1
Langsam schlenderte Holly durch das Einkaufszentrum. Sie war für einen Tag nach Glasgow gefahren und vertrieb sich die Zeit, bis ihr Zug nach Dumfries eintraf. Der Klang von Livemusik erregte ihre Aufmerksamkeit. Eine kleine Menschenmenge, die sich um ein Klavier am Rande der Plaza versammelt hatte und wie gebannt dem Klavierspiel eines Mannes lauschte, zog sie magisch an. Als sie näher kam, betrachtete Holly den Mann genauer. Er war vermutlich einige Jahre älter als sie. Sein Gesicht war ein wenig zu lang, er hatte einen breiten Mund und eine Nase, die etwas zu groß war, um als attraktiv zu gelten. Aber zusammen mit dem fransigen blonden Pony ergab seine Erscheinung ein stimmiges Gesamtbild. Sein Klavierspiel war betörend, als er die Tasten geradezu streichelte und dadurch so viel Zuneigung und Bedeutung in jeden Ton legte. Die Kleidung, die er trug, erinnerte sie an Ed Sheeran – Jeans und Hoodie, wobei er aussah, als ob er sich nicht wirklich Gedanken über sein Aussehen gemacht hätte. Ihm schien es nur um die Musik zu gehen.
Der Mann spielte nicht nur hervorragend Klavier, er war auch ein großartiger Sänger. Seine Augen schlossen sich, während er die hohen Töne der Coldplay-Hymne Fix You sang. Als er an der Stelle ankam, an der die Tränen flossen, begannen Hollys Augen zu brennen. Sie blinzelte. Eine Sturzflut von Gefühlen brach über sie herein. Holly war immer wieder überrascht, welche Macht die Musik doch hatte. Musik konnte Emotionen hervorrufen, die sonst verborgen blieben. Diese innere Traurigkeit kannte sie nur zu gut, wohl wissend, dass auch sie ihr Leben in Ordnung bringen musste. Sie hatte wirklich nie den einfachen Weg gewählt.
Sie kam noch näher, summte mit und fing plötzlich an zu singen, unfähig, der Versuchung zu widerstehen. Überrascht blickte der Mann am Klavier auf und musterte sie eingehend. Meine Güte, dachte sie, wie kann er nur solche Augen haben? Sie hatten die angenehm blaue Farbe eines Sommerhimmels, was seiner Erscheinung noch mehr Tiefe verlieh. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht und seine Augen funkelten. Holly grinste zurück. Sie war völlig verzaubert, gleichzeitig raste ihr Herz wie wild. Ein Gefühl von Freiheit, das sie nicht mehr loslassen wollte, breitete sich in ihr aus.
Sie bemerkte seine langen, eleganten Finger. Als er die ersten Noten des nächsten Liedes spielte, sah er sie an. Es war eine stumme Frage danach, ob sie das Lied kannte. Lächelnd kam sie näher und legte die Hand auf das Klavier. Natürlich kannte sie es. Es war ihr Lieblingslied. Der Soundtrack ihres Lebens. Fly Away von Lenny Kravitz.
„Ihre Stimme klingt toll“, sagte der Mann. „Beim letzten Lied haben Sie großartig mit dem Klavier und mir harmoniert. Wollen Sie mich auch diesmal begleiten?“ Seine Stimme klang geschmeidig und sanft, so mild wie ein edler Wein. „Singen Sie doch die Leadstimme. Dann übernehme ich die zweite Stimme.“
Die Leadstimme singen? Konnte sie das? Hatte sie dafür die Nerven? Es war schon eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal in der Öffentlichkeit gesungen hatte. Sie sah sich um. Filmte jemand? In diesem Fall hätte sie sich geweigert. Doch es sahen nur wenige Menschen zu, weit und breit war kein Telefon zu sehen. Wird schon klappen, beruhigte sie sich. Ihr Verlangen danach, zu singen und diesen unerwarteten Moment voll auszukosten, überlagerte ihr Bedürfnis, sich unauffällig zu verhalten. Er wird es nie erfahren, flüsterte sie der zweifelnden Stimme in ihrem Kopf zu.
Hollys Handflächen waren schweißnass, doch eine solche Gelegenheit konnte sie sich einfach nicht entgehen lassen. In ihrer Jugend war sie gerne öffentlich aufgetreten. Doch dann hatte ihr Leben eine völlig andere Wendung genommen.
„Okay.“ Sie nickte. „Ich versuch’s.“ Was konnte schon passieren, wenn sie es vermasselte? Sie kannte hier niemanden, und das Singen fühlte sich befreiend an. Es war ihre Art, mit all den schlimmen Dingen umzugehen, die in ihrem Leben passierten. Außerdem vertraute sie darauf, dass dieser Mann ihr aus der Patsche helfen würde, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Er hatte so eine freundliche Ausstrahlung.
Ihr Gesang wurde lauter und ihre Stimme höher. Sie schloss die Augen – so, als ob sie jedes einzelne Wort spüren konnte. Das tat sie wirklich. Der Text spiegelte haargenau ihre Emotionen wider. Sie wollte fliehen. Ein unbändiger Drang danach, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen, machte sich in ihr breit. Sie sehnte sich nach Freiheit.
Sie fühlte sich, als würde sie dahinschmelzen, während ihre Stimmen sich in perfekter Harmonie vereinigten. Es war so wundervoll, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Nachdem die letzten Töne verklungen waren, trafen sich ihre Blicke. Da geschah etwas Seltsames. Etwas, das sie nie zuvor gefühlt hatte, als wäre ihr Herz fremdgestartet worden. Hat er es auch gespürt? Diese einzigartige Verbindung zwischen ihnen, versunken in der Musik.
Der Applaus der Passanten brach den Bann. Holly errötete und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie war voller Freude darüber, dass ihre Darbietung so begeistert aufgenommen wurde. Das Publikum verlangte nach einer Zugabe. Sie war so in ihren Gesang vertieft gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, wie viele Leute stehen geblieben waren und ihr zugehört hatten. Ihre Wangen waren glühend heiß. War es der Applaus oder die Art, wie seine Augen auf ihr ruhten? Er wandte seinen Blick kein einziges Mal von ihrem Gesicht ab, als er die Einleitung zum nächsten Lied spielte, das sie zusammen singen sollten.
Sie wollte nicht, dass dieser Moment vorüberging. Deshalb stimmte sie auch in das nächste Lied ein. Diesmal sang er die Leadstimme, während sie die zweite Stimme übernahm. Als der letzte Ton verklungen war, stand er auf und ging um das Klavier herum. Er blieb neben ihr stehen, nahm ihre Hand und hob sie hoch in die Luft, gefolgt von einer theatralischen Verbeugung. Sie lachte und verbeugte sich ebenfalls. Ihre Finger waren mit denen des Mannes verschränkt – auf eine Weise, die sich natürlich und richtig anfühlte.
Aber es war falsch. Sie hatte Finn, oder etwa nicht? Und niemand konnte vorhersehen, was er tun würde, falls er herausfand, dass sie zusammen mit diesem Mann gesungen hatte – oder dass sie nun seine Hand hielt.
