.
»Lassen Sie mal sehen.« Er nahm ihr das Dichtmaterial aus der Hand und sah sich das entsprechende Fenster an. Dann gab er es ihr zurück. »Sie haben sich im Profil geirrt. So kann das gar nicht funktionieren. Am besten nehmen Sie das nächste Mal eine alte Probe mit, wenn Sie in den Baumarkt gehen.«
Thea seufzte. Sie kam sich lächerlich vor. So tough sie sich sonst gab, so hilflos musste sie in diesem Augenblick wirken.
»Danke für den Tipp. Ich würde mir ja gern ein paar YouTube-Videos dazu ansehen, um mich weiterzubilden, aber es ist nahezu unmöglich, meinen Blog zu betreiben. Bei Videos würde die Verbindung sicher ganz ihren Geist aufgeben. Das bringt also nichts. Haben Sie selbst denn schnelles Internet?«
Er nickte und lächelte wissend. »Sie sollten sich dafür einmal mit Callan Healy zusammensetzen. Aber pssst.« Er legte verschwörerisch einen Finger an die Lippen. »Das haben Sie nicht von mir.«
»Wieso? Ist dieser Callan ein Geheimagent oder so etwas?« Thea konnte sich schwer vorstellen, dass 007 freiwillig in einem Borough wie Pendle dahinvegetierte und sich mit Hexenanbetern oder Wanderrouten beschäftigte.
»Schlimmer als das, aber das merken Sie, wenn Sie ihn treffen. Er ist definitiv nicht nur der Sohn einer netten Nachbarin, sondern hat auch einiges auf dem Kasten«, erwiderte er lachend. »Ich bin übrigens Oakley A. Miller.«
Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sich ungemein angenehm und weich anfühlte. Seltsamerweise konnte sie keine Schwielen spüren, die sie bei einem Handwerker erwartet hätte. Seine Berührung jagte Thea einen Schauer über den Rücken. Sie schrieb es ihrer allgemeinen Aufregung zu, seltsam auf Oakley zu reagieren.
»A. Miller wie Arthur Miller, der Schriftsteller?«, fragte sie nach.
»Andrew, nach meinem Großvater.«
»Alethea Shaw, aber Sie dürfen Thea zu mir sagen.«
»Es ist mir eine Ehre, Thea. Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen bei ein paar Sachen. Das Handwerk wurde mir sozusagen in die Wiege gelegt. Ich könnte Ihnen das YouTube-Tutorial ersetzen und direkt auf alle Fragen eingehen.«
Thea fühlte sich geschmeichelt, lehnte aber dennoch ab. »Sie werden noch anderes zu tun haben. Ich will Sie ungern von der Arbeit abhalten.«
»Das tun Sie nicht. Außerdem ist das mein Hobby.«
»Also nehme ich Ihnen stattdessen die Freizeit. Das ist ja noch schlimmer. Ich schaffe das hier schon irgendwie. Mir bleibt alle Zeit der Welt. Vielleicht hole ich mir ab und zu einen Tipp von Ihnen, wenn’s recht ist.«
»Aber natürlich, jederzeit. Ich wohne nicht weit von hier in der Camelot Avenue 5. Das schiefe rote Backsteinhaus gleich neben Mrs Downings Cottage.«
»Wer ist Mrs Downing?«
»Sie vermietet Zimmer für Touristen und diese Spinner, die meinen, Hexen über Pendle Hill gesehen zu haben. Sie sind ihr sicher schon einmal begegnet. Sie und ihre Freundin terrorisieren den ganzen Tag die Gemeinde.«
»Ist sie die Frau mit den roten Haaren?«
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte Oakley. Thea hatte es sofort bemerkt.
»Nein, das ist besagte Freundin. Sie ist die andere alte Dame, die auf einem Gehstock durch den Ort streift und Normalos wie Sie und mich für Nichtigkeiten zusammenstaucht.«
»Sie haben mich vorhin als Hexe beschimpft«, erzählte sie grinsend. »Ich kann mir schlechtere Bezeichnungen vorstellen.«
Der smarte Handwerker erwiderte ihr Lächeln. Beinahe wurden Theas Knie weich, aber sie riss sich zusammen.
