Eins
„Schenk mir noch einen ein und füll immer wieder nach“, sagte ich zu meiner Assistentin Harper, als sie fragend die Kaffeekanne schwenkte. Wie ein pflichtbewusster Soldat hielt ich meinen Becher hin, und Harper goss die Leben spendenden flüssigen Bohnen ein, mithilfe derer ich nach einer weiteren schlaflosen Nacht noch einen Tag überstehen würde. Ich hatte nur selten Schlafstörungen. Ich führte ein entspanntes Leben, umgeben von guten Büchern, einer wunderschönen, ruhigen Kleinstadt und so viel Kaffee, wie der gutaussehende hiesige Lieferant mir aufschwatzen konnte. Und das war viel. Er war ein süßer Typ und nutzte diese Tatsache und seine köstlichen Bohnen, um meine Kaffeesucht auszubeuten. Wenn er nicht bald aus dieser Stadt wegzog, würde ich gezwungen sein, mir eine Gruppe von anonymen Kaffeetrinkern zu suchen.
Ich goss eine beunruhigende Menge Sahne und eine etwas weniger beunruhigende Menge Zucker hinein und ratterte vor Harper meinen täglichen Angriffsplan herunter.
„Beantworte heute Jeff Bastians Mail mit einem weiteren dicken fetten Nein.“
„Gebongt!“, sagte Harper.
„Sortiere den Krimibereich neu. Noch mal.“ Ich verdrehte die Augen. Mrs. Hanson war wieder hereingekommen und hatte sich darüber beschwert, dass die Bücher von Jeffery Deaver mit den Agatha Christies vermischt waren. Aufgrund der Tatsache, dass die alte Frau sie immer wieder kaufte, vermute ich, dass sie nur uns die Schuld für ihre Spontankäufe geben wollte … und für ihre Sucht nach Krimis, die eine etwas härtere Lektüre waren als die der guten alten Ms. Christie.
„Vielleicht sollten wir einfach die Umschläge austauschen, damit sie sich ohne schlechtes Gewissen alle Jeffery-Deaver-Bücher kaufen kann.“
Mir entfuhr ein verächtlicher Widerspruch. „Dann findet sie was anderes, worüber sie sich beschweren kann. Glaub mir.“
Harper schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und lehnte sich an die Kasse. Wie fast an jedem Tag war ihr blondes Haar auch heute zu einem wirren Knoten hochgesteckt. Harper war ein anspruchsloses Mädchen, das in jeder Hinsicht bescheiden war, aber ich hatte sie ein paar Mal in schicken Klamotten gesehen und darin war sie einfach umwerfend. Natürlich fand ich, dass sie auch in ihren alten, mit Slogans bedruckten T-Shirts, Röhrenjeans und mit der schwarz umrandeten Brille, hinter der ihre funkelnden grünen Augen riesig wirkten, immer toll aussah. Aber Harper war nicht die Art Mensch, der Komplimente dankbar annimmt. Jedes Mal, wenn ich ihr sagte, dass sie hübsch aussah, murmelte sie so was wie, dass sie ihre Haarbürste verlegt hätte. Irgendwann gab ich es auf. Eines Tages würde ihr klar werden, dass die männlichen Kunden, die an den Wochenenden hier ein- und ausströmten, weitaus weniger mit Büchern, sondern mehr mit ihr zu tun hatte.
Bis dahin trug sie viel zu unserem Geschäftsergebnis bei, denn jedes Buch, das Harper diesen ratlosen Männern empfahl, kauften sie nur zu gern. Ich lernte, meine Belustigung darüber zu verbergen. Harper war ein kluges Mädchen, eine tolle Mitarbeiterin und ein riesengroßer Bücherwurm.
Das musste man auch irgendwie sein, um in einem Laden wie diesem zu arbeiten. Tattered Pages spezialisierte sich auf Neues, Ausgefallenes und Rares. Wir konnten alle Bücher bestellen, die gesucht wurden, wenn wir sie nicht bereits auf Lager hatten, und man konnte sie hier lesen, wenn man wollte. Ich richtete extra dafür mehrere gemütliche Loungebereiche ein, die im Laden verteilt waren. Es gab Sitzsäcke, Liegesessel, Stühle mit harter Rückenlehne für die ganz Spartanischen und sogar eine kleine Meditationsecke mit Zafu-Kissen und weichen Kissen.
Etwas, das ich noch nicht hatte und an dem ich arbeitete, war ein kleiner Essbereich, wo die Leute beim Einkaufen Kaffee und etwas Süßes bestellen konnten. Ich hoffte, so etwas in den nächsten Monaten einrichten und bedienen zu können. Dann würde mein Traum vom eigenen Buchladen-Café endlich wahr werden.
Die Mitbewohnerin meiner Buchhandlung sprang auf die Theke und rieb sich prompt an Harpers Arm. Sie streckte die Hand aus und kraulte Poppy hinter den Ohren. Die rote Perserkatze gehörte zum Laden, nachdem der frühere Besitzer gestorben war. Sie war Teil des Deals gewesen, worüber ich anfangs nicht sonderlich glücklich war, doch Poppy erwies sich als willkommene Ergänzung der Tattered-Pages-Familie. Die Stadtbewohner liebten sie, und wie es die Art von Katzen ist, tolerierte sie sie auch.
Seit ich meine gesamten Ersparnisse hingeblättert hatte, um den Laden zu kaufen, war vieles für mich anders geworden. Ich hatte mehrere Wände eingerissen und die Ladenräume vollständig renoviert. Den Großteil des Bestands verkaufte ich und füllte die Regale mit den von mir ausgewählten Büchern auf. Seltene Titel wurden unter Verschluss gehalten, mit einem schrillen Alarm für den Fall, dass jemand versuchte, den Schrank aufzubrechen. In Silverwood Hollow passierte so etwas nicht wirklich, aber da ich nicht von hier war, hielt ich Vorsicht besser als Nachsicht. Ich war mehrere Städte weiter weg aufgewachsen, lebte aber schon seit fast zehn Jahren hier.
Mein Laden lag zwischen einem Cupcake-Laden und einem Fachgeschäft für Speiseöle. Bei beiden schaute ich häufig vorbei, weil: a) ich Cupcakes liebe und b) spezielle Öle eine coole Sache sind und die Geschäftsinhaberin jeden Tag frisches Brot backte, das sie als Kostprobe zum Eintunken in die Öle anbot.
Ich konnte dem Brot nicht widerstehen und das war an den fünfzehn extra Pfund, die ich mit mir herumschleppte, deutlich zu erkennen. Aber das machte mir kaum was aus. Auf Brot zu verzichten, bedeutete, auf Genuss zu verzichten. Niemand möchte Genuss aufgeben. Also schaute ich weiterhin mehrmals pro Woche vorbei, um zu sehen, was Jenny Neues zu bieten und welches Brotrezept sie sich diesmal ausgedacht hatte.
Außerdem fand ich den Namen Olive Twist! toll.
Der Cupcake-Laden war noch so ein Dämon. Trotz meines schlechten Gewissens besuchte ich ihn fast täglich. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass sie einzog, nachdem ich den Laden gekauft und umbenannt hatte. Sonst hätte ich mir wahrscheinlich einen anderen Standort weit weg von dieser köstlichen Versuchung gesucht. Und genau das war Sprinkle Heaven. Ein köstlicher Himmel mit Zuckerguss.
Trudy war eine Zauberin, wenn es um Cupcakes ging. Sie beherrschte den Markt von traditionell bis geradezu bizarr, was einzigartige Küchlein anging. Und auch wenn ich die Finger nicht von ihren Leckereien lassen konnte, sorgte sie ständig für Kunden in meinem Laden, einfach weil die Leute gerne einkaufen, nachdem sie etwas Leckeres gegessen haben.
Abrupt ließ sich Poppy fallen und drehte sich um, sodass sie Harper ihren Bauch präsentierte, die grinste und ihn hastig kraulte. Bei Poppy wusste man nie genau, wie viel Streicheleinheiten sie aushielt, bevor sie einem einen Schlag mit der Pfote verpasste. Sie war zwar ein temperamentvolles Biest, aber sie unterhielt die Kinder, die hereinkamen. Mehr konnte ich eigentlich nicht verlangen.
Harper nippte an ihrem Kaffee. „Gibt es noch etwas anderes, was ich heute tun soll?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht. Bis Freitag sollte es reichen. Dann müssen wir uns auf den Zwanzig-Prozent-Rabatt vorbereiten. Außerdem steht bald das Herbstfest an. Vielleicht sollten wir allmählich ein paar Ideen dafür sammeln.“
Das Silverwood-Hollow-Harvest-Festival war zweifellos das wichtigste Ereignis der Saison. Dafür kamen die Leute von überall her. Es war zwar chaotisch, aber herrlich, und ich genoss jede Sekunde. Freiwillige meldeten sich, um beim Dekorieren des Marktplatzes zu helfen, und fast alle Ladenbesitzer sprachen sich ab und schmückten ihre Geschäfte im selben Thema. Es gab jedoch auch immer ein paar, die sich weigerten. Der alte Griesgram Craig, der den Laden für Spezialmesser führte, dekorierte ihn grundsätzlich nie, und nachdem er gedroht hatte, mit Messern nach uns zu werfen, hörten wir schließlich auf, ihn zu fragen.
Die Stadt war voller bunter Persönlichkeiten. Zum Glück mag ich schräge Vögel.
Harpers Augen leuchteten auf. Sie liebte den Herbst und all die wundervollen Dinge, die damit einhergingen. „Wir könnten einen Backwettbewerb veranstalten. Der Gewinner des Hauptpreises bekommt einen großen Korb voller Bücher und einen Geschenkgutschein im Wert von fünfzig Dollar für den Laden.“
Ich kniff die Augen zu, während ich darüber nachdachte. „Das könnte funktionieren. Sollten wir es nicht etwas spezieller machen? Vielleicht nur gedeckte Obstkuchen? Oder Herbstdesserts?“
Harper richtete sich auf. „Ach ja, und eine zusätzliche Kategorie für die beste Anwendung von Zimt oder Nelken!“
„Vielleicht könnten wir eine Kategorie für Herbstgetränke hinzufügen.“ Ich tippte mir beim Überlegen ans Kinn. „Wenn wir Alkohol mit einbeziehen, müssen wir aber Corky im Auge behalten.“
Ein Grinsen erhellte Harpers Gesicht. Corky war meine Tante mütterlicherseits. Ich liebte sie abgöttisch, aber sie war schwer zu händeln, besonders wenn sie ihren Flachmann auspackte. Meine Mutter und ich versteckten das Ding zwar jede Woche mindestens einmal, aber es war egal, ob Corky es fand oder nicht. Beim nächsten Mal hatte sie einen brandneuen Flachmann und dasselbe schelmische Funkeln in den Augen.
„Macht es wirklich einen Unterschied, ob wir Alkohol anbieten oder nicht, wenn man bedenkt, dass sie ihn sowieso mitbringen wird?“, fragte Harper kichernd. Wie die meisten Einwohner der Stadt vergötterte sie Corky, aber ihre Tricks konnten echt peinlich sein. Außerdem glaubte ich nicht wirklich, dass sie auch nur einen Schluck aus dem Flachmann nahm. Stattdessen vermutete ich, dass sie ihn als Requisite und Ausrede für ihr schamloses Benehmen mit sich führte.
„Wir müssen sie einfach im Auge behalten“, sagte ich seufzend. „Lass uns alles aufschreiben und es den anderen Geschäften hier in der Gegend vorschlagen. Vielleicht bringen wir sie dazu, mitzumachen oder zumindest etwas dafür zu spenden.“
„Wie zum Beispiel Cupcakes?“, fragte Harper mit großen, unschuldigen Augen. Sie wusste genau, wie sehr ich die Cupcakes mit Streuseln liebte.
„Möglicherweise“, sagte ich und zwinkerte ihr zu.
Die Glocke über der Tür läutete fröhlich und wir drehten uns um, um zu sehen, wer hereingekommen war. Tattered Pages hatte eine treue Anhängerschaft in der Stadt, aber wir bekamen auch viel Kundenverkehr durch die Touristen herein. In manchen Jahreszeiten war mehr los als in anderen.
In Virginia wurde es Herbst und mit ihm wechselte das Laub von leuchtendem Grün zu Dunkelrot und Braunorange. Das Wetter war ziemlich beständig und blieb im Oktober bei kühlen fünfzehn Grad. Im November, in dem das Erntefest stattfinden würde, sanken die Temperaturen auf frostige vier Grad. Harper und ich trugen beide ein langärmliges Hemd und darüber eine Weste mit Reißverschluss. Jedes Mal, wenn die Tür aufging, wehte eine kalte Brise in den Laden, bei der unsere Haare zerzaust wurden und unsere Nasen einfroren.
Es war noch nicht zu kalt. Diese Ehre würde uns für die Weihnachtszeit
eaufgehoben werden, aber wir Virginianer sind ein zäher Haufen.
Jen von Olive Twist! trat ein und mit ihr strömte der Duft von warmem, hefigem Brot und irgendwas mit Knoblauch herein. Wie bei einem Pawlowschen Hund lief mir das Wasser im Munde zusammen.
„Knoblauch?“, fragte ich, munter geworden, und schnupperte in die Luft. „Was ist es?“
Jen, die so früh am Morgen schon adrett und hellwach war, grinste, als sich die Tür hinter ihr schloss. „Das ist mein neues Knoblauch-Roggenbrot.“ Jen war schlank und fit für Ende vierzig. Ihr helles Haar fing gerade an, am Haaransatz silbern zu werden, doch ihr Teint war noch glatt und faltenfrei. Sie hatte ein rundliches Gesicht und ihre Wangen waren von der kühlen Luft leicht gerötet.
Als ich nach dem Brot greifen wollte, stieß sie meine Hände sanft weg. „Immer mit der Ruhe“, sagte sie, während sie zur Theke ging. Aus der braunen Papiertüte stieg Dampf auf, als sie sie öffnete und das Brot herauszog. Sie legte es auf die Tüte, kramte in ihrer Handtasche und zog ein kleines Messer heraus.
„Auf alles vorbereitet!“, verkündete Jen und schnitt zwei großzügige Scheiben herunter. Eine reichte sie mir und die andere Harper, die mir gefolgt war.
Gierig schnappte ich mir meine und nahm einen riesengroßen Bissen. Köstlich butteriger Knoblauchgeschmack explodierte auf meiner Zunge und ich unterdrückte ein Stöhnen. Brot ist eines meiner größten Laster, aber es ist auch eines, daa mir kaum ein schlechtes Gewissen macht. Das andere ist meine Angewohnheit, mir das ganze Wochenende über im Schlafanzug etwas auf Netflix reinzuziehen. Beides tut meiner Figur nicht gut.