2
„Das hat Spaß gemacht“, sagte der Mann. Verwirrung lag in seinem Blick, als er ihre Hand losließ. „Sie haben eine wunderbare Stimme.“
Sie lachte verlegen. Sein Lob erfüllte sie mit Stolz, doch sie war auch ein wenig verblüfft. Noch nie hatte ihr jemand ein solches Kompliment gemacht. Dabei wäre sie sehr gerne Sängerin geworden. In einem anderen Leben. Leider hatte sie sich diese Möglichkeit vor vielen Jahren selbst verbaut. Die Gelegenheit, vor Publikum zu singen, würde sich so schnell nicht wieder ergeben.
„Sie auch. Und Sie spielen wirklich großartig.“ Der tosende Applaus war unglaublich, er ließ sie von Kopf bis Fuß erröten. Sie warf ihre Tasche über die Schulter und wandte sich ab. „Das ist seltsam. Gerade haben Sie meine drei Lieblingslieder gespielt.“
Langsam musste sie aufbrechen. Diese Begegnung würde immer eine wundervolle Erinnerung für sie bleiben, doch sie konnte sich noch nicht losreißen. Sie wollte diesen Moment noch ein wenig auskosten.
„Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“, fragte der Mann und blickte sich suchend um. „Da drüben am Eingang ist ein schönes Café.“
Zweifelnd sah sie auf ihre Armbanduhr und runzelte die Stirn. Nach kurzer Überlegung lächelte sie ihn an. „Na gut. Das wäre nett. Es dauert noch, bis mein Zug ankommt.“ Es ist doch nur ein Kaffee, sagte sie sich. Was macht das schon?
„Super. Ich bin übrigens Mark.“ Er grinste sie an, und sie schmolz dahin. Es war ein überwältigendes Gefühl, besser als alles, was sie je verspürt hatte.
„O, äh … Holly.“
Er beugte sich zu seinem Telefon hinunter, das er auf dem Klavier abgestellt hatte. Ein nervöser Ruck ging durch sie hindurch, als sie begriff, dass er die Darbietung aufgenommen hatte. O Gott. Was, wenn er das im Internet postet? Was, wenn Finn das sieht? Sie beobachtete, wie er seine Tasche aufhob und sein Telefon darin verstaute. Schnell versuchte sie, ihre negativen Gedanken abzuschütteln. Er wird es nie erfahren, beruhigte sie sich. Gerade war sie zutiefst dankbar für Finns Abneigung gegenüber Social Media. Instagram hielt er für komplette Zeitverschwendung.
Nichts sollte ihr diese einzigartige Begegnung verderben. Wer konnte schon sagen, ob sie jemals wieder dieses Gefühl von Leichtigkeit verspüren würde? Es war, als wäre sie mit Sternenstaub besprüht worden. Endlich passierte einmal etwas wirklich Magisches in ihrem Leben. Natürlich war das nur ein kurzer Augenblick, das war ihr vollkommen klar. Aber in letzter Zeit hatte sie sich so schlecht gefühlt, dass diese Begegnung einen kleinen Funken Hoffnung in ihrem Herzen entzündet hatte. Das Leben war voller wunderbarer Überraschungen. Endlich passierten sie auch in ihrem Leben.
„Woher kommen Sie?“, fragte Mark, als sie zum Café gingen. Damit durchbrach er die plötzliche Verlegenheit zwischen ihnen.
„Ich wohne in der Nähe von Dumfries.“ Sie hielt inne. „Bis auf Weiteres.“
„Wo ist das?“ Er lachte. „In Schottland kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich bin nur auf der Durchreise.“
„Oh, das liegt südlich von hier. Mit dem Zug braucht man ein paar Stunden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ehrlich gesagt weiß ich die Entfernung nicht genau.“ Sie warf ihm ein kurzes Lächeln zu. Nervosität stieg in ihr auf, als ihre Blicke sich trafen. „So richtig kenne ich mich hier auch nicht aus. Ich lebe noch nicht allzu lange in Schottland.“
„Ach so. Ich habe mich schon gefragt, warum Sie keinen schottischen Akzent haben.“
„Ich komme aus … weiter aus dem Süden.“ Das war angemessen vage. Sie ermahnte sich, vorsichtiger zu sein. Eine einzige unbedachte Äußerung konnte sie in große Schwierigkeiten bringen. Dass sie gerade mit diesem Mann zusammen war, war bereits ein Fehler. Hau ab, befahl ihr die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Doch sie hatte keine Absicht, der Anweisung Folge zu leisten. Nicht, wenn sie noch länger die Gesellschaft dieses wundervollen Mannes genießen durfte.
Er hielt Holly die Tür zum Café auf und ließ sie vor sich hindurchgehen. Wie nett. Ein echter Gentleman. Finn hatte ihr noch nie die Tür aufgehalten. Stattdessen ließ er sie meist hinter sich hertrotten. Als wäre sie ein Haustier, das ausgesetzt worden war, weil es immer für Verdruss sorgte.
„Wollen wir uns ans Fenster setzen?“ Holly zeigte auf einen leeren Tisch, und Mark folgte ihr bereitwillig. Er wartete geduldig, bis sie sich einen Platz ausgesucht hatte, dann legte er seine Tasche auf den gegenüberliegenden Stuhl. „Das geht auf mich“, sagte er. „Als kleines Dankeschön für Ihre hervorragende Darbietung.“
Sie lachte verlegen und wurde rot. Er ist definitiv ein Gentleman. „Okay, danke. Dann nehme ich eine heiße Schokolade. Für heute hatte ich schon genug Kaffee.“
Er ging zur Bar, um ihre Getränke zu bestellen, und kam mit mehreren Scheiben Kuchen zurück. Sie hoffte, dass das ein Zeichen dafür war, dass er ihre Gesellschaft genauso sehr genoss wie sie seine. Sie unterhielten sich über Musik. Er erzählte ihr, dass er bereits mit mehreren Musikproduzenten zusammengearbeitet hatte, für die er Werbevideos erstellte, um Tourneen und Neuerscheinungen anzukündigen. Allerdings war es sein Hobby, durch das ganze Land zu reisen und auf öffentlichen Klavieren zu spielen. Anscheinend gab es ein landesweites Verzeichnis dieser Klaviere. Mark hatte sich vorgenommen, auf allen davon einmal zu spielen.
„Ist das so was wie Trainspotting? Wie die Leute, die Züge beobachten und fotografieren?“, stieß sie hervor, während sie mit einem plötzlichen Lachanfall kämpfte. Was für eine nerdige Freizeitbeschäftigung! Aber das war vollkommen in Ordnung. Tatsächlich mochte Holly Nerds, weil sie einen gewinnenden Eindruck auf sie machten. Das war viel besser als Arroganz oder übermäßiges Selbstbewusstsein. Dieses Hobby passte so gut zu ihm, dass er ihr noch sympathischer wurde.