»Das bedeutet in Pendle so viel wie: Sie sind aufgenommen. Ich kenne kaum jemanden, der nicht zu Beginn als das Böse verschrien wurde. Diese Familien leben seit vielen Jahren hier. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich nicht viel verändert. Neuerungen machen ihnen Angst.«
»Und das nur, weil es hier mal Hexen gegeben haben soll? Man weiß heutzutage doch, dass das alles Humbug war und nur dazu diente, Familien und vor allem Frauen kleinzuhalten und auszurotten.«
Oakley kam langsam näher. Sie widerstand dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen. Er sollte nicht merken, dass sie beeindruckt von ihm war. Sofort liebkoste sein Geruch Theas Sinne. Er war ihr inzwischen so nah, dass sie ein paar grüne Punkte in seinen Iriden erkennen konnte.
»Das ist wahr. Kennen Sie die Geschichten über die Hexen von Pendle Hill? Wenn nicht, würde ich Ihnen gern mehr davon erzählen. Bei einem Glas Wein heute Abend vielleicht?«
Vorsichtig schob sie ihn von sich und machte deutlich, dass sie keine Frau war, mit der man spielen konnte. »Von den Legenden habe ich schon mehrmals gehört und gelesen.«
»Auch die Geschichte von der Filmcrew, die das Grauen hautnah erlebte?«
»Aus dem 17. Jahrhundert? Ich bezweifle, dass sie damals schon Filme gedreht haben«, entgegnete sie amüsiert.
»Im Jahr 2004 wollte man am Pendle Hill die Fernsehserie ›Most Haunted‹ drehen.«
»Wie passend«, sagte Thea wenig beeindruckt.
Doch Oakley ließ sich nicht beirren und machte einfach weiter. »Es ging für die Filmcrew über mehrere Farmen im Umkreis, aber unheimliche Ereignisse suchten sie heim. Der Geist einer Gehängten soll in das Medium der Gruppe gefahren sein. Sie ist eine der angeblichen Pendle-Hexen von damals gewesen und hingerichtet worden. Ein Beleuchter bekam Atemprobleme und musste aus dem Farmhaus gebracht werden. Das Ganze wurde live übertragen und war ein Riesenhit.«
»Klingt eher danach, als hätten sie sich an der Skinwalker Ranch orientiert und ein großes Schauspiel veranstaltet. Alles schon gesehen und gehört.« Thea wollte nicht zugeben, dass sie längst angebissen hatte. Das klang ganz nach einer Story für ihren Blog. Diese Geschichte war nicht das, worüber jeder x-Beliebige schrieb. »Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Danke.«
Oakley machte daraufhin seine Pause und kümmerte sich im Anschluss, wie versprochen, um die restlichen Türen. Auch dafür erhielt Thea separate Schlüssel. Insgesamt waren es nun bloß noch zwei verschiedene für insgesamt fünf Türen. Das erleichterte Thea einiges. Sie hatte nur niemanden, dem sie einen davon überreichen konnte. Vielleicht würde der Pfarrer einen Schlüssel nehmen und nach dem Rechten sehen, wenn es Thea eines Tages ins Ausland verschlug. Doch auch das lag in weiter Ferne. An Urlaub war nicht zu denken, wenn sie nicht einmal eine Arbeit hatte. Ihr Konto war blank.
»Wollen Sie es nicht lieber verkaufen? Ich habe schon viele Leute erlebt, die sich ein Endlosprojekt ans Bein gebunden haben«, sagte er zum Abschied auf der löchrigen Veranda, von der ein paar Stufen hinabgingen.
»Jetzt ist es zu spät dafür.«
»Es gibt sicher viele Interessenten hier in Pendle. Das alte Chamberling-Anwesen ist in ganz Lancashire bekannt, müssen Sie wissen. Denken Sie einmal darüber nach, ehe Sie sich ins Unglück stürzen.«
Seine Warnung missfiel Thea und spornte sie stattdessen sogar an. Es kam ihr seltsam vor, dass sich ein Handwerker aus der Gegend derart für ihr Haus interessierte. Wollte Oakley womöglich selbst einziehen? Was hielt diesen gut aussehenden Mann überhaupt an einem Ort wie Pendle?