Jen starrte uns erwartungsvoll an. „Wie findet ihr es? Ich möchte es nächste Woche vorstellen und vielleicht in die Auswahl aufnehmen.“
Ich wurde hellwach. „Du willst anfangen, Brot zu verkaufen?“
„Ja, sicher“, bejahte sie.
„Das wird meiner Figur und Geldbörse schaden“, sagte ich. „Aber meinen Bauch glücklich machen“, fügte ich hinzu, um meine Worte abzumildern.
„Es ist der logische nächste Schritt“, erklärte Jen, während sie das Messer auf der Papiertüte ablegte. „Ich verkaufe schon so lange Öle und backe das Brot nur als Hobby, aber seit Jahren erkundigen sich die Leute bei mir, wo sie das Brot kaufen können.“ Sie hob und senkte die Schultern in einem leichten Achselzucken. „Ich dachte, ich kann ihnen genauso gut das geben, wonach sie fragen.“
„Ich kann es kaum erwarten“, entgegnete Harper mit vollem Mund. „Das hier ist köstlich.“
„Der Knoblauch kommt von der Coon-Farm weiter oben in der Straße“, erwiderte Jen. „Saisonale Ware, also muss ich mir davon einen Vorrat anlegen und sicherstellen, dass ich ihn richtig lagere.“ Sie runzelte die Stirn. „Wenn ich ihn falsch aufbewahre, muss ich den Knoblauch aus dem Supermarkt verwenden, und das ist einfach nicht dasselbe.“
Ich schnitt mir eine weitere Scheibe des dunklen Roggenbrots ab. „Was immer du anstellst, mach weiter so. Es ist umwerfend.“
„Ihr Mädels könnt den Rest behalten“, sagte sie und winkte, während sie die Handtasche über ihrer Schulter zurechtrückte. „Ich muss zurück in den Laden.“
Ich sah ihr mit offenem Mund nach. „Du lässt uns das ganze Brot da? Das ist gemein von dir, Jen!“
Ihr Lachen hallte durch den Raum, als sie aus dem Laden rauschte, und die Glocke läutete beim Öffnen der Tür.
Ich starrte bestürzt auf das Knoblauch-Roggenbrot.
Harper schnaubte belustigt. „Es gibt da was …“, begann sie, „das sich Willenskraft nennt.“
Ich wedelte mit dem Messer vor ihrer Nase herum. „Verurteile mich nicht. Das Brot ist köstlich.“
Ich schnitt noch eine Scheibe ab und schwor mir, zum Abendessen Salat zu essen.
Im Leben geht es immer um Ausgewogenheit.
Zwei
Zwei Stunden vor Ladenschluss sortierte ich auf Händen und Knien die gebrauchten Bücher in einer Kiste, die jemand gerade angeliefert hatte. Die meisten brachten keine Bücher, die zu kaputt waren, um sie noch zu verwenden. Manchmal gab es jedoch auch Leute, die unseren Laden als Müllhalde benutzten.
Diese Kiste schien eine Mischung aus beidem zu enthalten. Die junge Frau, die sie vorbeibrachte, war jung, vermutlich Anfang zwanzig. Sie behauptete, von auswärts zu kommen. Sie räumte gerade eine Wohnung für die Vermietung aus und hatte die Bücher aus einem der Gästezimmer geholt. Sie verschwand, sobald ich ihr eine Quittung gegeben hatte, und schien sich kein bisschen für den Inhalt zu interessieren.
Ich zog drei Bücher mit Wasserflecken heraus – zwei davon waren zu durchnässt, um noch lesbar zu sein. Das dritte ließ sich vielleicht noch retten, daher legte ich es beiseite.
Ich ließ meine Finger durch die Kiste gleiten und schob die Bücher schnell beiseite und aus dem Weg. Erst als ich auf dem Boden ankam, fingen meine Hände an zu zittern.
„Das gibt’s doch nicht“, flüsterte ich, während ich ein Exemplar von Der große Gatsby herauszog. Der Hardcover-Einband war hellblau, mit einem roten Farbtupfer auf dem Rücken.
Wenn es das war, wofür ich es hielt …
Vorsichtig schlug ich das Buch auf, hielt es mit der Ehrfurcht, die ihm gebührte, in den behandschuhten Händen und rang nach Luft.
Es war signiert und das Druckdatum war 1925. Ich überflog die Urheberrechtsseite und hielt den Atem an, bis mein Blick auf das fiel, was ich suchte.
Dann hielt ich es hoch, so wie Rafiki Simba hochhielt, als er die Geburt des neuen Sprosses verkündete, und stieß einen kleinen Schrei aus.
„Dakota?“, fragte Harper mit besorgter Stimme. Sie streckte den Kopf um die Ecke. Harper riss die Augen auf und ihr Mund formte ein kleines überraschtes O.
„Das gibt’s nicht“, wiederholte sie. „Echt jetzt?“
Ich nickte, während mein Kopf vor Aufregung wackelte. „Doch. Eine erste Ausgabe.“ Ich senkte die Stimme. „Dazu noch signiert.“
Harper kam mit voller Geschwindigkeit um die Ecke und warf sich neben mir auf die Knie. „Darf ich?“, fragte sie.
„Nicht, bevor du Handschuhe angezogen hast“, ermahnte ich sie.
Harpers Wangen färbten sich rosa. „Klar.“ Sie sprang auf und kramte unter dem Tresen herum. Als sie zurückkam, reichte ich ihr das Buch. Harper öffnete es vorsichtig. In ihren Augen schimmerten Tränen.
„Das ist unglaublich.“
„Und ein Vermögen wert“, fügte ich unnötigerweise hinzu. Um sicherzugehen, würde ich es nachschlagen müssen, aber ich schätzte den Wert auf über zehntausend Dollar.
„Sollen wir sie zurückrufen?“, fragte Harper nervös.
Meine Augen weiteten sich. „Spinnst du?“, zischte ich. „Auf gar keinen Fall! Das ist, als würde man auf dem Flohmarkt einen Rembrandt finden. Du weißt schon: geschenkt und so.“ Ich erhob mich mit einem Stöhnen und richtete mich auf. „Außerdem habe ich ihr schon die Quittung gegeben. Es gehört also uns.“
Harper sah mich zweifelnd an, aber ich schüttelte den Kopf. So war das Geschäft. Gib nie etwas weg, das du nicht vorher überprüft hast. In neun von zehn Fällen waren es Erben, die die Nachlässe ihrer Eltern durchgingen und Dinge verschenkten, weil sie keinen Platz mehr dafür hatten. Dadurch ergab es sich, dass wir die kostbarsten Schätze bekamen. Diese Generation war anders. Oft war ihnen gar nicht bewusst, was sie tatsächlich besaßen, und sie nahmen sich nicht die Zeit, es herauszufinden. Sie wollten einfach wieder in die Normalität ihres Alltags zurückkehren.
Eigentlich war es traurig, aber wir profitierten meistens davon. Harper gab mir das Buch zurück und ich brachte es nach hinten. Für solche Dinge hatten wir einen Safe im Büro, auch wenn dies das erste Mal war, dass uns etwas so Wertvolles aus einer Spendenbox in den Schoß fiel. Ich wollte nicht, dass es verlegt wurde. Was in einem Laden voller Bücher leicht passieren konnte … Während ich mich bückte, um den Safe zu öffnen, läutete die Türglocke.
Harper konnte mit allem, was hereinkam, allein fertigwerden, also machte ich mich daran, das Zahlenschloss zu öffnen. Der Safe war gerade mit einem Klick aufgegangen, als sie die Bürotür öffnete. Auf ihrem Gesicht mischten sich Ärger und Wut.
Als ich zu ihr aufsah, runzelte ich die Stirn. „Alles in Ordnung?“
„Mr. Bastian ist da“, sagte sie kurz angebunden.
Ich seufzte und schob das Buch vorsichtig in einen luftdurchlässigen Stoffbeutel. Dann verstaute ich ihn auf ein paar wichtigen Dokumenten im Safe und machte das Türchen zu. Ich überprüfte noch einmal, ob es auch richtig verschlossen war, richtete mich auf und wischte mir den Staub von den Knien.
„Hat er gesagt, was er will?“, fragte ich und hielt ihr die Tür auf, damit sie vor mir hinausgehen konnte.
„Nein. Aber er besteht darauf, dich zu sprechen.“ Harper schob sich in einer Wolke aus blumigem Parfüm an mir vorbei; bei jedem Schritt war ihre Wut zu spüren.
Bevor ich Jeff Bastian begegnet bin, habe ich nie an Erzfeinde geglaubt. Mir gehörte der Laden noch keine Woche, als er hereinplatzte und mich aufforderte, ihm meinen Preis zu nennen. Gleich nachdem ich den Kaufvertrag unterschrieben hatte, war er in die Stadt gekommen und hatte mich seitdem bedrängt, ihm den Laden zu verkaufen. Ich war mir nicht sicher, auf wie viele verschiedene Weisen ich dem Mann „Nein“ sagen müsste, bevor er mich in Ruhe lassen würde, doch bisher hatte nichts funktioniert.
Ich betrat den Verkaufsraum des Ladens und Mr. Bastian drehte sich auf den Fersen um. Seine braunen Augen taten das, was manche Typen machen, die keinen Respekt vor Frauen haben. Sie schauen dir ins Gesicht und lassen dann in weniger als einer Sekunde den Blick über deinen ganzen Körper gleiten. So als könnte er sehen, dass ich mich gerade mit Jens leckerem selbst gebackenen Brot vollgestopft hatte. Ich unterdrückte ein Schaudern und setzte meine beste gelangweilte Miene auf.
„Hi, Mr. Bastian. Die Antwort lautet immer noch: Nein.“
Jeff Bastians Lippen wurden schmal. „So entzückend ich Sie auch finde, Miss Adair, bin ich nicht aus diesem Grund hier.“
Vor Überraschung schossen meine Augenbrauen bis zum Haaransatz hoch. „Ach? Das wäre dann das erste Mal. Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Mr. Bastian schnaubte und rümpfte die Nase. Er war ein echter Snob. „Mein Bruder kommt bald zu Besuch. Er denkt daran, hierherzuziehen. Deswegen würde ich ihm gern einen Reiseführer für Virginia besorgen.“
Jeff Bastian war wegen eines Buches hier? Wunder gibt es immer wieder. „Zwei Bastians in der Stadt Silverwood Hollow?“, bemerkte ich. „Ich bin nicht sicher, ob mein armes Herz das aushält.“
„Witzig“, sagte Mr. Bastian mit nicht amüsierter Stimme. Sein Blick huschte durch den Laden und nahm das gesamte Ambiente in sich auf. Er wirkte nicht wie ein Typ, dem etwas an Ambiente lag. Vielmehr machte Jeff Bastian den Eindruck, als würde er auf Ambiente herumtrampeln, so wie ein wütender Godzilla, der durch die Stadt walzt. Er war die Art Kerl, der meinen Laden abreißen und durch etwas ersetzen wollte, das genauso aussah wie der Laden daneben. „Haben Sie Jen eigentlich schon einen Besuch abgestattet?“ Ich schenkte ihm ein unschuldiges Lächeln. Ich war nicht die Einzige, die er zum Verkauf drängte. Er war auf alle Geschäfte in diesem Stadtteil scharf. Warum, wusste zwar keiner von uns, aber es konnte nichts Gutes bedeuten.
Er verdrehte die Augen. „Reiseführer, Miss Adair, bevor ich ins große Einkaufszentrum draußen vor der Stadt gehe.“
Ich legte mir die Hand aufs Herz. „Oh Horror“, sagte ich trocken und winkte ihm zu, mir zu folgen.
Mr. Bastian stieß sich von der Theke ab und lief neben mir, wobei sein trockenes, zitroniges Kölnisch Wasser meine Nase kitzelte. „Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder“, bat ich ihn, während wir weitergingen.
Sein Blick fiel auf mich, aber er schaute sofort weg. „Das totale Gegenteil von mir. Hält sich für eine Art Künstler. Ich denke, Sie werden ihn mögen.“
Ich dachte auch, dass er mir sympathisch sein könnte, aber so wie Mr. Bastian es sagte, klang das nicht nach einem Kompliment. „Was für eine Art von Kunst macht er?“ Ich führte ihn durch den hinteren Teil des Ladens zur Fachbuchabteilung. Wegen der Touristen hatte ich mehrere Reiseführer über Virginia auf Lager.
„Maritime Gemälde, glaube ich“, antwortete Jeff Bastian. „Er fertigt auch Skulpturen an.“
Ich blieb vor dem richtigen Regal stehen und fuhr mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. „Macht er das hauptberuflich?“
Mr. Bastian seufzte. „Nein, er ist Bibliothekar.“
Meine Hand hielt inne und ich wich zurück, um zu ihm aufzuschauen. Seine Größe war imposant. Ich wusste, dass es ihn irritierte, daher wollte ich es noch verlängern. „Tatsächlich? Ein Bibliothekar?“
Beinahe hätte ein Lächeln seine Lippen gekräuselt, doch er unterdrückte es. Ich konnte nicht glauben, dass der steife Jeff Bastian einen Bruder hatte, der Bibliothekar war.
„Ja“, erwiderte er kurz angebunden. „Wie ich schon sagte. Er wird Ihnen gefallen. Aber für unsere Familie ist er eine Riesenenttäuschung.“
Ich verdrehte die Augen. Sogar Mr. Bastian klang so, als würde er es nicht selbst glauben. Wieder wandte ich mich den Reiseführern zu und zog einen mit dem Titel Virginia’s Best and Yummy heraus.
„Der hier enthält alle Touristenattraktionen und einen Restaurantführer über die besten Lokale. War er schon mal hier?“
Jeff Bastian schüttelte den Kopf. „Nein, wir kommen aus Kalifornien. Das wird sein erstes Mal hier sein.“
„Dann dürfte dieser hier richtig sein. Falls er irgendwelche Bücher haben möchte, während er hier ist, sagen Sie ihm bitte, dass er vorbeikommen soll.“
Mr. Bastian nahm mir das Buch aus der Hand. „Er ist Bibliothekar“, sagte er verächtlich. „Er hat selbst jede Menge Bücher.“
Der Mann, den ich vor mir hatte, blickte offensichtlich nicht, was es mit Büchern auf sich hat. „Also gut. Da Sie heute halbwegs menschlich waren, lassen Sie sich das Buch von Harper zum normalen Preis abrechnen.“
Er runzelte die Stirn. „Zum normalen Preis?“
„Jepp“, sagte ich und wedelte mit der Hand in der Luft herum. „Wir haben eine Jeff-Bastian-Preisliste, je nachdem, wie sehr Sie uns auf die Nerven gehen.“
Mr. Bastian fauchte und ging zur Kasse. Ich sah ihm grinsend nach. Zwar mochte ich den Typ nicht, aber vielleicht steckte doch mehr in ihm, als man ihm ansah.
