Kapitel 1
Frija setzte sich mit einer Tasse Tee an den Schreibtisch und schaltete den Computer und die Monitore ein. Der Blick auf den See verhieß nichts Gutes, was die Sturmwarnung, die der Wetterbericht herausgegeben hatte, bestätigte. Dunkle Wolken ballten sich am Horizont zusammen, sodass der angrenzende Wald düster und bedrohlich wirkte. Der Wind heulte durch die Bäume, deren Äste wie knorrige Finger gegen den grauen Himmel ragten. Das Wasser des Sees, sonst ruhig und einladend, war jetzt unheimlich und aufgewühlt. Die Wellen schlugen ungestüm gegen das Ufer, als ob sie das Land verschlingen wollten, und die Umgebung war in ein unheimliches Zwielicht getaucht. Ein Gefühl von Beklemmung und Vorahnung lag in der Luft, so als würde sich die Natur auf einen bevorstehenden Kampf vorbereiten.
Bei diesem Anblick jagte Frija ein Schauer über den Rücken. Es war, als ob die Welt den Atem anhielt, kurz bevor das Unvermeidliche hereinbrechen würde. Angst mischte sich mit einer seltsamen Faszination – die rohe, ungezähmte Kraft der Natur war beeindruckend und furchteinflößend zugleich. Man fühlte sich klein und verletzlich, während der Sturm seine Macht entfaltete und die Landschaft in ein düsteres, dramatisches Schauspiel verwandelte.
Zum Glück hatte sie endlich eine kurze Nachricht auf dem Messenger erhalten, wann sie ihre Tochter wieder von der Schule abholen konnte. Zwar hasste Sara es mittlerweile und fühlte sich von ihr gegängelt, aber sie hatte keine ruhige Minute, wenn sie nicht genau wusste, wo ihre Tochter gerade steckte.
Beruhigt umfasste sie die Tasse, um ihre Hände aufzuwärmen, und trank einen Schluck. Sie schmeckte die Süße des Honigs heraus und leckte sich über die Lippen. Seit sie damit begonnen hatte, wieder etwas mehr für ihre Gesundheit und Fitness zu tun, fühlte sie sich bedeutend wohler.
Der Wind peitschte die Wellen, auf denen die weiße Gischt thronte, an das Seeufer des Erken und riss die letzten Blätter von den Bäumen. Aufgrund der Wetterwarnung hatte Frija das Joggen am Morgen ausfallen lassen. Mittlerweile war sie fast süchtig danach, sich die Laufschuhe anzuziehen, um am Ufer des Sees entlangzulaufen und sich körperlich zu verausgaben. Sobald die Endorphine ausgeschüttet wurden, verblassten die Sorgen. Und bei Gott, dieses Glücksgefühl hatte sie seit Jahren vermisst.
Seufzend wandte sie sich wieder den Monitoren zu. Die große Fensterfront im Arbeitszimmer mit Blick auf den See war ausschlaggebend für den Kauf des Hauses gewesen. Im Grunde genommen war es viel zu überteuert und renovierungsbedürftig angeboten worden, aber sie hatte ein Kleinod daraus erschaffen. Den größten Raum des Hauses hatte sie kurzerhand in ein Jugendzimmer umfunktioniert und sich selbst nur ein schnödes Klappbett ins Arbeitszimmer gestellt. Aber es reichte und sie war zufrieden damit.
Die Tastatur klackerte leise, als sie mit der Arbeit begann. Sie war in der Werbebranche tätig, weitab von der Firma, die ihren Hauptsitz in Stockholm hatte. Das Material wurde per Mail hin- und hergeschickt oder landete gleich nach Fertigstellung in der Cloud. Einmal im Vierteljahr musste sie sich in der Stockholmer Zentrale blicken lassen, um die neuen Aufträge zu besprechen. Während dieser Zeit wohnte Sara bei Matilda, Frijas bester Freundin.
Insgesamt war sie mit ihrem Leben zufrieden und bis auf einen passenden Mann fehlte ihr nichts. Aber das war ein Kapitel für sich. Entweder zog sie immer die falschen Typen an Land oder sie ließ es gleich nach dem ersten Date bleiben. Gebranntes Kind scheut das Feuer, obwohl einst aus diesem leidenschaftlichen Funkenschlag Sara entstanden war. Und sie sah ihre Tochter tatsächlich als ein Geschenk des Himmels an.
Das Smartphone gab einen leisen Ton von sich und Frija schaute aufs Display. Die Nachricht war von Matilda.
Hast du Lust, übernächsten Samstag mit unserer Clique zum Bowling zu gehen?
Und ob sie das hatte. Endlich wieder raus aus den eigenen vier Wänden, unter denen sie sich doch ab und zu begraben fühlte. Sie liebte das Leben fernab der großen Städte, war aber manchmal doch sehr allein. Hier draußen konnte es ziemlich einsam sein und nur selten verirrten sich Wanderer oder Touristen an diesen Ort.
Frija pickte sich verschiedene Grafiken heraus, die das Produkt des Kunden perfekt in Szene setzen sollten. Sie hatte drei Entwürfe in der engeren Auswahl, war aber immer noch nicht hundertprozentig überzeugt. Inzwischen hatte sie sich in der Branche einen guten Ruf erarbeitet und legte sich jedes Mal aufs Neue ins Zeug.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Hatte es gerade geklopft?
Fröstelnd zog sie die Schultern hoch. Gestern war ihr das schon einmal passiert. Als sie jedoch nach unten gestürmt war, hatte niemand vor der Tür gestanden. Sie versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren, doch es ließ ihr keine Ruhe.
Neugierig trat sie ans Fenster und musterte aufmerksam die Umgebung. Es war keine Menschenseele zu sehen. Der kleine Garten hinter dem Haus, den sie liebevoll hergerichtet hatte, lag nackt und verwaist vor ihr. Schließlich wandte sie sich ab und lief hinunter in die untere Etage. Sie linste durch den Spion und stieß erleichtert die Luft aus. Niemand stand vor der Tür. In letzter Zeit war sie schreckhafter als sonst, bei jedem noch so leisen Geräusch zuckte sie zusammen. Sie wusste ganz genau, dass sie sich das Klopfen am gestrigen Tag nicht eingebildet hatte.
In der Küche angelte sie sich einen Schokoriegel aus der Packung und schob ihn in den Mund. Nervennahrung, dachte sie lächelnd, manchmal muss man auch sündigen. Dann nahm sie ihre Arbeit vor dem Computer wieder auf. Der Wind heulte ums Haus und die Fensterläden klapperten. Heute war genau das richtige Wetter, um sich wie in einem Horrorfilm zu fühlen.
Aus der unteren Etage hörte sie wiederholt ein leises Poltern und fühlte sich gestört. Mit einem Seufzen erhob sie sich und ging nach unten.
„Na, ausgeschlafen?“, sagte sie zu Smilla.
Schnurrend strich ihr die getigerte Katzendame um die Beine und setzte sich anschließend demonstrativ vor die Tür.
„Willst du wirklich bei diesem Wetter raus?“, fragte Frija, während Smilla wiederholt an der Eingangstür kratzte und Freilauf einforderte.
„Ist ja schon gut, wie Madame befiehlt.“
Der Wind riss Frija die Tür beinahe aus der Hand und wirbelte ihr durchs Haar.
„Lauf nicht so weit weg …“, rief sie der Katzendame besorgt hinterher, die davonstiefelte und sie keines Blickes mehr würdigte.
Frija wollte die Tür gerade wieder zusperren, als sie nur wenige Meter vom Haus entfernt einen roten Stofffetzen entdeckte, der sich in den Sträuchern verfangen hatte.
„Was zum Teufel …?“
Mit nur wenigen Schritten war sie am Gebüsch angelangt und griff nach dem roten Stoff. Skeptisch rieb sie das Material zwischen ihren Fingerspitzen und hob den Blick, um sich genauer umzusehen. Irgendetwas stimmte hier nicht, das konnte sie deutlich spüren. Oder war sie gerade dabei, paranoid zu werden?
Sie lief zurück zum Haus, knallte die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken an das weiß lackierte Holz. Erneut betrachtete sie das ausgefranste Stück Stoff und ein kalter Schauer jagte ihr über den Rücken. Es schien von einem Strickpullover zu stammen. Genau so einen hatte sie vor der Geburt für ihre Tochter gestrickt. War es tatsächlich möglich, dass sich jemand unbemerkt an ihren Sachen zu schaffen gemacht hatte?
Achtlos ließ sie den roten Fetzen auf die alte Kieferntruhe fallen, riss die Kellertür auf und stürzte die Stufen hinunter. In einem Regal, in Plastikboxen vor Feuchtigkeit geschützt, lagerten die Schätze aus ihrem früheren Leben. Keuchend stapelte sie die Boxen um und stieß einen Freudenschrei aus, als sie Saras Babykleidung gefunden hatte. Mit fliegenden Fingern wühlte sie in den bunten Sachen und zog einen roten Strickpullover hervor. Gott sei Dank, sie hatte noch alle Sinne beisammen.
Liebevoll drückte sie das winzige Kleidungsstück an ihre Brust und erinnerte sich an Saras Geburt – den schönsten Moment ihres Lebens, als sie das kleine Bündel endlich in den Armen halten durfte. Ihre Tochter war schon damals ein sehr willensstarkes Kind gewesen und hatte ihren Unmut lautstark kundgetan.
Mit einem seligen Lächeln sammelte Frija die Kleidungsstücke wieder ein und faltete sie zusammen. Dann schob sie die Boxen zurück an ihren angestammten Platz und verließ mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck den Keller. Vielleicht half die Packung Johanniskraut im Küchenschrank, die sie dort für den Notfall aufbewahrt hatte. Sie machte sich mit ihrer inneren Unruhe noch verrückt.
Mit einer Tasse Kaffee kehrte sie für drei weitere Stunden an den Schreibtisch zurück und hatte endlich die zündende Idee, die ihren anspruchsvollen Kunden überzeugen würde. Das neue Konzept könnte ihm gefallen, davon war sie felsenfest überzeugt. Aber für heute war Schluss.
Sie stand auf, streckte sich und warf erneut einen Blick aus dem Fenster. Von Smilla fehlte jede Spur und auch der Sturm hatte nichts von seiner Kraft eingebüßt. Nach wie vor peitschte der Wind die Wellen hart gegen das Ufer und die kahlen Wipfel der Bäume beugten sich mit jeder Bö. Früher hatte Frija diese Wetterkapriolen gemocht, wenn sich nicht einmal mehr die mutigsten Wanderer aus dem Haus getraut hatten. Dann war ihr das falunrote Häuschen wie eine Festung erschienen, in der sie sich sicher fühlte wie in Abrahams Schoß.