Ihr Gegenüber stimmte in ihr Lachen ein. Es war ein angenehmes Lachen – weich, nicht nervtötend. „Ja, das ist es wohl. Und wie Sie schon richtig geraten haben, bin ich ein Klavierfreak. Wissen Sie, jedes Klavier ist auf seine eigene Art besonders. Auch Klaviere haben eine Persönlichkeit. Keines klingt wie das andere.“ Er zog sein Telefon aus der Tasche. „Ich nehme alle meine Klaviervorführungen auf und stelle die Videos dann auf Instagram ein.“ Er tippte und wischte auf dem Display herum. „Wollen Sie sehen, wie toll wir beide zusammen gesungen haben?“
Hollys Herz raste bei diesen Worten. Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie das nicht …“ Sie verzog das Gesicht. „Die Sache ist die … Mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht posten würden. Auf Social Media bin ich immer sehr zurückhaltend.“
Daraufhin warf er ihr einen verwunderten Blick zu. „Okay, keine Sorge. Ich verstehe, dass nicht jeder in der Öffentlichkeit stehen will. Aber ich kann Ihnen das Video schicken, wenn Sie mir den Namen Ihres Instagram-Accounts weitergeben.“ Ihre Blicke trafen sich, als er auf ihre Antwort wartete. „Natürlich bleibt das Ganze zwischen uns, wenn Sie das möchten.“
Erleichtert sank sie zusammen. Niemand würde dieses Video jemals zu Gesicht bekommen. Dennoch wünschte sich ein Teil von ihr etwas Greifbares, eine Erinnerung an diese wundervolle Begegnung. „Okay. Geben Sie mir Ihr Telefon. Ich tippe den Namen ein.“
Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem und sah zu, wie sie ihren Accountnamen in sein Telefon tippte. Als sie es ihm zurückgegeben hatte, schickte er ihr das Video und spielte es ab. Sie steckten die Köpfe zusammen und lauschten dem Lied. Dabei berührte Hollys Schulter die von Mark. Sie war wie hypnotisiert, nicht nur von ihrem Anblick und dem Klang ihrer Stimme, sondern auch von der Art, wie er sie ansah, während sie sang. Sie lehnte sich an ihn, schwelgte in seiner Nähe und sog seinen Geruch ein. Er trug kein Aftershave. Sein natürlicher männlicher Geruch nach Moschus verleitete sie beinahe dazu, ihn an sich zu ziehen und zu küssen.
Diese Nähe war beinahe unerträglich. Sie verspürte ein Kribbeln, das sich großartig anfühlte. Bestimmt spürte er es auch? Es war ein Gefühl wie auf der Achterbahn, wenn man ganz oben angekommen war und wusste, dass man gleich hinunterstürzen würde. Er streichelte ihre Hand. Sie ließ es geschehen und schloss ihre Finger um seine.
Denk an Finn.
Sie schluckte und zog die Hand weg. Der Gedanke an ihren Freund ließ sie einen Blick auf die Uhr werfen. „O Gott“, stieß sie hervor und sah zur Tür. „Es tut mir wirklich leid, aber ich muss jetzt los. Wenn ich diesen Zug verpasse, bekomme ich Riesenärger.“
Sie griff nach ihrer Tasche, warf sie über die Schulter und stand auf. Ihr Ärmel rutschte ein wenig hoch und gab den Blick auf einen tiefblauen Bluterguss frei. An dieser Stelle hatte sie jemand zu stark am Handgelenk gepackt. Mark spannte den Kiefer an, als er den blauen Fleck bemerkte. Schnell zog sie den Ärmel wieder herunter. Eine Hitzewelle schoss durch sie hindurch.
„Geben Sie mir Ihre Nummer?“ In seinem Blick lag Hoffnung, doch sie schüttelte nur den Kopf und sah mit flackerndem Blick erneut zur Tür.
„Nein, tut mir leid. Das ist …“ Sie seufzte. „Das ist keine gute Idee. Finn würde durchdrehen. Er mag es nicht, wenn ich mit anderen Männern spreche.“ Sie lächelte schwach und schwieg für einen Moment. Ihre Hände lagen auf der Stuhllehne und hielten sie fest. Sie wollte noch nicht gehen. „Es war schön, Sie kennenzulernen. Wirklich schön.“ In ihrer Stimme klang so tiefes Bedauern mit, dass es ihm nicht verborgen geblieben sein konnte.
Er stand auf und griff nach seinem Rucksack. „Ich begleite Sie zum Bahnsteig. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“
Sie lächelte. „Okay. Aber wir müssen wahrscheinlich rennen. Ich bin schon spät dran.“
Als sie das Café verlassen hatten, nahm er ihre Hand und zog sie mit sich. Dabei redete er fortwährend, als ob er eine TV-Übertragung eines Sportereignisses kommentierte. Vor Lachen erstickte sie beinahe, so sehr genoss sie es. Fünf Minuten vor Abfahrt des Zugs trafen sie am Bahnhof ein. Hollys Wangen glühten, genau wie die von Mark. Als sich dann ihr Blick traf, konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
Es war dumm und falsch und fühlte sich trotzdem so richtig an. Er drückte ihre Hand. Auch er spürte die Anziehung, da war sie sich ganz sicher.
„Bleiben wir in Kontakt?“, rief er fragend, als sie sich von ihm gelöst hatte. Ihre Augen waren auf seine fixiert, ihr Herz klopfte heftig in ihrer Brust. Wie konnte sie nicht mit ihm in Kontakt bleiben, wenn zwischen ihnen eine solch tiefe Verbindung bestand? Sie konnte es sich nicht erklären. Und sie wollte definitiv nicht, dass es endete.
Sie seufzte. Ihr ging nur eine einzige Frage im Kopf um. Was mache ich bloß mit Finn?
3
Holly lehnte sich in ihrem Sitz am Fenster zurück, nachdem sie den Zug gerade noch rechtzeitig erreicht hatte. Nur Sekunden nachdem sie eingestiegen war, schlossen sich die Türen. Puh, das war knapp. Ihr Herz raste, nicht nur, weil sie so schnell gelaufen war. Sie hatte sich nicht mehr so gefühlt, seit… Stirnrunzelnd überlegte sie, ob sie sich schon jemals so gefühlt hatte. Nein, beschloss sie. Noch nie. Das fühlte sich besser an als ein leichter Rausch. Besser als eine Überraschung, ein Urlaub oder ein unerwarteter Gewinn. Sie lächelte ihr Abbild an, das sich in der Scheibe widerspiegelte. Es war das schönste Gefühl, das sie je erlebt hatte. Sie wollte es so lange wie möglich bewahren. Die Zugfahrt würde zwei Stunden dauern. Diese Zeit wollte sie damit verbringen, immer wieder die wundervolle letzte Stunde zu durchleben – und ihr halbes Leben.
Sie hatte es genossen, sich endlich einmal mit jemand anderem als Finn unterhalten zu können. Mit jemandem, der die Musik liebte und alle ihre Lieblingslieder kannte. Der nichts über sie oder die Schrecken wusste, die sie durchlebt hatte. Ich würde wetten, dass Mark nicht blutüberströmt nach Hause kommt.
Finn war Jagdaufseher auf einem großen Anwesen in Schottland. Zuerst hatte sein Beruf romantisch und außergewöhnlich geklungen, obwohl ihr Urteilsvermögen zu diesem Zeitpunkt zugegebenermaßen eingeschränkt war, nachdem sie drei doppelte Gin hinuntergekippt hatte. Hätte sie gewusst, was genau dieser Job beinhaltete, hätte sie wohl zweimal darüber nachgedacht, ob sie sich auf eine Beziehung mit Finn einlassen wollte. Aber da war sie nun. Sie saß bei einem Mann fest, der Freude daran hatte, Tiere zu quälen. Außerdem war er so besitzergreifend und eifersüchtig, dass er sie kaum aus den Augen ließ.