Ich schaute zu, wie Harper seinen Kauf eintippte. Dabei musterte sie ihn ein paarmal; vermutlich wartete sie auf einen sarkastischen Kommentar von ihm, doch er sagte nichts. Als er nach seiner Tüte griff, drehte sie sich zu mir um und ich zuckte mit den Schultern, da ich auch keine Erklärung für sein untypisches Verhalten hatte. Vielleicht zeigten seine Medikamente inzwischen Wirkung. Keine Ahnung.
Zwei Frauen zwängten sich an Mr. Bastian vorbei und betraten den Laden, bevor sich die Tür hinter ihm schloss. Sie waren beide von kleiner Statur, dunkelhaarig und sahen sich auffallend ähnlich. In meinem Hinterkopf regte sich das Gefühl, ich würde sie wiedererkennen. Ich war sicher, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Silverwood Hollow ist zwar eine Kleinstadt, aber nicht jeder hier liest viel. Außerdem hatte ich harte Konkurrenz durch die größeren Buchhandlungen in den Nachbarstädten. Ich machte mir deswegen jedoch keine großen Gedanken. Der Laden war schön und lief gut. Außerdem fielen mir Bücher in die Hände, an die die größeren Läden nicht herankamen.
„Hallo!“, begrüßte ich sie. „Willkommen bei Tattered Pages.“
Die kleinere Frau lächelte mich an, wobei ein strahlendes Grinsen ihr rundes, freundliches Gesicht erhellte. Ihre Haut war von der Sonne gegerbt, doch sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, was auf mehr als nur ein paar schlaflose Nächte hindeutete. „Hallo“, erwiderte sie. „Ich habe immer gesagt, dass ich mal hier reingehen werde, aber in letzter Zeit fühle ich mich selten fit genug, um das Haus zu verlassen.“ Sie deutete nach draußen. „Aber heute ist es so windig und kühl, dass ich das Gefühl hatte, rausgehen zu müssen!“
Ich lächelte zurück, ohne sie nach ihren Gesundheitsproblemen ausfragen zu wollen. Doch meine Neugier brachte mich dazu, zu sagen: „Das tut mir leid, aber ich freue mich, dass Sie hier sind. Ist gesundheitlich alles in Ordnung?“
Ich warf einen Blick auf die Frau neben ihr. Eine düstere Falte legte sich auf ihre Stirn und verschwand gleich wieder.
Die freundliche Frau winkte ab. „Ach, es kommt und geht, wissen Sie? Manchmal geht es mir gut. An anderen Tagen bin ich einfach nur müde. Das gehört wohl alles zum Älterwerden dazu.“ Sie legte ihrer Begleiterin eine Hand auf die Schulter. „Das ist meine Schwester Carrie und ich bin Marcy.“
Mir war klar, dass sie verwandt sein mussten. Ich lächelte höflich und streckte meine Hand aus. „Dakota Adair. Mir gehört dieser Laden.“
Marcy schüttelte mir die Hand. Ihre Finger waren eiskalt. Traurigkeit schnürte mir das Herz zu, als ich ihren zitternden Griff spürte. Nachdem sie meine Hand losgelassen hatte, wartete ich darauf, Carrie die Hand zu schütteln, doch diese machte keinerlei Anstalten dazu. Daher ließ ich die Hand unbeholfen sinken.
Marcys Schwester war etwas größer und dünner als sie und hatte scharfe, scharfe Gesichtszüge. Ich fragte mich, ob sie je lächelte. Besitzergreifend legte sie die Hand auf den Ellbogen ihrer Schwester und murmelte leise: „Entschuldigen Sie uns.“
Ich wich beiseite und ließ sie vorbei, während ich die Frauen stirnrunzelnd beobachtete. Irgendwas war seltsam an diesen beiden – vor allem an der größeren Schwester. Kopfschüttelnd ging ich hinter die Theke zurück. Dort stand immer noch Harper und schaute den beiden Frauen hinterher.
„Die sind irgendwie komisch, findest du auch?“, flüsterte Harper.
Ich nickte. „Definitiv. Aber es gibt alle möglichen Leute, und wenn sie schon hier sind, um was zu kaufen, dann sollten wir ihnen auch etwas verkaufen.“ Ich zuckte mit den Schultern, sah ihnen aber weiter hinterher, bis sie um die Ecke bogen.
Poppy sprang auf die Theke und rieb sich an meinem Arm. Ich streichelte ihren seidigen Kopf. Ihre Aufmerksamkeit war auf den Bereich gerichtet, in den die Frauen verschwunden waren, und kurz bevor sie heruntersprang, entschlüpfte ihrem kleinen Körper ein Fauchen.
Ich zog die Augenbrauen hoch, während ich beobachtete, wie die Katze den Schwanz kerzengerade in die Luft streckte und zu dem Bereich tänzelte, wo sie sich aufhielten.
„Sie wird doch keinen beißen, oder?“, fragte Harper mit besorgter Stimme.
Ich blinzelte. „Das glaube ich nicht. Sie hat noch nie jemanden gebissen, es sei denn, er hat sie zu lange gestreichelt. Und selbst dann ist es normalerweise nur ein Schnappen, um ihn dazu zu bringen, damit aufzuhören.“ Mein Blick folgte Poppy, bis sie um die Ecke verschwand. „Hoffen wir es.“
Etwa zehn Minuten später traten die Frauen an den Tresen. „Ich suche Alice im Wunderland“, erklärte Marcy.
Harper ging um den Tisch herum. „Das haben wir hinten bei den Kinderbüchern“, sagte sie. „Soll ich es Ihnen zeigen?“ Sie deutete auf die rechte Ecke des Ladens, wo alle Kinder- und Jugendbücher in den Regalen standen.
Carrie, die größere Schwester, schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sucht nach einer seltenen Ausgabe von Alice hinter den Spiegeln.“ Sie warf einen Blick auf Marcy der so unergründlich war, wie man es nur selten erlebt. „Es ist nicht das erste Mal. Sie will die Reihe komplettieren.“
Harper blinzelte und ließ die Hand sinken. „Also gut“, sagte sie und presste die Lippen zusammen.
Das Verhalten ihrer Schwester trieb Marcy das Blut in die Wangen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie und warf Carrie einen missbilligenden Blick zu. „Ich habe vor ungefähr fünf Jahren die Bücher unserer Eltern geerbt und wir suchen schon eine ganze Weile nach dem letzten Buch. Ich wusste nicht, dass Ihr Laden es womöglich anbietet, bis ich in der Bibliothek war und gehört habe, wie jemand davon sprach.“ Carrie kniff die Augen zusammen, aber sie sagte nichts mehr. Ich unterdrückte einen Anflug von starker Abneigung gegen sie und wandte mich Marcy zu. „Dieses Buch haben wir aktuell nicht, aber ich kann versuchen, es für Sie zu besorgen. Wie hoch ist denn Ihr Budget?“
Marcy seufzte. „Ich weiß nicht genau. Ich bin eher eine Leserin als eine Sammlerin. Zu Hause habe ich viele seltene Bücher, aber der einzige Grund, warum ich sie besitze, ist, weil sie mir geschenkt wurden.“ Ihr Mund verzog sich zu einem traurigen Lächeln. „Ich lese sie viel lieber, als sie nur auszustellen.“ Sie stieß erneut einen Seufzer aus. „Sind Bücher nicht dazu da?“
Carrie schnaubte verächtlich.
Ich streckte den Arm aus und tätschelte Marcys Hand. „Natürlich sind sie das. Wir berühren alle seltenen Bücher, die hereinkommen, nur mit speziellen Handschuhen, aber selbst wir können der Versuchung kaum widerstehen, sich in einen der Sitzsäcke zu kuscheln. Und uns dann in der Romanwelt zu verlieren.“
Dankbarkeit schimmerte in ihren Augen. „Ich denke, wir können uns ja mal umsehen. Am liebsten würde ich die Kosten niedrig halten.“
„Du kannst unmöglich hoffen, weniger als tausend Dollar für das Buch, das du möchtest, ausgeben zu müssen“, fauchte Carrie sie erbost an. „Sonst wirkt es fehl am Platz, neben der ersten Ausgabe!“
Ich zog unmerklich die Augenbrauen hoch. Sie hatte eine erste Ausgabe von Alice im Wunderland?
Marcy seufzte geduldig. „Das ist mir nicht wichtig, Carrie. Ich möchte nur, dass das Set komplett ist – bloß, um beide Bände zu haben. Es ist mir egal, um welche Ausgabe es sich handelt.“
„Aber es ist wichtig“, beharrte Carrie. „Es wird schrecklich aussehen.“
Marcy schüttelte den Kopf. „Das Haus ist schon bis unters Dach mit Büchern vollgestopft. Niemand wird das überhaupt bemerken.“
Carrie presste die Lippen so fest zusammen, dass sie weiß wurden.
Marcy fuhr fort: „Ich muss viele Bücher schon in meinem Schlafzimmer unterbringen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist vom Boden bis zur Decke mit Büchern vollgestopft! In ein paar Tagen wird ein neuer Boden verlegt und dafür muss alles ausgeräumt werden.“
„Ach, das ist aber schön!“, sagte ich höflich. „Was für einen Bodenbelag haben Sie ausgewählt?“
„Bloß Laminat“, antwortete Marcy. „Aber es sieht hübsch aus, und ich habe es über einen Freund zu einem Schnäppchenpreis bekommen!“
Ich beugte mich über die Tastatur und begann, die Suchparameter einzugeben, um ihr Buch zu finden. Es waren viele Exemplare aufgelistet. „Das billigste, das ich finden kann, kostet etwa zweihundertfünfzig Dollar. Der Zustand ist gut, aber ich würde es nicht ohne Handschuhe anfassen. Ist das ein guter Preis?“ Ich drehte den Bildschirm, damit sie ihn sehen konnte.
„Nein“, sagte Carrie hastig. „Das ist nicht gut genug.“
Marcy richtete sich auf und sah ihre Schwester an. „Ich glaube nicht, dass du das zu entscheiden hast, oder?“, fragte sie.
Überrascht weiteten sich Carries Augen und etwas Düsteres funkelte darin. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Die Schwester war wirklich unsympathisch.
„Wohl nicht“, murmelte Carrie.
Marcy beugte sich vor, um einen Blick auf das Buch zu werfen, das angeboten wurde. „Das sieht gut genug aus“, sagte sie. „Aber würde es Ihnen etwas ausmachen, sich noch ein wenig für mich umzusehen? Mir geht es nicht so gut, also muss ich gehen. Wenn Sie jedoch etwas in der gleichen Preisklasse und einem besseren Zustand finden, würden Sie es mir dann beschaffen?“
„Selbstverständlich“, antwortete ich. Ich blätterte hastig durch die Unterlagen, die ich neben der Kasse aufbewahrte, zog ein Formular heraus und schrieb rasch den von Marcy gesuchten Titel und ihr ungefähres Budget auf.
„Das hier ist ein formloser Vertrag zwischen Ihnen und mir, der lediglich bestätigt, dass Sie mir den Kaufpreis zurückerstatten, wenn ich das Buch bestelle.“ Das machten wir zwar nicht oft, aber für eine Absichherung konnten wir konnten es nutzen. Marcy wirkte wie eine Kundin, die ihr Wort halten würde. Außerdem wollte sie das Buch nur, weil sie es liebte, und nicht wegen seines Wertes.
Ich reichte ihr den Stift und sie setzte rasch ihre verschnörkelte Unterschrift darunter.
Dann richtete sie sich auf, lächelte mich kraftlos an und wandte sich zum Gehen.
Ich hob zum Abschied die Hand. „Ich melde mich bei Ihnen“, sagte ich.
In diesem Moment sprang Poppy auf die Theke und hockte sich hin, um die beiden Frauen anzustarren, wobei ihr Blick die größere Schwester fixierte.
„Ach!“, sagte Carrie. „Was für ein süßes Kätzchen.“ Sie streckte die Hand aus, um Poppy über den Kopf zu streicheln, doch die Katze fauchte und tritt mit der Pfote nach ihr. Ich schnappte nach Luft und Carrie wich einen Schritt zurück.
Wortlos griff sie ihrer Schwester am Arm und zog sie zur Tür hinaus. Bevor sie den Laden verließ, drehte sie sich noch einmal um und warf mir einen undurchschaubaren Blick zu, der mich frösteln ließ.
Ich hoffte, dass Marcy das Buch allein abholen würde, wenn es geliefert ist. Ich wollte diese Frau nie wiedersehen. Poppys Reaktion nach zu urteilen, ging es ihr genauso.
Drei
Es dauerte eine Woche, bis das Buch meiner neuen Kundin eintraf. Ich gab mein Bestes, um ein Exemplar in wirklich gutem Zustand zu ihrem Wunschpreis zu finden. Sobald ich aus dem Auto gestiegen war, fröstelte ich in der kalten Herbstluft und zog den Reißverschluss meiner Jacke etwas höher, um Mund und Nase zu bedecken.
Das unscheinbare, jedoch gepflegte Haus der Frau lag am Wasser. Es war in einem getönten Blau gestrichen und hatte eine einladende Veranda, die rundum verlief. Neben der Tür stand ein einsamer Schaukelstuhl, dessen Farbe abblätterte. Rechts neben dem Stuhl befand sich ein Blumentopf, aber die Pflanze darin war längst verdorrt. Obwohl das Haus aus der Ferne einen heiteren Eindruck machte, zeigte es beim Näherkommen deutliche Anzeichen von Verfall. Als ich die Stufen hinaufging, überkam mich eine Traurigkeit. Die Veranda war aus Holz und war wahrscheinlich einmal wunderschön gewesen, doch die Farbe war längst abgeblättert und das Holz so ausgebleicht, dass es nur noch eine blasse Imitation dessen war, was es einmal gewesen sein musste.
