Prolog
Eine Windböe trifft mich mit voller Wucht, ich stolpere rückwärts und taste verzweifelt mit den Händen nach etwas, an dem ich mich festhalten kann. Aber da ist nichts. Kein Geländer. Keine Brüstung. Nichts.
„Bitte“, flehe ich und schaue auf das Messer hinunter. „Tu das nicht.“
Ich schaue hinter mich und sehe, dass ich dem Rand erschreckend nah bin. Noch ein Schritt. Mehr braucht es nicht, bevor ich vom Dach des Gebäudes stürze und Hunderte Meter in den Tod falle. Ich kann es schon vor meinem geistigen Auge sehen. Bilder von meinem zerschmetterten Körper auf der Straße. Fremde, die sich um mich versammeln, entsetzt auf meine Leiche starren und sich fragen, wie das passieren konnte.
Würde es als Unfall gewertet werden? Als Selbstmord? Würde jemals jemand die Wahrheit herausfinden?
Mein Herz pocht in meiner Brust. Mein ganzer Körper zittert vor Angst. Wie konnte es so weit kommen? Das sollte einer der besten Abende meines Lebens werden. Ein Fest. Ein Abend, an den ich mich immer erinnern würde.
Als ich heute Morgen aufwachte, konnte ich kaum glauben, dass dies alles wirklich geschah – dass ich einen so wunderbaren Mann gefunden hatte. Und ich hatte ihn nicht nur gefunden, sondern würde ihn auch bald heiraten!
Nie im Leben hätte ich gedacht, dass es so enden würde. Ich hätte wissen müssen, dass es zu schön war, um wahr zu sein.
„Es tut mir leid“, sage ich mit zitternder Stimme. „Bitte, lass mich einfach gehen. Du musst das nicht tun.“
„Doch, leider. Und du bist selbst schuld. Hättest du bloß auf mich gehört.“
Unsere Blicke treffen sich, und ich suche nach einem Anzeichen von Mitgefühl. Oder nur einem winzigen Funken Zweifel, der mich retten könnte. Aber alles, was ich sehe, ist Wut. Pure Wut.
„Du hast recht“, platze ich heraus, verzweifelt darauf bedacht, irgendetwas zu sagen, dass das hier aufhalten könnte. „Ich hätte auf dich hören sollen. Ich hätte tun sollen, was du wolltest.“
„Aber das hast du nicht. Und jetzt ist es zu spät.“
„Es ist nicht zu spät! Ich könnte …“ Meine Stimme verstummt, als das Messer vor mir hochgehoben wird.
Es verharrt gefährlich nah vor meinem Gesicht, und ich weiche instinktiv einen Schritt zurück. Ich halte jedoch inne, als ich mich erinnere, wie nah ich dem Rand bin.
„Nein“, sage ich, mein Herz rast so schnell, dass ich kaum atmen kann. „Ich flehe dich an! Tu das nicht!“
Aber es ist zu spät. Nichts, was ich sage, wird das hier verhindern.
Was einer der schönsten Abende meines Lebens werden sollte, wird mit meinem Tod enden.
Kapitel 1
Sechs Wochen vorher
„Hey, Lady!“, ruft ein Mann, als ich mit einem Tablett voller schmutzigem Geschirr an ihm vorbeirenne. „Ich brauche die Rechnung!“
„Kommt sofort!“, sage ich und versuche, das Tablett nicht fallen zu lassen, als mir ein kleiner Junge in den Weg läuft.
Ich gehe durch die Tür in die Küche, stelle das Tablett ab und nehme mir einen Moment Zeit, um zu Atem zu kommen.
„Alles okay?“, fragt mein Chef Martin, während er Pattys auf dem Grill wendet.
„Ich bin nur müde.“ Ich gehe zu ihm hinüber. „Ist der Cheeseburger soweit?“
„Hier bitte.“ Er reicht mir den Teller.
Ich bedanke mich bei ihm, bevor ich zurück in den Speiseraum gehe und den Burger der Frau an Tisch 6 serviere.
Sie hält ihr Glas hoch und fragt knapp: „Könnte ich noch einen Eistee bekommen?“
„Klar“, sage ich. Ich bemerke, dass mir das Paar am Nebentisch böse Blicke zuwirft, wahrscheinlich weil ich ihre Bestellung noch nicht aufgenommen habe.
„Bin gleich da“, sage ich mit meinem charmantesten Lächeln.
Als ich der Frau ihren Eistee bringe, kommt Jenna auf mich zu. „Tisch 7 wartet darauf zu bestellen. Soll ich das übernehmen?“
„Nein, ich mache das“, sage ich.
Jenna bietet mir immer ihre Hilfe an. Sie ist eine tolle Freundin. Sie hat mir nicht nur diesen Job verschafft, sondern mir auch eine Unterkunft gegeben, als ich letztes Jahr aus meiner Wohnung geworfen wurde.
Ich stelle den Eistee ab und eile zu dem Mann, der auf seine Rechnung wartet. Ich reiche sie ihm. „Entschuldigen Sie die Wartezeit.“
„Sie sollten sich einen anderen Job suchen“, sagt der Mann mit einem Schnaufen. „Einen, den Sie auch schaffen können.“
Warum müssen Menschen so gemein sein? Wenn dieser Mann meine Situation kennen würde – dass selbst dieser einfache Job mir schwerfällt –, wäre er vielleicht nicht so hart. Aber andererseits scheint er der Typ Mensch zu sein, dem so etwas egal ist.
Ich eile zu dem Paar, das mich böse angeblickt hat.
„Entschuldigen Sie, heute ist ein bisschen viel los“, sage ich zu den beiden. „Was kann ich Ihnen bringen?“
„Wir gehen“, sagt der Mann und fixiert mich mit einem strengen Blick, während er und seine Frau die Sitzecke verlassen.
„Aber ich wollte gerade …“
„Vergessen Sie‘s“, sagt er. „Wir gehen woanders hin.“
„Miss?“, ruft die Frau an Tisch 8 und winkt mich herbei. „Ich möchte bitte die Rechnung.“
Ich eile zu ihrem Tisch und gebe ihr die Rechnung.