Sie starrte durch die Fensterscheibe, die von den Regentropfen ganz verschwommen war. Eine Formation grauer Wolken, die die Berge vor ihren Blicken verbarg, stand am Horizont und tauchte den Abend vorzeitig in ein düsteres Licht. Es war ein weiterer regnerischer Tag. Zuletzt hatte es viele davon gegeben, was keine große Überraschung war – immerhin hatten sie schon Herbst. Sie hatte den Eindruck, dass das Wetter genau ihrer Stimmung entsprach.
Hollys Gedanken kehrten zu Mark zurück. Sie lächelte in sich hinein, wohl wissend, dass sie von dieser Erinnerung noch lange zehren würde. Es war ihr Geheimnis, das sie für sich behalten würde wie ein kostbares Geschenk. In ruhigen Momenten konnte sie es Revue passieren lassen und immer wieder aufs Neue erleben. Sie zog ihr Telefon aus der Tasche und öffnete das Video, das Mark ihr geschickt hatte. Gleich darauf setzte sie ihre Kopfhörer auf und drehte die Lautstärke auf.
Der Liedtext ging ihr im Kopf um. Und der Mann, den sie gerade kennengelernt hatte. Mark. Ein passender, anständiger Name für einen überraschend tollen Menschen. Äußerlich ziemlich unscheinbar, aber ein musikalisches Genie im Innern. Seine Stimme war so geschmeidig wie Karamell, sein Klavierspiel sanft und gefühlvoll. Beim Klang ihrer beiden Stimmen, die so perfekt miteinander harmonierten, bekam sie eine Gänsehaut.
In ihrer Jugend hatte sie oft und gerne gesungen. Sie war Mitglied der Schulband gewesen, zusammen mit ein paar Freunden. Ihre Vorstellungen waren ziemlich schlecht gewesen, doch sie hatten zusammen viel Spaß gehabt. Außerdem war sie unsterblich in den Gitarristen verliebt gewesen. Er war mehrere Jahre älter als sie, und ihre Eltern waren strikt gegen die Beziehung, doch sie war jung und rebellisch. Niemand würde ihr vorschreiben, mit wem sie zusammen sein durfte.
Bis zu dem Vorfall, der ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte.
Im Rückblick war es wohl unvermeidlich gewesen, dass ihr Verhalten ihr irgendwann Ärger einbringen würde. Holly hatte jedoch keine Vorstellung davon gehabt, wie viel Ärger das war und wie lange diese Sache sie verfolgen würde. Ihre Probleme verfolgten sie wie ein Spürhund, der sie immer weiter trieb und sie dadurch zur Nomadin machte. Sie schniefte, wohl wissend, dass nur sie allein für ihre missliche Lage verantwortlich war, doch damals war sie ein dummer Teenager gewesen, der keine Ahnung vom Leben hatte. Es erschien ihr furchtbar ungerecht, dass ein einziger Fehler ihr ganzes Leben ruiniert hatte.
Eine Träne floss über ihre Wange, gefolgt von einer weiteren. Warum war sie Mark nicht früher begegnet? Warum hatte sie sich für jemanden wie Finn entschieden? Diese Frage war leicht zu beantworten. In dieser Nacht war Finn in der Bar gewesen, nicht Mark. Sie hatte keine Wahl gehabt.
Das Gewicht ihrer Tasche lastete auf ihrem Schoß und erinnerte sie an ihre geheime Mission – den wahren Grund, warum sie nach Glasgow gefahren war. Sie zog einen Umschlag heraus und griff hinein. Nun hielt sie einen nagelneuen Ausweis in der Hand und blätterte um. Das Foto sah schrecklich aus, doch es zeigte eindeutig sie. Der Name, der danebenstand, war jedoch ganz und gar nicht ihrer. Sie schloss den Pass wieder und streichelte über die Vorderseite, als hielte sie einen kostbaren Schatz in den Händen. Das war er auch – wertvoller als Geld, denn er verschaffte ihr Möglichkeiten, von denen sie zuvor nur träumen konnte. Der Ausweis war ihre Fahrkarte in die Freiheit.
Sie spannte den Kiefer an, als das Bild ihres Freundes vor ihrem geistigen Auge auftauchte und Mark verdrängte. Finn. Ihre Gefühle für ihn waren ein Durcheinander widerstreitender Emotionen. Ihre Gedanken ein Wirrwarr von Bildern und Worten, die sie unmöglich entwirren konnte. In den letzten Wochen hatten sie eine schwierige Phase durchlebt, mit ständigen Streitereien. Sie hatte immer häufiger das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Er war so wütend auf sie gewesen, dass seine Körpersprache keinen Zweifel daran ließ, dass er am liebsten zugeschlagen hätte. Glücklicherweise hatte er das nie getan, doch er hatte sie grob am Handgelenk gepackt und gegen die Wand gedrückt. Damit zwang er sie, ihm zuzuhören, während er ihr ins Gesicht brüllte. Dieser Vorfall hatte sie in ihrem Vorhaben bestärkt, einen Ausweis zu beantragen. Jetzt musste sie nur noch genügend Geld sparen. Dann hätte sie endlich eine Wahl.
4
Während der langen Rückfahrt nach Nordwales legte Mark eine Pause an einer Tankstelle ein. Er kaufte sich ein Sandwich und einen Becher Kaffee und setzte sich an einen Tisch. Hier wäre er für eine Weile ungestört. Seit er Holly am Bahnhof zurückgelassen hatte, konnte er an nichts anderes denken. Er rief sich wieder ins Gedächtnis, wie er ihr wehmütig nachblickte, als sie in der Menge verschwand.
O mein Gott, diese Frau war einfach perfekt. Alles an ihr. Sie hatte die süßeste Singstimme, die man sich vorstellen konnte, ein niedliches Lächeln, und mit welcher Anmut sie sich bewegte! Langbeinig und geschmeidig, war sie nur etwas kleiner als er selbst, mit blondem Haar und blauen Augen. Nur, dass ihre Augen etwas blasser waren als seine – wie Eiskristalle, die funkelten, wenn sie lachte. Und ihr Lachen klang wie Musik in seinen Ohren.
Er war sich vollkommen sicher, dass Holly die Eine für ihn war. Die Frau, die für ihn bestimmt war. Er hatte es gespürt, als sie sich küssten. Diese unerwartete, flüchtige Berührung ihrer Lippen hatte sich wunderbar angefühlt. Pure Magie lag in ihrem Kuss. Noch immer kribbelten seine Lippen bei dieser Erinnerung.