Seufzend holte ich Luft, streckte die Hand aus und klopfte an der Tür. In der Hoffnung, dass das, was in der Stofftasche steckte, die von meinem Arm baumelte, sie glücklich machen würde. Es lag genau im Limit ihres Budgets, war unsigniert, aber in nahezu makellosem Zustand. Die Farbe und der Buchrücken glichen stark dem der Ausgabe, die sie schon hatte, auch wenn es nicht so kostbar war. Aber Marcy hatte ja gesagt, dass sie keine ernsthafte Sammlerin war und das Buch nur wegen des Lesespaßes haben wollte, den es ihr bereiten würde. Carrie würde es hassen.
Bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln über meine Lippen. Es gab sicher vieles, was Carrie hasste.
Die Sekunden zogen sich in die Länge und ich klopfte noch einmal an. Es konnte eine Weile dauern, bis sie an die Haustür kam. Vor allem, wenn sie sich unwohl fühlte.
Um mich warm zu halten, verlagerte ich immer wieder das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Aus meinem Mund kam nebliger Atem. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und lauschte nach Schritten.
Nichts.
Ich runzelte die Stirn und klopfte noch einmal, wofür ich den Handschuh auszog, um sicherzustellen, dass das Klopfen deutlich zu hören war. Dann trat ich einen Schritt zurück und sah mich in der kleinen Nachbarschaft um. Es gab nicht allzu viele Häuser in der Straße. Die meisten standen wie Marcys Haus auf einem großen Grundstück. Dahinter spülte das Wasser der Silverwood Bay leise ans Ufer. Saubere, salzige Luft wirbelte um mich herum und zerzauste sanft meine Haare.
Es war herrlich hier. Die Menschen, die wunderschöne Bucht, der süßliche Geruch von frischen Meeresfrüchten direkt von der Küste. Es gab nicht viel, was ich ändern würde, selbst wenn ich könnte.
Frustriert stieß ich einen Atemzug aus. Es rührte sich immer noch nichts, obwohl Marcy geschworen hatte, heute zu Hause zu sein. Ich hatte sie heute früh extra noch einmal angerufen, um sicherzugehen. Ich ging zur Seite der Veranda und spähte auf die Rückseite. Ein alter grauer Honda parkte still in der Einfahrt.
„Hmmm“, murmelte ich. Hoffentlich war alles in Ordnung. Ich ging zurück zur Tür und klopfte noch einmal. Wenn ich niemanden antworten hörte, würde ich das nicht ignorieren. Normalerweise wäre ich gegangen und hätte es später noch einmal versucht, doch Marcy wollte das neue Buch haben und wir hatten vereinbart, dass ich heute Nachmittag um drei Uhr vorbeikomme. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und tippte die letzte Nummer ein, die ich angerufen hatte.
Drinnen im Haus klingelte das Telefon. Einmal. Zweimal. Und erneut, bis sich die Mailbox einschaltete.
„Mist“, flüsterte ich. Dann trat ich an die großen Fenster und spähte durch den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Das Haus war nur schwach beleuchtet, aber ich konnte hinter dem ersten Fenster nichts Ungewöhnliches erkennen.
Vielleicht hatte sie es einfach vergessen.
Ich ging zum zweiten Fenster an der anderen Seite der Haustür und spähte auch durch dieses. Als ich durch den Spalt zwischen den Vorhängen blinzelte, schlug mein Herz schneller, während mein Gehirn sich bemühte, zu verarbeiten, was ich sah.
Ich hämmerte gegen das Fenster. „Marcy!“, schrie ich.
Jemand – vielleicht Marcy – lag auf dem Boden. Ich konnte zwei Füße in Hausschuhen erkennen, aber die restliche Gestalt wurde von einer Wand verdeckt.
Ich rannte vom Fenster weg und probierte es mit der Türklinke. Zu meiner Überraschung ließ sie sich sofort öffnen. Ich wich zurück, als hätte mich etwas gebissen, und erstarrte, als ich überlegte, ob ich eintreten sollte.
Sie könnte verletzt sein. Ich sollte versuchen, ihr zu helfen.
Vielleicht war sie auch tot, und dann würde ich womöglich die Untersuchungsergebnisse durcheinanderbringen. Ein paar Sekunden später stieß ich die Tür auf und ging hinein. Der Drang, ihr zu helfen, falls sie verletzt war, überwog die Sorge wegen der polizeilichen Ermittlungen. In einem Notfall konnten wenige Augenblicke über Leben und Tod entscheiden. Sobald ich eintrat, ließ mich ein merkwürdiger Geruch zurückweichen. Klebrig, süßlich und etwas, an das ich mich vage erinnerte, schon mal gerochen zu haben. Ich bedeckte meinen Mund mit der Armbeuge und zwang mich, weiterzugehen. Der alte Wohnzimmerboden war zur Hälfte schon durch neues dunkles Laminat ersetzt worden. Die restlichen Bretter lagen ordentlich aufgestapelt neben der Tür. Vielleicht wollten die Handwerker an einem anderen Tag wieder kommen.
Wenn ja, war das ein schlecht für Marcy. Ich rannte zu der Gestalt und bückte mich zu ihr herunter.
Mir stockte der Atem. Es war tatsächlich Marcy.
Zitternd legte ich zwei Finger an die Seite ihres Halses, um ihren Puls zu fühlen, aber ich wusste schon, was ich finden würde.
Nichts.
Marcy war tot.
Meine Zähne klapperten, während ich hastig zurückwich und erneut in meiner Tasche nach dem Handy kramte. Ich wählte den Notruf, ging aus dem Haus und ließ mich in den alten Schaukelstuhl sinken. Die arme Marcy.
„Notruf-Zentrale, bitte nennen Sie Ihren Notfall“, sagte eine monotone Stimme in der Leitung.
Ich sprudelte heraus, was passiert war und an welcher Adresse ich mich befand.
„Bitte bleiben Sie, wo Sie sind. Wir schicken gleich jemanden los. Sind Sie sicher, dass die Frau tot ist?“
„Ja, eindeutig“, sagte ich düster. „Kein Puls und …“ Ich schluckte schwer. „Ihre Hautfarbe ist gräulich. Sie ist definitiv tot.“
„In Ordnung“, sagte die Telefonistin. „Bleiben Sie am Apparat. Bald kommt Hilfe.“ Sie ließ die Leitung offen und ich drückte auf die Lautsprechertaste meines Handys, damit ich es hinlegen konnte.
Dann holte ich ein kleines Fläschchen mit Desinfektionsmittel heraus, das ich ganz unten in meiner Handtasche aufbewahrte, und spritzte mir eine große Menge davon auf die Hände. Ich hatte noch nie zuvor eine Leiche berührt, aber ich wusste auch, dass ich das nie wieder tun würde. Das Buch in meiner Tasche zog wie ein totes Gewicht an meiner Schulter, also schüttelte ich sie ab und legte sie neben mich auf den Boden. Das Buch konnte ich nicht zurückgeben.
Bei dem Gedanken seufzte ich, doch sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen wegen des Gedanken daran, dass ich es nicht zurückgeben konnte. Die arme Frau. Ich fragte mich, was für gesundheitliche Probleme sie wohl gehabt hatte. Ich hatte kein Blut gesehen, also sah es danach aus, als sei sie eines natürlichen Todes gestorben. Womöglich an einem Herzinfarkt?
Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht. Ich hatte keine Ahnung. Alles, was ich wollte, war, dieses Haus zu verlassen und die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen.
Ein paar Minuten später traf ein Rettungswagen mit eingeschaltetem Blaulicht ein, gefolgt von zwei Streifenwagen. Ich erhob mich, legte die Handtasche wieder über meine Schulter und wartete, bis die Polizisten auf der Veranda waren. Zwei Rettungssanitäter sprangen aus dem Wagen und zogen von hinten eine Trage heraus. Ich erkannte sie nicht, aber das war nicht überraschend. Ich hatte das Silverwood-Hollow-Krankenhaus nur ein paar Mal aufgesucht und war damals viel jünger gewesen.
Die Rettungssanitäter trugen die Trage zum Haus hinauf und nickten mir im Vorbeigehen kurz zu. Einer von ihnen war groß und hatte kastanienbraunes Haar. Er sah aus wie Ende zwanzig; sein gutaussehendes Gesicht gerötet von der Kälte. Der andere war kleiner, etwas rundlicher und hatte volles, lockiges dunkles Haar. Seine blauen Augen leuchteten auf, während er mich musterte, und auch er nickte mir zu, obwohl er nicht so freundlich wirkte wie der erste.
Ich sah ihnen nach, als sie das Haus betraten, und mir entging nicht, dass der Lockenkopf die Nase kräuselte, als er den merkwürdigen Geruch ebenfalls wahrnahm. Mein Mund verzog sich kurz, bevor ich wieder eine nüchterne Miene aufsetzte. Dies schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um sich über irgendetwas zu amüsieren.
Das Geräusch von sich schließenden Autotüren lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Polizisten. Der erste, ein größerer älterer Herr, kam mit geübtem Hüftschwung die Treppe hinauf und blieb vor mir stehen.
„Miss Adair?“, fragte er, und seine hellbraunen Augen huschten über mein Gesicht.
Ich nickte. „Ich habe angerufen.“ Natürlich. Wie dumm von mir. Das wusste er ja schon.
Der andere Polizist direkt hinter ihm presste die Lippen zusammen, aber vorher sah ich noch, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen. Er fand das lustig? Na toll.
„Das weiß ich“, sagte der ältere Polizist. Er war ein gutes Stück größer als ich, aber das hieß nicht viel, weil ich kaum eins sechzig groß bin. Sein Haar war zum größten Teil von dem Hut verdeckt, den er trug, aber es sah dunkel aus. Die Haut des Mannes war olivfarben und sein Gesicht hatte klassische, gut geschnittene Züge. „Können Sie mir sagen, was passiert ist?“
Mein Blick wanderte zu dem anderen Officer, der noch nichts gesagt hatte. „Wer ist das?“, wollte ich wissen, bevor ich meine Geschichte wiederholte.
Der Polizist runzelte die Stirn. „Das ist der frischgebackene Detective Cavanaugh“, sagte er und verzog verächtlich den Mund. Entweder war Detective Cavanaugh nicht sehr beliebt, oder der Officer hatte etwas Persönliches gegen ihn.
„Warum ist er uniformiert?“, fragte ich. Ich war mit der Polizei vertraut genug, um zu wissen, dass Detectives normalerweise in Zivil erscheinen.
„Heute ist sein letzter Tag auf Streife“, sagte der Officer kurz angebunden. „Er fängt morgen an.“
Detective Cavanaugh trat vor und streckte mir seine Hand hin. „Ist mir ein Vergnügen, Miss Adair. Ich werde hier und in den umliegenden Landkreisen tätig sein, aber heute bin ich nur bei Ihnen.“
Seine womöglich unbeabsichtigte Anspielung trieb mir das Blut in die Wangen. Die teuflischen blauen Augen des Detectives blitzten, als er sah, wie ich seine Worte aufnahm. Ich legte meine behandschuhte Hand in seine und schüttelte sie. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Cavanaugh machte eine Geste in Richtung seines Kollegen. „Das ist Officer Clarke. Er ist immer schlecht gelaunt, also kümmern Sie sich nicht um ihn.“
„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen, Cavanaugh“, warnte Clarke ihn. Seine Augen funkelten verärgert.
„Ich bin gekommen, um zuzuschauen, aber bis morgen übernimmt Clarke hier die Führung. Ich bin da, um Ihre Aussage entgegenzunehmen, und werde danach auch hineingehen. Wann immer Sie so weit sind.“ Cavanaugh griff in seine Brusttasche und zog einen kleinen Notizblock und einen Bleistift heraus.
Ich starrte zwischen den beiden Männern hin und her und runzelte die Stirn, bevor ich zu sprechen begann. Es gab nicht wirklich viel zu berichten. Als ich fertig war, schob Cavanaugh den Notizblock wieder in seine Tasche. Clarke war derjenige, der die Fragen stellte.
„Haben Sie auf dem Weg hierher irgendjemanden in der Umgebung gesehen?“ Er klickte ein paar Mal mit seinem Kugelschreiber.
Ich schüttelte den Kopf. „Außer mir war niemand da.“
„Haben Sie drinnen irgendwas gehört?“ Clarkes Stimme war fest und sachlich.
„Nur als ich Marcys Nummer angerufen habe.“ Meine Lippen zuckten.
Er erstarrte, als er merkte, dass meine Bemerkung sarkastisch war. „Sonst noch was?“, bellte er fast.
„Nein, nichts.“ Ich erzählte ihm von unserem vereinbarten Termin und dass mir nicht aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte, bis ich durch die Fenster geschaut hatte.
„Also sind Sie einfach reingegangen?“, sagte er in missbilligendem Ton.
Cavanaugh stieß hörbar die Luft aus. Als sich unsere Blicke trafen, verdrehte er hinter Clarkes Rücken die Augen. Ich nickte mit ausdrucksloser Miene. „Ich dachte, sie braucht vielleicht Hilfe. Da ich nur ihre Füße sehen konnte, wusste ich nicht, was mit ihr los war.“
Noch ein Wagen hielt am Bordstein und eine Frau in einem dunkelvioletten Anzug stieg aus. Ihre Absätze klapperten auf dem Gehweg, während sie zur Veranda eilte.
Er runzelte die Stirn. „Und was dachten Sie, könnte mit ihr los sein?“
Ich musterte ihn mit geneigtem Kopf. „Nun, ich dachte, sie könnte tot sein, Officer Clarke.“
Cavanaugh stieß ein spöttisches Lachen aus. Clarke drehte sich um und starrte ihn wütend an. „Diese Fragen sind notwendig, Miss Adair.“
Nun meldete sich die Frau in Lila zu Wort. „Das denke ich nicht, Officer Clarke. Die Todesursache ermittle ich.“ Ihre Blick war genervt. Sie war größer als ich, aber kleiner als Clarke, sogar in High Heels. Ihr dunkles Haar fiel, perfekt gestylt, in Wellen bis über die Schultern und ihr natürlich wirkendes Make-up war so gekonnt aufgetragen, dass sie taufrisch und nicht übertrieben geschminkt aussah.
Sie streckte die Hand aus und ich schüttelte sie, dabei spürte die Wärme ihrer Handfläche sogar durch meine Handschuhe. „Ich bin Madeleine Corsair, die Gerichtsmedizinerin, die für Silverwood Hollow zuständig ist.“ Sie blickte in Richtung Clarke. „Ich war auf dem Weg zu einer auswärtigen Konferenz, wurde dann aber informiert und musste umdrehen.“ Ein entschuldigendes Lächeln umspielte ihren Mund. „Wir sind hier in einer Kleinstadt und wenn ich nicht zurückgekommen wäre, blieben Fragen tagelang offen. Hoffentlich ist die Todesursache natürlich.“
Officer Clarke zischte leise warnend: „Madeleine …“
„Ach, bleiben Sie ruhig. In dieser Stadt passiert nie etwas Schlimmes.“ Madeleine winkte mir kurz zu und kramte in ihrer Tasche. Sie zog etwas aus Plastik heraus und öffnete die Verpackung. „Überschuhe“, erklärte sie, während sie sich bückte, um sie sich über die Schuhe zu ziehen.