Sie löste sich vom Anblick des Sees und ging hinunter in die Küche, um das Essen zuzubereiten. Das war einer der großen Vorteile, wenn man von zu Hause aus arbeitete. Egal wann ihre Tochter Schulschluss hatte, das Essen stand immer frisch gekocht auf dem Tisch.
Heute sollte es Pytt i Panna geben, knusprige Schinkenwürfel mit Kartoffeln und einem Spiegelei obendrauf. Eine schnelle Mahlzeit, da sie Sara gleich von der Schule abholen musste. Sie schälte die Kartoffeln, würfelte den Schinken und röstete sie in der Pfanne. Dann wusch sie sich die Hände, zog sich ihre Jacke über und verließ das Haus. In der Garage neben dem Haus stand ein Geländewagen, den sie sich nach jahrelangem Sparen endlich geleistet hatte. Sie verdiente nicht schlecht und ein robustes Fahrzeug war bei diesen unberechenbaren Witterungsbedingungen unverzichtbar.
Das elektrisch angetriebene Garagentor glitt nach oben und nur wenige Sekunden später heulte der Motor auf. Die Strecke bis zum Dorf betrug nur zwei Kilometer, ein Katzensprung. Frija fuhr einen unbefestigten Schotterweg entlang, der stellenweise durch den Wald führte. Der Wind traf seitlich auf das Fahrzeug und sie musste kraftvoll gegenlenken.
Die ersten Häuser von Svanberga tauchten vor ihr auf und sie bog schwungvoll auf die Hauptstraße ab, die zur Schule führte, wo sie den Wagen auf dem Parkplatz abstellte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich noch fünf Minuten bis zum Schulschluss gedulden musste.
Ein schwarzer Wagen zockelte im Schritttempo an Frija vorüber und ihr Herzschlag setzte für eine Schrecksekunde aus, als sie den Mann hinter dem Steuer bemerkte. Die Kappe, das rot-schwarz karierte Hemd, der Vollbart …
Hastig wischte sie sich über die Augen und riskierte einen zweiten Blick. Sie hatte sich getäuscht, das war nur Thore, der als Holzfäller in den umliegenden Wäldern arbeitete. Was, verdammt noch einmal, war nur mit ihr los?
Endlich ertönte die Schulglocke und Frija atmete auf. Sara verließ mit Svea, ihrer besten Freundin, das Schulgebäude und winkte ihr zu. Sie öffnete die Autotür und pfefferte ihren Schulrucksack auf den Beifahrersitz.
„Hallo, Mom. Was dagegen, wenn wir Svea vor ihrem Haus absetzen?“
„Nein, kein Problem, ist ja nur ein kleiner Umweg.“
Die Mädchen stiegen ein und setzten sich auf die Rückbank. Frija startete den Motor und fuhr los.
„Und, wie ist die Klausur gelaufen?“, fragte sie und musterte Sara im Rückspiegel. Wie schnell die Kinder doch groß wurden. Hatte ihre Tochter nicht erst gestern mit einem bezaubernden Zahnlückenlächeln im Kindersitz gesessen und genüsslich ein Eis geschleckt?
„Ging so“, antwortete Sara einsilbig.
„Jetzt komm schon, lass dich nicht immer bitten“, sagte Frija. Die Zeiten waren vorbei, in denen Sara wegen jeder Kleinigkeit zu ihr gekommen war. Sie vermisste diese enge Bindung, die sich allmählich aufzulösen schien. Aber so war das Leben. Altes verging, um Platz für Neues zu schaffen.
„Ich denke, dass ich mit einer guten Note rechnen kann. Die Fragen waren zwar kompliziert formuliert, aber im Großen und Ganzen konnte ich alle beantworten.“
Svea saß neben Sara und grinste breit.
„Wollt ihr euch später noch treffen? Ich meine nur, wegen des stürmischen Wetters.“
„Nein, nein, wir sind doch nicht lebensmüde“, antwortete Svea lachend. „Wir müssen nur noch für Mathe üben und falls wir Fragen haben, gibt es ja noch den Messenger.“
„Tja, die Vorteile der heutigen Zeit“, erwiderte Frija.
„Ach, Mama, wir wissen schließlich, dass du barfuß fünfzehn Kilometer durch den Schnee zur Schule laufen musstest.“ Sara kicherte albern.
„Immerhin, du hast dir die alten Kamellen gemerkt.“ Frija lachte und stoppte den Wagen vor Sveas Elternhaus. „So, da wären wir. Svea, dir noch einen schönen Nachmittag.“
„Danke, ebenso“, antwortete sie brav und stieg aus. „Bye-bye, Sara, wir sehen uns morgen.“
„Alles klar. Wir treffen uns wieder, wenn sich der Sturm verzogen hat.“
„Davon kannst du ausgehen …“
„Mädels, habt ihr es jetzt?“, fragte Frija ungeduldig.
„Jaaaa, Mom“, antwortete Sara gereizt und Svea schlug die Autotür zu.
Die restliche Strecke bis zum Haus legten sie schweigend zurück. Mehrere Tannenzapfen trafen die Windschutzscheibe, als eine heftige Bö durch die Bäume fegte. Frija fuhr den Wagen wieder in die Garage und rief besorgt nach Smilla.
„Miez, Miez, wo steckst du nur?“
Die Katzendame ließ sich nicht blicken und Frija schloss hastig die Haustür auf. Der Sturm hatte an Stärke zugelegt und das Holzhaus erzitterte bei jeder Böe.
„Himmel, was für ein Wetter“, sagte sie und huschte in den Flur. „In fünf Minuten ist das Essen fertig.“
„Okay, ich ziehe mich in der Zwischenzeit um.“
Kurz darauf saßen sie am Tisch.
„Was macht dein neues Projekt?“, erkundigte sich Sara.
„Ich hatte vorhin quasi den Durchbruch und wenn ich mich ranhalte, kann ich bis zum Abend meine Vorschläge nach Stockholm schicken.“
„He, das ist doch super. Falls es einen Extrabonus gibt, lass es mich wissen. Ich könnte eine neue Jeans gebrauchen.“
„Typisch, meine Tochter. Wenn es etwas zum Abgreifen gibt, dann bist du die Erste.“ Frija lachte.
Nur noch drei Jahre würden sie gemeinsam am Tisch sitzen und die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Schon jetzt wurde ihr schwer ums Herz, ihr kleines Mädchen ziehen zu lassen. Sara hatte große Pläne und wollte ausgerechnet in Stockholm studieren. Dabei wäre es Frija lieber gewesen, wenn sich Sara für eine andere Stadt entschieden hätte. Kleiner, überschaubarer und sicherer. Vielleicht würde es ihr noch gelingen, Sara in puncto Uni umzustimmen.
„Danke, es hat wie immer lecker geschmeckt.“ Sara stand auf und stellte den Teller in die Spüle. „Ich bin dann wieder in meinem Zimmer, lernen und so.“
„Ja, mach mal“, antwortete Frija abwesend.
Das wenige Geschirr spülte sie per Hand und hob mehrmals den Blick, um aus dem Fenster zu schauen. Sie hätte Smilla nicht ins Freie lassen sollen, schon gar nicht bei diesem unberechenbaren Wetter.
Ständig musste sie alles kontrollieren, es war fast schon eine Obsession. Sara reagierte in letzter Zeit auf Frijas übergroßen Mutterinstinkt mit Ablehnung, sie nabelte sich ab. Bei einem Streit hatte Sara ihr an den Kopf geworfen, dass sie von ihren Freundinnen oft mitleidig belächelt wurde, wenn sie die zehnte Nachricht von ihr in Folge beantworten musste. Sara schwärmte seit einiger Zeit für einen Jungen, aber bis heute hatte sie ihr keinen Namen verraten. Das Loslassen fiel Frija alles andere als leicht und dass Sara Geheimnisse hatte, versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz.
Sie kehrte in ihr kleines Büro zurück und machte sich wieder mit Feuereifer an die Arbeit. Es herrschte eine friedliche Atmosphäre im Haus, in der sie zur Höchstform auflief und ihr die kreativen Einfälle nur so zuflogen. Die Dämmerung hatte die Umgebung bereits in ein einheitliches Grau getaucht, als Frija auf den Senden-Button klickte und sich zufrieden zurücklehnte. Auftrag erledigt.
Anschließend klopfte sie an Saras Zimmertür und drückte die Klinke herunter. Ihre Tochter tippte in rasanter Geschwindigkeit einen Text ins Handy.
„Wolltest du nicht lernen?“, fragte Frija.
„Wolltest du nicht abwarten, bis ich dich ins Zimmer bitte?“, erwiderte Sara aufgebracht.
„In Ordnung, ich habe verstanden. Was möchtest du zum Abendessen?“
„Zwei Brote mit Käse und Tee.“
„Majestät, euer Wunsch ist mir Befehl.“ Frija lächelte.
Bevor sie in der Küche verschwand, ging sie noch einmal nach draußen, um nach Smilla Ausschau zu halten. Der heulende Wind verschluckte ihre Worte und sie sah ein, dass es wenig Sinn hatte, nach der Katze zu rufen.
Sie wollte sich gerade abwenden, als sie eine dunkel gekleidete Gestalt zwischen den Birkenstämmen verschwinden sah. Ihr Herz klopfte wie ein flatterndes Vögelchen und die Furcht kroch ihr den Nacken hinauf. Wie gebannt starrte sie auf die Stelle, an der sich die Gestalt scheinbar in Luft aufgelöst hatte. Die Umgebung war zu einer dunklen Masse verschmolzen, denn das Tageslicht hatte sich bereits verabschiedet.
„Smilla?“, rief sie ein letztes Mal, dann eilte sie ins Haus zurück. Nervös strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Die letzten Jahre hatte sie sich so geborgen und energiegeladen gefühlt wie nie zuvor. Warum kehrte ausgerechnet jetzt die Angst zurück?
„Mama?“ Sara hatte ihr Zimmer verlassen und musterte sie fragend. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“
„Ich war kurz draußen, um nach Smilla zu sehen. Aber sie ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Ich habe dir doch schon so oft gesagt, dass du eine Katzenklappe in die Haustür einbauen sollst“, sagte Sara neunmalklug. „Ständig lässt du die Katze raus und machst dir anschließend Sorgen. Dabei ist Smilla immer wieder aufgetaucht.“
„Du hast ja recht, aber ich kann ihrem bettelnden Blick einfach nicht widerstehen.“
Frija hätte Sara gern von der unheimlichen Gestalt erzählt, von ihren nagenden Ängsten, aber sie brachte kein einziges Wort über ihre Lippen. Reiß dich gefälligst zusammen, ermahnte sie sich, deine Fantasie hat dir nur einen üblen Streich gespielt. Sie durfte ihre Tochter keinesfalls verunsichern, schon gar nicht jetzt, wo sich die Situation zwischen ihnen veränderte.