»Nichts und niemand wird mich je von hier wegbringen«, meinte sie eisern. »Zwar wäre mir das Andenken an meinen Vater egal, so wenig, wie ich von ihm hatte, aber wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, gebe ich nicht so schnell wieder auf.«
Sein Lächeln erstarrte kurz, dann wirkte er beeindruckt. »Das klingt nach einem Plan, Thea. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen. Auch eine selbstständige und eigensinnige Frau wie Sie braucht mal etwas Unterstützung von anderer Seite. Das ist kein Beinbruch. Ich bewundere Sie für Ihren Mut, das hier in Angriff zu nehmen.« Er deutete mit besorgter Miene auf das riesige Herrenhaus, ehe er ihr zunickte und samt Koffer davonging.
Thea sah ihm eine Weile nach und erwischte sich dabei, wie sie Oakley heimlich von oben bis unten scannte. Erst danach bemerkte sie wieder die wackelnden Gardinen ihrer Nachbarn.
Haben diese Leute keine anderen Hobbys?
Seufzend drückte sie die Tür hinter sich zu, steckte den neuen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn einmal problemlos.
***
»Hast du alles erledigt?«
»Ja, habe ich«, sagte Oakley zu seiner Tante. »Ich habe jetzt bloß das ungute Gefühl, dass es ein Fehler war. Wir machen uns strafbar damit. Das ist Betrug und Hausfriedensbruch in einem.«
»Papperlapapp! Du immer mit deinen Zweifeln! Kein Wunder, dass dein Vater dich nach Cynthias Tod hiergelassen hat, statt dich mit auf seine Weltreise zu nehmen. Seltsam, dass sie schon über zehn Jahre andauert und wir nie wieder etwas von ihm gehört haben, nicht wahr?«, giftete sie und kniff die Augen zusammen.
Lucretia riss ihm beinahe den Schlüssel aus den Händen und betrachtete ihn gierig. Ein wenig erinnerte ihn seine Tante in diesem Moment an Gollum aus ›Herr der Ringe‹. Dass ihre Worte verletzend für ihren Neffen waren, war ihr offenbar egal. Oakley schnaufte genervt.
Lucretia war klein und dürr, trug ihr Haar stets raspelkurz und in knalligen Farben und hatte ein faltiges, eingefallenes Gesicht. Als sie ihre gräulichen Zahnreihen zeigte, wusste Oakley, dass seine Arbeit getan war. Er hatte seine Aufgabe erfüllt. Vielleicht ließ sie nun endlich von ihm ab.
»Ich möchte ab sofort nichts mehr mit dieser Sache zu tun haben. Schlimm genug, dass ich Thea angelogen habe. Ihr brauchtet mich, weil ich mich auskenne. Meinen Teil habe ich somit erledigt. Ich finde es falsch, was ihr vorhabt.«
Sie wandte ihren leuchtend roten Kopf zu ihm. Wut verzerrte die sonst so wächsernen Gesichtszüge. »Nichts daran ist falsch, hast du das verstanden? Ich habe dir einen Erlass deiner Schulden versprochen, aber nie gesagt, wie viel ich dir genau erlasse. Deine Aufgaben sind noch lange nicht erfüllt. Außerdem geht es hier um uns, unsere Familie, unser Borough. Willst du Pendle und die Millers plötzlich im Stich lassen? Ist dir der Name deiner Familie auf einmal egal geworden?«
Er verdrehte die Augen, als sie nicht hinsah. Nur weil seine Tante zum Mutterersatz geworden war und seine einzige Familie darstellte, hatte er sich überhaupt zu diesem Unsinn hinreißen lassen.
»Natürlich nicht. Du weißt, wie sehr ich an Pendle hänge. Es ist meine zweite Heimat geworden, nachdem Dad mich zurückgelassen hat. Dennoch muss es einen anderen Weg geben, als eine junge Frau zu hintergehen, die niemandem von uns etwas getan hat. Wie wäre es denn, einfach mit ihr zu reden?«
»Also hat dir die kleine Shaw doch den Kopf verdreht. Jolene wusste gleich, dass mit ihr was nicht stimmt, als wir sie mit ihrem Koffer durch die Straßen haben ziehen sehen. Sie gehört nicht hierher und wird sich auch niemals anpassen. Es ist nicht schade um sie. Sieh dich lieber nach einer anderen um. Miss Shaw wird nicht lange bleiben, wenn wir erst einmal mit ihr fertig sind.«
Oakley schluckte, weil sich die Worte seiner Tante nach einer schlimmeren Straftat als Hausfriedensbruch anhörten. Gewalt traute er den beiden alten Damen jedoch nicht zu, so garstig, fremdenfeindlich und neidisch sie auch sein mochten.