„Wo bleiben meine Pommes?“, ruft ein Mann, und mir wird klar, dass ich vergessen habe, die Bestellung weiterzugeben.
„Kommen!“, sage ich und renne zurück in die Küche. „Martin, ich brauche eine Portion Pommes. Ich habe vergessen, die Bestellung durchzugeben.“
„Grace, du musst dir das aufschreiben“, sagt er und klingt frustriert.
„Ich weiß. Es war nur gerade sehr viel los und ich hatte keine Zeit.“
Er schüttelt den Kopf, während er die Pommes schöpft und in einen mit Papier ausgelegten Korb schüttet.
Ich bringe dem Mann den Korb mit den Pommes. „Entschuldigen Sie die Wartezeit. Brauchen Sie noch etwas?“
„Nein, alles okay.“
Ich bin es nicht. Ich bin erschöpft und mir tun die Füße weh. Aber ich habe noch drei Stunden Dienst vor mir.
„Soll ich mich um Tisch 5 kümmern?“, fragt Jenna, als ich hinter die Theke gehe. „Er ist echt heiß und ich sehe keinen Ehering.“
Ich schaue hinüber und entdecke einen Mann im Anzug. Sie hat recht. Er sieht wirklich gut aus mit seinem dunklen, gewellten Haar, seiner gebräunten Haut und seinem sehr attraktiven Gesicht.
„Ich kümmere mich darum“, sage ich und gehe auf ihn zu.
Aus der Nähe sieht der Mann noch besser aus. Ich bin mir sicher, dass er eine Freundin hat. Männer wie er haben immer eine Freundin.
„Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“, frage ich.
Der Mann schreibt gerade eine SMS auf seinem Handy. „Entschuldigung, wie bitte?“
„Ein Getränk. Wir haben Soft Drinks, Eistee, Kaffee.“
„Ich nehme einen …“ Er hält inne und schnappt nach Luft, als er mich sieht.
Was ist denn los? Habe ich etwas im Gesicht? Oder habe ich mich etwa bekleckert? Ich schaue auf meine Uniform hinunter. Sie sieht sauber aus.
Ich schaue ihn wieder an. „Stimmt etwas nicht?“
Er starrt mich an, ohne etwas zu sagen.
„Wenn Sie noch Zeit zum Überlegen brauchen, kann ich später wiederkommen.“
„Nicht nötig.“ Er lächelt ein wenig. „Bitte verzeihen Sie. Sie sehen aus wie jemand, den ich früher kannte.“
„Wer?“
Er schüttelt den Kopf. „Vergessen Sie‘s. Wie heißen Sie?“
„Grace.“
„Das ist ein schöner Name.“
„Wirklich?“ Ich zucke die Achseln. „Darüber habe ich noch nie nachgedacht.“
„Er passt zu Ihnen.“
„Inwiefern?“
Er lehnt sich in der Sitzecke zurück, sieht mich an und lächelt leicht. „Ein schöner Name für ein schönes Mädchen.“
Ich lache. „Ja, okay. Haben Sie sich schon für ein Getränk entschieden?“
„Wasser reicht mir. Ich nehme an, Sie haben Selterswasser?“
Selterswasser? In einem Diner? Meint er das ernst?
„Tut mir leid. Wir haben nur normales Wasser.“
Ein Lächeln huscht über sein hübsches Gesicht. „War nur ein Scherz, Grace. Sie sahen aus, als könnten Sie eine Aufmunterung gebrauchen.“
„Sie haben recht. Ich könnte definitiv eine Aufmunterung gebrauchen.“
„Harter Tag?“
„Ja, wir haben mehr zu tun als sonst.“
„Das sehe ich“, sagt er und schaut sich um. „Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen. Ich würde da nicht hinterherkommen.“
„Miss?“ Ich schaue zur Theke hinüber und sehe eine Frau, die ihr leeres Glas hochhält.
„Gehen Sie nur“, sagt der Mann im Anzug. „Ich brauche einen Moment, um mich zu entscheiden.“
„Okay. Ich bin gleich zurück.“
„Wie ist er so?“, fragt Jenna, die neben mich tritt, während ich das Glas der Frau nachfülle.
„Der Typ? Er ist nett.“ Ich lächele, als ich das sage.
„Hat er dich um ein Date gebeten?“
„Nein.“ Ich lache. „Glaubst du, ein Typ wie er würde mich um ein Date bitten? Er arbeitet wahrscheinlich an der Wall Street und ist mit einem Mädchen aus der High Society verlobt.“
„Was macht er dann in einem Diner in New Jersey?“
„Vielleicht ist er auf dem Weg in die Stadt.“
Sie nimmt mir das Glas aus der Hand. „Ich mache das schon. Geh du und finde heraus, wo der Typ im Anzug herkommt und was er hier macht.“
„Das werde ich ihn nicht fragen. Das geht mich nichts an.“
Ich gehe zurück zu dem Typ im Anzug und hole meinen Bestellblock heraus. „Haben Sie sich entschieden, was Sie möchten?“
Er legt die Speisekarte beiseite. „Was empfehlen Sie?“
„Die Cheeseburger sind gut.“
„Dann nehme ich einen davon.“
„Sonst noch etwas?“
„Das war‘s.“ Er lächelt mich an, und mein Puls beschleunigt sich.
Ich lächle zurück. „Es sollte nicht lange dauern.“
„Wann haben Sie Pause?“, fragt er.
„Erst in einer Stunde. Warum?“
„Ich habe etwas Zeit totzuschlagen.“ Er zieht die Augenbrauen hoch. „Vielleicht leisten Sie mir Gesellschaft?“
„Oh, ich darf mich nicht zu den Kunden setzen.“
„Auch in Ihrer Pause nicht? Sie sollten doch tun und lassen können, was Sie wollen. Es ist schließlich Ihre Pause.“
„Da haben Sie wohl recht. Es ist keine feste Regel. Ich habe nur noch nie darüber nachgedacht. Normalerweise sitze ich im Pausenraum und schaue mir Kram auf meinem Handy an.“
„Was meinen Sie?“ Er lächelt ein wenig. „Würden Sie mir ein paar Minuten Gesellschaft leisten?“
„Ähm. Klar“, sage ich.