„Wir könnten Smilla zum Beispiel ein Häuschen zimmern, in dem sie sich verkriechen kann, wenn es regnet“, sagte Sara.
„Gute Idee“, antwortete Frija. „Vielleicht gibt es so etwas auch im Internet zu kaufen, das spart eine Menge Zeit.“
„Immerhin ein Kompromiss.“
Sara verschwand wieder in ihrem Zimmer, während Frija an den Schreibtisch zurückkehrte, um nach einem Häuschen für Smilla zu suchen. Diesmal zog sie die Vorhänge zu, man wusste schließlich nie, wer sich da draußen herumtrieb. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sich statt der Katze einen Hund zuzulegen. Während Smilla stets durch Abwesenheit glänzte, hätte der Hund ganz sicher angezeigt, wenn ein Fremder in der Nähe gewesen wäre.
Suchend klickte sich Frija durch die Seiten. Die Auswahl an Hütten für Hund und Katz hielt sich in Grenzen und so hatte sie innerhalb weniger Minuten ihren Kauf getätigt. Nun würde Sara endlich Ruhe geben und Smilla hätte einen Ruheplatz – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Frija wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Schüsse hallten in ihren Ohren wider und der Boden war mit Blut bedeckt. Leise stöhnend griff sie sich an die Brust und fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf. Das Mondlicht, das sich durch einen schmalen Spalt im Vorhang zwängte, ließ ihre Haut sanft schimmern. Hektisch tastete sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das warme Licht vertrieb die dunklen Schatten und ihr Herzschlag beruhigte sich.
Fröstelnd schlug sie die Bettdecke zurück, streifte sich den Morgenmantel über und schlüpfte in ihre Schuhe. Mit der Taschenlampe bewaffnet schlich sie nach unten, um Sara nicht zu wecken. Eine innere Unruhe hatte sie erfasst, weil Smilla immer noch draußen herumstreunte. Außerdem konnte sie die unheimliche Gestalt nicht vergessen, die sich wie ein Geist zwischen den Bäumen aufgelöst hatte.
Der Schlüssel kratzte leise im Schloss, als sie die Tür öffnete. Abwartend blieb sie auf der Schwelle stehen und lenkte den Strahl der Taschenlampe über den Boden. Ausgeblichenes, verdorrtes Gras, kahle Zweige, die der Sturm von den Bäumen gerissen hatte, und mittendrin ein reflektierendes Augenpaar. Sie wollte gerade erleichtert aufatmen, als der Fuchs mit weit ausholenden Sprüngen in den angrenzenden Wald flüchtete.
„Smilla, wo steckst du nur?“, rief sie in die undurchdringbare Finsternis. Der Wind trug ihre Worte fort, ohne dass sie ihr Ziel erreicht hätten.
Sie zog den Morgenmantel fester um ihre schmalen Schultern und lief nach draußen. Die Haustür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss. Frija entfernte sich mit zögerlichen Schritten, während der helle Lichtkegel der Taschenlampe die nähere Umgebung erforschte.
Der Ruf eines Käuzchens ließ sie zusammenzucken. Smilla schien nicht in der Nähe zu sein, es hatte keinen Sinn, weiter nach ihr zu suchen. Der eisige Wind fuhr ihr unter den dünnen Morgenmantel, Zeit umzukehren. Die Katzendame würde schon wieder auftauchen.
Sara bestrich ihr Knäckebrot dick mit Erdbeerkonfitüre und trank einen Kakao. „Der Sturm hat nachgelassen, ich werde wieder mit dem Bike zur Schule fahren“, erklärte sie zwischen zwei Bissen.
„Nichts da“, widersprach Frija. „Ich werde dich mit dem Wagen bringen, es ist viel zu gefährlich.“
„Warum?“
Teenager und ihre tausend Fragen. Sie hatte schon seit Tagen ein ungutes Gefühl im Bauch, nur wie sollte sie das Sara erklären?
„Dich könnte zum Beispiel ein herunterfallender Ast treffen und das Autodach ist bekanntlich härter als dein kleiner Dickschädel.“ Frija lächelte, obwohl ihr keineswegs zum Scherzen zumute war.
„Mom, bitte übertreib nicht.“
„Mach ich doch nicht.“
Frija strich ihrer Tochter liebevoll durchs lange Haar.
„Wir haben heute eine Stunde früher aus, nur damit du Bescheid weißt.“
„Geht in Ordnung, mein Mädchen. Können wir los?“
„Von mir aus …“
Frija leerte ihre Kaffeetasse und schnappte sich die Autoschlüssel. Draußen vor der Tür kam ihnen Smilla laut maunzend entgegen.
„Gott sei Dank, du bist wieder da“, rief Frija erleichtert und bückte sich, um Smilla auf den Arm zu nehmen und ins Haus zu tragen. Im Katzenfell hatten sich Spinnweben und Tannennadeln verfangen und Frija fragte sich, wo sich Smilla wohl überall herumgetrieben haben könnte. „Für heute hast du Stubenarrest, Madame“, sagte sie und setzte die Katze auf dem Küchenstuhl ab.
„Moooom, ich komme zu spät“, rief Sara ungeduldig.
„Ich bin schon unterwegs“, antwortete Frija und zog die Haustür hinter sich zu.
Na also, es gab nichts, worüber sie sich den Kopf zerbrechen müsste. Wahrscheinlich hatten ihr die Sinne gestern in der Dämmerung einen Streich gespielt.
Kapitel 2
„Matilda, du weißt Bescheid?“ Frija musterte sie fragend.
„Ich habe dein Töchterchen doch nicht zum ersten Mal in meiner Obhut“, erwiderte ihre beste Freundin lachend. „Sie wird für die bevorstehende Klausur fleißig büffeln und anschließend gibt es eine extragroße Pizza.“ Matilda zwinkerte Sara fröhlich zu. „Entspanne dich und genieße die zwei Tage. Es wird wirklich Zeit, dass du Stockholm wieder unsicher machst.“ Sie nickte wissend.
„Ich bin nur dort, um meinen Job zu erledigen“, sagte Frija.
„Ja, sicher. Aber wer sagt denn, dass du nicht auch ein wenig Spaß haben kannst?“
Matilda versuchte bei jeder Gelegenheit, sie zu verkuppeln. Frija war gerade einmal Anfang vierzig und lebte seit Jahren allein. Ihrer Freundin hatte sie den Grund bis heute nicht erzählt, und das war auch gut so. Je weniger Personen involviert waren, desto besser. Das brachte sie zwar hin und wieder in Erklärungsnot, aber damit konnte sie leben.
Frija nahm ihre Tochter zum Abschied in den Arm und küsste sie auf die Stirn. „Mach keine Dummheiten, meine Kleine.“
„Ich doch nicht“, erwiderte Sara genervt.
„Gut, dann werde ich mich jetzt auf den Weg machen“, sagte Frija und stand unschlüssig vor der Tür.
Matilda ergriff daraufhin die Initiative und schob Frija nach draußen. „Los jetzt, hopp, hopp, ab nach Stockholm.“
„Du bist unmöglich.“ Frija lachte. „Pass bitte gut auf mein Mädchen auf.“
„Du kannst dich auf mich verlassen, großes Indianerehrenwort.“
Frija winkte Sara und Matilda noch ein letztes Mal zu und stieg in den Wagen. Bevor sie losfuhr, atmete sie mehrmals tief durch. Sie hatte diese innere Unruhe immer noch nicht abgelegt, obwohl, oberflächlich gesehen, alles wieder in bester Ordnung war. Katzendame Smilla hatte inzwischen ihr hübsches Holzhäuschen neben dem Eingang bezogen und es irrte auch keine unheimliche Gestalt durch die Nacht, deren dunkle Silhouette sich im Nichts auflöste.
Frija startete den Motor, drückte kurz auf die Hupe und fuhr in Richtung Schnellstraße. Dunkle Wälder, lichtdurchflutete Seenlandschaften und idyllische Ortschaften zogen an ihr vorüber. Bunte Schilder am Straßenrand verwiesen auf Feriendomizile. Nach einer Stunde Fahrzeit verdichtete sich der Verkehr rund um Stockholm und Frija spürte die ersten Anzeichen einer Kopfschmerzattacke. Ein starker Kaffee würde sicher helfen.
Am späten Vormittag hatte sie schließlich ihr Ziel erreicht. Stockholm ist eine der schönsten Städte der Welt, dachte sie, während sie den Wagen durch die Straßen lenkte. Sie fuhr gern in die Großstadt, auch wenn der Aufenthalt mit einigen Risiken verbunden war, dass jemand sie erkennen würde. Sie liebte die Architektur, das viele Wasser ringsum, das Stockholm ein gewisses Inselfeeling verlieh.
In der Innenstadt steuerte sie das Parkhaus an, in dem die Agentur Parkplätze für die Mitarbeiter gemietet hatte, und stieg aus. Der Hall der zuschlagenden Autotür war hier besonders laut. Frija lief zu den Aufzügen und fuhr in die vierte Etage. Lautlos glitten die Türen auf und ein weicher Teppichflor dämpfte ihre Schritte. Die Büros der Agentur waren modern und geschmackvoll eingerichtet. Bodentiefe Fenster sorgten für lichtdurchflutete Räume. Weiße Schreibtische und extravagante Bürostühle komplettierten den futuristisch anmutenden Look.
„Hallo, Frija, schön, Sie zu sehen.“
Frija reichte Jördis Lind die Hand und setzte sich vor den Schreibtisch aus Glas und Chrom. Ihre Chefin blätterte geschäftig in den Unterlagen, die Frija ihr zugeschickt hatte. Seit elf Jahren arbeitete sie nun schon für diese Agentur, aber die Distanz zu ihrer Vorgesetzten war geblieben.
„Ich habe unserem Kunden die Entwürfe gestern vorgelegt und er war …“ Jördis Lind legte eine künstliche Pause ein und Frija runzelte besorgt die Stirn. „Ihr Konzept hat ihn regelrecht umgehauen, wenn ich das einmal so salopp formulieren darf.“ Auf dem sonst so ernsten Gesicht von Jördis Lind zeigte sich ein schmallippiges Lächeln.