»Macht bitte keine Dummheiten mehr. Ich will euch nicht schon wieder aus der Arrestzelle von Pendle holen müssen, weil ihr über die Stränge geschlagen habt. Das letzte Mal hat mir gereicht.«
An Lucretias leuchtenden Augen sah er, dass seine Worte, statt zu fruchten, nur noch mehr Tatendrang in ihr weckten.
»Solange dort der gute alte Ward Harrison arbeitet, ist das gar kein Problem für mich. Mit ihm werde ich allein fertig.«
***
Myrna streckte sich ausgiebig und stöhnte vor Schmerz. Nicht nur ihre Seite pochte höllisch, auch ihr Rücken fühlte sich nach dieser Nacht in einem unbequemen Einzelbett völlig verspannt an. Sie hatte das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben und noch erschöpfter zu sein als direkt nach ihrer Ankunft aus London.
Missmutig betrachtete sie das schmale Bett mit der durchgelegenen, viel zu weichen Matratze. Myrna hatte den Eindruck, dass es in diesem Haus überhaupt keine Doppelbetten gab. Sicher wollte die grantige Mrs Downing nicht, dass sich Pärchen hier oben trafen. Sie traute ihr sogar zu, Männerbesuche für weibliche Gäste strikt zu untersagen. An ihr war eine Anstandsdame verloren gegangen.
Die Morgensonne beschien ihren Zimmerboden, der mit einem scheußlichen pinkfarbenen Teppich ausgelegt war. Was sich Jolene Downing dabei gedacht hatte, wussten die Götter. Die gesamte Einrichtung wirkte durchgewürfelt. Nichts passte zusammen und war wahrscheinlich auf irgendeinem Flohmarkt gekauft oder aus dem Abfall gerettet worden. Hier würde sie definitiv nicht lange bleiben!
Dann drang Myrna der bestialische Fischgeruch in die Nase. Ein weiterer Grund, schnellstmöglich das Weite zu suchen. Sie schlief lieber in ihrem winzigen Ford mitten auf der Straße als unter Mrs Downings Dach. Hank hatte nicht zu viel versprochen. Zu dumm, dass Myrna immer ihren eigenen Kopf durchsetzen musste und es wenigstens probierte. Sie wollte sich eine eigene Meinung bilden, selbst wenn jeder andere dagegensprach.
Ein Frühstück bekam sie nicht, weshalb sich Myrna ins einzige Café von Pendle aufmachte, um dort zu essen. Als sie eintrat, grüßte sie freundlich. Die wenigen Gäste an den Tischen verfolgten sie neugierig, aber niemand bekam die Zähne auseinander oder wenigstens ein Zucken des Mundwinkels zustande.
Eine ältere Dame mit knallroter Igelfrisur unterhielt sich gerade mit der Verkäuferin, einer korpulenten Frau mit rotblondem Dutt und rosigen Wangen. Das Schild an ihrem Revers wies sie als ›Mrs Healy‹ aus. Myrna stellte sich brav in die kleine Schlange und wartete geduldig darauf, dass der rote Igel seinen Redeschwall beendete oder ihre Bestellung aufgenommen wurde. Nichts dergleichen passierte. Stattdessen lauschte Myrna nun Geschichten über die unverschämte Jugend von heute und eine gewisse Alethea Shaw, die es gewagt hatte, in das Haus ihres verstorbenen Vaters zu ziehen. Was daran verwerflich war, war Myrna schleierhaft.
Als sie sich währenddessen umsah, erkannte sie den Schläger namens Nate wieder, der sich einen Kaffee ganz hinten in der Ecke gönnte. Sie winkte ihm provozierend, obwohl sie sich besser zurückhalten sollte. An seinem angespannten Kiefer und der geballten Faust sah sie, dass Myrna ihm trotz Alkohol am gestrigen Abend noch immer ein Begriff war.
Endlich verließ Mrs Igelkopf das Café, und Myrna gab ihre Bestellung auf. Ihr Magen knurrte bereits. Sie wollte sich ein ausgiebiges Frühstück aus Bohnen und Speck gönnen, dazu etwas Toast und einen wach machenden schwarzen Kaffee. Myrna liebte die englische Küche, aber mit Tee wurde sie einfach nicht warm.