„Die Rettungssanitäter sind schon ins Haus gegangen“, sagte ich wenig hilfreich.
„Sie mussten sicherstellen, dass es keine Lebenszeichen mehr gab“, sagte sie. „Die beiden, die reingegangen sind, sind allerdings kluge Männer.“ Sie sah Clarke an. „Gute Arbeit, die beiden anzufordern. Wenn da drinnen etwas geschehen ist, das einen natürlichen Tod ausschließt, werden sie darauf achten, keine Spuren zu verwischen.“
Ich blinzelte. „Gut zu wissen“, sagte ich. „Denke ich.“
Madeleine zwinkerte mir zu und ging ins Haus.
„Kann ich jetzt gehen?“, fragte ich ungeduldig, da ich zurück in meinen Laden fahren und diese Leute ihre Arbeit machen lassen wollte.
„Ich habe nur noch ein paar Fragen“, sagte Clarke.
Ich seufzte und nickte. „Okay.“ Dann drehte ich mich wieder um und ließ mich im Schaukelstuhl nieder. Zwar wollte ich in Marcys Sache helfen, aber es machte mich nervös, hier zu sein. Aus meinem Portemonnaie zog ich zwei Visitenkarten und reichte sie Cavanaugh und Clarke. „Mir gehört Tattered Pages. Wenn Sie mich brauchen, finden Sie mich dort.“
Die Männer nahmen die Kärtchen entgegen und ich wartete, bis Clarke mit dem Verhör fertig war. Wahrscheinlich hätte er es nicht so genannt, aber so fühlte es sich an.
Cavanaugh nickte mir zu und folgte Madeleine ins Haus.
Gerade als ich meine Sachen eingesammelt hatte und die Treppe hinunterging, trat ein Mann hinter einem Auto hervor. Erschrocken schrie ich auf und hüpfte vor ihm weg, wobei ich meine Handtasche hochhielt, als wollte ich sie ihm über den Kopf ziehen.
„Whoa“, sagte er und hob die Hände hoch, als wolle er sich ergeben. „Entschuldigen Sie. Sorry! Ich wollte nicht, dass die mich sehen.“
„Wer?“, fragte ich.
„Die Bullen“, sagte der Mann verlegen.
Ich ließ meine Tasche sinken und starrte den Mann misstrauisch an. „Wie bitte? Wer sind Sie?“ Er war einige Zentimeter größer als ich und so schlank wie ein Läufer oder Schwimmer. In seinen lässigen Jeans und dem grauen langärmeligen Poloshirt wirkte er vor dem Haus, das jetzt von den Behörden überrannt wurde, fehl am Platz. Sein Haar war sandblond und von der kalten Brise zerzaust. Die hellgrünen Augen wurden durch eine schwarze Nickelbrille betont. Er war auf eine trottelige Art süß.
Männer wie er waren mein Kryptonit. Wenn er auch noch einen großen Wortschatz hätte, wäre es vielleicht um mich geschehen. Zwar hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen, aber das bedeutete nicht viel, da dies mein erster potenzieller Tatort war. Auf jeden Fall das erste Mal, dass ich während einer Ermittlung vor Ort war.<<
„Cole Gardener“, sagte er. Seine Hand bot er mir nicht an. Beide Hände steckten in seinen Jeanstaschen. Mir fiel erst jetzt auf, dass der Typ keine Jacke trug.
„Ist Ihnen nicht kalt?“ Ich runzelte die Stirn wegen seiner dünnen Kleidung.
„Eiskalt“, erwiderte er verlegen, „aber ich hatte es eilig, herzukommen, vor allem, als ich hörte, dass es eine Zeugin gibt.“
Ich wich einen Schritt zurück. „Wie bitte? Woher können Sie das wissen?“
„Polizeifunk“, gab er zu.
„Wer sind Sie? Und damit meine ich nicht nur Ihren Namen.“ Ich drückte meine Handtasche näher an mich heran. „Wenn Sie mir nicht sofort sagen, wer Sie sind, schreie ich.“
Er machte ein bestürztes Gesicht. „Nicht doch!“ Er wedelte hektisch mit den Händen und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ich bin Reporter bei der Silverwood Hollow Gazette.“
Ich verzog den Mund. Er war also einfach nur neugierig. Ein genervter Seufzer entfuhr mir. Er mochte ja süß sein, aber ich wollte nichts mit einer Nachrichtenstory zu tun haben. Silverwood Hollow war eine Kleinstadt und so was war eine Sensation. Wenn er irgendetwas mit meinem Namen drucken würde, würde es mich für immer verfolgen. Herzlichen Dank, aber mir gefiel mein sauberes Leben ohne Drama. Meine Mutter würde es mir nie verzeihen, wenn sie aus der Lokalzeitung erfahren müsste, in was für eine Geschichte ich verwickelt war.
„Kein Kommentar“, hauchte ich und segelte an ihm vorbei, wobei ich seinen Hemdsärmel streifte. Die Duftnote seines frischen Eau de Cologne stieg mir in die Nase und ich inhalierte sie. Er roch betörend. Bei diesem Gedanken fluchte ich. Mit Reportern wollte ich nichts zu tun haben. Niemals. Das konnte nur Ärger für mich bedeuten.
„Ich habe Sie nicht mal was gefragt!“, protestierte Mr. Gardener.
„Das hatten Sie aber vor“, sagte ich spröde, während ich zu meinem Auto eilte.
Er rannte mir hinterher. „Das wissen Sie doch nicht!“, sagte er.
Ich verdrehte die Augen, aber er konnte mich nicht sehen. „Ja, genau.“ Ich wirbelte herum. „Warum sind Sie dann hier und warum wollten Sie nicht von der Polizei gesehen werden?“
Ein beschämtes Lächeln erhellte seine vollen Lippen. „Vielleicht habe ich ja nur eine hübsche Frau gesehen und wollte mit ihr reden.“ Er nahm eine Hand aus der Tasche und fuhr sich damit durchs Haar, was es noch zerzauster machte. Cole Gardener sah hinreißend verwegen aus und ich spürte, dass ich schwach wurde.
Ich stellte mich ein wenig aufrechter hin und schalt mich im Stillen. Ich konnte es doch besser. Er war nur ein süßer Typ, der Süßholz raspelte, um an Informationen zu kommen.
Mir entschlüpfte ein belustigtes Pfff. Ich verdrehte die Augen und blickte nach unten, um in meiner Handtasche nach den Schlüsseln zu suchen. „Ich bin sicher, genau das wollten Sie.“ Ich drückte den Entriegelungsknopf an meinem Auto, drehte mich um und eilte hin. Der alte blaue Toyota Rav 4 war zwar genau richtig, um Bücherkisten umher zu karren, aber nicht groß genug, um ein Spritfresser zu sein. Ich liebte alles an meinem Auto.
Cole Gardener trat neben mich. „Wenn Sie nur ein paar Minuten Zeit hätten …“
„Hab ich nicht“, erwiderte ich und öffnete die Fahrertür.
„Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee?“ Seine grünen Augen leuchteten hoffnungsvoll.
„Ich trinke keinen Kaffee“, log ich. Während ich mich auf den Sitz gleiten ließ, winkte ich ihm kurz zu.
„Abendessen?“, bellte er verzweifelt.
Ich ließ den Motor an. „Ich befinde mich im Hungerstreik“, erklärte ich, kurz bevor ich die Tür zuschlug.
Sein überraschtes Lachen brachte mich zum Grinsen, während ich Gas gab und ihn auf der Straße stehen ließ.
Vier
Über den ganzen Weg zurück zum Buchladen wurde ich von Gedanken an Marcy geplagt. Die arme Frau. Ich hoffte, dass das, was ihr zugestoßen war, schnell geschehen war und sie nicht leiden musste. Ich schauderte, während mir das Bild ihres gebrechlichen Körpers auf dem Fußboden immer wieder durch den Kopf ging.
Die Tasche mit ihrem Buch lag auf dem Beifahrersitz. Als ich an einer roten Ampel einen Blick darauf warf, entfuhr mir ein Seufzer. Ich würde die Kosten dafür erst einmal selbst tragen müssen. Unter diesen Umständen war das jedoch nebensächlich. Sobald ich zurück im Laden war, würde ich es in dem Schrank einschließen.
Stirnrunzelnd fragte ich mich, ob die Polizei das Buch beschlagnahmen würde. Ich ging nicht davon aus, aber wenn ihre Ermittlungen etwas Merkwürdiges ergaben, könnte es so kommen. Ich hatte keinen Schimmer von Polizeiarbeit, auch wenn ich heute, unfreiwillig, einen Blick darauf werfen konnte. Ich streckte den Arm aus und drehte die Heizung etwas höher. Allein der Gedanke daran ließ mich frösteln.
Mein Leben war frei von Drama oder verrückten Dingen. Ich umgab mich gern mit Büchern, Kaffee und gelegentlich einem Verwandten. Aber sogar die gingen mir manchmal auf die Nerven. Ich hatte ein paar Freunde, die ich wirklich mochte, und verbrachte Zeit mit ihnen, wann immer ich konnte.
Die Leute waren überrascht, wenn sie hörten, wie viel Zeit es kostet, einen Buchladen zu führen. Ich würde es jedoch um nichts auf der Welt anders haben wollen. Ich habe keine Geschwister. Etwas, was meine Mutter bedauerte, wenn sie fand, dass ich mich daneben benahm.
Fürs Protokoll: Es war ein Wettstreit zwischen mir und meiner Mutter. Darum, wer die größere Göre war. Der Gedanke an sie brachte mich zum Lächeln. Dad starb vor etwa sieben Jahren nach einem langen Kampf gegen den Krebs. Mom war die ganze Zeit über tapfer gewesen, aber selbst ich konnte die Schatten nicht übersehen, die sie nach all den Jahren immer noch verfolgten. Die beiden waren Seelengefährten gewesen. Mir stiegen Tränen in die Augen. Ich versuchte, nicht zu oft an meinen Dad zu denken. Wenn ich es tat, sammelten sich alle Gefühle, die ich jahrelang unterdrückt hatte, in meinem Herzen. Und dann weinte ich ewig.
Ich fragte mich, wo Marcys Familie war oder ob sie nur Carrie hatte. Ich hoffte, es gab jemanden, der sie so liebte, wie mein Vater mich geliebt hatte. Ich glaubte nicht, dass sie Carrie wirklich wichtig war, aber ich hoffte, dass ich mich täuschte.
Ich blies langsam den Atem aus und bog auf den Parkplatz vor dem Buchladen ein. Dann wischte ich mir die Tränen aus den Augen und blieb noch einen Augenblick im Auto sitzen, um mich zu sammeln.
Heute Abend würde ich Mom anrufen, sie vielleicht zum Essen ausführen oder zu mir nach Hause einladen. Ich hatte sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. In einer so kleinen Stadt wie dieser war das praktisch eine Ewigkeit.
Harper begrüßte mich, als die Glocke über der Tür erklang, doch ihre Miene wurde ernst, als sie mich sah. Mit beunruhigtem Blick eilte sie zu mir und packte mich mit ihren kühlen Händen sanft an den Oberarmen.
„Dakota? Was ist los?“ Ihr Blick wanderte über meinen Körper, als würde sie nach einer Verletzung suchen.
Ich lächelte sie schwach an. „Marcy“, sagte ich, während ich meine Tasche hinter der Theke fallen ließ. Dann sank ich auf den Stuhl, den wir dort für die Tage hatten, an denen wir so lange stehen mussten, dass uns die Füße wehtaten.
„Wieso? Was ist passiert? Hat ihr das Buch nicht gefallen?“, fragte Harper. Ihr Gesichtsausdruck war so unschuldig, dass ich zögerte, ihr die Nachricht zu überbringen. Aber sie würde es sowieso bald genug erfahren.
„Nein“, sagte ich mit von Tränen erstickter Stimme. „Sie ist gestorben. Ich habe sie gefunden.“
Meine Freundin schnappte geschockt nach Luft. Sie schwankte und griff nach der Thekenkante. „Du meine Güte“, hauchte sie. „Das ist ja schrecklich.“ Ihr Blick suchte meinen. „Ist mit dir alles in Ordnung?“
Ich nickte. „Alles okay. Nur überrascht. Und traurig.“ Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und rieb meine Oberarme, um das Gefühl des Todes abzuschütteln.
„Was ist ihr wohl passiert?“, grübelte sie laut. „Sie wirkte nicht gesund, als sie neulich in den Laden kam, aber sie sah auch nicht so aus, als würde sie gleich tot umfallen.“
„Genau“, pflichtete ich ihr bei. „Ich konnte nicht erkennen, was mit ihr passiert ist. Sie lag einfach nur still da.“ Ich winkte ab. „Ich möchte nicht darüber reden, wenn das okay ist.“ Ich zog die Tasche hoch. „Ich habe das Buch zurückgebracht. Wir müssen versuchen, das Geld dafür zurückzubekommen. Vielleicht können wir es über unsere Facebook-Seite anbieten.“
Harper nahm es mir ab. „Klar. Ich lege es erstmal in den Safe.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wie traurig. Es tut mir so leid, dass du das sehen musstest. Und dass es überhaupt passiert ist.“ Ein unglücklicher Blick huschte über ihr Gesicht.
Ich nickte dankend, während sich Harper umdrehte und nach hinten ging. An Marcys Tod war nichts Verdächtiges, aber ich konnte das Gefühl nicht ganz abschütteln, dass ich irgendwas übersah.
Irgendwas Wichtiges.
Ich zog mir die Schuhe aus und stöhnte erleichtert auf, als meine Füße in den flauschigen Teppichboden im Wohnzimmer einsanken. Ich hatte ihn erst vor ein paar Wochen verlegen lassen, nachdem ich hin und her überlegt hatte, ob ich Keramik in Holzoptik oder lieber Teppichboden nehmen sollte. Am Ende hatte ich mich für beides entschieden. Ich nahm Teppich fürs Wohnzimmer und Keramikfliesen für die Küche, den Eingangsraum, den Hauswirtschaftsraum, die Badezimmer und Flure. Alle Schlafzimmer hatten neuen Teppichboden. Es gab nichts Schlimmeres, als an einem kalten Morgen hier aufzuwachen und mit den nackten Zehen auf eiskalten Fliesen zu laufen.