Auch Frijas Miene erhellte sich. „Das sind doch fantastische Neuigkeiten.“
„Und wie, Sie haben wie immer hervorragende Arbeit geleistet. Auch die vorhergehenden Aufträge sind zur vollsten Zufriedenheit der Kunden ausgeführt worden.“
„Danke, das freut mich sehr“, antwortete Frija überrascht, dass ihre Chefin sich zu einem Lob hatte hinreißen lassen. „Ich wäre dann für neue Aufträge bereit.“
„Nichts lieber als das. Folgendes …“
Frija hatte den gesamten Tag im Büro verbracht und war auf dem Weg ins Birger Jarl, wo sie sich ein Zimmer gebucht hatte. Das Hotel war ein moderner kastenförmiger Bau ohne viel Schnickschnack, und genauso schlicht waren auch die Zimmer eingerichtet. Tisch, Sessel, Fernseher, karierte Tagesdecke.
Bis zum frühen Abend blieb Frija in ihrem Hotelzimmer, um sich einen Überblick über die neuen Kundenaufträge zu verschaffen. Sie notierte erste Gedanken und freute sich schon darauf, ihrer Kreativität wieder freien Lauf zu lassen. Aber das Schönste daran war, von zu Hause aus arbeiten zu können. Trautes Heim, Glück allein, dachte sie zufrieden.
Erst als ihr Magen wegen des ausgebliebenen Abendessens rebellierte, legte sie die Unterlagen beiseite und öffnete den Koffer. Kniehohe Stiefel, ein klassischer Hosenanzug und ein eleganter Mantel landeten auf dem Bett. Frija hatte über all die Jahre ihre mädchenhafte Figur behalten, was ihr manchmal den einen oder anderen bewundernden Blick einbrachte.
Sie sprang kurz unter die Dusche, föhnte ihr langes Haar, das anschließend in leichten Wellen ihre Schultern umschmeichelte. Dank der Schminktipps ihrer Tochter, die in dieser Hinsicht einiges mehr draufhatte, verlieh sie ihrem Gesicht mit ein wenig Make-up ein frischeres, jugendlicheres Aussehen.
Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Nun ja, die Männer würden nicht reihenweise umfallen, aber sie fühlte sich ausgesprochen wohl in ihrer Haut. Bevor sie loszog, rief sie noch einmal Sara an, um ihr eine gute Nacht zu wünschen.
„Hallo, mein Mäuschen, wie geht es dir?“
„Hi, Mom, hier alles okay“, antwortete Sara. „Und was wirst du heute Abend noch so anstellen?“
„Ich habe mich bereits in Schale geworfen, um in meinem Lieblingsrestaurant einen Happen zu essen.“
„Na dann, guten Appetit. Und bleib bitte anständig.“ Sara kicherte.
„Das werde ich“, erwiderte Frija lachend.
„Bis morgen, Mom.“
„Schlaf schön, Liebes.“
Auf dem Weg zum Fahrstuhl schwebte sie fast lautlos über den flauschigen Teppich. Die Lobby war wie leer gefegt, nur ein älterer Herr saß in einem Sessel und studierte die Tageszeitung. Frija trat durch die Tür nach draußen. Die Luft war kühl, genau das Richtige, um die aufkommende Müdigkeit zu vertreiben. Die kurze Strecke bis zum Restaurant legte sie innerhalb weniger Minuten zurück. Es lag zwar in einer Nebenstraße, war aber wegen seiner ausgezeichneten Küche sehr beliebt. Obwohl das Restaurant gut besucht war, ergatterte Frija einen Fensterplatz. Als die Bedienung an ihren Tisch trat, bestellte sie ein Glas Weißwein und Schweinemedaillons mit Kartoffelecken. Das hatte sie sich nach diesem erfolgreichen Arbeitstag redlich verdient.
An den Tischen saßen hauptsächlich Paare und Frija fühlte sich ein wenig verloren. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die Großstadt eine gewisse Hektik und Distanz ausstrahlte, die Frija in ihrem heimeligen Nest sonst nie zu spüren bekam.
„Guten Abend, ist dieser Platz noch frei?“
Überrascht schaute Frija auf und blickte in ein markantes Männergesicht mit wachen Augen. Das grau melierte Haar war kurz und akkurat geschnitten, der Anzug elegant.
„Bitte schön“, murmelte Frija.
„Vielen Dank.“
Der Mann setzte sich und der Duft eines ausgesprochen teuren Aftershaves stieg ihr in die Nase.
„Ich störe Sie doch nicht?“ Er lächelte sanft.
„Nein, keineswegs“, antwortete sie.
Der Fremde schien mindestens zehn Jahre älter als sie zu sein, sah jedoch ausgesprochen attraktiv aus. Aber das war es nicht, was sie so an ihm faszinierte. Ihn umgab eine außergewöhnliche Aura, die sie magisch in ihren Bann zog.
„Wie schmeckt der Wein?“, fragte er.
„Blumig“, antwortete sie einsilbig.
„Vielen Dank für die Empfehlung.“ Er hob die Hand und winkte die Kellnerin zu sich heran. „Bringen Sie mir auch ein Glas.“ Er nickte lächelnd und wandte sich wieder Frija zu. „Immer wenn ich geschäftlich in Stockholm unterwegs bin, kehre ich in dieses Restaurant ein. Es hat einen sehr guten Ruf.“
„Stimmt“, erwiderte sie. „Genau aus diesem Grund sitze ich hier und warte auf mein Abendessen.“
Wahrscheinlich werde ich ihn mit meiner Art noch vergraulen, dachte sie. Aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart befangen, ohne zu wissen, woran das liegen könnte. Sonst war sie nie um eine witzige und humorvolle Antwort verlegen.
Die Kellnerin servierte ihm den Wein und ging mit wiegenden Hüften zur Theke zurück. Bevor er an seinem Glas nippte, warf er einen für ihren Geschmack anzüglichen Blick auf die Rückseite der jungen Frau.
„Es scheint so, als ob wir den gleichen Geschmack hätten. Der Wein ist eine sehr gute Wahl“, sagte er.
„Wohl eher nicht“, antwortete sie.
Oh, wie peinlich, die Worte waren ihr einfach herausgerutscht. Sie war gedanklich noch beim Hüftschwung der jungen Servicekraft gewesen.
„Wie bitte?“ Der Mann zog die Stirn kraus.
„Verzeihung, ich hatte Sie missverstanden.“ Sie lächelte entschuldigend.
„Schon gut.“ Seine Stirn glättete sich. „Leben Sie in Stockholm?“, fragte er und warf einen neugierigen Blick auf ihre Hände.
„Nein. Ich bin genau wie Sie beruflich unterwegs.“
„Als Geschäftsfrau?“, fragte er nach.
„Nicht so ganz, ich bin in der Werbebranche tätig. Und womit verdienen Sie Ihre Kronen, wenn ich fragen darf?“
„Ich arbeite als Consultant und besitze eine eigene Firma.“
„Nicht schlecht.“ Sie prostete ihm zu.
Die junge Kellnerin kehrte an den Tisch zurück und servierte die Schweinemedaillons. „Guten Appetit.“
„Vielen Dank.“ Frija griff zum Besteck.
„Lassen Sie es sich schmecken“, sagte ihr Gegenüber, der diesmal auf einen Blick in Richtung Servicekraft verzichtete.
Frija teilte das Fleisch und probierte den ersten Bissen.
„Kommen Sie aus der Gegend?“
Sie schaute irritiert von ihrem Teller auf.
„Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.“ Er reichte ihr umständlich die Hand. „Ich bin Leif Bergmann.“
Frija reagierte leicht verwirrt, sie wollte ihm keinesfalls ihren Namen verraten. Doch er hielt ihre Hand fest in seiner und wartete auf eine Antwort.
„Ich bin Frija. Angenehm, Sie kennenzulernen.“
Sie zog ihre Hand rasch zurück und merkte, dass er sich enttäuscht zurücklehnte.
„Frija, ein sehr schöner Name“, sagte er. „Ich wohne übrigens in Södergarn, in der Nähe des Sees. Das Segeln gehört zu meinen großen Leidenschaften.“
Sie betrachtete seine gepflegten Hände. Auch er trug keinen Ehering.
„Ich bin am Erken zu Hause“, antwortete sie, wenn auch mit einem gewissen Widerwillen.
„Tatsächlich? Dann haben wir ja schon die zweite Gemeinsamkeit.“ Seine Augen blitzten. „Möchten Sie noch ein Glas Wein?“
„Ja, warum nicht“, erwiderte sie.
Er orderte gleich eine ganze Flasche, während sie den Teller leerte. Das Essen war mittlerweile kalt geworden.
„In welchem Hotel sind Sie untergekommen?“, fragte Frija, um das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken. Sie hatte schon viel zu viel Privates über sich preisgegeben.
„Ich besitze ein kleines Loft in Stockholm“, antwortete er nicht ohne Stolz.
Tja, Consulting eben, dachte sie. Leif wusste demnach, was er tat, und war anscheinend erfolgreich darin. Allerdings ließ sie sich nicht davon beeindrucken, was er auch zu spüren schien.
„So spare ich mir die hohe Hotelrechnung, denn ich halte mich sehr oft in Stockholm auf“, sagte er.
„Verständlich. Aber ein eigenes Apartment würde sich nicht lohnen, dafür bin ich viel zu selten in Stockholm.“
„Was genau machen Sie in der Werbung? Filme?“
„Nein, eher selten. Die Arbeit ist sehr vielfältig, es kommt ganz darauf an, was der Kunde wünscht.“
Ihre Antwort schien ihn zufriedenzustellen.
„Ich habe Betriebswirtschaft studiert und liebe es, mit Zahlen zu jonglieren.“
Er lachte und sie sah seine blendend weißen Zähne. Sonnyboy war das erste Wort, das ihr bei diesem Anblick in den Sinn kam.
„Mathematik ist mir schon seit der Schulzeit suspekt. Kein Wunder also, dass ich bei meiner Berufswahl keinen Gedanken daran verschwendet habe“, erwiderte sie. „Dafür war die Fotografie schon immer mein Steckenpferd.“
„Ich mag es, wenn Menschen etwas für Kunst übrig haben“, sagte er. „Hin und wieder unterstütze ich junge Künstler, um ihr Talent zu fördern.“
„Das ist sehr bemerkenswert“, entgegnete sie und nippte an ihrem Wein.
„Darf ich Ihnen nachschenken?“, fragte Leif aufmerksam.
„Ich glaube, zwei Gläser genügen.“
„Ach was, so jung kommen wir nie wieder zusammen.“ Leif lächelte charmant und Frija gab sich geschlagen. Er füllte das Glas.
„Skål.“
„Zum Wohl.“ Sie hob ihr Glas.