Er gluckste vor sich hin, wohl wissend, dass so mancher das als romantische Fantasie abhandeln würde, doch er glaubte an die Liebe auf den ersten Blick. Hatten seine Eltern nicht genau das erlebt? Nun ja, zumindest hatte seine Mutter ihm das erzählt. Leider konnte er sich kaum an seinen Vater erinnern. Er war gestorben, als er einem Nachbarn auf seinem Hof geholfen hatte. Seine Mutter hatte ihm nie erzählt, was genau vorgefallen war, doch wann immer er sie danach gefragt hatte, hatte sich pures Entsetzen auf ihrem Gesicht widergespiegelt. Das ließ ihn zu dem Schluss kommen, dass sein Vater ein blutiges Ende gefunden hatte.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte er allein mit seiner Mutter verbracht. Ihre Geschichten darüber, was für ein wundervoller, warmherziger Mensch sein Vater gewesen war, waren tröstlich gewesen. Wie er damals ihr Herz im Sturm erobert hatte, als sie sich in einer Bäckerei in Bala zum ersten Mal über den Weg gelaufen waren. Sie stand hinter der Theke und bediente. Er war in den Laden gekommen, um sich eine Pastete zum Mittagessen zu besorgen. Danach hatte er den ganzen Nachmittag gewartet, bis sie mit der Arbeit fertig war, und sie zum Abendessen eingeladen. Seitdem waren sie keinen Tag voneinander getrennt gewesen. Sie heirateten innerhalb von drei Monaten. Wenig später wurde seine Mutter schwanger mit Mark.
Sein Vater war zehn Jahre älter als seine Mutter gewesen. Er besaß ein kleines Haus, in dem Mark aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Der Gedanke, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, gefiel ihm. Und wie sein Vater hatte auch er sich nun auf den ersten Blick verliebt. Oder besser, auf den ersten Ton – schließlich hatte zuerst Hollys Stimme sein Herz berührt.
Er aß sein Sandwich auf und zog sein Telefon aus der Tasche. Erneut sah er sich das Video ihrer gemeinsamen Vorstellung an. Sobald er zu Hause war, wollte er den Sound etwas optimieren und noch ein paar Anpassungen vornehmen. Dann konnte er ihr eine noch bessere Version schicken. Es war sehr schade, dass er das Video nicht auf Instagram teilen konnte, aber versprochen war versprochen. Holly war eindeutig eine sehr zurückhaltende Person. Er hatte das Gefühl, dass mehr dahintersteckte.
Als er einen Blick auf ihre Instagram-Seite warf, fiel ihm auf, dass sie bis vor sieben Monaten regelmäßig gepostet hatte. Danach gab es keine neuen Posts, was ihm seltsam vorkam. Das letzte Foto, das sie gepostet hatte, zeigte sie mit einer Gruppe Frauen, die zu Abend aßen. Die Überschrift lautete: „Meine ersten Brandysnaps sind super geworden – man muss sie einfach probieren, nicht wahr?“, gefolgt von einem zwinkernden Emoji. Interessiert betrachtete er die Süßigkeiten auf dem Bild. Also konnte sie auch kochen. Das war wirklich großartig!
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte das Video noch einmal ab. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und schickte ihr eine Nachricht.
Es war wunderbar, dich heute zu treffen. Du hast einen nerdigen Pianisten sehr glücklich gemacht. Ich hoffe, dein Zug nach Hause ist pünktlich. Melde dich. Xxx
Waren drei Küsse zu viel? Unsicher ließ er seine Finger über dem Sende-Button schweben. Ein Küsschen bedeutete freundschaftliches Interesse und er wollte ihr zeigen, dass sie ihm mehr bedeutete. Er schüttelte den Kopf und drückte auf Senden. Egal. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Es hatte keinen Sinn, zu zögerlich zu sein … Oder vermittelten diese drei Küsse einen aufdringlichen oder arroganten Eindruck? Ihm wurde heiß. Mark befürchtete, dass er die Sache womöglich falsch angegangen war, doch es war zu spät. Jetzt konnte er nur noch abwarten und sehen, wie sie reagierte.
Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. Noch immer war er verunsichert. Warum war das nur so schwierig? Andere schienen diese Probleme nicht zu haben, aber er war überhaupt nicht gut darin, die Körpersprache von Frauen zu verstehen. Auch die Untertöne aus einem Gespräch herauszufiltern, war wohl keine seiner besonderen Fähigkeiten. Er spielte die Begegnung nochmals in seinem Kopf durch. Sie hallte in jeder Faser seines Körpers nach. Wie ihre Blicke sich trafen und ihre Haut sich berührte, wie sie über seine Witze lachte und ihm zuhörte. Und wie sie zögerte, ihn zu verlassen. Wie sie seine Hand gehalten und ihn geküsst hatte. So schlecht er auch darin war, weibliche Signale zu deuten, das bedeutete doch garantiert, dass sie an ihm interessiert war?
Sie hat einen Freund, sagte ihm eine fiese Stimme in seinem Kopf, die immer dann zur Stelle war, die Flammen zu löschen, wenn sein Herz Feuer gefangen hatte. Sie haben immer einen verdammten Freund. Das war das Problem, wenn man die dreißig überschritten hatte. Alle waren schon vergeben. Aber er fragte sich, ob Holly glücklich war.
Der blaue Fleck an ihrem Handgelenk tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Groß und dunkelblau. Sicherlich war einiges an Kraft notwendig gewesen, um einen solchen Bluterguss zu hinterlassen. Ein Ausmaß an Kraft, das in einer gesunden Beziehung nicht normal war. Und sie hatte ja erzählt, dass ihr Freund ziemlich eifersüchtig war. Das Zusammenleben mit ihm war sicher nicht einfach.
Seine Gedanken schweiften ab. Er stellte sich vor, wie sie ihm sagte, dass sie ihren Freund verlassen wollte, es aber nicht konnte. Er musste sie retten. Vielleicht war er ja wirklich ein Romantiker, aber solche Dinge passierten. Wenn er den Kontakt zu ihr aufrechterhielt und weiterhin mit ihr schrieb, wer konnte dann schon sagen, wo es hinführen würde? Ein letztes Mal spielte er das Video ab, in dem sie das Lied von Lenny Kravitz sangen, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Ab jetzt würde das für immer ihr Lied sein. Er war fest entschlossen, Hollys Wunsch zu erfüllen. Er würde ihr helfen, ihrer Beziehung zu entfliehen, wenn sie das wollte, und dann konnten sie zusammen wegfliegen.
5
Holly war wohl eingenickt, denn sie schreckte aus ihrem Schlaf hoch, mit dem Pass in ihrer Hand. Der Zug war zum Stehen gekommen. Erschrocken sprang sie auf, in dem Glauben, dass sie aussteigen musste. Dann hörte sie die Durchsage und verstand, dass sie noch nicht an ihrem Ziel angekommen war. Sie warf sich in ihrem Sitz zurück und schob den Pass wieder in den Umschlag, den sie tief in ihrer Tasche verstaute. Dieser Ausweis würde ihr eine völlig neue Welt eröffnen. Nach ihrer Rückkehr musste sie ein Versteck finden, in dem sie ihn sicher aufbewahren konnte, bis sie einen Fluchtplan geschmiedet hatte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben besaß Holly ein offizielles Ausweisdokument. Damit konnte sie reisen, was ihr die Möglichkeit verschaffte, diesem neuesten Loch zu entkommen, das sie selbst gegraben hatte. Tatsächlich konnte sie so einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben ziehen und irgendwo im Ausland neu anfangen. Diesmal richtig. Diese Aussicht war aufregend, fühlte sich aber auch ziemlich einschüchternd an. Vielleicht war es dafür einfach noch zu früh.