»Sehr gern. Bitte nehmen Sie Platz, Inspector. Zum Nachtisch empfehle ich Ihnen ein Stück von meinem hausgemachten Courting Cake.«
Myrna stutzte und sah auf. Sie suchte die dunkelgrünen Augen ihres Gegenübers, ehe sie fragte: »Woher kennen Sie meinen Beruf und Dienstgrad?«
Mrs Healy schmunzelte. Ihr Gesicht wurde noch eine Spur rosiger. Sie war Myrna sofort sympathisch.
»In Pendle wird viel getratscht, aber Ihren Namen kennen wir trotzdem nicht. Es hieß bloß, dass der alte Ward endlich Unterstützung bekommt. Er ist nicht mehr auf der Höhe, seit er trinkt. Es wird ihm guttun, eine junge Kollegin aus der Stadt an seiner Seite zu haben.«
»Ward Harrison, der zuständige Police Sergeant?« Myrna erinnerte sich an das Schreiben ihres Vorgesetzten. »Ich bin erst nachher mit ihm verabredet. Ab heute Abend werde ich meinen Dienst antreten. Detective Inspector Myrna Evans. Sagen Sie am besten nur Evans zu mir, das ist mir lieber.«
Die beiden schüttelten sich die Hand über der Theke. Myrna bemerkte einen Luftzug, als sich Nate aus dem Staub machte. Seinen Kaffee hatte er nur halb ausgetrunken. Vielleicht war ihm die Tatsache, dass Myrna für die Polizei arbeitete, nun doch unangenehm. Einer wie er hatte sicher mehr auf dem Kerbholz als einfache Kneipenschlägereien.
»Ich bin Fiona Healy. Mir gehört dieses Café.« Sie deutete mit stolzgeschwellter Brust – und davon mangelte es ihr nicht – auf den hübschen hellen Innenraum, der mit viel Liebe eingerichtet und dekoriert worden war.
Myrna erkannte den irischen Charme darin. Hier fühlte sie sich sofort wohl.
»Mein Mann ist im Ausland tätig«, erzählte Mrs Healy, »und immer nur für ein paar Monate in Pendle. So lange halte ich den Laden und meine Familie am Laufen. Wir haben vier Söhne, drei davon sind längst aus dem Haus. Unser Jüngster, Callan, ist letzten Freitag fünfzehn Jahre alt geworden. Kann man das fassen? Kaum geboren und nun schon fast ein Erwachsener.« Sie war im Gespräch mit Igelkopf kaum zu Wort gekommen, erinnerte sich Myrna. Dabei plauderte sie offenbar gern aus dem Nähkästchen. »Haben Sie Kinder?«
»Leider nicht. Als ich so weit war, war mein Freund es nicht und andersherum. Die Beziehung ging auseinander, ehe wir uns einig wurden.« Myrna war nicht mehr traurig darüber, sondern erleichtert, weil sie ihren inneren Frieden gefunden hatte. »Jetzt möchte ich meine Karriere voranbringen und mich auf anderes konzentrieren.«
»Ich verstehe. Aber einen Karriereschub werden Sie in Pendle wohl nicht erleben«, meinte Fiona bedauernd. »Hier passiert so gut wie nichts. Deshalb hat Ward auch zu viel Zeit zum Trinken.«
»Tut er das auch im Dienst?«
»Wir wissen nie genau, wann er überhaupt im Dienst ist. Erst vor Kurzem habe ich ihn auf die gestohlenen Backwaren bei mir angesprochen, aber bis heute hat er sich nicht einmal die Mühe gemacht, mich oder andere dazu zu befragen. Er setzt keinen Fuß in mein Café.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Myrna ehrlich. Ihr war es zuwider, mit einem betrunkenen Sergeant zusammenarbeiten zu müssen, der seinen Job nicht ernst nahm und lieber auf der faulen Haut lag. »Und wer ist diese Alethea Shaw?«, fragte Myrna weiter, während sich Fiona mit dem Rücken zu ihr um die Bestellung kümmerte.