Sie war schon ein klein wenig beschwipst und schwebte wie auf Wolken. Leif schien Gefallen an ihr gefunden zu haben und flirtete sehr offensichtlich. Frija legte immer wieder den Kopf in den Nacken und lachte. Obwohl er sehr von sich überzeugt war, zeigte er ihr auch seine bodenständige Seite. Das imponierte ihr und mit jedem Schluck Wein fühlte sie sich mehr zu ihm hingezogen. Sie musste an einen Magneten denken und kicherte albern.
„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte er.
„Nein, nein, ganz im Gegenteil“, antwortete sie rasch.
Leif war ein ausgesprochen guter Zuhörer und sie erzählte den Abend nur von sich. Sein Interesse schmeichelte ihr, sie hatte schon ganz vergessen, wie sich die positiven Schwingungen zwischen Mann und Frau anfühlten. Ein Blick auf die Uhr holte sie jedoch in die Gegenwart zurück.
„Oh, es ist schon nach Mitternacht“, sagte sie bedauernd und gab der Kellnerin einen Wink, um die Rechnung zu begleichen.
„Ich übernehme“, sagte Leif großzügig und reichte der jungen Frau die Scheine. „Stimmt so.“
Dann half er Frija ganz gentlemanlike in den Mantel und geleitete sie zur Tür, wo sich Frija von ihm verabschiedete.
„Vielen Dank für diesen netten Abend, ich habe mich seit Langem nicht mehr so gut unterhalten“, sagte sie.
Er neigte seinen Kopf und ihre Blicke trafen sich. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihrer Magengegend aus.
„Ich habe mich noch gar nicht erkundigt, in welchem Hotel Sie wohnen.“ Leif musterte sie fragend.
„Ich wohne im Birger Jarl, nur ein paar Straßen entfernt“, antwortete sie.
„Das ist ja nur ein Katzensprung. Ich würde Sie gern hinbringen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Von mir aus gern.“ Sie hakte sich bei ihm unter und schwankte kurz. „Ich glaube, das war ein Glas Wein zu viel. Normalerweise bin ich zurückhaltender.“
„Mach dir nicht so viele Gedanken, Frija“, raunte er ihr ins Ohr und sein warmer Atem streifte ihre Haut.
Ein prickelnder Schauer durchfuhr sie. Aber sie hatte definitiv zu viel Wein intus und sollte lieber einen klaren Kopf bewahren. Leif war ohne ihre Zustimmung in ein vertrauliches Du übergegangen und die Distanz zwischen ihnen schrumpfte.
„Da vorn ist es ja schon“, sagte er und griff nach ihrer Hand.
Frija atmete erleichtert auf, Zeit für den Abschied. „Leif, ich danke dir noch einmal für diesen wunderschönen Abend.“ Sie entzog ihm sanft ihre Hand. „Gute Nacht.“
Doch Leif schien andere Pläne zu haben. Er umfasste ihren Nacken und zog sie behutsam zu sich heran. Dann folgte ein stürmischer Kuss. Seine Zunge bahnte sich fordernd einen Weg zwischen ihre Lippen, während seine Hände ihre Taille umfassten.
Frija hob ihre Hände und drückte sie gegen seinen Oberkörper, um sich zu befreien, doch Leif ließ keinen Zentimeter locker. Er schmeckte nach Wein und roch so verdammt gut. Irgendwann erstarb ihre Gegenwehr und sie gab sich diesem leidenschaftlichen Kuss hin.
„Leif, bitte!“ Atemlos taumelte sie zurück.
Er machte einen Schritt auf sie zu. „Lass uns nach oben gehen …“, raunte er.
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.“ Ihr schwirrte der Kopf und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie sollte sie ihm nur deutlich machen, dass sie nicht wollte? Oder wollte sie doch?
Mit einem Mal waren seine Hände überall und Frija spürte, wie eine Welle der Erregung durch ihren Körper pulsierte. Leif wusste anscheinend genau, welche Knöpfe er zu bedienen hatte. Genau in diesem Moment verließ ein junges Paar das Hotel.
„Hey, warum macht ihr nicht auf dem Zimmer weiter“, rief ihnen der junge Mann lachend zu.
„Gute Idee“, raunte Leif, umfasste Frijas Hand und zog sie mit sich. „Welches Zimmer?“
„Ich gehe voraus“, erwiderte sie. Zwischen ihren Beinen loderte ein unstillbares Verlangen. Es war der helle Wahnsinn, was sie hier tat, auch in Anbetracht ihrer Vergangenheit. Aber sie konnte dieser intensiven Lust nicht widerstehen. Sie sah das Feuer in seinen Augen, in denen sich die pure Leidenschaft spiegelte.
Hastig öffnete sie die Zimmertür und stolperte mit Leif im Schlepptau ins Innere. Sie spürte seine Dominanz, auf die sie abermals erregt reagierte. Mit ungezügelter Leidenschaft rissen sie sich die Kleidung vom Leib und landeten auf dem Doppelbett, das ihren Sturz sanft abfederte.
Sie spürte Leifs heißen Atem auf ihrer Haut, als er ihren Körper mit der Zunge erforschte und sich in tiefere Bereiche vorarbeitete. Sie zitterte, und als der erste Orgasmus sie wie eine meterhohe Welle überrollte, biss sie in ihre Faust, um ihre Lust nicht laut hinauszuschreien und die anderen Hotelgäste zu wecken.
Leif beugte sich wieder über sie und liebkoste ihren Hals. Dann drang er in sie ein, und sie spürte seine harten Stöße. Ihre Nägel bohrten sich in das feste Fleisch seines durchaus muskulösen Rückens, und sie fieberte einem weiteren Höhepunkt entgegen.
Verwirrt richtete sich Frija auf und griff sich leise stöhnend an den Kopf. Wein, Leif und Sex. Die Erinnerung schlug wie eine Bombe ein. Die Betthälfte neben ihr war kalt und leer. Wo war Leif nur abgeblieben?
Das passiert, wenn der Körper das Ruder übernimmt und sich der Kopf komplett ausschaltet, dachte sie ernüchtert. Seufzend schwang sie die Beine aus dem Bett. Auf dem Tisch fand sie einen Zettel.
Musste los, danke für die wundervolle Nacht. Heute Abend – gleiche Uhrzeit, gleiches Lokal?
Leif
Hm, wollte sie ihn überhaupt wiedersehen? Der Sex mit ihm war grandios gewesen, so etwas hatte sie bisher noch nie erlebt. Gnadenlos, hart und animalisch. Eine Explosion war der nächsten gefolgt, und das ganze Hotelzimmer roch nach wilder Begierde.
Uneins mit sich und der Welt riss sie den Fensterflügel auf und sog die kühle Luft in ihre Lungen. Verdammt, diese Kopfschmerzen brachten sie noch um. Zum Glück musste sie erst gegen zehn im Büro erscheinen.
Nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, tappte sie ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte auf sie nieder, und sie spülte sich die Sünden der Nacht von der Haut. In all den Jahren war sie standhaft geblieben, hatte sich den körperlichen Freuden verwehrt. Wahrscheinlich ein Fehler.
Jetzt ärgerte sie sich, dass der Wein ihre Zunge gelöst hatte. Bei den Gesprächen mit Leif hatte sich alles nur um sie gedreht, und das bereute sie jetzt. Hoffentlich war sie nicht zu offenherzig gewesen, denn der Wein hatte einen Großteil der Erinnerungen an den Abend vernebelt.
Sie griff nach dem flauschigen Badehandtuch und rubbelte sich trocken. Anschließend putzte sie die Zähne, um den pelzigen Geschmack loszuwerden. Die obligatorische Kopfschmerztablette folgte. Ein gutes Frühstück würde es schon wieder richten.
Das Büfett war mittlerweile abgegrast, und Frija gab sich mit den Resten zufrieden. Saurer Hering landete auf ihrem Teller, Knäckebrot und eine Tasse starken Kaffees, der die Lebensgeister wecken sollte. Es war wohltuend, als die leichte Übelkeit endlich verebbte.
Während sie an ihrem Kaffee nippte, dachte sie an Leif, und diese Gedanken lösten ein beunruhigendes Kribbeln in ihr aus. Wie sehr hatte sie diese Gefühle doch vermisst. Leif hielt sich nicht lange mit irgendwelchem Geplänkel auf, er kam gleich zur Sache. Das gefiel ihr. Für sein Alter war er unglaublich fit und gut gebaut, das musste man ihm lassen. Sie störte allerdings, dass sie so überraschend schnell intim geworden waren. Das war absolut nicht Frijas Art. Wahrscheinlich war sie grenzenlos ausgehungert nach all den Jahren der Einsamkeit.
Im Hotelzimmer legte sie noch ein wenig Make-up auf, um die Spuren der Nacht zu verwischen, und stieg anschließend in den Wagen, um zur Agentur zu fahren.
„Hallo, Frija.“ Ole begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln und führte sie in sein Büro. „Du siehst abgekämpft aus“, sagte er nach einer kurzen Musterung.
„Ja, die viele Arbeit.“
„Dann gönn dir ein paar Tage Ruhe, bevor du das nächste Projekt startest.“
„Ich werde deinen Rat befolgen“, sagte sie.
Ole war fünf Jahre jünger als sie und ein feiner Kerl. Er machte keinen Hehl daraus, was er für Frija empfand, aber bisher war der Funke einfach nicht übergesprungen. Ole lebte getrennt und hatte einen Sohn aus erster Ehe.
„Frija?“ Er sah sie fragend an.
„Entschuldige, was hattest du gerade gesagt?“
„Alles in Ordnung mit dir? Du wirkst heut so abwesend.“
„Na ja, diese Tage haben wir doch alle, wenn sich die Melancholie ins Gemüt schleicht.“ Sie lächelte.
„Nun gut, weiter im Text.“
Ole erklärte ihr die Aufträge ausführlich, doch sie war mit ihren Gedanken ständig bei Leif. Sollte sie ihn noch einmal treffen? Sie schwankte mit ihrer Entscheidung und war hin- und hergerissen. Dieser Mann berührte etwas tief in ihrem Inneren, das sie nicht genau benennen konnte.
„Hast du noch Fragen?“
„Nein. Und falls doch, dann rufe ich dich an.“
„Genau, so machen wir es“, sagte er.
Frija verstaute die Unterlagen wieder in ihrer Tasche und stand auf.
„Noch Lust auf einen Kaffee, bevor du fährst?“, fragte er und lächelte schüchtern.