Jetzt, da sie einen Ausweis besaß, wäre die Jobsuche bestimmt einfacher. Sie könnte eine besser bezahlte Arbeit finden, anstelle der Aushilfsjobs, die sie normalerweise annahm. Dabei lief man immer Gefahr, ausgebeutet zu werden, weil die Leute wussten, dass man irgendwie zwielichtig war.
Da sie bislang keinen Ausweis vorzeigen konnte, musste sie im Land herumreisen und Saisonjobs annehmen. Bis vor vier Jahren, als sie einen Job in einem Hotel in Buxton im Peak District an Land gezogen hatte. Daraufhin nahm ihr Leben eine Wendung zum Besseren. Sofia, die Managerin, war eine mütterliche Frau, die ursprünglich aus Spanien kam. Holly war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen. Sofia suchte verzweifelt nach Personal und stellte Holly für die Küche ein. Außerdem stellte sie ihr eine Unterkunft zur Verfügung und bildete sie zur Sous-Chefin aus.
„Wenn du dich in der Küche auskennst, wirst du nie arbeitslos“, sagte sie und zeigte Holly, wie man Gemüse schnitt, ohne sich dabei die Finger abzuhacken. Sie zeigte mit dem Messer auf sie und ihre Augen schimmerten ernst. „Als ich damals nach Großbritannien gekommen bin, hatte ich nichts außer meinen Kochkünsten, und schau, wie weit ich gekommen bin. Jetzt führe ich ein komplettes Hotel.“
Sofia hatte Holly nie nach ihrer Vergangenheit gefragt. Unter ihrer Führung blühte Holly regelrecht auf. Endlich hatte sie sich sicher gefühlt. Und weil sie sich diesmal mehrere Jahre an einem Ort aufhielt und nicht nur wenige Monate, konnte sie ihre Passbilder von ihrem Hausarzt unterzeichnen lassen, der damit bestätigte, dass es sich um eine Übereinstimmung handelte. Leider musste sie Buxton verlassen, bevor sie ihren Antrag auf einen Ausweis einreichen konnte. Erst kürzlich hatte sie die Formulare ausgefüllt und ein Interview beim Passamt gehabt.
Im Hotel waren die Dinge großartig für sie gelaufen – bis Greg dort die Stelle des Chefkochs annahm. Beim bloßen Gedanken an ihn zuckte sie zusammen. Sie erschauderte unfreiwillig. Es war seine Schuld gewesen, dass sie abhauen musste. Und es war nur seine Schuld, dass sie jetzt im Haus eines Jagdaufsehers auf dem Gelände von Schloss Dumfries in der Falle saß.
Ihr frustriertes Grollen blieb ihr im Hals stecken, als sie das Bild von Greg aus ihrem Geist verdrängte. Er sollte keine Gelegenheit bekommen, ihren neu gewonnenen Optimismus zu zerstören. Das gehörte hoffentlich der Vergangenheit an.
Im Hotel hatte sie niemandem erzählt, wo sie hinwollte – nicht einmal Sofia. Stattdessen war sie mitten in der Nacht aufgebrochen und in Schottland gelandet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dumfries auf sie wie ein Ort gewirkt, der zufällig genug ausgewählt war, um nicht gefunden zu werden. Außerdem lag nun eine ausreichende Distanz zwischen ihr und Greg. Doch statt mit Gregs tastenden Händen musste sie sich nun mit Finns Wutausbrüchen herumschlagen.
Sie hatte überlegt, ihren Pass abzuholen und nicht zu Finn zurückzukehren, entschied sich jedoch dagegen, weil sie nicht ihre alten Fehler wiederholen wollte. Ohne Geld war es schwierig, an einen neuen Ort zu ziehen. Jedes Mal hatte sie gewaltige Abstriche machen müssen, nur um ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen zu haben. Wenn sie dieses Mal wegging, wollte sie es zu ihren Bedingungen tun – sobald sie sich dafür bereit fühlte und ausreichende finanzielle Reserven aufgebaut hatte, um diese Veränderung zu stemmen.
Nur noch ein paar Monate.
Das konnte sie schaffen, oder etwa nicht? Sie sah auf ihr Handgelenk hinunter. Der äußere Rand des Blutergusses war unter ihrem Ärmel zu sehen. Sie wand sich in ihrem Sitz und richtete ihren Blick auf das Fenster. Aufmerksam betrachtete sie die Regentropfen, die an der Scheibe hinabliefen. Letzte Woche hatte Finn sie zum ersten Mal körperlich verletzt. Ja, sie hatten sich auch früher schon gestritten. Viele böse Worte waren gefallen. Er hatte auch mehrmals versucht, ihr Selbstwertgefühl zu zerstören. Es hatte jedoch keine körperliche Auseinandersetzung gegeben.
Holly war verwirrt, weil dieser Kerl sich die meiste Zeit wie der liebenswürdigste Mensch der Welt verhielt. Doch dann musste sie nur etwas Falsches sagen oder die Hausarbeit schleifen lassen, und er explodierte sofort. Seine Stimmungsumschwünge kamen wie aus dem Nichts und vergingen so schnell wieder, wie sie gekommen waren. Er verhielt sich wie ein Tornado, der durch die Stadt fegte und eine Schneise der Verwüstung hinterließ, während im Hintergrund bereits wieder die Sonne schien. Mit ihm stimmt etwas nicht, dachte sie und massierte ihr blau verfärbtes Handgelenk. Eine Welle des Schmerzes fuhr durch sie hindurch. Das hatte er ihr angetan, weil ihr die Ecken der Lasagne, die sie mühsam zubereitet hatte, angebrannt waren.
„Das kann ich nicht essen“, hatte er geschnappt. Mit gekräuselten Lippen hatte er das Gericht angestarrt, das sie gerade aus dem Ofen geholt und auf dem Herd abgestellt hatte. Sie runzelte die Stirn, verärgert darüber, dass er so eine große Sache daraus machte. Er verhielt sich, als hätte sie ihn aufgefordert, eine Dose Hundefutter zu essen, keine aufwendig zubereitete Lasagne. Schließlich war sie nur an den Ecken ein klein wenig angesengt. „Wie schwer kann es sein, ein Auge auf das Essen zu haben? Schließlich hast du ja sonst nichts zu tun, oder?“
Dieser Seitenhieb galt der Tatsache, dass sie nicht arbeitete. Ironischerweise wollte er es genau so. In der Gegend wurden immer wieder Aushilfsjobs angeboten, aber Finn bestand darauf, dass Holly zu Hause blieb. Er würde sich um sie kümmern. Dafür erwartete er, dass sie sich auch um ihn kümmerte. Dass sie mit diesem Arrangement nicht einverstanden war, schien keine Rolle zu spielen. Sie hatten sich deshalb schon mehrere Male gestritten. Bald war ihr klar geworden, dass sie diese Auseinandersetzung nicht gewinnen konnte.
Sie verzog den Mund, als sie einen Blick auf die angesengte Lasagne warf. „Nur die Ecken sind braun. Nimm das mittlere Stück. Schau, das ist gut.“ Sie nahm den Servierlöffel und lud eine großzügige Portion auf seinen Teller. Sie selbst begnügte sich mit den verbrannten Ecken.