»Das ist unsere neueste Mitbewohnerin. Erst heute hat sie bei mir eingekauft. Also, auf mich wirkte sie zurückhaltend und wortkarg, aber auch nett. Jolene und Lucretia lassen kein gutes Haar an ihr. Das tun sie allerdings bei niemandem. Miss Shaw hat das alte Herrenhaus oben in der Blackburn Road gleich hinter dem Friedhof geerbt. Lucretia regt sich gern über die Neuen hier in Pendle auf. Machen Sie sich nichts daraus. Sie ist bloß neidisch und tratscht viel. Manch einer weiß nicht, wo seine Grenzen liegen.«
Myrna bekam als Erstes eine dampfende Tasse Kaffee vorgesetzt. Als Fiona ihr Zucker und Milch anbot, lehnte sie dankend ab und suchte sich einen Tisch ganz für sich allein und mit Blick auf die leere Straße. Pendle hatte den Charme einer Westernstadt. Nun fehlten bloß noch die rollenden Büsche, die durch die verlassenen Straßen zogen.
Was hatte sich ihr Chef bloß dabei gedacht, sie hierher zu versetzen? Myrna war ein Detective Inspector, kein Constable. Sie würde dennoch ihr Bestes geben. Irgendwann würde man sie schon zurückholen und sie endlich zum Chief Inspector befördern, wie sie es verdiente. Myrna hatte jedoch das ungute Gefühl, dass sie abgeschoben wurde, um einer Frau im Polizeidienst nicht noch mehr Macht zu geben. In diesem Fall würde sie endlos auf Anerkennung hoffen.
Während sie so dasaß und träumte, ging die Tür auf, und ein furchtbar dünner, kreidebleicher Mann betrat das Café.
»Henry!«, rief Fiona aus und eilte um den Tresen herum, damit sie ihn fest in die Arme schließen konnte. »Ich habe ja ewig nichts mehr von dir gehört.«
»Hast du einen Darjeeling und etwas Gebäck für mich da?«, fragte er mit so leiser und brüchiger Stimme, dass sich Myrna am liebsten vorgebeugt hätte, um ihn zu verstehen.
»Brauchst du sonst noch etwas? Wie geht es dir, Henry? Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Ich kämpfe mich so durch. Mit dieser Sache werde ich wohl nie ganz abschließen. Erst letzte Woche wurde mir noch einmal nahegelegt, Hope für … also …« Wieder brach seine Stimme.
Er schien ein Schluchzen zwanghaft zu unterdrücken und schluckte fest. Sein Blick huschte durch den Raum und blieb an Myrna hängen. Sofort riss er sich zusammen und konzentrierte sich auf die Verkäuferin. Dieser Mann hatte einmal stattlich und erhaben ausgesehen, mutmaßte sie. Ihr Auge war geschult nach den vielen Jahren bei der Polizei. Von diesem Menschen ging aber auch ein Gefühl von Trauer und Verlust aus.
Als Fiona ihr das Frühstück an den Tisch brachte, hielt Myrna sie sachte am Arm zurück. Sie wartete darauf, dass der Kunde den Laden verlassen hatte, bevor sie sprach. »Wer war das da gerade?«
»Henry Fernsby, die arme Seele.« Myrna wartete geduldig auf eine Erklärung. »Erst hat er seine Frau verloren, dann auch noch seine neunzehnjährige Tochter Hope. Eine schlimme Geschichte ist das. Jeder in Pendle kennt die Fernsbys und ihr Schicksal.« Fiona wurde mit jedem Wort leiser, die Stimmung im Raum bedrückender.
»Ist sie auch gestorben?«, fragte Myrna nach. Sie bemühte sich darum, mitfühlend statt neugierig zu klingen. »Das tut mir leid.«
Doch Fiona bedachte sie mit einem Blick, der sie innehalten ließ. Myrna wagte es nicht einmal, zu atmen, so gespannt war sie auf ihre Antwort, die erst nach einem Kopfschütteln folgte.