Mir fällt kein Grund ein, warum ich es nicht tun sollte, es sei denn, er hat eine Freundin, in diesem Fall sollte ich ihn in Ruhe lassen. Aber wenn er eine Freundin hätte, würde er nicht mit mir flirten. Vielleicht flirtet er gar nicht. Vielleicht ist es so, wie er gesagt hat, und er will nur die Zeit totschlagen und ein bisschen Gesellschaft haben.
„Ich sollte mich vorstellen“, sagt er. „Ich heiße Evan. Evan Sinclair.“
„Freut mich, dich kennenzulernen.“ Ich deute Richtung Küche. „Ich gebe deine Bestellung auf.“
Als ich in die Küche komme, eilt Jenna zu mir herüber. „Und? Was hat er gesagt?“
„Er hat mich gebeten, mich in meiner Pause zu ihm zu setzen.“ Ich reiße die Bestellung vom Block ab und hänge sie zu den anderen über den Grill.
„Er hat dich um ein Date gebeten?“, fragt Jenna, als hätte sie das in einer Million Jahren nicht für möglich gehalten.
„Er hat mich nicht um ein Date gebeten“, sage ich. „Er will nur die Zeit totschlagen und wollte nicht alleine dort sitzen.“
„Worüber redet ihr beiden?“, fragt Martin und stellt einen Teller mit einem Grilled-Cheese-Sandwich und Pommes unter den Warmhalter.
„Da draußen ist so ein echt heißer Typ“, sagt Jenna, „und er hat Grace gerade um ein Date gebeten.“
„Es ist kein Date“, sage ich und verdrehe die Augen. „Ich werde mich nur in meiner Pause zu ihm setzen.“
„Wer ist der Typ?“, fragt Martin. „Was weißt du über ihn?“
„Lass sie doch in Ruhe“, sagt Jenna. „Das ist ihre Chance, endlich einen Typen kennenzulernen.“
„Du tust so, als wäre ich eine Versagerin, die kein Date bekommt“, sage ich.
„Na, du musst zugeben, dass du eine Durststrecke hinter dir hast. Wann war dein letztes Date? Vor einem Jahr?“ Sie verschränkt die Arme und zieht eine Augenbraue hoch.
„Jenna, deine Bestellung ist fertig“, sagt Martin, bevor ich etwas erwidern kann. Er stellt einen Teller zu den beiden anderen unter den Warmhalter.
„Ja, alles klar.“ Sie nimmt die Teller und verlässt die Küche.
„Geh nicht mit dem Typen aus, bevor du nicht mehr über ihn weißt“, sagt Martin.
Ich lehne mich an die Theke. „Du weißt, dass ich achtundzwanzig bin.“
„Ja, und was heißt das?“
„Ich bin erwachsen. Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“
„Alter spielt keine Rolle. Meine Tochter ist dreißig und war mit einem Typen zusammen, der sich von jetzt auf gleich aus dem Staub gemacht hat. Ihr ist nichts geblieben. Hätte sie auf mich gehört, hätte sie sich nie auf ihn eingelassen.“
„Du magst keinen der Männer, mit denen deine Töchter ausgehen.“
„Weil sie Lügner sind. Zu meiner Zeit haben Männer nicht verheimlicht, wer sie waren.“ Er legt einen Beef-Patty auf den Grill. „Es gab ein paar schwarze Schafe, aber die meisten von uns waren gute, ehrliche Männer. Heute gibt es all diese Betrüger im Internet, die vorgeben, jemand zu sein, der sie nicht sind.“
„Nicht alle Männer sind so.“
Martin wendet den Burger und wedelt dann mit seinem Metallwender vor meinem Gesicht herum. Als sich unsere Blicke treffen, sagt er: „Sei vorsichtig, hörst du? Du bist ein nettes Mädchen. Du bist besser dran allein als mit so einem Idioten.“
Es ist süß, dass Martin es für nötig hält, auf mich aufzupassen. Ich arbeite erst seit sechs Monaten hier, und er behandelt mich bereits wie eine seiner Töchter.
Vielleicht hat er recht und ich bin besser dran allein. Aber ich hätte nichts dagegen, einen Mann in meinem Leben zu haben, vor allem, wenn es der richtige ist.
Kapitel 2
„Wie war der Burger?“, frage ich Evan.
Meine Pause hat vor ein paar Minuten begonnen, aber ich habe mich auf der Toilette noch kurz frisch gemacht und meine Haare aus dem strengen Pferdeschwanz gelöst.
„Er war gut“, sagt er. „Danke für die Empfehlung.“
„Mit einem Burger kann man nichts falsch machen“, sage ich mit einem nervösen Lachen.
Warum bin ich so nervös? Dieser Typ interessiert sich nicht für mich, auch wenn er mich eingeladen hat, mich zu ihm zu setzen. Heißt das, dass er mit mir ausgehen will? Warum mit mir? Jenna ist viel attraktiver mit ihren blondierten Haaren und ihrer kurvigen Figur. Ich habe dunkles Haar, eine flache Brust und kaum Hüften. Ich war schon immer dünn, aber nach dem Unfall habe ich noch mehr Gewicht verloren.
„Was ist los?“, frage ich. Evan starrt mich an. „Habe ich Senf an mir? Ich dachte, ich hätte alles weggewischt, aber …“
„Es sind deine Haare“, sagt er. „Sie sehen anders aus, wenn du sie offen trägst.“
„Oh.“ Ich lache wieder nervös.
„Mir gefällt es. Sieht gut aus.“ Er lehnt sich zurück. „Du bist eine sehr schöne Frau, Grace.“
„Ähm, danke“, murmele ich. Wahrscheinlich sagt er das nur, um nett zu sein. Ich sehe bestenfalls durchschnittlich aus. Definitiv nicht so, wie die meisten Menschen ‚schön‘ definieren würden.