Finn saß erwartungsvoll am Tisch, mit einer Serviette auf dem Schoß. Für einen Mann von dreißig Jahren hatte er erstaunlich altmodische Ansichten. Er mochte es, wenn der Tisch schön gedeckt war, so wie seine Mutter es immer gemacht hatte. Sie war auch Hausfrau gewesen, und manchmal hatte Holly das Gefühl, dass Finn sie ständig mit seiner Mutter verglich – und sie dabei schlecht abschnitt. Sie stellte die Teller auf den Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Ihr Bedürfnis, ihn wegen seiner Pedanterie zurechtzuweisen, schluckte sie hinunter.
Dennoch wirkte er immer noch verärgert. Ihr Magen drehte sich um, die Muskeln in ihrem Nacken verspannten sich, als sie zusah, wie er den ersten Bissen aß. Sogleich verzog er das Gesicht und spuckte die Lasagne wieder auf seinen Teller. „Sie schmeckt verbrannt. Das ganze Essen ist ruiniert.“ Angewidert schob er seinen Teller weg. „Das ist ungenießbar.“
„Nein, ist es nicht. Mit der Lasagne ist alles in Ordnung. Ich habe ewig gebraucht, um sie zuzubereiten. Sie war nur ein bisschen zu lange im Ofen. Ich glaube nicht, dass sie …“ Sie heulte auf, als er blitzschnell über den Tisch griff und ihr Handgelenk wie in einem Schraubstock festhielt.
„Hör auf, Finn. Du tust mir weh.“ Sie wand sich und zuckte zusammen, als er seinen Griff verstärkte. Tränen traten ihr in die Augen.
„Von dir lasse ich mir nicht sagen, was essbar ist und was nicht.“
Er stieß ihren Arm wieder in ihre Richtung, wodurch sie in ihrem Stuhl umkippte. Sie griff nach dem Tisch, bekam aber nur das Tuch zu fassen. Ehe sie es sich versah, fielen Teller, Gläser und Besteck mit ihr auf den Boden.
Wütend stürmte er aus der Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Ihre liebevoll zubereitete Lasagne war über den Fliesenboden verstreut.
Wenn sie jetzt darüber nachdachte, wusste Holly, dass sich die Dinge danach geändert hatten. Er konnte sich so oft entschuldigen und ihr so viele Blumensträuße schenken, wie er wollte – ihr Herz hatte sich verhärtet. Noch schlimmer war die Erkenntnis, dass sie sich vor ihm fürchtete. Seine Stimmungsschwankungen versetzten sie in Angst und Schrecken.
6
Holly sah aus dem Fenster, während der Zug über die Gleise raste. Sie war in einen Tagtraum versunken. Gerade malte sie sich aus, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Sonnenschein wäre nett. Sie konnte die Wärme beinahe auf ihrem Gesicht spüren, als sonnenbeschienene Plätze und goldene Strände vor ihrem geistigen Auge auftauchten, türkisfarbene Meere und der Geruch von Sonnencreme. Flüge nach Spanien waren spottbillig. Außerdem hatte sie von Sofia einiges über das Land und seine schönsten Orte erfahren. Sie wusste, wie die Dinge dort funktionierten. Sogar einige der gebräuchlichsten Redewendungen hatte sie aufgeschnappt. Ja, sie würde nach Spanien gehen, beschloss sie, als sie zusah, wie die regennasse Landschaft an ihr vorüberzog.
Die Musik durchdrang sie geradezu, genau wie die Erinnerungen an den Nachmittag Einzug in ihren Tagtraum hielten. Mark. Sie hatte keine Erklärung für ihre Emotionen, aber ihr Herz schlug jedes Mal höher, wenn sie an ihn dachte. Es war, als ob sie innerlich leuchtete. Dass zwischen ihnen eine tiefe Verbindung bestand, war unbestreitbar, aber da war noch mehr. Es fühlte sich besonders an.
Wie er sie ansah … davon bekam sie eine Gänsehaut. War jemals irgendjemand so aufmerksam ihr gegenüber gewesen? Wann hatte ihr das letzte Mal jemand richtig zugehört? Während ihres Gesprächs war er wirklich aufmerksam gewesen. Obwohl sie sich gerade erst kennengelernt hatten, fühlte es sich an, als würden sie sich schon Jahre kennen. Und dann war da dieser Kuss … Seufzend durchlebte sie die Situation in Gedanken noch einmal. Wäre sie Dornröschen gewesen, hätte dieser Kuss sie garantiert aus ihrem Schlaf erweckt. Sie konnte nicht beschreiben, was daran so besonders war, aber ihre Lippen kribbelten immer noch. Wie oft im Leben passierte so etwas? Es war pure Magie gewesen. Ja, das war genau das richtige Wort dafür – Magie.
Ihr Telefon gab einen Laut von sich. Sie warf einen Blick darauf und lächelte, als sie eine Nachricht von Mark sah. Wie süß von ihm. Und er hatte drei Küsse angefügt. Drei. Sie hielt ihr Telefon fest an sich gedrückt. Jetzt wusste sie, dass Mark es auch gespürt hatte, diese tiefe Verbindung zwischen ihnen. Sie hatte es sich also nicht eingebildet.
Ein weiterer Ton kündigte noch eine Nachricht von Mark an.
Bitte versteh das jetzt nicht falsch, aber ich habe den blauen Fleck an deinem Handgelenk gesehen. Ich möchte dir nur sagen, dass ich ein Auto habe. Wenn du jemals von dort weggehen willst, komme ich und hole dich. Den Gedanken, dass irgendjemand dir wehtut, kann ich nicht ertragen. Xxx
Ihr Herz schmolz. Er war wirklich der fürsorglichste Mensch der Welt. Nun schämte sie sich ein wenig, weil er den Bluterguss bemerkt und seine Schlüsse daraus gezogen hatte. Die Tatsache, dass er ihr helfen wollte, verlieh ihr jedoch neue Zuversicht. Vielleicht war sie ja nicht auf sich allein gestellt. Vielleicht hatte sie endlich einen Verbündeten gefunden.
Sie schrieb ihm zurück:
Das ist wirklich nett, aber das war wohl ein Missverständnis. Ich meine den Bluterguss. Keine Ahnung, aber danke für das Angebot.
Sie zögerte kurz, bevor sie drei Küsse eintippte.
Beinahe sofort erschien eine weitere Nachricht auf ihrem Telefon. Es war ein Bild, auf dem sich zwei Menschen umarmten.
Keine Sorge. Du sollst nur wissen, dass du in mir einen Freund gefunden hast. Xxx
Warum konnte sie nicht mit jemandem wie Mark zusammen sein? Er hatte sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte. Er war ein Mann, der über emotionale Intelligenz verfügte. Das gab es nur selten.
Was, wenn er der Mann war, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte? Ihr Schicksal. Konnte das wirklich sein? War das Schicksal endlich auf ihrer Seite?
Sie spürte einen schmerzhaften Stich in ihrem Herzen, die Sehnsucht nach einem normalen Leben. Einem Leben, in dem sie nicht mehr fliehen musste und endlich Wurzeln schlagen konnte. Einem Leben mit richtigen Freunden, in dem sie wieder Erin Stamper sein durfte, statt so zu tun, als wäre sie Holly Rhodes.