»Niemand weiß, ob sie tot ist oder nicht. Hope ist vor fünfzehn Jahren einfach verschwunden. Sie wäre heute Mitte dreißig.«
»Ist sie weggelaufen?«
»Davon geht die Polizei aus, aber ihr Vater will es bis heute nicht wahrhaben. Er macht sich noch immer Hoffnungen, dass seine verlorene Tochter eines Tages wieder auf der Türschwelle steht. Darüber hat er Susannah, seine Älteste, leider völlig vergessen. Sie bewohnt mit ihrem Mann Carlton die Familienfarm draußen in Bentham und kann dort wenigstens in Ruhe Hühner und Schweine züchten.«
»Und der Vater ist nicht mit rausgezogen, sondern hiergeblieben?«
»Er glaubt fest daran, dass Hope ihrem Namen alle Ehre macht und eines Tages klingelt. Unnötig, sage ich. Das Mädchen kommt garantiert nicht zurück. Falls sie noch lebt, führt sie woanders längst ein besseres Leben als hier in Pendle. Viele sagen, sie habe von Frankreich oder Italien geträumt. Henry hätte ihr niemals gestattet, auszuwandern. Er hätte sie wahrscheinlich unter einem Vorwand an das Familienerbe gekettet. Henry war früher mal ein ziemlich strenger Vater ohne Gnade, erst recht nach dem Krebstod seiner Frau Margareth.«
»Was hätten Sie an Hopes Stelle getan?«
Fiona stemmte die Hand in die Seite, während sie darüber nachdachte. »Mit neunzehn hatte ich selbst nur Flausen im Kopf. Ich weiß es also nicht genau. Teenager sind unberechenbar. Das merke ich an meinem Jungen allzu oft. Aber wenn ich die finanziellen Mittel hätte und das Café nicht an mir hängen würde, wären wir wahrscheinlich auch längst auf und davon. Zumindest das kann ich sagen. Callan langweilt sich sowieso den lieben langen Tag. Die meisten leben bereits seit über zwanzig Jahren hier und sind zufrieden mit dem, was sie haben. Es heißt, das Hexenstädtchen lässt seine Einwohner nicht so einfach gehen. Von einem Fluch ist sogar die Rede. Angeblich sollen mehrere Abtrünnige einen grausamen Tod gestorben sein.«
Myrna schluckte, dann fiel sie in Fionas Lachen ein. »Ich dachte schon, Sie meinen das ernst.«
»Ich wiederhole nur, was man mir kurz nach unserem Einzug erzählt hat«, erwiderte die Verkäuferin schulterzuckend. »Hier laufen viele Verrückte herum. Aberglaube hat in Pendle noch immer einen hohen Stellenwert. Was in den Vereinigten Staaten die UFOs sind, sind bei uns die Hexen. Aber zurück zu Hope.« Sie wurde wieder ernst und steckte Myrna sofort damit an. Das Lachen verging ihnen beiden. »Sie wird nicht wiederkommen, wenn sie einmal gegangen ist. Meiner Meinung nach lebt sie auch gar nicht mehr.«
Myrna stützte sich auf den kleinen Tisch. »Was macht Sie da so sicher?« Die Ermittlerin in ihr übernahm ab sofort, und sie verstärkte das Gewicht ihrer Arme. »Es kommt nicht selten vor, dass sich die Jugendlichen von damals spät mit ihrer Familie versöhnen und heimkehren. Hatten die Fernsbys Probleme zu bewältigen? Gab es Streit mit Hope? Wegen eines Jungen vielleicht? Das ist der häufigste Grund für eine Flucht, erst recht vom Land.«
Fiona schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal so heftig, dass sich eine rotblonde Strähne aus ihrem Dutt löste.
»Nicht Hope. Sie war trotz der Widerstände auch glücklich hier. Kein Wunder, denn alle Männer haben sie angehimmelt wie eine Königin.«
Myrna hörte einen leichten Groll, vielleicht auch Neid, in ihrer Stimme mitschwingen und wurde hellhörig.
»Ich möchte nicht schlecht über sie reden, falls sie tatsächlich nicht mehr unter uns weilt«, sagte Fiona. »Wissen tut es niemand. Laut Polizei ist sie weggelaufen.«
Sie wollte gehen, aber Myrna hielt sie ein weiteres Mal zurück. »Fehlten Dinge aus ihrem Schrank? Hatte sie einen Koffer gepackt oder Geld mitgenommen? Was ist mit einem Abschiedsbrief?«
Die füllige Cafébesitzerin schürzte ihre Lippen. »Das besprechen Sie am besten mit Sergeant Harrison, Ihrem neuen Kollegen. Er weiß wahrscheinlich am meisten von uns allen.« Ihr Gesicht verzog sich noch ein Stück mehr, als sie hinzufügte: »Wenn er nicht gerade trinkt.«
Myrna bedankte sich fürs Erste und ließ sich das Frühstück schmecken, das inzwischen nur noch lauwarm war. Dennoch mundete es ihr, war aber zweitrangig angesichts der spannenden Geschichte, die sie gerade gehört hatte.