Er zieht die Augenbrauen hoch. „Glaubst du mir nicht?“
„Nicht so richtig.“
„Warum sollte ich lügen?“
Ich zucke die Achseln. „Vielleicht, damit ich mit dir ausgehe?“
„Ich hatte nicht vor, dich um ein Date zu bitten.“
„Oh.“
Ich schaue auf den Tisch und spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Natürlich wollte er mich nicht um ein Date bitten. Er ist viel zu gut für mich. Warum habe ich mir von Jenna einreden lassen, dass dieser Typ an mir interessiert sein könnte?
„Ihre Bestellung kommt gleich“, höre ich Jenna zu den Leuten in der Sitzecke hinter mir sagen.
Evan beobachtet sie, während sie weggeht.
„Sie ist Single“, sage ich. „Falls du dich das fragst.“
„Habe ich nicht.“ Sein Blick kehrt zu mir zurück. „Was ist mit dir? Hast du einen Freund?“
„Nein. Ich habe mir eine Auszeit vom Daten genommen.“
„Warum denn?“
„Mir war nicht danach.“
Ein paar Monate nach dem Unfall hatte ich ein paar Dates, aber ich war einfach nicht bei der Sache. Vielleicht lag es an den Männern, mit denen ich mich getroffen habe, oder vielleicht lag es an mir. So oder so, irgendetwas hat nicht gepasst, also habe ich es aufgegeben.
„Bist du immer noch in dieser ‚Dating-Pause‘?“, fragt er.
„Keine Ahnung.“ Ich schiebe meine Hände unter meine Beine und schaue mich im Diner um. „Können wir über was anderes reden?“
„Du bist nervös“, sagt er.
Ich schaue ihn an. „Ich bin nicht nervös.“
„Doch, bist du.“ Seine Lippen formen ein leichtes Lächeln.
„Okay, vielleicht bin ich ein bisschen nervös“, sage ich, da ich es offensichtlich nicht verbergen kann.
„Darf ich fragen, warum?“
„Weil ich nicht weiß, was das hier ist. Ich weiß nicht, warum du wolltest, dass ich mich zu dir setze.“
„Du scheinst ein netter Mensch zu sein und ich wollte jemanden zum Reden“, sagt Evan.
„Das ist alles? Du wolltest nur mit mir reden?“
„Ist daran etwas auszusetzen?“ Evan verschränkt die Hände und legt sie auf den Tisch.
„Nein, aber es ist ein bisschen seltsam. Ich meine, wenn du Zeit totschlagen wolltest, hättest du dich einfach mit deinem Handy beschäftigen können.“
„Ich verbringe viel zu viel Zeit an meinem Handy. Ich brauche eine Pause davon. Außerdem ist nichts auf dem Handy auch nur annähernd so interessant wie du.“
„So interessant bin ich nun auch wieder nicht“, sage ich.
„Ich finde dich sehr interessant.“
„Warum?“
„Weil ich nichts über dich weiß. Das macht mich neugierig, mehr zu erfahren.“
„Was möchtest du wissen?“ Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, plötzlich unfähig, still zu sitzen.
„Was immer du mir erzählen willst.“ Evan nimmt einen Schluck Wasser und tupft sich dann mit einer Serviette aus dem Spender den Mund ab. „Fangen wir damit an, warum du dich entschieden hast, in einem Diner zu arbeiten.“
„Ich habe mich nicht dafür entschieden. Ich brauchte einfach einen Job. Ich bin nicht besonders gut darin, aber ich habe es hier sechs Monate lang ausgehalten, länger als in jedem anderen Job, den ich hatte, seit …“
Ich halte inne. Ich habe diesen Mann gerade erst kennengelernt. Er will meine Lebensgeschichte nicht hören.
„Seit was?“, fragt er.
„Nichts“, sage ich und schüttle den Kopf. „Vergiss es.“
„Grace, was ist los?“, fragt er. „Was wolltest du sagen?“
„Ich hatte einen Autounfall. Dabei wurden Nerven in meinem Nacken beschädigt, und jetzt habe ich diese schlimmen Kopfschmerzen. Manchmal sind sie so stark, dass ich nicht arbeiten kann und nach Hause gehen muss. Bei meinen anderen Jobs wurde ich deswegen gefeuert, aber mein Chef hier macht keine große Sache daraus, wenn ich gehen muss. Auch wenn es nicht der beste Job ist, sitze ich hier irgendwie fest.“
„Es sei denn, es bietet sich eine andere Gelegenheit.“
„Das glaube ich nicht“, sage ich lachend. „Die Leute stehen nicht gerade Schlange vor meiner Tür, um mir einen Job anzubieten.“
„Es geht nicht immer nur um einen Job. Chancen können viele Formen annehmen.“
Welche Chancen? Ich würde diesen Job nur aufgeben, wenn sich ein besserer ergibt. Einer, bei dem ich nicht gefeuert werde, wenn ich wegen meiner Kopfschmerzen nicht zur Arbeit komme. Ich bezweifle, dass es einen solchen Job gibt, zumindest nicht hier in der Gegend.
„Kommst du von hier?“, fragt Evan.
„Nicht aus dieser Stadt. Ich bin eine Stunde südlich von hier aufgewachsen.“
„Lebt deine Familie dort?“
Ich zögere, bevor ich antworte. Auch wenn es schon eine Weile her ist, fällt es mir immer noch schwer, darüber zu sprechen.
„Ich habe keine Familie mehr“, sage ich.
„Oh.“ Evan runzelt die Stirn und seine Mundwinkel ziehen sich traurig nach unten. „Das tut mir leid. Darf ich fragen, was passiert ist?“
„Mein Bruder ist vor ein paar Jahren an einer Überdosis gestorben. Und meine Eltern …“ Meine Stimme bricht, und ich atme tief durch, um mich zu beruhigen. „Sie sind bei dem Unfall ums Leben gekommen.“
„Der, den du vorhin erwähnt hast?“, fragt er.
Ich nicke.