Ich zog meine Jacke aus und hängte sie über die Rückenlehne des alten braunen Ledersessels, der früher meinem Vater gehört hatte. Jedes Mal, wenn ich dort saß, nahm ich einen Hauch von Old Spice wahr, das er immer benutzt hatte, und das machte mich melancholisch. Ich versuchte, nicht mehr allzu oft darin zu sitzen, aus Angst, sein Geruch würde verfliegen.
Ich seufzte und setzte mich aufs Sofa. Dann legte ich die Füße hoch, lehnte mich einen Moment zurück und starrte an die Decke. Was für ein Tag war das heute. Erstaunlicherweise war ich in der Gerüchteküche über Marcys Schicksal noch nicht mit ihr in Verbindung gebracht worden. Mir war klar, dass dies nur eine Atempause war. Silverwood Hollow war ein recht kleines Städtchen, und schon bald würde jemand Wind davon bekommen, dass ich sie gefunden hatte. Dann würde ich die Klatschtanten nicht mehr abschütteln können.
Ich tastete meine Gesäßtasche ab und zog das Handy heraus, um Mom anzurufen. Nach dem zweiten Klingeln antwortete sie mit ihrer hohen, leise hauchenden Stimme. „Dakota Adair!“, sagte sie. „Wie schön, von dir zu hören!“
Das war Moms Ausdruck für „Warum hast du mich nicht schon früher angerufen?“ Ich unterdrückte ein Grinsen. „Hi, Mom. Wie geht’s?“
„Also“, hauchte sie, „ich war bei einem Yoga-Kurs in dem neuen Studio am Marktplatz. Die Frau, die es leitet, ist unglaublich unhöflich!“
Ich blinzelte. Mom nannte nur selten jemanden unhöflich, also musste die Frau eine wahre Tyrannin sein. „Wirklich?“
„Ja! Sie hat mir und Irma gesagt, dass wir im Kurs nicht miteinander reden dürfen!“
Ich kaute auf der Lippe herum, um nicht laut zu lachen.
„Ich war noch nie in einem Kurs, in dem ich mich nicht leise unterhalten konnte. Ich gehe da nie wieder hin.“ Sie sog genervt den Atem ein.
„Mom, Yoga ist was anderes als andere Sportarten. Es geht dabei allein um den inneren Frieden. Die körperliche Fitness ist dabei zweitrangig.“ Ich beäugte den Stapel Yoga-DVDs, die ich mir noch nie angesehen habe, weil ich oft so spät nach Hause kam. Aber Yoga war mein Ding. Die DVDs schienen allerdings einsam. Auf meinem weißen Fernsehsockel, unbenutzt und ein wenig verstaubt. Ich musste an diesem Wochenende putzen, bevor noch Unkraut aus meinem Teppich wuchs.
„Was soll denn mit meinem inneren Frieden sein?“, jammerte meine Mutter.
Ich musste lachen. „Ich bin nicht sicher, ob Yoga wirklich dein Ding ist, Mom, aber schön, dass du es ausprobiert hast.“
Sie räusperte sich. „Vielleicht gehe ich doch noch mal hin, nur um der Frau eins auszuwischen.“ Mom senkte die Stimme. „Sie ist Französin“, flüsterte sie.
„Äh … ja und?“ Kopfschüttelnd stand ich vom Sofa auf und schlurfte in die Küche.
„Wir haben hier keine Franzosen!“ Sie sagte es so, als wäre es skandalös, Französin zu sein. Ich fand es eher glamourös und nahm mir vor, in ihrem Studio vorbeizuschauen, um sie kennenzulernen. Vielleicht würde ich mich sogar für einen Kurs anmelden, wenn ich ihn zeitlich unterbringen könnte.
„Vielfalt ist bringt Würze ins Leben, Mom.“ Ich nahm mir ein Glas Wasser und trank es in einem Zug aus, während sie weiterredete.
„Na ja, sie ist unglaublich hübsch“, sagte sie. „Es wird nicht lange dauern, bevor ein gutaussehender Mann auftaucht und sie sich schnappt.“
„Obwohl sie so fies ist?“ Ich konnte das Grinsen in meiner Stimme nicht unterdrücken.
Sie hatte den Anstand zu lachen. „Dakota Adair! Du solltest dich nicht über deine Mutter lustig machen. Ich wünschte, ein begehrter Junggeselle würde kommen und dich wegschnappen. Schließlich werde ich nicht jünger, weißt du.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich habe kein Interesse daran, dass mich jemand wegschnappt, Mom. Ich habe mehr als genug zu tun.“ Das meinte ich ernst. Meine biologische Uhr tickte nicht, und ich war mir nicht sicher, ob sie es je tun würde. Klar wäre es schön, mit einem Partner zusammenzuziehen. Es konnte in dem kleinen Häuschen schon ein bisschen einsam werden. Aber ich würde nicht sofort mit Kinderkriegen beginnen wollen. Ich war nicht mal sicher, ob ich es überhaupt irgendwann wollte. Wenn sie in den Buchladen kamen, graute es mir immer eher vor ihren klebrigen Händen und dem verrückten Grinsen.
„Das hast du sicher, Liebling, aber irgendwann hätte ich gern Enkelkinder.“
Ich wechselte das Thema, bevor das Gespräch eskalieren konnte. Mindestens einmal im Monat ließ Mom die Babybombe platzen. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass in absehbarer Zeit keine Enkelkinder in Sicht waren.
„Ich wollte dir was erzählen, bevor du es von jemand anderem erfährst“, begann ich.
Mom schwieg und hörte zu. Sie unterbrach mich nicht, und als ich fertig war, hörte ich, wie sie leise den Atem ausstieß. „Ach, Liebling, das ist ja schrecklich. Möchtest du, dass ich vorbeikomme?“
Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich unterdrückte die Emotionen in meiner Stimme. „Ich würde mich freuen, wenn du heute Abend zum Essen kommst. Ich dachte an Pasta. Klingt das gut?“
Sie schnalzte mit der Zunge. „Aber natürlich! Wenn du herkommst, kann ich kochen.“
Ich schüttelte den Kopf, auch wenn sie es nicht hören konnte. „Ich würde gerne zu Hause bleiben, wenn es dir nichts ausmacht. Ich habe alles zum Kochen da.“
„Okay, Liebling. Dann bringe ich einen Laib Brot und etwas Wein mit. Sagen wir um sieben Uhr?“
„Klingt gut, Mom. Bis dann.“
Wir legten auf und ich ließ die Schultern hängen. Auch wenn ich dreiunddreißig Jahre alt war, wusste ich, wann ich mir eingestehen musste, dass ich meine Mom brauchte. Ich durchsuchte die Speisekammer und holte alles heraus, was ich brauchte, um eine Pasta mit Balsamico-Sahnesauce zuzubereiten. Es ist eines meiner Lieblingsrezepte, aber es wurde noch besser als ich es weiter verfeinerte. Ich koche gern, aber es macht nicht immer Spaß, nur für eine Person zu kochen. Ich musste noch herausfinden, wie ich die Menge in meinen Rezepten reduzieren konnte, damit nicht so viele Reste übrig blieben, doch da Mom heute Abend zum Essen kam, wusste ich, dass gerade genug übrig bleiben würde, um es morgen mit zur Arbeit nehmen zu können.
Lächelnd zog ich das Schneidebrett heraus und legte es auf die Arbeitsplatte. Aus dem Kühlschrank holte ich eine Schalotte, eine Knoblauchzehe und eine Packung Baby-Bella-Pilze. Nachdem ich alles klein geschnitten hatte, erhitzte ich ein wenig Avocado-Öl und ein Stück Butter und begann, alles anzubraten. Nach einem kurzen Blick aufs Handy beschleunigte ich das Tempo etwas. Mom sollte nicht zu lange warten müssen, wenn sie da war. Es war bereits sechs Uhr, ich hatte also Glück, sie noch erwischt zu haben, bevor sie zu Abend gegessen hatte. Es schien, als würde man mit zunehmendem Alter immer früher essen und ins Bett gehen. Wenn Mom um sieben Uhr vorbeikam, musste ich ihr gleich nach ihrer Ankunft das Essen servieren, damit sie nicht am Tisch einschlief.
Während ich das rührte, kicherte ich in mich hinein. Mom war wundervoll, aber sie war unausstehlich, was ihre Schlafenszeit anging.
Pünktlich um sieben Uhr klingelte es an der Haustür. Ich band mir die Schürze ab, lockerte meine Frisur auf und öffnete. Draußen stand Mom mit einer Flasche Wein und einem riesigen Baguette in den Händen. Ich nahm ihr beides ab und sie rauschte herein, noch bevor ich die Chance hatte, die Tür ganz zu öffnen.
„Es duftet köstlich hier drin! Ist das die Balsamico-Sahnesauce?“ Sie ging in die Küche und beugte sich über die Pfanne, um den Duft einzuatmen. „Ich schwöre, dieses Gericht ist das Allerbeste, stimmt’s?“
„Das ist es wirklich. Ich hatte ja keine Ahnung, wie gut Essig schmeckt, bis ich endlich angefangen habe, damit zu kochen.“ Ich fummelte am Korken herum, bis ich ihn aus der Flasche bekam, und nahm mir vor, einen neuen Weinöffner zu kaufen, sobald ich mein eigenes Gehalt ausgezahlt hätte. Der, den ich besaß, war uralt und ein Geschenk von Mom, die Dads alte Sachen durchgesehen hatte. Zwar trank ich nicht viel Wein, aber doch oft genug, um mir einen besseren Öffner anzuschaffen.
Mom nahm mir das Brot ab und begann, es zu schneiden. In nur wenigen Minuten hatten wir Schüsseln bis zum Rand mit Pasta und gegrilltem Hühnchen gefüllt und uns ein Glas Wein eingeschenkt.
Ich ließ sie den ersten Bissen kosten, weil ich gern für meine Mom koche und weiß, dass sie das schätzt. Schließlich hatte sie ihr halbes Leben damit verbracht, für mich zu kochen.
Everly Adair war immer noch eine schöne Frau, auch wenn die Trauer über den Tod meines Vaters kleine Fältchen in ihre Augen- und Mundwinkel gegraben hatte. In diesem Jahr würde sie siebenundfünfzig werden, sah aber wie Mitte vierzig aus. Sie hatte nach wie vor dunkles Haar, so wie meines, und ihre Augen waren immer noch strahlend blau und klar. Sie hatte eine schlanke Figur und behielt diese durch eisernes Training bei. Sie behauptete, gern zu essen, und wenn man gern esse, müsse man sich auch gern bewegen, denn nur so würde man nicht schlaff. Mom folgte ihrer Philosophie konsequent. Auch wenn ich nicht wusste, ob Yoga, nach der Auseinandersetzung mit der Französin, noch zu Teil derer würde.
Mom seufzte, während sie den ersten Bissen kaute. „Vielleicht bist du eine bessere Köchin als ich, Liebling“, sagte sie danach.
„Das bezweifle ich“, sagte ich, während meine Wangen erröteten. „Ich habe von der Besten gelernt.“
Wir blieben über eine Stunde sitzen, tranken Wein und plauderten, und mir wurde klar, dass meine Mutter wundervoll war. Ich meine, eigentlich wusste ich das längst, aber ich hatte unsere Beziehung vernachlässigt, weil ich so mit dem Buchladen beschäftigt war. Ich schwor mir auf der Stelle, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Schließlich mochte ichvsie als Mensch. Es war cool, mit ihr Zeit zu verbringen, kaum etwas brachte sie je aus der Fassung.
Nachdem wir fertig gegessen und uns noch ein Glas Wein eingeschenkt hatten, stand Mom auf und ging ins Wohnzimmer. „Ich bin von diesem Teppichboden begeistert, Dakota. Ich hätte nicht gedacht, dass das Dunkelgrau funktionieren würde, aber du hattest recht. Er sieht wirklich gut aus, mit der Wandfarbe.“ Sie schaute an die Wand und überlegte. „Was ist das noch mal?“
„Es ist Zinn. Die Farbe ändert sich je nach Lichteinfall.“ Manchmal wirkte sie taupefarben und manchmal grau. Sie ist eine meiner neutralen Lieblingsfarben. Die anderen Räume im Haus haben mehr Farbe bekommen, aber dieses Zimmer wollte ich offen halten, damit ich es jederzeit neu dekorieren konnte.
„Irma nervt mich ständig damit, dass ich den Wänden etwas mehr Farbe einhauchen soll“, murmelte sie. Irma war ihre langjährige beste Freundin, eine temperamentvolle Frau, die dazu neigte, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Egal, wie unangebracht es war. Sie brachte mich ständig zum Lachen, aber das lag wahrscheinlich daran, dass ich sie nicht oft zu sehen bekam. Sie konnte Mom echt auf die Nerven gehen, aber meine Mutter liebte sie und ertrug sie deshalb. Das bedeutete nicht, dass Mom nicht auch Irma in den Wahnsinn trieb. Ich konnte zwar sehen, dass die beiden aneinandergerieten, aber sie meisterten alle Probleme gemeinsam und schafften es trotzdem, immer wieder Chaos in Silverwood Hollow anzurichten. „Allerdings weiß ich nicht, was ich von einigen der Farben halten soll, die sie passend findet.“ Mom verzog das Gesicht. „Grün ist so schwer einzuschätzen. Einige Farbtöne sehen aus, als hätte man Babykotze an die Wände gespritzt.“
Mir entfuhr eine amüsierte Reaktion. „Es ist dein Haus, Mom. Streiche die Wände in der Farbe, die dir gefällt.“
Sie setzte sich aufs Sofa und streifte ihre Schuhe ab. „Das ist es ja. Ich weiß nicht, welche Farbe ich möchte. Ich will bloß, dass es hübsch aussieht. Wie von Zauberhand.“ Sie winkte mit der Hand. „In fünf Sekunden. Simsalabim. Ohne dass ich überhaupt ins Schwitzen komme.“
„Ich kann dir bei der Farbauswahl helfen. An einem Wochenende“, fügte ich hinzu. Ich war zu müde und schlecht gelaunt, um unter der Woche zu streichen, auch wenn ich es tun würde, wenn es unbedingt nötig war. „Ich kann vorbeikommen und dir beim Aussuchen helfen. Bring einfach ein paar Farbmuster mit, von denen du glaubst, dass sie dir gefallen könnten. Damit wir die Auswahl eingrenzen können.“
„Das werde ich tun.“ Ihr Blick wanderte in die Ferne. „Ich habe mit Irma über Marcy geredet. Wir beide kannten sie flüchtig.“ Mom verdrehte die Augen. „Carrie kannten wir besser. Nur, weil sie einen ziemlich fiesen Charakter hat, weißt du. Ihre Mutter ging früher immer in den alten Schönheitssalon. Du weißt schon, den am Stadtrand?“
„Wandas?“, fragte ich.