7
Holly war jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Ihr halbes Leben hatte sie sich Holly genannt, genauso lange wie zuvor Erin, was ihr Geburtsname war. Sechzehn Jahre lang. Mittlerweile fühlte sich der Klang des Namens Holly ganz natürlich für sie an. Auch in ihrem Pass stand, dass sie Holly war. Dann war es wohl so. Niemand auf dieser Welt, außer einer Sozialarbeiterin in Birmingham, kannte die Wahrheit. Erin war untrennbar mit einer Vergangenheit verbunden, die sie nur allzu gerne vergessen wollte. Holly war ihre Zukunft.
Der Zug kam zum Stehen. Sie schreckte hoch, als ihr klar wurde, dass sie in Dumfries angekommen war. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Strecke war ihr noch nicht vertraut, weil sie sie erst zum dritten Mal in ihrem Leben gefahren war. Sie sprang auf und eilte durch den Gang zur nächsten Tür. Tief durchatmend legte sie sich eine plausible Geschichte zurecht.
Finn wartete auf dem Parkplatz auf sie. Das Logo von Castle Drumlanrig auf seinem Auto war unübersehbar. Es war ein Pick-up, dessen hinterer Teil mit Transportboxen für die Labradore und Spaniel ausgestattet war, die die Jagdaufseher begleiteten. Seine Hunde hatte er immer dabei. Wenn sie nicht bei der Jagd benötigt wurden, waren sie in Zwingern auf der Rückseite des Hauses untergebracht. Sie durften nicht ins Haus und wurden auch nicht wie Haustiere behandelt. Holly war froh darüber, weil sie ein wenig Angst vor Hunden hatte. Katzen mochte sie viel lieber.
Finn lehnte an der Fahrerkabine. Rauch stieg aus der selbst gedrehten Zigarette auf, die er zwischen den Fingern hielt. Er war groß gewachsen, ein typischer muskelbepackter Schotte mit Wikingergenen in seiner DNA. Auf seinem Kopf trug er eine Baseballkappe, unter der sein rotes Haar hervorlugte. Ein dicker Bart bedeckte die Hälfte seines Gesichts. Obwohl es schon Herbst war und das Wetter ziemlich kühl, trug er nur Jeans und ein T-Shirt, das den Blick auf seine tätowierten Arme freigab. Er sah aus wie jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte. Das war es wohl gewesen, was sie zu ihm hingezogen hatte, vermutete Holly. Sie hatte ihn als ihren Beschützer betrachtet, als harten Kerl mit einem weichen Herzen. Genau diesen Eindruck hatte er ihr vermittelt, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie hatte ihn für einen großen Softie gehalten und war stolz darauf gewesen, seine Freundin zu sein. Zumindest für kurze Zeit – bis ihr klar geworden war, worauf sie sich mit ihm eingelassen hatte.
„Na endlich“, rief er ungeduldig in seinem gedehnten schottischen Akzent, als er sie erblickte. „Ich warte schon seit einer halben Ewigkeit auf dich.“ Ihre Blicke trafen sich, und sie spannte ihre Schultern an. Dieses stählerne Glitzern, ein Zucken an seinem rechten Auge, kündigte für gewöhnlich Ärger an. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, warf ihm ein kurzes Lächeln zu und versuchte, sich unbefangen zu verhalten. Als wäre nichts gewesen.
„Der Zug hatte Verspätung. Irgendeine Signalstörung“, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie umklammerte ihre Tasche ein wenig fester.
„Wie war es bei deiner Mutter?“ Auf das letzte Wort legte er besondere Betonung.
Sie wagte es nicht, den Blick von ihm abzuwenden. Doch sie spürte, wie sie rot anlief und ihr heiß wurde. Sie konnte nur hoffen, dass er es im gedämpften Licht nicht bemerken würde. Bleib ruhig. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. „Es geht ihr schon viel besser, aber sie muss noch eine Weile im Krankenhaus bleiben. Für weitere Untersuchungen.“
„Und was fehlt ihr genau? Das hast du nicht gesagt.“
Nun durchbohrte er sie geradezu mit seinem Blick. Sie zögerte einen Augenblick zu lange, außerstande, auf die Schnelle eine bestimmte Krankheit aus dieser unendlichen Auswahl herauszufiltern. „Ein Schlaganfall“, plapperte sie drauflos. „Sie hatte einen Schlaganfall.“
„Na gut.“ Er nickte, zog noch ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf dann den Stummel auf den Parkplatz.
Sein Schlag traf sie völlig unvorbereitet. Ihr Kopf schnappte zur Seite, und ein brennender Schmerz machte sich in ihrer Wange breit, als sie gegen den Pick-up stolperte.
„Du verlogenes Miststück“, knurrte er.
Sie wich zurück, doch er packte ihre Jacke und ballte eine Faust. Er zog sie so nah an sich heran, dass sie seine Spucke auf ihrem Gesicht spüren konnte, als er sprach. „Ich weiß, dass du beim Passamt warst. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Ich habe dein Telefon geortet, weil ich wusste, dass ich dir nicht trauen kann.“ Er öffnete die Tür des Trucks und stieß sie hinein, als wäre sie ein Sack Hundefutter. Danach warf er ihre Tasche auf den Rücksitz.
Ein, zwei wertvolle Sekunden verstrichen, in denen er um den Pick-up herumging und sie hätte fliehen können. Es war eine verpasste Chance, weil sie vor Schreck völlig paralysiert war. Sie lag auf dem Vordersitz, desorientiert und wie gelähmt vor Angst.
Er kann mein Telefon orten?
Ihr Herzschlag klopfte so heftig, dass ihr Puls in ihren Ohren widerhallte. Das hatte er doch gerade gesagt. Es war ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass er so tief sinken konnte. Keine Minute hatte sie geglaubt, dass sie sich nicht einmal mehr frei bewegen konnte. Sie war sich vollkommen sicher, dass er ihr noch mehr Fragen stellen würde, sobald sie in seinem Haus angekommen waren. Nachdem er sie schon einmal körperlich angegriffen hatte, schien seine Hemmschwelle gewaltig gesunken zu sein. Nichts würde ihn davon abhalten, es wieder zu tun.
Sie zitterte wie Espenlaub. Vor Angst war sie immer noch wie gelähmt.
Dieser Schlag war vermutlich nur der Anfang. Doch für sie war er auch ein Ende. Falls sie irgendwelche Zweifel an ihrem Entschluss gehegt hatte, Finn zu verlassen, waren sie jetzt wie weggeblasen. Es war nur noch eine Frage des Wann und Wie. Sie schloss ihre Augen und stellte sich vor, wie sie Marks Hand hielt. Er würde kommen. Das hatte er ihr versprochen. Aber meint er das ernst, oder waren es nur leere Worte?
Das war viel verlangt, denn sie hatten sich gerade erst kennengelernt. Konnte ein Mann in einer solchen Situation überhaupt verlässlich sein? Sie setzte sich auf. Ihr Gesicht pochte immer noch und Tränen traten ihr in die Augen. Ab sofort musste sie noch vorsichtiger sein. Sie würde Marks Nachrichten löschen. Und das Video, in dem sie zusammen sangen.
„Du solltest dich anschnallen“, sagte Finn in einem freundlichen Tonfall, als ob nichts geschehen wäre. „Wir wollen schließlich nicht, dass dir etwas passiert, nicht wahr?“