„Mein Dad saß am Steuer. Meine Mom saß neben ihm und ich hinten. Ein Auto geriet auf unsere Fahrbahn und wir kamen von der Straße ab. Das Auto überschlug sich und …“ Ich räuspere mich. „Meine Eltern haben es nicht überlebt.“
„Das tut mir leid, Grace“, sagt Evan und legt seine Hand auf meinen Unterarm. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm das für dich gewesen sein muss.“
„Es war schrecklich. Ich habe immer noch Albträume von dem Unfall.“
„Wann ist das passiert?“
„Das ist fast zwei Jahre her. Ich verbrachte ein paar Tage im Krankenhaus, und als ich entlassen wurde, musste ich mich um die Beerdigung kümmern.“ Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Es ist mir peinlich, dass ich vor einem völlig Fremden so emotional werde, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich vermisse meine Eltern so sehr.
„Das muss eine sehr schwere Zeit für dich gewesen sein“, sagt Evan, seine Hand immer noch auf meinem Unterarm.
„Es war schrecklich. Wenn ich zurückblicke, weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie ich das überstanden habe. Es hat mir geholfen, dass ich die Stadt verlassen habe. Hierher zu kommen hat mich von all den Erinnerungen befreit.“
„Warum hierher?“
Ich zucke die Achseln. „Ich fand einen Job. Ich habe mich überall beworben und mir gesagt, dass ich dahin ziehen würde, wo man mich haben will. Ein Geschäft in der Mall hat mich eingestellt, aber nach zwei Wochen haben sie mich wieder entlassen. Ich hatte noch vier weitere Jobs, bevor ich schließlich hier gelandet bin.“
„Ich bewundere deinen Durchhaltewillen“, sagt Evan und lehnt sich in der Sitzecke zurück. „Viele Menschen wären nach einem solchen Verlust nicht in der Lage, weiterzumachen.“
„Ich hatte keine Wahl. Ich musste Geld verdienen. Das wenige, was mir meine Eltern hinterlassen hatten, ging für ihre Beerdigung drauf. Und dann kamen noch die Arztkosten dazu, sodass ich so pleite war, dass ich meine Miete nicht mehr bezahlen konnte. Ich wurde aus meiner Wohnung geworfen und konnte keine neue finden, weil meine Bonität so schlecht ist. Wenn Jenna mich nicht bei sich wohnen lassen hätte, würde ich wahrscheinlich in meinem Auto leben und …“ Ich halte inne, als mir erneut klar wird, dass ich diesem Typen viel zu viel über mich preisgebe. „Entschuldige. Ich wollte dir das alles nicht erzählen.“
„Ich bin froh, dass du es getan hast“, sagt er mit einem leichten Lächeln. „Du bist genau das, wonach ich suche.“
„Was meinst du damit?“, frage ich, weil mir seine Bemerkung seltsam vorkommt.
Evan lacht leise. „Das war schlecht formuliert. Ich meinte jemanden, der so offen ist wie du und ehrlich über seine Vergangenheit spricht. Das ist erfrischend. Ich treffe nicht oft jemanden wie dich.“
„Normalerweise erzähle ich nicht so viel“, gestehe ich. „Ich spreche fast nie über den Unfall. Das weckt zu viele schlimme Erinnerungen.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Er lächelt mich wieder leicht an. „Aber ich bin sehr froh, dass du mir davon erzählt hast. Und noch einmal, mein Beileid zu deinem Verlust.“
Er wirkt aufrichtig, und doch … habe ich dieses ungute Gefühl in der Magengrube. Vielleicht liegt es daran, wie er lächelt, als stecke etwas Unheimliches dahinter. Als ob er ein Geheimnis verbirgt.
Ich bin paranoid. Der Mann versucht, nett zu sein, mir sein Mitgefühl auszudrücken, und ich lese etwas hinein.
„Das ist etwas, das wir gemeinsam haben“, sagt er und blickt auf den Tisch.
„Was meinst du?“
„Den Verlust eines Elternteils.“ Er sieht mir in die Augen. „Ich habe meinen Vater verloren, als ich noch ein kleiner Junge war. Er hatte einen plötzlichen Herzinfarkt, als er bei der Arbeit war. Ich habe ihn an dem Morgen noch gesehen, und am Abend war er tot.“
„Das tut mir leid“, sage ich und fühle mich jetzt, da ich das weiß, mehr mit ihm verbunden. Viele Menschen können nicht nachvollziehen, wie es ist, einen Elternteil zu verlieren, bis sie es selbst erleben.
„Es war ein großer Verlust für mich“, sagt Evan. „Und ich habe nur einen Elternteil verloren. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, beide Eltern und auch noch deinen Bruder zu verlieren.“
„Ja, ich habe es noch nicht ganz verwunden“, sage ich und spüre einen Kloß im Hals. „Ich glaube nicht, dass ich es je werde.“
„Das ist vollkommen verständlich.“
„Ich fange gleich an zu weinen, wenn wir nicht das Thema wechseln.“ Ich atme tief durch und zwinge mich zu einem Lächeln. „Woher kommst du?“
„Kalifornien.“ Er legt seine Hände auf den Tisch, die Finger ineinander verschränkt, was mich an meinen Berufsberater in der Highschool erinnert. Er legte seine Hände immer so auf seinen Schreibtisch, wenn wir uns trafen, um über meine Zukunft zu sprechen. Wir hatten beschlossen, dass ich Krankenschwester werden würde. Dazu ist es natürlich nie gekommen.
„Wo in Kalifornien?“, frage ich.
„San Francisco.“
„Ich habe gehört, dass es dort sehr schön sein soll. Ich wollte schon immer mal dorthin, bin aber noch nie über Pennsylvania hinausgekommen.“
Er lächelt. „Du reist nicht gerne?“
„Ich würde gerne reisen. Ich habe nur nicht das Geld dafür. Was hat dich nach New Jersey verschlagen?“
„Ich wohne nicht hier. Ich wohne in New York. Im Moment ist das nur vorübergehend. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich bleiben werde.“
„Wenn du New York sagst, meinst du dann die Stadt?“, frage ich, da sie direkt auf der anderen Seite der Brücke liegt.