„Ja, warum nicht.“
Erst jetzt fiel ihr auf, wie unterschiedlich Leif und Ole doch waren. Leif nahm viel mehr Raum ein, war sofort präsent, und man konnte sich nur schwer seiner Aufmerksamkeit entziehen. Ole wirkte eher still und in sich gekehrt. Sobald sie mit ihm zusammen war, beruhigte sich ihr Herzschlag, während bei Leif ihr Puls raste. Verrückte Welt.
Ole kehrte mit zwei vollen Tassen in sein Büro zurück und holte eine Packung Kekse aus dem Schreibtisch. „Man gönnt sich ja sonst nichts.“ Er lächelte. „Nicht jeder hat es so gut wie du. Es muss wunderbar sein, jeden Morgen mit diesem grandiosen Ausblick auf den See aufzuwachen. Lass mich raten, dein Schreibtisch steht direkt am Fenster?“
„Stimmt, und ich weiß dieses Glück durchaus zu schätzen“, antwortete sie verträumt. Dieses Haus war für sie wie ein Hochsicherheitstrakt. Nur dort konnte sie den Rest der Welt ausschließen, fühlte sich geborgen, und so sollte es auch in Zukunft bleiben. „Sara kann wie in einem Kokon wohlbehütet aufwachsen, das war mir von Anfang an sehr wichtig.“
„Trotzdem bin ich der Meinung, dass du dich viel zu sehr einigelst. Du lebst seit Jahren allein, das muss dich doch auf Dauer zermürben.“
„Ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht“, entgegnete sie. „Die Gemeinschaft von Svanberga ist unschlagbar. Jeder hilft jedem, und diesen Zusammenhalt möchte ich nicht missen.“
„Ich dachte eher an den privaten Bereich“, sagte Ole leise. „Für dich gibt es keine Schulter zum Anlehnen, du darfst keine Schwäche zulassen, und sage mir nicht, dass es anders ist.“
Eine seiner Stärken war eine gehörige Portion Empathie. Er konnte sich unglaublich gut in sein Gegenüber einfühlen.
„Ich kann leider nicht über meinen Schatten springen“, erwiderte sie aufrichtig. „Trotzdem bin ich zufrieden mit meinem Leben. Es gibt Freunde, die mich auffangen und mir den Weg weisen, und dich zähle ich dazu.“
„Tja, Freunde …“
Ole ließ den Satz unvollendet, aber Frija wusste genau, worauf er anspielte. Enttäuschung, aber auch Schmerz spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. Es wurde Zeit, sich zu verabschieden, und sie leerte die Tasse.
„Danke für den Kaffee“, sagte sie und umarmte Ole, der die Umarmung nicht erwiderte. „Lass es dir gut gehen, bis zum nächsten Mal.“
„Ja, bis zum nächsten Treffen.“ Er reagierte kühl und begleitete sie nicht wie üblich zur Tür.
Nachdem sie sein Büro verlassen hatte, atmete sie auf. Was nun? Sie war ein wenig verärgert wegen Leif, weil er ihr nur diesen zerknitterten Zettel hinterlassen hatte. Sie konnte ihn weder anrufen noch anderweitig erreichen, und der Gedanke, ihn nie wiederzusehen, bereitete ihr Unbehagen. Das war völlig untypisch, sich schon nach so kurzer Zeit einem Menschen verbunden zu fühlen.
Eigentlich müsste sie jetzt die Rückfahrt antreten. Nervös schritt sie auf und ab und setzte sich dann in ihren Wagen. Für ein weiteres Treffen mit Leif hatte sie nichts Passendes im Koffer, und so entschied sie sich kurzerhand für eine Shoppingtour, wo sie nun schon einmal hier war.
Sie legte die kurze Strecke in den Stadtkern zurück und stellte ihren Wagen auf einem Parkplatz ab. Bevor sie ausstieg, schickte sie Sara und Matilda eine Nachricht, dass es später werden würde, weil sie noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte. Es wäre das erste Mal, dass sie nicht pünktlich zurückfahren würde, und erneut meldete sich das schlechte Gewissen zu Wort. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Wiederum … Stand ihr nicht auch ein wenig Freiraum nach all den Jahren zu?
Sie schaute an sich herunter – sportlich, bequem, unauffällig. So konnte sie Leif unmöglich gegenübertreten und es war sicher nicht verkehrt, sich etwas Schickes zu gönnen. Auf der Suche nach ein wenig mehr Glamour durchstreifte sie die Boutiquen. Mittendrin kippte jedoch die Vorfreude auf das Treffen mit Leif.
Sie hatte gerade die Umkleidekabine mit einem Arm voller Kleidungsstücke verlassen, als sie einen Mann bemerkte, der ständig zu ihr herüberblickte. Er war ihr schon in den vorherigen Geschäften aufgefallen und sie glaubte nicht an Zufälle.
Zwei der Kleider gab sie der Angestellten zurück, mit dem Rest steuerte sie die Kasse an. Immer wieder warf sie einen misstrauischen Blick über die Schulter, bis sie sah, wie der Mann seiner Frau eine Hose in die Hand drückte. Gott sei Dank, nur falscher Alarm.
Sie zahlte, nahm die große Tüte entgegen und eilte zum Ausgang. Jetzt nur noch Schuhe, und der Abend wäre gerettet. In einem kleinen Laden wurde sie fündig und ergatterte im Ausverkauf zwei günstige Paar Schuhe. Jetzt musste sie schnellstens ins Hotel zurück, um sich umzuziehen und auszuchecken. Sie gönnte sich noch eine Dusche, wechselte die Kleidung und packte ihren Trolley. An der Rezeption gab sie ihre Karte zurück und beglich die Rechnung.
Um die Zeit bis zum Abend zu überbrücken, besuchte sie die Nachmittagsvorstellung eines Kinos. Hier war es warm und gemütlich und der Film würde sie ablenken. Sie wollte nicht ständig an Leif denken. Mit einem Getränk und einer kleinen Tüte Popcorn setzte sie sich in die letzte Reihe und genoss die Vorführung.
Frija saß im hinteren Bereich des Restaurants, der Tisch am Fenster war leider schon besetzt gewesen. Nervös nippte sie an ihrem Mineralwasser und hatte den Blick fest auf die Eingangstür geheftet. Bereits zehn Minuten waren vergangen und ihr schwante nichts Gutes. Sie fühlte sich wie eine aufgetakelte Fregatte und schalt sich eine Närrin. Leif hatte wahrscheinlich nur Interesse geheuchelt, um sie ins Bett zu kriegen. Nicht mehr und nicht weniger.
Dummerweise war sie ihm auf den Leim gegangen, weil sie tatsächlich angenommen hatte, dass sie ihm gefallen würde. Obwohl sie ahnte, dass er sie versetzt hatte, wollte sie ihm noch eine Viertelstunde Galgenfrist gewähren und dann nach Svanberga zurückfahren.
Ihr Blick wanderte durch den Raum und das beschämende Gefühl, nur in glückliche Gesichter zu schauen, nahm überhand. Frauen, die mit geröteten Wangen ihren Männern vom Tag erzählten und Paare, die verliebt Händchen hielten. Sollte Ole doch am Ende recht behalten, dass sie tief in ihrem Inneren mit ihrem Leben unzufrieden war?
Sie winkte verdrossen die Kellnerin zu sich heran und zahlte das Wasser, das sie nicht einmal ausgetrunken hatte. Wütend streifte sie sich ihren Mantel über und lief zur Tür, wo sie beinahe mit Leif zusammenstieß.
„Wo willst du denn hin?“, fragte er.
„Nachdem ich eine halbe Stunde vergebens auf dich gewartet habe, möchte ich jetzt gehen“, antwortete sie mit fester Stimme.
„Ach komm, verdirb uns doch nicht den schönen Abend.“ Er strahlte sie an und schob sie sanft zum Tisch zurück. Dann setzte er sich und schlug die Beine übereinander. „Wie war dein Tag?“, erkundigte er sich.
Sichtlich irritiert nahm sie wieder Platz. Er entschuldigte sich nicht einmal für sein Zuspätkommen, den Mantel hatte er ihr auch nicht abgenommen.
„Hallo?“
„Ja, gut …“, antwortete sie zögerlich.
„Ich nehme an, du sprichst von deinem Tag.“
Sie nickte.
Er beugte sich nach vorn. „Ich bin wirklich sehr froh, dass du gekommen bist.“
Sie wollte eine Erklärung von ihm, weil er sie hatte warten lassen, überlegte es sich dann aber anders.
„Bei mir ist es heute wie in einem Taubenschlag zugegangen, die Kunden können einem wirklich die Kraft rauben.“
Er fuhr sich müde übers Gesicht und wirkte mit einem Mal abgekämpft. Vielleicht tat sie ihm Unrecht und er hatte sich den Abend erst freischaufeln müssen. Das stimmte sie versöhnlich.
„Das kann ich gut verstehen, in meiner Branche ist es ähnlich“, sagte sie.
„Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass wir uns gut verstehen und die eine oder andere Gemeinsamkeit teilen“, erwiderte er. „Möchtest du ein Glas Wein?“
„Nein, danke, ich muss noch zurückfahren.“
„Zum Erken?“ Er schien enttäuscht.
„Ich würde gern länger bleiben, aber ich werde zu Hause erwartet.“
„Du hast Familie?“
„Ich bin nicht verheiratet, falls du das meinst“, erwiderte sie. Genau in diesem Augenblick klingelte ihr Smartphone.
„Hallo, Sara … ja, ich fahre gleich los. Keine Sorge, mein Mäuschen, es ist alles in Ordnung. In zwei Stunden bin ich da.“
Sie steckte das Telefon wieder zurück in ihre Handtasche und genau in diesem Moment wurden die Getränke serviert.
„Du hast eine Tochter?“ Sein Blick ruhte fragend auf ihr.
Frija bejahte.
„Schön.“ Er war so unglaublich attraktiv und hatte das sanfte Lächeln eines Engels. „Wie alt ist sie denn?“
„Sechzehn.“
Er lächelte noch immer. „Schwieriges Alter. Sie wollen immer mit dem Kopf durch die Wand“, sagte er verständnisvoll.
„Stimmt, ich kann ein Lied davon singen.“ Sie nippte an ihrem Wasser. „Hast du auch Kinder?“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Es hat nicht sollen sein. Ich bin seit Jahren geschieden und friste das trostlose Dasein eines Singles.“
„Oh …“ Sie hätte alles vermutet, aber nicht das. Sicher, er trug keinen Ehering, das war ihr schon am Anfang aufgefallen. Aber seit Jahren allein?