Mom schnippte mit den Fingern. „Genau. Sie war das netteste kleine Persönchen, das man sich vorstellen kann. Und sie hatte zwei kleine Mädchen. Carrie war immer furchtbar herrisch.“
Ich ließ das Weinglas sinken, das ich in der Hand hielt. „So lange kennst du sie schon?“
Sie nickte. „Oh ja. Es war eine schreckliche Tragödie. Das, was ihnen zugestoßen ist.“
Ich runzelte die Stirn, während ich darauf wartete, dass Mom fortfuhr, doch sie nahm nur einen Schluck Wein. „Mom!“
Sie blinzelte. „Was denn, Dakota? Meine Güte. Manchmal hast du unmögliche Manieren.“
In mir brodelte es. „Du kannst doch nicht einfach so etwas andeuten, ohne es näher auszuführen.“
Sie runzelte die Stirn. „Ach, du weißt es gar nicht?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, alle wüssten es.“
„Nein, Mom. Vieles, was in der Stadt passiert, geht an mir vorbei.“ Das war fast wahr. Die Leute, die zu Tattered Pages kamen, tratschten gern, und so erfuhr ich fast alles, was vor sich ging. Das meiste davon vergaß ich ziemlich schnell wieder. Vor allem, da es mich nicht betraf.
„Ihre Eltern kamen ein paar Orte weiter weg bei einem Autounfall ums Leben. Auf dem Weg zu einer Theateraufführung, glaube ich.“ Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr ihr dunkles Haar ins Gesicht fiel. „Die Mädchen blieben elternlos zurück und wurden von einer Tante, die in dieser Straße wohnt, aufgenommen. Es war eine schreckliche Geschichte.“
Voller Neugier setzte ich mich noch aufrechter hin. „Was haben ihre Eltern gemacht?“
Mom kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich glaube, die Mutter war Schriftstellerin oder so etwas. Der Vater Professor am örtlichen College. Englische Literatur, wenn ich mich nicht irre.“
Das würde Marcys Liebe zu Büchern erklären. „Kurz vor ihrem Tod kam Marcy in den Laden und ließ mich ein Exemplar von Alice hintet den Spiegeln auftreiben“, sagte ich. „Marcy machte sich wegen des Wertes keine großen Gedanken, aber Carrie schon. Sie wollte, dass Marcy die teuerste Sammlerausgabe auf dem Markt kauft.“
Mom nippte an ihrem Wein. Sie las zwar gern, aber nicht so begeistert wie ich. Einmal in der Woche kam sie im Laden vorbei und holte sich etwas Neues. Sie war gerade einem Buchclub beigetreten, doch bisher klang es, als würden sie mehr Wein trinken als lesen.
„Das überrascht mich nicht“, sagte Mom. „Carrie hat schon immer so getan, als sei die Welt ihr was schuldig. Ihre Tante kam manchmal mit ihnen im Salon vorbei, nachdem ihre Mutter tot war. Wenn überhaupt, wurde Marcy netter und Carrie noch schlimmer. Es ist ein Jammer. Ich frage mich, was Carrie ohne ihre Schwester machen wird.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Als sie in meinem Laden waren, wirkten sie unzertrennlich.“
Mom nickte. „Das sind sie schon seit Jahren.“ Sie stellte das Weinglas ab und griff nach ihrer Handtasche. „Ich muss los, Liebling. Morgen früh um 6:30 Uhr kommt ein Trainer vorbei.“
Bei meinem schockierten Blick grinste sie. „Ich muss in Form bleiben und das klappt nicht mit Yoga, also habe ich einen Typen namens Dan engagiert, der mich morgens aus dem Bett wirft und eine Weile mit mir durch den Park läuft. Du solltest mitkommen.“
Sie lachte laut über meinen entsetzten Blick. „Es würde dir guttun, Dakota. Umgeben von Büchern verkümmerst du, während deine Lunge nach frischer Luft schreit.“
„Es klingt, als würde ich lieber sterben“, sagte ich und stand auf, um sie zu drücken. „Außerdem mag ich meine Bücher.“
Sie nahm mich in die Arme, wie sie es immer getan hatte, als ich noch ein Kind war, und erstickte mich fast mit dem frischen Duft ihres Parfüms. „Menschen sind besser“, sagte sie. „Und manchmal auch seltsamer als Romanfiguren.“
Sie warf einen Blick in die Küche. „Brauchst du Hilfe beim Abwasch?“, erkundigte sie sich.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Sei vorsichtig auf dem Heimweg, Mom. Schreib mir, wenn du zu Hause bist.“
Sie öffnete die Tür und trat in den Flur. „Das tue ich. Versuch, die Ereignisse von heute auf sich ruhen zu lassen. Morgen ist ein ganz neuer Tag.“ Ein Grinsen erhellte ihr Gesicht, während sie sich zum Gehen umdrehte.
Mom und ihre aufmunternden Sprüche. Seufzend schloss ich die Tür. Zu einer vernünftigen Stunde ins Bett zu gehen klang wie eine ausgezeichnete Idee. Ich hatte morgen einen anstrengenden Tag vor mir.
Fünf
Um fünf nach neun klingelte das Telefon im Laden. Zerstreut beugte ich mich vor und griff danach, während ich mich noch darauf konzentrierte, das, was ich in der anderen Hand hielt, nicht fallen zu lassen. Wenn ich tagsüber nicht im Laden war, stellte ich das Telefon immer so ein, dass die Anrufe auf mein Handy umgeleitet wurden, es sei denn, es handelte sich um Angelegenheiten nach Feierabend. Die meisten Dinge konnten bis zum nächsten Tag warten, aber bei all dem, was gerade los war, aktivierte ich die Rufumleitung, wann immer ich den Laden verließ. Zumindest, bis alles vorbei war.
„Dakota Adair“, fauchte ich verärgert darüber, dass mich jemand anrief, als ich gerade erst in den Laden gekommen war.
„Miss Adair?“, fragte eine raue, vertraute Stimme.
„Ja“, sagte ich und versuchte, meine Tasse Kaffee zu balancieren, während ich den Kopf neigte, um in den Hörer zu sprechen.
„Hier ist Detective Cavanaugh. Wie geht es Ihnen heute?“
Beinahe hätte ich die Tasse fallen lassen. Warum in aller Welt rief er mich an? „Mir geht es … gut“, sagte ich gedehnt, wobei die Verwirrung nur so aus meinen Worten triefte.
Ihm entfuhr ein Schnauben. Als wüsste er, was ich dachte. „Hören Sie, es tut mir leid, Sie so früh am Morgen zu stören, aber ich wollte fragen, ob Sie heute zu Marcys Haus kommen könnten. Es gibt da etwas, das Sie sich ansehen sollten, und meines Wissens nach, sind Sie die Einzige in der Stadt, die das Fachwissen dafür hat.“
„Für was?“, fragte ich und stellte schließlich meinen Kaffee ab. „Ich möchte nichts Verstörendes sehen. Davon hatte ich gestern schon genug.“
Cavanaugh gluckste. „Nichts Komisches, das kann ich Ihnen versichern. Nachdem wir das Haus durchsucht hatten, fanden wir eine enorme Anzahl an Büchern, die über ein paar Zimmer verstreut waren. Eine meiner Kolleginnen liest viel und war erstaunt über einige der Bücher, die die Verstorbene besessen hat. Sie schlug vor, dass wir jemanden anrufen, der uns helfen könnte, den Wert ihrer Bibliothek richtig einzuschätzen. Wenn wir einen ungefähren Wert hätten, würde uns das bei den Ermittlungen helfen. Das Haus ist noch abgesperrt, aber ich kann Sie hinein lassen, wenn Sie etwas Zeit haben. Vielleicht heute gegen eins?“, fragte er gut gelaunt.
Zwar riss ich mich nicht darum, in Marcys Haus zurückzukehren, aber ich war auch noch nie zuvor gebeten worden, bei einer Ermittlung zu helfen und meine Neugier brachte mich schier um.
„Um eins“, stimmte ich zu. „Länger als eine Stunde kann ich nicht wegbleiben. Harper ist heute nicht da, deshalb muss ich zurück in den Laden.“
„Großartig“, sagte Cavanaugh und ich konnte die Erleichterung in seiner Stimme hören. „Ich komme dann vorbei und hole Sie ab.“
Stirnrunzelnd sah ich auf die Uhr an der anderen Wand des Raums. Mir blieben noch ein paar Stunden. „Ich würde lieber selbst fahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Die Stadt ist klein und ich habe nicht wirklich Interesse daran, Fragen danach zu beantworten, warum ich in ein Polizeiauto gestiegen bin.“
Sein amüsiertes Glucksen schwang durch die Leitung hindurch. „Detectives fahren keine Streifenwagen, aber ich verstehe. Ich dachte, es wäre vielleicht einfacher für Sie, als wenn Ihr Auto an einem frischen Tatort gesehen wird.“
Ich blinzelte. Er hatte recht. „Ähm … also gut“, sagte ich seufzend. „Solange Ihr Wagen nicht wie ein Polizeiauto aussieht.“
„Es ist eine dunkle Limousine, Miss Adair. Ich mag zwar ein Detective sein, aber ich bin kein Zauberer. Ich werde das Blaulicht und die Sirenen auslassen.“
„Ha. Witzig“, sagte ich.
„Dann sehen wir uns um eins“, sagte Cavanaugh mit belustigter Stimme. Er legte auf, und ich legte kopfschüttelnd mein Handy weg.
Das war wirklich merkwürdig. Wie viele Bücher genau musste die Frau haben, damit jemand wie ich hinzugezogen wurde? Nach dem College-Abschluss hatte ich mich zur Expertin für seltene Bücher fortgebildet und die Expertise zertifizieren lassen. Einfach weil ich eine Passion für sie habe. Die Zertifizierung hatte ich beibehalten und sie war vorteilhaft, als ich meine eigene Buchhandlung eröffnete. Ich war zwar eine der wenigen qualifizierten Personen im ganzen Bundesstaat, wuder aber gewöhnlich nur dann gefragt, wenn ein Buch mehr als ein paar Tausender wert war.
Stirnrunzelnd griff ich wieder nach meinem Kaffee und trank einen Schluck. Ich hatte zwar gewusst, dass Marcy einige Bücher hatte, aber nicht, dass es so viele waren. Vielleicht war das der Grund für den komischen Geruch, den ich in ihrem Haus wahrgenommen hatte. Manchmal rochen ältere Bücher eher modrig, besonders, wenn sie nicht fachmännisch gepflegt werden.
Harper hatte sich den Tag freigenommen, um Dinge zu erledigen, daher war ich allein hier. Der Laden öffnete um zehn und ich schloss ihn nur selten für etwas anderes als zur Mittagspause. Ich schaltete meinen Laptop ein und postete mit einer kurzen Nachricht auf unserer Facebook-Seite eine Info darüber, dass ich heute für etwa eine Stunde weg sein würde. Dann kritzelte ich eine kurze Notiz und klebte sie an die Tür.
Zwar würden sich die Kunden trotzdem über meine Abwesenheit ärgern, weil das einfach in der Natur der Sache lag, aber wenigstens hatte ich meinen Teil dazu beigetragen, sie zu informieren.
Mit der Tasse in der Hand machte ich einen schnellen Rundgang durch den Laden und nahm mir die Zeit, Bücher zurückzuschieben, die zu weit herausgezogen worden waren. Wenn eines aus der Reihe tanzte, stellte ich es ins Regal zurück. Ich räumte die Auslage mit den neuesten Büchern, die wir anboten, am Eingang auf, und staubte die Auslage im Schaufenster ab. Bald müssten wir sie aktualisieren. Vor allem, weil die Luft immer kälter wurde.
Ein kurzer Blick aufs Handy verriet mir, dass ich die Wartezeit bis zur Öffnung schon fast totgeschlagen hatte. Da mir noch fünf Minuten blieben, schloss ich den Laden auf und schaltete das Licht an. Draußen wartete zwar niemand, aber ich wusste, dass in wenigen Minuten der erste Kunde kommen würde.
Als ich mich umdrehte, um für einen kurzen Augenblick nach hinten ins Büro zu gehen, läutete die Glocke. Ich ignorierte den kleinen Funken Ärger darüber, gestört worden zu sein, und begrüßte die Kundin mit einem Lächeln. Es war eine junge Frau, die ein kleines blondes Mädchen an der Hand hielt. Ich winkte ihr zu, und sie belohnte mich mit einem Lächeln voller Grübchen.
„Kommen Sie rein“, sagte ich. „Wir haben gerade erst aufgemacht, daher haben Sie den Laden noch für sich allein.“
Die Mutter lächelte dankbar. „Die Kinderbücher?“, fragte sie.
Ich deutete nach hinten. „Da gibt es auch einen Sitzbereich.“
Die Frau zog sanft an der Hand des kleinen Mädchens, und ich sah ihnen nach, während sie gemeinsamen in den hinteren Teil des Ladens gingen. Ein Stich der Wehmut durchbohrte meine Magengrube und ich holte tief Luft. Ich hatte zwar keinen Wunsch nach einem Kind, vor allem nicht jetzt, aber zu sehen, wie das kleine Mädchen ihr ganzes Vertrauen in ihre Mutter setzte … also, das ging mir irgendwie nahe.
Kopfschüttelnd stellte ich mich wieder hinter die Theke und bereitete mich auf ein paar Stunden Arbeit vor. Ich unterdrückte meine Vorfreude auf das Treffen mit Detective Cavanaugh. Es war zwar okay, sich für alte Bücher zu begeistern, aber der einzige Grund, warum ich hinging, war etwas viel Tragischeres. Das durfte ich nicht vergessen, wenn mich die Aufregung über die Bücher packte. Und das würde sie. Bücher waren seit meiner Kindheit mein Leben. Manchmal musste ich mich daran erinnern, meine Nase aus dem aktuellen Buch zu ziehen und zu leben.
Mitunter war das schwerer, als es sich anhörte. Bücher waren angenehm.
Das wahre Leben war hart.