Er nickt. „Ich wurde für ein Beratungsprojekt bei einer Tech-Firma in Manhattan engagiert. Ich wollte mal raus aus Kalifornien, daher hätte das Timing nicht besser sein können.“
„Wie gefällt dir New York?“
„Die Stadt selbst ist toll, aber ich habe Schwierigkeiten, Leute kennenzulernen. Alle sind so in Eile. Es ist nicht so locker wie in Kalifornien. Ich bin jetzt schon seit ein paar Wochen hier und habe noch niemanden gefunden, der sich die Zeit nimmt, sich mit mir zu unterhalten. Deshalb habe ich dich gebeten, dich zu mir zu setzen.“
Er will mich also wirklich nicht um ein Date bitten. Er ist einfach nur einsam und wollte jemanden zum Reden.
„Wenn du in der Stadt lebst“, sage ich, „wie bist du dann hier gelandet?“
„Wenn ich über ein Problem bei der Arbeit nachdenken muss, setze ich mich ins Auto und fahre durch die Gegend. Das hilft mir, eine Lösung zu finden. Ich bin den ganzen Vormittag herumgefahren, bis sie mir endlich eingefallen ist. Ich war noch nicht bereit, in die Stadt zurückzukehren, also habe ich beschlossen, anzuhalten und zu Mittag zu essen. Dieses Diner war einfach der Ort, an dem ich gelandet bin.“
Ich sehe auf die Uhr. „Meine Pause ist fast vorbei.“
„Es war schön, dich kennenzulernen, Grace.“
Evan sieht mir mit einer Intensität in die Augen, die mein Herz höher schlagen lässt. Ich kann nicht sagen, ob es Anziehung ist, die ich empfinde, oder etwas anderes, obwohl ich nicht weiß, was dieses andere sein könnte.
„Hat mich auch gefreut, dich kennenzulernen“, sage ich und rutsche aus der Sitzecke. „Ich hoffe, alles klappt mit deinem Job.“
„Danke.“ Er lächelt. „Und nochmal danke, dass du deine Pause mit mir verbracht hast.“
Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt. Ich höre ihm gerne zu. Er hat eine sanfte, tiefe Stimme, die sehr angenehm ist.
„Du bist spät dran“, sagt Jenna, als ich zurück in die Küche eile.
„Nur zwei Minuten“, sage ich und schaue in Martins Richtung, um zu sehen, ob er sie gehört hat. Aber er ist nicht da. Er muss nach draußen gegangen sein, um eine Zigarette zu rauchen.
„Und?“, fragt Jenna, während ich mir meine Schürze umbinde. „Was ist passiert?“
„Nichts. Er war nur gelangweilt und wollte jemanden zum Reden.“
„Echt?“ Sie runzelt die Nase. „Das ist ja komisch.“
„Das ist nicht komisch. Er kommt aus Kalifornien und kennt hier niemanden. Er ist wegen eines Jobs in der Tech-Branche nach Manhattan gezogen.“
„Was macht er dann in einem Diner in New Jersey?“, fragt Jenna.
„Er war mit dem Auto unterwegs und hat beschlossen, zum Mittagessen anzuhalten.“ Ich binde meine Haare wieder zu meinem üblichen Pferdeschwanz zusammen und hole dann meinen Bestellblock vom Tresen.
„Wirst du ihn wiedersehen?“
„Ich bezweifle es. Ich fahre nie in die Stadt, und selbst wenn, würde ich ihn dort wohl kaum treffen.“ Ich wende mich an Jenna. „Wie alt schätzt du ihn?“
Sie zuckt die Achseln. „Vierunddreißig? Fünfunddreißig? Schwer zu sagen. Wenn ein Mann einen Anzug trägt, denke ich immer, er sei älter.“ Sie lächelt. „Warum interessiert dich das?“
„Ich bin nur neugierig.“
„Ich werde ihn fragen.“ Sie geht los.
„Jenna, nein!“ Ich springe ihr in den Weg. „Sprich ihn nicht an. Ich will nicht, dass er denkt, ich wäre an ihm interessiert.“
„Warum nicht? Es ist doch die Wahrheit, oder?“ Sie verschränkt die Arme, aber ein wissendes Lächeln umspielt ihre Lippen. „Ich habe dich noch nie so erröten sehen, seit ich dich kenne. Und was sollte dieses Lachen?“
„Was meinst du damit?“ Ich stecke meinen Bestellblock in die Tasche meiner Schürze und weiche ihrem Blick aus.
„Du hast geklungen wie ein verknallter Teenager. Als wärst du nervös oder so.“
„Warum hast du uns beobachtet? Du hättest arbeiten sollen, statt mich auszuspionieren.“
„Ich dachte, du könntest vielleicht ein wenig Hilfe gebrauchen. Wenn man so lange kein Date hatte, ist es schwer, wieder damit anzufangen.“
„Es war kein Date“, sage ich und verdrehe die Augen. „Wir haben uns nur unterhalten.“
„Ich finde das trotzdem seltsam. Welcher Mann bittet eine Kellnerin, sich zu ihm zu setzen und mit ihm zu reden? Alte Rentner vielleicht. Wir sind vielleicht die einzigen Menschen, die sie den ganzen Tag sehen. Aber der Mann da draußen ist jung und echt heiß. Und seinem Anzug nach zu urteilen, hat er Geld.“
„Ja? Und was willst du damit sagen?“
„Glaubst du wirklich, ein so junger, heißer, reicher Typ kann keine Frau finden, die mit ihm redet? In einer Stadt, die so groß ist wie New York?“
„Vielleicht kann er ja, aber das heißt nicht, dass er nicht auch mit mir reden kann.“ Ich lasse sie stehen und gehe schnell durch die Küche.
„Ich sage ja nicht, dass er das nicht kann“, sagt Jenna und stolpert fast, um mit mir Schritt zu halten. „Ich sage nur, dass es komisch ist. Kunden bitten Kellnerinnen normalerweise nicht, sich zu ihnen zu setzen und zu plaudern, besonders nicht Männer aus der Stadt, die eigentlich arbeiten sollten.“
„Ich glaube, du interpretierst da zu viel hinein.“
„Warum hat er dich immer so angesehen?“
Ich halte inne und drehe mich so schnell um, dass ich fast Nase an Nase mit Jenna stehe. Ich mache einen Schritt zurück: „Wie ‚so‘?“
„Er hat dich angestarrt, fast so, als würde er dich kennen.“
„Er kennt mich nicht, aber er hat gesagt, ich erinnere ihn an jemand, den er kennt.“
„Was habt ihr beiden da zu quatschen?“, ruft Martin. „Ihr sollt arbeiten.“
„Ja, wir gehen schon“, gibt Jenna zurück.