„Ich habe immer nach der Einen Ausschau gehalten“, sagte er und unterbrach ihre Gedankengänge, als hätte er diese erraten. „Wahrscheinlich ist dieser Wunsch zu anspruchsvoll, mit einem Seelenverwandten sein Leben teilen zu wollen.“
„Nein, keineswegs“, widersprach sie. „Ich denke ähnlich darüber.“
„Nun, vielleicht werden meine Träume ja doch noch in Erfüllung gehen.“ Er prostete ihr zu.
Meine Güte, dieses charmante Lächeln, dachte sie bestimmt zum x-ten Mal. In ihrem Bauch kribbelte es gewaltig, und nicht nur dort. Zwischen ihnen herrschte eine knisternde Stimmung, die ganze Wälder hätte in Brand stecken können. Zumindest empfand sie so, und ihm erging es sicher ähnlich. Ein Blick auf die Uhr ließ sie erschrocken innehalten.
„Entschuldige, Leif, aber es wird Zeit für den Aufbruch“, sagte sie und stand auf. „Danke für die Einladung, es war ein netter Abend.“
Mit einem rundum zufriedenen Gesichtsausdruck erhob sich Leif ebenfalls. „Wollten wir nicht noch Nummern austauschen?“
Er sah sie erwartungsvoll an, doch sie zögerte. Sollte sie nach all den Jahren ihre Deckung aufgeben? War er das wirklich wert? Leif verführte sie wie noch kein Mann je zuvor, aber auch auf der geistigen Ebene herrschte ein gewisser Einklang.
„Ja natürlich“, antwortete sie und reichte ihm das Kärtchen, das er mit einem glücklichen Lächeln in sein Portemonnaie steckte.
„Von diesem Augenblick an trage ich dich immer bei mir“, sagte er.
Sie hielt seine Ausdrucksweise für ein wenig übertrieben, aber wenn er so empfand, warum nicht. Welches Recht hatte sie schon, über ihn zu urteilen?
Leif nahm sie zum Abschied in den Arm und küsste sie auf die Wange. „Bitte fahr vorsichtig. Und es wäre nett, wenn du mir eine kurze Nachricht schicken könntest, dass du gut zu Hause angekommen bist.“
Seine Fürsorglichkeit rührte sie. Da war wieder jemand, der sich Gedanken um sie machte. Sie hatte beinahe schon vergessen, wie gut sich das anfühlte.
„Leif, ich muss jetzt wirklich los“, hauchte sie und löste sich aus seiner Umarmung.
Er nickte verständnisvoll, half ihr in den Mantel und begleitete sie zur Tür. „Pass auf dich auf.“
„Das werde ich.“
Sie winkte ihm noch einmal zu und entfernte sich mit schnellen Schritten. Kaum war sie außer Reichweite, meldete sich sofort das schlechte Gewissen zu Wort. Wie konnte sie ihre Tochter nur warten lassen? Sie verhielt sich wie ein unreifer Teenager, völlig chaotisch und destruktiv. Aber die Ausstrahlung dieses Mannes vernebelte ihr die Sinne. Leif war auf eine fast diabolische Art und Weise attraktiv und anziehend.
Endlich hatte sie ihren Wagen erreicht und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Meine Güte, was für ein Abend. Wenn sie Matilda davon erzählen würde … Kopfschüttelnd steckte sie den Schlüssel ins Zündschloss. Sie hatte sich noch nicht einmal angeschnallt, da verkündete ihr Smartphone eine neue Nachricht.
Ich will dich wiedersehen.
Wer weiß, dachte sie, und ein seliges Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie ließ das Handy zurück in ihre Tasche gleiten und wendete den Wagen, um nach Svanberga zurückzufahren.
„Hej, schön, dich zu sehen.“ Matilda umfasste Frijas Schultern und forschte in ihrem Gesicht. „Irgendetwas ist mit dir passiert“, sagte sie daraufhin.
„Ach was.“ Frija winkte ab. „Du interpretierst wieder viel zu viel hinein.“
„Aber in all den Jahren bist du noch nie zu spät gekommen“, erwiderte Matilda mit ernster Miene.
„Soll das etwa ein Verhör werden?“
„Niemals …“ Ihre beste Freundin schüttelte den Kopf.
„Wir können gern ein anderes Mal darüber reden“, sagte Frija rasch, weil sie sich müde fühlte. „Aber nach diesem anstrengenden Tag möchte ich mit Sara nur noch nach Hause.“
„Schon in Ordnung.“ Matilda lächelte. „Sara, deine Mom ist da“, rief sie in den Flur.
„Ich komme ja schon.“ Mit dem Rucksack über der Schulter erschien Sara in der Tür. „Ist was passiert?“, lautete ihre erste Frage.
„Nein, entschuldige bitte die Verspätung.“
„Okay“, erwiderte Sara schulterzuckend, verabschiedete sich von Matilda und ging zum Wagen.
„Ich werde mich morgen bei dir melden, Matilda“, sagte Frija in einem versöhnlichen Ton.
„Du wirst schon deine Gründe haben“, erwiderte sie lachend. „Ich will mir mit Kjell noch einen gemütlichen Abend machen. Ruf kurz durch, wenn du angekommen bist. Smilla ist im Haus.“
„Danke, du bist ein Schatz.“
Frija umarmte ihre Freundin, deren blumiges Parfüm ihr sofort in die Nase stieg. Sie würde Matilda bei einer Tasse Tee die heiße Nacht mit Leif beichten, nichts sollte zwischen ihnen stehen. Vielleicht konnte sie auch mit ihr darüber beratschlagen, wie es mit diesem Mann weitergehen sollte. Schon jetzt spukte er ihr unablässig im Kopf herum, obwohl sie nicht unbedingt vorhatte, ihn nochmals zu treffen. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie so leichtfertig ihre Handynummer herausgegeben hatte.
„Mom?“
„Entschuldige, ich war mit meinen Gedanken gerade woanders“, sagte sie und schenkte sich ein Glas Wasser ein.
„Du bist ganz schön durcheinander.“ Sara musterte sie aufmerksam. „Waren deine Entwürfe nicht korrekt?“
„Doch, doch“, erwiderte Frija rasch, als sie in den Wagen stiegen. „Meine Chefin war sehr zufrieden und du weißt ja, was für hohe Ansprüche sie an ihre Mitarbeiter stellt.“
„Na dann, ab nach Hause.“ Sara legte ihren Gurt um.
„Hast du schon zu Abend gegessen?“, fragte Frija.
„Ja. Matilda hatte Lasagne in den Backofen geschoben, war lecker.“
„Auch gut, dann muss ich nichts mehr zubereiten.“
Innerhalb weniger Minuten hatten sie die kurze Strecke zurückgelegt, das Haus lag einsam und verlassen im Dunkeln. Die glatte Oberfläche des Sees schimmerte wie poliertes Glas, in dem sich die schmale Mondsichel spiegelte.
„Was bin ich froh, wieder in meinem Bett schlafen zu können.“ Frija seufzte und schloss die Haustür auf.
Smilla kam ihnen laut maunzend entgegen, ließ sich aber weder von Frija noch von Sara streicheln. Beleidigt setzte sie sich vor ihre Futternäpfe, obwohl diese noch bis zum Rand gefüllt waren.
„Unsere Dramaqueen.“ Sara lachte.
„Oh, oh, da kenne ich noch eine.“ Frija stimmte in das Lachen ihrer Tochter ein.
„Ach, Mama, du nun wieder.“
Sara verschwand in ihrem Zimmer, während Frija ihren Trolley auspackte. Hastig stopfte sie die Schmutzwäsche in die Trommel der Waschmaschine, damit Sara die Dessous nicht entdeckte und Verdacht schöpfte. Warum nur fühlte sie sich mit einem Schlag so schuldig? Das erotische Knistern zwischen Leif und ihr schien ihren Hormonhaushalt gehörig durcheinandergewirbelt zu haben.
Während die Waschmaschine leise rumpelnd ihre Arbeit versah, entkorkte Frija in der Küche eine Flasche Rotwein und schenkte sich ein Glas ein. Es war total unüblich, sie trank sonst nur zu besonderen Anlässen. Aber gerade in diesem Moment hatte sie das dringende Bedürfnis, ihr aufgewühltes Gemüt beruhigen zu müssen. Himmelherrgott, es war doch nur Sex gewesen!
Ein helles Licht streifte die weiß gestrichene Holzbalkendecke und verwundert schaute Frija aus dem Fenster. Ein Fahrzeug wendete umständlich vor dem Haus und fuhr wieder davon. War das nicht ein Stockholmer Kennzeichen? Hastig zog sie die Vorhänge zu.
Sara steckte den Kopf zur Tür hinaus. „Was war denn das für eine Schnarchnase? Wo wollte der Typ um diese Uhrzeit hin?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Frija. „Sonst verirren sich Touristen nur in den Sommermonaten zu uns.“
Zu ihrem Grundstück gehörten ein kleines Stück Wald und ein Teilstück der Uferzone des Sees. Obwohl ein Parken-verboten-Schild am Wegesrand stand, nahm es damit niemand so genau.
„Sara, was würdest du von einem Hund halten?“, fragte Frija.
„Echt jetzt? Ich habe seit Ewigkeiten darum gebettelt, und nun kommst du damit um die Ecke.“ Sara verzog das Gesicht und schmollte. „Mama, du kannst mir sagen, was du willst, aber irgendetwas stimmt doch nicht?“
„Ach, Spätzchen, es war doch nur so ein Gedanke. Ich jogge immer allein und so ein vierbeiniger Begleiter wäre schon ganz nett.“
„Mach, was du denkst, ich gehe jetzt ins Bett.“ Sara gähnte demonstrativ.
Frija wusste, dass ihre Tochter noch lange wach sein würde, um mit ihren Freundinnen zu chatten. Aber gut, die Kids waren nur einmal jung.
„Gute Nacht, mein Mäuschen.“ Sie küsste Sara auf die Stirn.
„Gute Nacht, Mom.“
Nach einer kurzen Nacht, in der Frija nur wenig Schlaf gefunden hatte, saß sie wieder hinter ihrem Schreibtisch. Sara war in der Schule und Smilla tobte sich am Waldrand aus, während Frijas Gedanken ständig bei Leif verweilten. Was hatte dieser Mann nur an sich, dass er sie so in seinen Bann zog?
Immer wieder starrte sie auf das Smartphone, wischte über das Display und wartete sehnsüchtig auf eine Nachricht von ihm. Sie hatte ihm einen guten Morgen gewünscht und auch gesehen, dass er ihre Message bereits gelesen hatte. Nun ja, wahrscheinlich steckte er in einem Meeting fest oder führte ein Beratungsgespräch, wer wusste das schon. Oder hatte sie seinen Worten zu viel Gewicht verliehen?