Detective Cavanaugh hielt fünf Minuten zu früh vor dem Laden an. Glücklicherweise stieg er nicht aus und ich rannte zur Tür hinaus, sobald ich sah, dass er sein Fenster herunterkurbelte und mir zuwinkte. Meine Handschuhe und die Mütze locker in den Händen haltend, hatte ich ungeduldig an der Tür gewartet. Die Jacke hatte ich schon angezogen und mir die Handtasche umgehängt. Ich öffnete die Tür, drehte mich um, schloss den Laden ab und rannte dann die Stufen hinunter, als wäre der Teufel hinter mir her. Ein kurzer schweifender Blick verriet mir, dass mich keiner beobachtete, aber die Stadt war so klein und so berüchtigt für Klatsch und Tratsch, dass man nie wusste, wann man gerade hinter von jemanden hinter den Jalousien beobachtet wurde.
Ich ließ mich auf den Sitz des neueren Toyota Avalon-Modells gleiten und atmete erleichtert auf, als warme Luft durch die Lüftungsschlitze wehte. Trotzdem zog ich mir die Handschuhe an, weil es nicht allzu lange dauern würde, bis wir bei Marcys Haus ankommen würden. „Was für ein netter kleiner Ausflug“, sagte ich und lächelte den Detektiv an, während ich den Sicherheitsgurt anlegte.
Clarke hatte den Großteil der Befragungen vor Marcys Haus übernommen, also war ich nicht dazugekommen, Cavanaugh gründlich zu beobachten. Gegen eine starke Kinnpartie und lange Wimpern bei der männlichen Spezies war ich nicht immun, das hatte er definitiv beides zu bieten.
Sein Haar war dunkel und kurz geschnitten, was seine tiefblauen Augen noch mehr betonte. Cavanaughs Haut war olivfarben. Wenn ich ihn einschätzen müsste, würde ich ihn für einen Italiener oder vielleicht sogar Griechen halten. Er hatte hohe Wangenknochen und volle Lippen.
Ich saß mit einem Hingucker im Auto und hatte das nicht mal bemerkt.
„Sie haben gerade die Fahrzeugflotte aufgewertet, also hatte ich Glück, dieses hier zu ergattern.“ Er verzog das Gesicht. „Normalerweise müssen wir uns mit Autos begnügen, in denen jahrelang Kaffee verschüttet wurde.“
„Nett“, stimmte ich ihm zu. Ich lehnte mich auf dem bequemen Ledersitz zurück und rückte die Handtasche auf meinem Schoß zurecht. „Was genau soll ich tun?“
„Ich weiß, Sie haben nur eine Stunde Zeit, aber es wäre hilfreich, wenn Sie uns den ungefähren Wert der Büchersammlung nennen können.“ Er fuhr mit beiden Händen am Lenkrad, in einer perfekten Zehn-vor-zwei-Position.
„Ich werde mein Bestes geben. Ich kann nicht vorhersagen, wie weit ich komme, aber ich werde einen Blick darauf werfen. Mal sehen, ob mir irgendwas ins Auge sticht.“
Er biss die Zähne zusammen. „Ich wette, das wird so sein“, murmelte er.
Ich runzelte die Stirn. „Ist denn etwas passiert?“
„Wir können keine Beweise für ein Verbrechen finden“, sagte Cavanaugh. Er presste die Lippen aufeinander.
Mein Herz fing an, heftig zu klopfen. „Aber Sie vermuten eines?“, fragte ich laut. „Warum?“
Cavanaugh verstummte und sagte nichts mehr, aber mir kam ein Gedanke. „Es sind die Bücher, nicht wahr?“, fragte ich atemlos. „Sie denken, dass jemand hinter ihnen her war.“
Weder bestätigte noch verneinte er es, aber ich vermutete, dass ich auf der richtigen Spur war. „Wow“, sagte ich. „Wenn das der Fall ist, war es ganz schön riskant. Es gibt nur eine kleine Anzahl ernsthafter Sammler in den Vereinigten Staaten“, fügte ich hinzu. „Wäre es nicht einfacher, Verdächtige danach
einzugrenzen?“ Ich runzelte die Stirn. „Aber, selbst wenn jemand Marcy umgebracht hätte, würden ihre Bücher einfach den Besitzer wechseln können. Jedenfalls nicht auf legale Weise.“
Cavanaugh lenkte den Wagen geschmeidig durch eine Linkskurve und fuhr schweigend weiter. Mir schwirrte der Kopf angesichts dessen, was dies womöglich bedeutete. „Sie glauben nicht, dass es ein Unfall war.“ Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. „Aber ich habe nirgendwo einen Blutfleck gesehen. Oder sonst etwas Verdächtiges.“
Der Detective seufzte. „Der Gerichtsmediziner arbeitet daran. Wir sollten in ein paar Tagen erste Ergebnisse bekommen. Die toxikologischen Untersuchungen könnten länger dauern.“
Ich schüttelte den Kopf und starrte aus dem Fenster. Was mir immer ein Problem bereitete, war die Tatsache, dass die Leute glaubten, sie könnten einem sein Eigentum wegnehmen. Bloß weil sie das haben wollten, was andere hatten. Aufgewachsen in Virginia, war mir das zwar nicht oft begegnet, aber in der Schule bekamen manchmal Schüler ihren Willen, auch wenn das nicht gerechtfertigt war. Das hier fühlte sich wie einer dieser Fälle an, aber in diesem Fall waren die Auswirkungen tödlich.
Wir verfielen in verbindendes Schweigen, doch ich warf ihm einen Seitenblick zu und bemerkte, wie angespannt Cavanaughs Kiefermuskeln waren, im Vergleich zu den feinen Fältchen in seinen Augenwinkeln. Entweder wusste er etwas oder er vermutete etwas. Es kam mir so vor, als würde er darauf zählen, dass ich es bestätigen würde.
„Cavanaugh?“, fragte ich leise.
„Hmm?“, erwiderte er, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Seine Hände umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß waren. Was auch immer er verschwieg, bereitete ihm Sorgen.
„Wenn jemand Marcy etwas angetan hat, dann werden Sie herausfinden, was es ist.“ Ich kannte ihn zwar nicht besonders gut, aber er schien ein vertrauenswürdiger Typ zu sein. Außerdem war er Detective. Wenn er keinen Weg fand, die Wahrheit ans Licht zu bringen, dann gab es möglicherweise gar keine Wahrheit, die es herauszufinden galt. In meinem Kopf spulte ich zurück zu dem Moment, in dem ich Marcy das letzte Mal gesehen hatte, als sie fröhlich, aber ein wenig gebrechlich in meinem Laden herumstöberte.
Cavanaugh sah mich eine Sekunde lang an, bevor er den Blick wieder auf die Straße richtete. „Danke“, sagte er leise. „Irgendwas … passt einfach nicht zusammen.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich an, als er in Marcys Straße einbog.
Beim letzten Mal, als ich hier gewesen bin, war mir aufgefallen, wie weit die Häuser auseinander standen. Eine nette Wohngegend. Aber jetzt, als ich genauer hinsah, fiel mir auf, dass in keiner der Einfahrten Autos standen. Das war seltsam für eine Stadt wie unsere, in der viele Handwerker, Künstler und Rentner leben. Ich runzelte die Stirn, als wir an einem Haus nach dem anderen vorbeifuhren, die alle unbewohnt wirkten.
„Wissen Sie irgendetwas über diese Gegend?“, fragte ich den Detective.
Cavanaugh blinzelte, als hätte ich ihn aus einer Erinnerung gerissen. „Nicht viel“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Mir ist bekannt, dass ein großer Teil der Nachbarschaft von einer Investmentgesellschaft aufgekauft worden ist. Das letzte Haus wurde vor etwa sechs Monaten veräußert.“
Bei dem, was das möglicherweise bedeuten könnte, bekam ich ein ungutes Bauchgefühl. Während er in Marcys Einfahrt einbog, setzte er sich etwas aufrechter hin. Als er anhielt, wurde sein Gesicht nachdenklich und er stieg zielstrebig aus dem Fahrzeug.
Ich folgte ihm, als er von ihrem Haus weg die Straße hinunter ging. Vor dem dritten Haus blieb er stehen. Es stand auch leer.
Cavanaughs Kiefernmuskeln spannte sich an und er rieb sich mit der Hand über die Wange. „Gut geschlussfolgert, Miss Adair. Wenn ich zurückkomme, hole ich Informationen darüber ein.“
Es fühlte sich nicht gut an. Es fühlte sich an, als ob er womöglich recht hatte und Marcy Opfer eines Verbrechens geworden war. „Wissen Sie, warum die Gegend aufgekauft wird?“, fragte ich. Meine Gedanken kehrten zu Jeff Bastian zurück. Er hatte mich ständig dazu gedrängt, ihm meinen Laden zu verkaufen, damit er ihn abreißen und an seiner Stelle etwas für die Geschäftswelt bauen konnte. Ein Konglomerat. Das ist das Letzte, was diese Stadt braucht.
Der Detective zuckte mit den Schultern und machte sich wieder auf den Weg zu Marcys Haus. „Wer weiß? Immer, wenn Investoren ihre Finger im Spiel haben, rege ich mich auf. An das Wohl der Stadt denken sie nur selten, wenn sie irgendwo auftauchen, um Grundstücke aufzukaufen.“
Wir gingen schweigend weiter, bis wir auf Marcys Vorderveranda standen. Sobald er die Tür aufgeschlossen und das Licht angemacht hatte, begann er zu reden.
„Lassen Sie sich hier drinnen so viel Zeit, wie Sie brauchen. Ich werde im Vorderbereich sein und mir den Tatort noch einmal ansehen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, ob ich viel finden kann, aber versuchen muss ich es.“
Ich zeigte auf meine Schuhe. „Muss ich Schuh-Überzieher anziehen?“
„Diesmal nicht. Wir haben alles erfasst, was relevant war. Ich kann die Schlüssel bald ihren nächsten Angehörigen übergeben.“
„Ist das Carrie?“, fragte ich und konnte ein Stirnrunzeln nicht ganz unterdrücken.
Sein Blick, der auf meinem Gesicht blieb, wurde schärfer. „Ja. Wieso? Stimmt mit ihr etwas nicht?“
Ich zögerte, dem Detective zu sagen, dass ich sie nicht mochte. Nur weil man jemanden unsympathisch findet, bedeutet das noch lange nicht, dass die Person zum Morden fähig ist. Kopfschüttelnd zog ich meine Jacke aus. Es war immer noch kühl hier drinnen, aber nicht so kalt wie draußen. „Nein. Neulich sind sie in meinen Laden gekommen. Sie war … dominant. Das ist alles.“
Aber ich war mir nicht sicher, ob es das war. Viele Leute waren dominant. Ich bin im Laufe der Jahre oft dominant genannt worden. Carrie war auch kontrollsüchtig. Vielleicht eher kontrollierend als dominant.
Der Detektiv machte so was wie „Hmmm“, als er zu der Stelle hinüberging, wo Marcy gestorben war. Ich seufzte. Mit gestrafften Schultern lief ich an ihm vorbei.
„Beginnen Sie im zweiten Raum auf der linken Seite“, sagte Cavanaugh; seine Stimme klang abgelenkt, während er sich bückte, um etwas auf dem Boden näher zu betrachten.
Ich machte einen großen Bogen um ihn. Meine Augen waren überall. Die Farbe an den Wänden war ein unauffälliges, neutrales und schlichtes Beige. Es hingen nur wenige Bilder an dem Wänden und darunter waren keine Fotografien. Ich ging an einem vorbei, auf dem eine Frau in einem blauen Kleid aus dem Fenster auf eine Strandszene blickte. Eine leere Einsamkeit umgab sie. Mir kamen die Tränen, als ich vor dem Raum stehen blieb, in dem ich Cavanaugh zufolge anfangen sollte.
Die Tür knarrte und ächzte, während ich sie öffnete. Ich rang nach Luft und wich zurück, als ein merkwürdiger, süßlicher Geruch aus dem Raum drang. Ich drückte meine Nase in die Armbeuge und trat durch die Duftwolke hindurch. In einem Raum voller Bücher wie diesem konnte ich kein Fenster öffnen. Dann würde Feuchtigkeit eindringen, ihren Wert also mindern. Bei den ersten Schritten stolperte ich über etwas. Als ich nach unten sah, bemerkte ich, dass ein Teil des Bodens herausgerissen und durch den neuen Bodenbelag ersetzt worden war. Es war merkwürdig, dass die Bücher trotz der aktuellen Renovierungsarbeiten noch hier drinnen waren. Ich tastete nach dem Lichtschalter und schnappte überrascht nach Luft. Bücher, hunderte von ihnen, säumten die Wände in hohen hölzernen Bücherregalen. Auf dem Boden stapelten sich die Bücher, im Schrank standen Bücher und auf den Regalen lagen Bücherstapel. Es wirkte wie eine total unorganisierte, chaotische Bibliothek. Die Buchliebhaberin in mir erwachte und wollte gleichzeitig jubeln und weinen. Die Sammlerin in mir wollte sich aber die Haare raufen und über die Zustände jammern, im exakt gleichen Moment.
Ich nahm langsam mein Gesicht aus der Armbeuge und versuchte, flach zu atmen. Das ließ den üblen Geruch zwar nicht verschwinden, doch es half.
Dann ging ich zum ersten Regal und beugte mich vor, um mir die Bücher anzusehen. Meine Kopfhaut kribbelte vor Aufregung, als ich den ersten Titel las. Es war eine Ausgabe von Der König von Narnia. Ich kramte in meiner Tasche nach den Handschuhen und stülpte sie mir über, bevor ich den Titel in die Hand nahm.
Als ich den Buchdeckel aufschlug, schlug mir der Geruch von Moder und etwas anderem entgegen, das ich nicht identifizieren konnte. Die Seiten waren in wunderbarem Zustand und ich konnte keinen Wasserflecken entdecken. Ich hielt das Buch hoch und drehte es um, damit ich es im Licht näher untersuchen konnte. Mein Puls raste, als ich die Impressums-Seite aufschlug.
Ich hielt eine Erstausgabe in meinen Händen. Von Narnia. Vom verdammten Narnia! Meine Hände zitterten, als ich das Buch vorsichtig an seinen Platz zurückstellte. Es sollte in einem temperaturgeregelten Raum sein, vermutlich unter Verschluss. Wenn ich den Wert schätzen müsste, war das Buch mindestens zehn Riesen wert. Ich zog einen Notizblock und einen Stift aus meiner Handtasche und fing an zu notieren. Ich hatte zwar nur eine Stunde Zeit, aber wenn Cavanaugh zustimmte, würde ich zurückkommen und mich weiter umsehen. Was sie alles? Wenn dies das erste Buch war, ließ sich nicht voraussagen, welche Schätze hier sonst noch zu finden waren.
Ich schluckte schwer und machte mich an die Arbeit.