Ihre Gedanken waren bei Hope Fernsby und ihrem armen, trauernden Vater Henry. Es war nicht das erste Mal, dass sie so ein eingefallenes Gesicht vor sich gehabt hatte. Dieser Mann sah auch nach fünfzehn Jahren noch mitgenommen aus. Er hatte die Hoffnung zwar nicht aufgegeben, sich aber selbst irgendwann darin verloren. Myrna wollte sich nicht ausmalen, wie es ihr ergehen würde, wenn ihr Kind über Nacht verschwunden wäre und sie nicht wüsste, was mit ihm passiert war. Die Hoffnung war manchmal schmerzhafter als die Gewissheit, dass ein geliebter Mensch nicht wiederkam.
Myrna erwischte sich dabei, wie sie die ersten Ermittlungsergebnisse zusammenfasste und ein paar Stichpunkte auf einer Serviette notierte. Doch für einen ernsthaften Verdacht hatte sie viel zu wenige Fakten. Die lange Zeit würde es außerdem erschweren, brauchbare Aussagen und Spuren zu sammeln.
Sie hoffte, dass Sergeant Harrison vor fünfzehn Jahren penibler gearbeitet hatte, als er es heute zu tun schien.
Vielleicht würde dieses beschauliche Fleckchen Erde ja doch interessanter werden, als sie dachte.
***
Wie jedes Jahr im Frühling ging er zum Pendle Hill, bezwang die 1.827 Fuß des Hügels und setzte sich mit dem Rücken an die Triangulationsstation auf dem Gipfel. Dort ließ er seine Gedanken kreisen, bis es ihm zu viel wurde und die Gefühle ihn übermannten. Auch nach fünfzehn Jahren schmerzte sein Verlust noch immer so stark, als wäre es erst gestern gewesen. Und wie jedes Jahr weinte er bitterlich um Hope, die er an ebendieser Stelle verloren hatte.
Er fragte sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie in Pendle geblieben wäre. Seine Trauer verwandelte sich in Wut.
»Lügnerin!«, schrie er außer sich und warf seine Wasserflasche den Hügel hinab. Sie rollte aus seinem Sichtfeld. »Wie konntest du nur?« Er heulte auf und barg das Gesicht in den Händen.
Dann kauerte er sich bestmöglich zusammen und weinte weiter. Hier oben hörte und sah ihn zu dieser Jahreszeit sowieso niemand. Nicht einmal seine Frau wusste, wo er sich aufhielt. Und sie würde es nie erfahren, dass er nicht auf einer Messe in Glasgow war, sondern um seine große Liebe trauerte, die ihm einst das Herz gebrochen hatte. Ihm und so vielen anderen.
»Ich bring dich um, wenn du nicht auf der Stelle zu mir zurückkommst!«, schrie er. »Du Hexe!«
Nur langsam beruhigte er sich. Der kalte Wind hier oben auf dem Pendle Hill machte ihm zu schaffen. Es wurde Zeit, zurückzukehren und sein trostloses Leben zu fristen. Ihm schmerzten ohnehin die Beine in dieser unbequemen Position.
Er war gerade dabei, sich zu entwirren, als sich eine Hand, schmal und warm, auf seine Schulter legte. Die Berührung ließ ihn herumfahren. Hoffnungsvolle Tränen standen in seinen Augen, doch es war nicht Hope, die er erblickte.
»Genug«, hörte er sie sagen und schluckte einen Kloß hinunter. »Sie hat es nicht verdient, dass du um sie weinst. Niemand sollte das mehr tun. Was war, das war. Lass uns nach vorne blicken statt zurück. Hope kommt nicht wieder, also begrabe deine Träume endlich. Ein Zuhause wartet stattdessen auf dich.«
Er schloss sie in den Arm und versenkte das Gesicht in ihrem Haar. »Ich habe dich nicht verdient.«
Sie versteifte sich in seinem Griff und befreite sich daraus. »Das hast du nicht. Aber wer soll sich sonst um dich kümmern?«
Mit hängendem Kopf und einem letzten Blick vom Gipfel des Pendle Hill folgte er ihr.