Frija fühlte sich wie ein frisch verliebter Teenager. Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch und sie spürte eine gewisse Nervosität. Noch immer konnte sie seine forschenden Hände auf ihrem Körper spüren und seine Küsse schmecken. Ein Blick auf die Uhr brachte sie jedoch wieder zur Räson. Hatte sie tatsächlich eine ganze Stunde vertrödelt, in der sie nur von Leif geträumt hatte?
Es fiel ihr ausgesprochen schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, aber letztlich hatte sie zwei erste Entwürfe abgespeichert. Zufrieden mit dem Tagwerk streifte sie sich die Sportsachen über und trat aus dem Haus. Smilla begleitete sie ein Stück des Weges, bis ein heruntersegelndes Blatt ihre gesamte Aufmerksamkeit verlangte.
Frija verfiel in einen leichten Trab und ließ sich treiben. Das Wetter war mild und die Wellen kräuselten sich am Ufer des Sees. Hin und wieder brach die Sonne durch die ansonsten dichte Wolkendecke und malte ein sich wandelndes Spiel von Licht und Schatten auf den mit Laub bedeckten Boden.
Frija joggte in gemäßigtem Tempo einen Trampelpfad entlang, der um den See führte. Sie liebte die Natur und konnte sich ein Leben in der Stadt nicht mehr vorstellen. Dieses Haus zu kaufen, war eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen.
Allmählich kam sie in Fahrt und öffnete die Jacke, um nicht zu schwitzen. Der weiche Waldboden dämpfte ihre Schritte, und der Wind fuhr leise säuselnd durch das Geäst der Bäume. Inzwischen hatte sie die Stelle erreicht, an der sie wendete, und verlangsamte das Tempo. Etwas glitzerte am Wegesrand, und sie bückte sich, um es aufzuheben. War das nicht Saras Kette, die sie ihr zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte?
Frija ließ die Kette spielerisch durch ihre Finger gleiten und betrachtete stirnrunzelnd den Anhänger – ein galoppierendes Pferd mit wehender Mähne. Wie die meisten Mädchen in diesem Alter war auch ihre Tochter verrückt nach Pferden gewesen und hatte unbedingt Reitunterricht nehmen wollen. Aber das gehörte schon eine Weile der Vergangenheit an. Nachdem das Schulpferd krankheitsbedingt ausgemustert und eingeschläfert werden musste, wollte sich Sara nicht mehr diesem Hobby widmen.
Frija riss sich vom Anblick der Kette los und zog fröstelnd die Schultern hoch. Plötzlich fühlte sie sich beobachtet und gar nicht mehr wohl in ihrer Haut. Suchend schaute sie sich um, und als sie versehentlich auf einen trockenen Ast trat, erhob sich ein Schwarm Krähen lautstark protestierend in die Lüfte. Das war für sie das Startzeichen. So schnell ihre Beine sie trugen, sprintete sie zurück zum Haus. Unterwegs sammelte sie noch Smilla ein, riss die Tür auf und schlüpfte ins Innere. Endlich in Sicherheit.
Sie setzte die Katze auf dem Boden ab und ging sofort in Saras Zimmer, wo sie die Schmuckschatulle ihrer Tochter auf dem Bett ausschüttete. Nachdem sie den Schmuck vor sich ausgebreitet hatte, entdeckte sie die Kette, und erst jetzt fiel ihr auf, dass die Anhänger nicht identisch waren.
„Ich werde noch wahnsinnig“, murmelte sie und ließ sich mit einem Seufzer aufs Bett sinken. Sie umschlang ihren Oberkörper mit den Armen, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Sie hatte gewusst, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, sich mit den Geistern der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Womit sie nicht gerechnet hatte, war die Furcht, das bange Herzklopfen und die üblen Träume, die ihr zusetzten. Sie fühlte sich beobachtet, ständig schnellte der Puls in die Höhe, und sie konnte schon nicht mehr zählen, wie oft sie mit sorgenvollem Gesicht aus dem Fenster starrte. Auch jetzt zitterten ihre Hände, und sie schmeckte die bittere Galle auf der Zunge.
Das Motorengeräusch eines sich nähernden Wagens weckte Frijas Aufmerksamkeit. Sie richtete sich auf und eilte zur Tür. „Hallo, was machst du denn hier?“, rief sie erstaunt.
„Dein Auftritt gestern hat mir keine Ruhe gelassen“, antwortete Matilda.
„Jetzt übertreibst du aber maßlos.“
„Da bin ich aber anderer Meinung.“ Matilda zwängte sich an ihr vorbei in den Flur und lief direkt ins Wohnzimmer. Erst jetzt bemerkte Frija das Päckchen in Matildas Händen.
„Jetzt schau mich nicht so vorwurfsvoll an, ich habe Kuchen mit dabei.“
„Dann hätte ich mir das Joggen ja sparen können.“ Frija lachte und verschwand in der Küche, um Kaffee zu kochen. Nur wenige Minuten später saßen sie zusammen auf der Couch und machten sich über den Kuchen her.
„So, und jetzt raus mit der Sprache: Warum bist du wirklich zu spät gekommen?“
„Matilda …“ Frija seufzte.
„Ein Mann, nicht wahr? Das sehe ich dir doch an der Nasenspitze an.“
„Ach, sag bloß.“ Frija rang mit sich, aber ihrer Freundin konnte sie nichts vormachen. „Ja, ich hatte ein Date“, sagte sie kleinlaut.
„Wusste ich’s doch.“ Zufrieden lehnte sich Matilda zurück. „Tatsächlich nur ein Date?“ Sie zog fragend eine Braue hoch.
„Okay, ich habe mit ihm geschlafen, falls du darauf anspielst. Und am Tag darauf haben wir uns noch einmal getroffen.“
„Das ist doch wunderbar.“ Matilda freute sich und strahlte sie an. „Ich hatte schon befürchtet, dass mit dir etwas nicht stimmen könnte. Kein Mensch kann über Jahre hinweg wie ein Eremit dahinvegetieren.“
„Also wirklich, ich lebe doch nicht wie eine Einsiedlerin“, widersprach Frija.
„Wenn ich ehrlich bin, dann hatte es manchmal schon den Anschein.“ Matilda nippte an ihrem Kaffee. „Und jetzt erzähl mir alles. Wie ist er so?“ Ihre Augen glänzten.
„Er ist um einiges älter als ich, mindestens zehn Jahre. Aber immer noch fit und gut gebaut.“
Matilda nickte anerkennend. „Hat der gute Mann auch einen Namen?“
„Leif.“
„Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Verheiratet oder Single?“
„Er hat gesagt, dass er seit Jahren allein lebt, und da er keinen Ehering trägt, wird das wohl der Wahrheit entsprechen.“
„Was macht er beruflich?“, fragte Matilda nach und zerteilte den Kuchen mit der Gabel.
„Soll das ein Verhör werden?“
„Nun komm schon, es ist das erste Mal, dass ich dich so aufgelöst erlebe. Ich gönne dir das Glück von Herzen, als ob du das nicht wüsstest.“
„Wenn doch alles nur so einfach wäre. Allein der Gedanke, Sara mit meinem Liebesleben zu konfrontieren, bereitet mir Bauchschmerzen.“
„Sie wird es verstehen, da bin ich mir sicher. Es hat doch keinen Sinn, die Gefühle zu unterdrücken.“
Ach, Matilda, dachte Frija betrübt. Sie hatte bisher niemandem von ihrer Vergangenheit erzählt, zum Schutz aller. Ein Mann in ihrem Leben würde die Sache nur noch verkomplizieren – und damit war die Entscheidung auch schon getroffen. Sie würde Leif nicht wiedersehen.
„Matilda, wir brauchen nicht weiter darüber zu sprechen, das Thema ist erledigt“, sagte sie, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen.
„Warum willst du dieser Beziehung keine Chance geben? Sara wird nicht ewig bei dir wohnen, dann bist du ganz allein.“
„Ich habe immerhin noch Smilla.“ Frija lächelte über ihren Scherz, aber Matilda verzog keine Miene.
„Hör auf mit dem Quatsch, es ist mir ernst. Du ganz allein hier draußen … Allein dieser Gedanke schnürt mir die Kehle zu.“
„Jetzt mach mal einen Punkt, es ist doch noch eine Weile bis dahin. Du führst dich auf, als wäre das ein Weltuntergangsszenario.“
Matilda schüttelte ungläubig den Kopf. „Frija, irgendetwas stimmt doch nicht.“
„Pass auf, ich werde ein Kreuzchen in den Kalender machen und diese kurze Liaison abhaken. Es war nur eine Nacht, und noch mehr hineinzuinterpretieren bringt rein gar nichts. Außerdem ist Leif beruflich viel unterwegs, er führt ein eher unstetes Leben. Keine Ahnung, ob ich dem auf Dauer gewachsen wäre.“
„Was macht er beruflich?“
„Consultant.“
„Alle Achtung, da verdient er nicht schlecht.“
„Ich habe mein Auskommen“, antwortete Frija nüchtern.
„Kann es sein, dass du dich heute ständig auf den Schlips getreten fühlst?“ Matilda musterte sie von der Seite.
„Ich bin nach dieser Nacht ziemlich durcheinander und muss mich erst einmal sammeln. Leif ist ein ungewöhnlicher Mann, das muss ich schon zugeben. Im Bett war er einmalig, so etwas habe ich noch nie erlebt.“
„Und du willst ihn laufen lassen?“
„Aber es war doch nur eine Nacht“, erwiderte Frija gequält.
„Wer weiß, wer weiß.“ Matilda lachte. „Irgendwann in nächster Zeit wird auch Sara mit einem Freund nach Hause kommen, ob dir das nun passt oder nicht.“
„Oh nein, erinnere mich bloß nicht daran.“ Frija seufzte. „Ich bin wirklich froh darüber, dass sie es so langsam angeht.“
Insgeheim musste sie Matilda allerdings recht geben, ihre heimelige Zweisamkeit mit Sara war nicht für die Ewigkeit bestimmt. Sie würde über kurz oder lang ihre eigenen Wege gehen.
„Matilda, ich muss Sara von der Schule abholen, danke für deinen Besuch.“
Sie brachte ihre Freundin zur Tür und umarmte sie zum Abschied.
„Ich wünsche dir trotzdem alles Glück dieser Welt. Du hast es verdient, mehr als jeder andere“, sagte Matilda.
„Danke für deine lieben Worte. Aber jetzt muss ich wirklich los.“
Frija schnappte sich die Autoschlüssel und warf einen schnellen Blick auf das Smartphone. Leif hatte noch immer nicht geantwortet.