„Sag bloß nichts zu ihm“, bitte ich Jenna, als wir durch die Tür in den Speiseraum gehen.
„Geht eh nicht. Er ist weg.“
Als ich an Evans Tisch komme, nehme ich das Geld, das er dagelassen hat. Es ist ein nagelneuer Hundert-Dollar-Schein. Seine Rechnung belief sich auf nicht mal zwanzig Dollar.
Entweder ist Evan reich oder er wollte sich wirklich bei mir dafür bedanken, dass ich mit ihm geredet habe. Schade, dass er gegangen ist. Ich wünschte, wir hätten unsere Telefonnummern ausgetauscht. Ich würde ihn gerne wiedersehen.
Kapitel 3
Es ist schon ein paar Tage her, seit Evan das Diner betreten hat. Ich schaue immer wieder zur Tür, um zu sehen, ob er auftaucht. Ich weiß nicht, warum er das tun sollte. Wenn er einen fettigen Burger und Pommes möchte, kann er das auch in Manhattan ganz einfach bekommen. Er muss dafür nicht extra nach New Jersey fahren.
Die Türglocke klingelt, und ich schaue wieder hinüber, um zu sehen, wer hereinkommt.
„Er ist es nicht“, sagt Jenna, während ich die Theke abwische.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Sie wirft mir einen Blick zu, während sie ein Glas an der Softdrink-Maschine füllt. „Du hältst nach dem Typen im Anzug Ausschau, seit dem Tag, als er hier war.“
„Er heißt Evan, und ich halte nicht nach ihm Ausschau.“
„Warum guckst du dann jedes Mal zur Tür, wenn jemand reinkommt?“
Ich zucke die Achseln. „Ich wusste nicht, dass ich das mache.“
„Ja, klar“, sagt sie lachend. Sie macht das Glas fertig und tritt zu mir. „Wenn du jemanden zum Ausgehen suchst, kenne ich den perfekten Mann.“
„Danke, aber im Moment möchte ich mit niemandem ausgehen.“
„Wenn der Typ im Anzug hier reinkäme und dich um ein Date bitten würde, würdest du ihn dann abweisen?“
„Nein. Ich meine, vielleicht.“
„Ich wusste, dass du ihn magst. Aber da er nie wieder auftauchen wird, was hältst du davon, mit meinem Cousin Tony auszugehen? Er ist letztes Wochenende hierhergezogen.“ Sie lächelt, holt ihr Handy heraus und zeigt mir ein Foto. Tony hat dichtes schwarzes Haar, grüne Augen und ein tiefes Grübchen im Kinn. „Was hältst du von ihm?“
Ich zucke die Achseln. „Er ist okay.“
„Warum gehen wir nicht alle heute Abend aus?“ Sie steckt ihr Handy in die Tasche. „Du könntest ihn kennenlernen.“
„Ich weiß nicht. Es wäre komisch, ein Date mit deinem Cousin zu haben.“
„Das ist nicht komisch. Und heute Abend ist kein Date. Es sind nur drei Leute, die zusammen essen gehen. Und Tony bezahlt, also kannst du nicht mit Geld als Ausrede kommen, um zu kneifen.“
„Danke, aber ich passe.“ Ich wische weiter die Arbeitsplatte ab.
„Warum?“ Jenna verschränkt die Arme. „Du sagst doch selbst immer, dass du mehr unter die Leute kommen musst.“
Das stimmt. Ich arbeite und schlafe nur, hauptsächlich weil ich kein Geld habe, um etwas anderes zu tun.
„Okay, ich bin dabei“, sage ich. „Um wieviel Uhr?“
Jenna quietscht und klatscht in die Hände. „Er holt uns um sieben ab. Tony ist ein super Typ. Ich glaube, du wirst ihn echt mögen!“
Auf dem Weg zum Pausenraum freue ich mich auf den Abend. Es wird mir guttun, mal rauszukommen und etwas zu unternehmen. Ich bin nicht gerade begeistert davon, mit Jennas Cousin verkuppelt zu werden, aber vielleicht wird es gar nicht so schlimm.
„Wir sehen uns zu Hause“, sagt Jenna, als unsere Schicht um fünf endet.
„Ja, bis dann“, sage ich und fülle meinen To-Go-Becher mit einem Energy Drink. Ich bin erschöpft und brauche das Koffein und den Zucker, um weitermachen zu können.
„Grace?“
Ich drehe mich um und verschütte fast mein Getränk, als ich Evan dort stehen sehe.
„Hey“, lächle ich. „Was machst du denn hier?“
„Ich war in der Gegend und dachte, ich schaue mal vorbei und sage hi.“ Er lächelt, und mein Herz beginnt schneller zu schlagen.
„Ich wünschte, du wärst früher gekommen“, sage ich und drücke den Deckel auf meinen Becher, um ihn zu verschließen. „Ich wollte gerade gehen.“
„Dann bin ich genau zur richtigen Zeit gekommen. Ich wollte dich fragen, ob du mit mir essen gehen möchtest.“
Er will mit mir ausgehen? Wie bei einem Date? Ich dachte, er wäre nicht an mir interessiert.
Ich bin definitiv an ihm interessiert. Er sieht wirklich gut aus, sogar noch besser als beim letzten Mal. Er ist heute lässig gekleidet, oder zumindest das, was für ihn lässig ist. Er trägt eine helle Hose und ein blaues Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, das seine durchtrainierten, gebräunten Unterarme zur Geltung bringt.
„Heißt das ja?“, fragt er, und mir wird klar, dass ich zu sehr damit beschäftigt war, ihn anzustarren, um ihm eine Antwort zu geben.
„Würde ich gerne“, sage ich etwas verlegen, „aber ich habe schon was mit Jenna ausgemacht. Meine Mitbewohnerin. Sie arbeitet hier. Du hast sie gesehen, als du das letzte Mal hier warst. Blond. Etwas kleiner als ich.“
„Ja, ich erinnere mich. Glaubst du, sie wäre bereit, eure Pläne auf einen anderen Abend zu verschieben? Ich weiß, ich hätte früher Bescheid sagen sollen, aber ich hatte deine Nummer nicht und konnte deshalb nicht vorher anrufen.“
„Tut mir leid, aber ich kann Jenna nicht einfach absagen“, sage ich. „Ihr Cousin kommt auch, und sie möchte unbedingt, dass ich ihn kennenlerne.“
„Ihn?“, fragt Evan und zieht die Augenbrauen hoch. „Das ist also ein Date?“
„Nein. Ich meine, wenn es nach Jenna ginge, wäre es ein Date, aber ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich ihn mag.“
„Aber du hast dich bereit erklärt, mit ihm auszugehen“, sagt Evan. „Ich nehme an, das bedeutet, dass deine Auszeit vom Daten vorbei ist?“
Ich bin überrascht, dass er sich daran erinnert. Die meisten Männer erinnern sich an nichts von dem, was ich ihnen erzähle.
„Ich bin offen für Dates, aber ich weiß nicht, ob Tony der Richtige ist. Ich werde es wohl herausfinden“, sage ich und lache gezwungen.
Evan lacht nicht. Er lächelt nicht mal. Ist er eifersüchtig? Das kann nicht sein. Wir haben uns gerade erst kennengelernt.
„Vielleicht könnten wir ein anderes Mal essen gehen“, sage ich. „Dieses Wochenende hätte ich Zeit.“
Er presst lange die Lippen zusammen, dann lächelt er. „Dieses Wochenende wäre perfekt. Wie wäre es mit morgen?“
Ich halte inne, um zu überlegen, welcher Tag heute ist. „Oh, morgen ist Freitag! Ja, das passt. Ich bin um halb drei fertig. Du arbeitest wohl bis fünf?“
„Mein Zeitplan ist flexibel. Ich könnte um drei hier sein, wenn dir das am besten passt.“
„Das passt, aber ich weiß nicht so recht, was wir unternehmen könnten. Dieses Kaff ist irgendwie langweilig.“
„Wir müssen ja nicht hierbleiben. Hättest du Lust, in die Stadt zu fahren?“
„Machst du Witze?“, sage ich und kann meine Begeisterung kaum verbergen. „Und wie! Ich fahre nie dorthin, weil es zu teuer ist.“
„Mach dir keine Gedanken um die Kosten. Ich lade dich ein. Ich plane den Abend“, sagt Evan. „Du musst nur bereit sein, wenn ich dich abhole. Ich brauche deine Adresse und natürlich deine Telefonnummer.“
Meine Begeisterung schwindet, als mich plötzlich ein ungutes Gefühl überkommt. Geht das alles nicht ein bisschen schnell? Ich weiß fast nichts über diesen Mann, und plötzlich bin ich bereit, mich von ihm abholen und in die Stadt fahren zu lassen?
„Stimmt was nicht?“, fragt er besorgt.
„Nein. Es ist nur … Ich kenne dich nicht besonders gut“, sage ich. Ich bin versucht, mehr zu sagen, aber ich belasse es dabei.
Evan seufzt, reibt sich das Kinn und schüttelt den Kopf. Sein Blick trifft meinen. „Tut mir leid. Es war unbedacht von mir, dich einfach so zu überrumpeln. Bitte verzeih mir.“
„Nein, schon gut. Ich finde nur, dass es ein bisschen viel ist, in die Stadt zu fahren und so viel Zeit miteinander zu verbringen, wenn wir uns noch nicht wirklich kennen.“
„Du hast recht. Das ist es. Ich hätte nicht so forsch sein sollen. Das war sehr rücksichtslos von mir.“ Evan steckt seine Hände in die Taschen und starrt auf die Fliesen zwischen uns.
„Mach dir keine Gedanken. Ich bin nur vorsichtig“, sage ich hastig. „Es ist nicht so, dass ich dich für gefährlich halte. Ich möchte nur mehr Zeit haben, um dich kennenzulernen.“
Er nickt, und sein Blick kehrt langsam zu mir zurück, ein zaghaftes Lächeln liegt auf seinem Gesicht. „Ich verstehe das vollkommen. Wir gehen irgendwo in die Stadt. Du kannst den Ort aussuchen, und ich hole dich hier ab. Oder wir treffen uns am Restaurant, wenn dir das lieber ist.“
Vielleicht male ich den Teufel an die Wand, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gibt. Evan scheint ein netter Kerl zu sein. Er ist höflich. Er kleidet sich gut. Er hat einen guten Job. Vielleicht bin ich übervorsichtig. Ich würde wirklich gern in die Stadt fahren. Außerdem hat Evan gesagt, dass er mich einlädt. Ich müsste nichts bezahlen.
„Ich habe es mir anders überlegt“, sage ich.
Er sieht mich besorgt an. „Was das Abendessen angeht?“
„Was die Stadt angeht. Ich würde sehr gerne hin!“
Evans Miene hellt sich auf und er lächelt. „Dann hole ich dich um drei hier ab.“
„Klingt gut.“ Ich schaue auf mein Handy. „Ich muss los. Tony holt uns um sieben ab, und ich muss mich noch fertig machen.“
Evans Lächeln schwindet ein wenig, aber er sagt: „Ich bin froh, dass ich dich noch erwischt habe, bevor du gegangen bist.“
„Ich auch“, sage ich. „Bis morgen!“
Als ich gehe, steigt meine Vorfreude auf den morgigen Abend. Ein sehr gut aussehender, kultivierter und vermutlich wohlhabender Mann nimmt mich mit nach Manhattan, um dort den Abend zu verbringen!
So etwas passiert mir sonst nie. Normalerweise habe ich schreckliches Pech, besonders mit Männern. Aber vielleicht wird sich das jetzt ändern.