1.
Kaum zu glauben, wie schnell es der Herbst geschafft hatte, Norderney in ein neues Farbengewand zu stecken. Sein zuverlässigster Begleiter, der Wind, bearbeitete die dichten Baumkronen und ließ die Blätter raschelnd zu Boden gleiten. Noch vor wenigen Tagen war es das Lied des Todes, das über alle Lautsprecher im Hafenviertel zur selben Zeit tönte. Ein beängstigender Tatbestand, den Georg Pampelhuber so nicht stehen lassen konnte. Klar, der Fall war gelöst und alle Beteiligten hatten ihre gerechte Strafe erhalten, aber dieses eine große letzte Rätsel war nach all dem Geschrei immer noch ein Thema, das dem selbst ernannten Kommissar den Schlaf raubte.
Für Matthis war dieser Fall abgeschlossen. Er saß an seinem Schreibtisch in der Inselwache und erledigte seine Tagesarbeit. So routiniert, wie seine Finger über die Tastatur tanzten, vermittelte er einen sehr kompetenten Eindruck. Das war auch der Grund, weshalb sein Schreibtisch das Erste war, was die Insulaner zu sehen bekamen, wenn sie die kleine L-förmige Holzhütte mit den drei Räumen betraten. Der erste Raum war ein kleiner Vorraum. Er diente als Flur zur Anmeldung und, seit der Kommissar drei Stühle vom Sperrmüll stibitzt hatte, fungierte er neuerdings auch als Wartebereich. Der angeschlossene, große quadratische Raum dahinter verfügte im vorderen Bereich über genug Platz für den Arbeitsbereich des Revierleiters Matthis Jüllich. Sein bayerischer Kollege war in der hinteren Ecke untergebracht. Nicht weit entfernt von der kleinen, sporadisch genutzten Verhörecke, die sie mit gräulichen Raumtrennern in den Raum integriert hatten. Eine Raum-in-Raum-Lösung sozusagen.
An den großen Hauptraum war ein rechteckiger Raum angeschlossen, der den Pausenraum und zwei Verwahrungszellen beherbergte. Wer die Sanitäreinrichtungen aufsuchte, musste an das fest angeschraubte Dixi-Klo auf der Terrasse verwiesen werden.
Direkt daneben an der dazugehörigen Fensterfront näherte sich ein stämmiger Schatten. Schweigsam, nahezu andächtig blickte der Kommissar aus der Fensterfront im Pausenraum. Seine Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Ein Schritt näher und sein dicker Bauch würde an der kühlen Glasfront anliegen. Seine lange, voluminöse, braune Dauerwellenfrisur glänzte wie frisch gewaschen und sein langer, brauner Vollbart war an den Übergängen sauber ausrasiert. Es war womöglich an der Zeit für seine nächste Mission.
Vorsichtig öffnete der Kommissar die Terrassentür und schlich vom Hof. Wozu all die lästigen Diskussionen mit seinem Kollegen führen? Es gab da schließlich für ihn immer noch eine Ungereimtheit, die nur er lösen konnte. Er hatte bereits heimlich alle Lagerhallen im Hafenviertel überprüft. Nicht eine lieferte Anhaltspunkte oder das dringend benötigte technische Equipment, mit dem die Melodie abgespielt werden könnte. Es war zum Verrücktwerden. Doch dann fiel Georg eine weitere verlassene Lagerhalle ein, die er im Eifer des Gefechts völlig vergessen hatte. Die letzte Lagerstätte war am nächsten und befand sich ihnen schräg gegenüber, direkt hinter dem beliebten Café, das sie von der Wache aus sehen konnten.
Matthis hob den Kopf, streckte sich und lehnte sich lautstark gähnend in seinem Bürostuhl zurück. Den knackenden Geräuschen des Stuhles folgte ein Knacksen seiner müden Fingerkuppen. Als er durch das Fenster den Kommissar in weiter Ferne erkannte. So gebückt, wie er an dem Café vorbeischlich, wurde Matthis’ volle Aufmerksamkeit geweckt. Der Revierleiter erhob sich von seinem Platz, um besser zu sehen. Er beobachtete, wie sich der Kommissar näher an die Hauswand drückte, nachdem er sich mehrfach umgesehen hatte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Hatte er wohl den etwa einen Meter achtzig großen und schlaksigen Polizisten am Fenster der Wache bemerkt? Womöglich war es das perfekte Zahnpastalächeln, das hinter dem Fenster strahlte wie das frühmorgendliche Sonnenlicht. Seine kurzen Haare konnten es jedenfalls nicht sein. Mit dem einkehrenden Herbst verlor Matthis’ Haarfarbe an Intensität und entwickelte sich zu einem etwas dunkleren Blondton.
Der Kommissar stoppte. Matthis beugte sich instinktiv vom Fenster ein Stückchen nach hinten. Georg sah sich erneut um, dann ruhte sein Blick für einen Moment auf der kleinen Inselwache. Als er entschied, dass er nichts Verdächtiges erkennen konnte, lief er weiter, touchierte mit der Hüfte die Tafel mit der Tageskarte und erschrak dabei über sich selbst. Das war das Letzte, was Matthis von seinem Kollegen sehen konnte, bevor er in der schmalen Gasse neben dem Café eintauchte und aus seinem Blickfeld verschwand.
»Geschafft«, murmelte Georg. Er hatte sich nicht nur erfolgreich und unerkannt aus dem Blickfeld der Wache geschlichen, sondern er war endlich auch von der Straße runter. Die enge Twiete führte ihn direkt am umzäunten Gelände der letzten Lagerstätte vorbei. Hier war sie also, die letzte stillgelegte Produktionsstätte im Hafenviertel, die er noch nicht heimlich überprüft hatte.
Allmählich lockerte der stämmige Polizist seine gebückte Haltung. Natürlich war der hohe Maschendrahtzaun noch intakt. Hier hinten an der Rückseite des Geländes gab es schon mal keinen einfachen Zugang für ihn, zumindest nicht, wenn er nicht klettern wollte. Und alle Welt weiß, er wollte nicht klettern.
Einen Augenblick dachte der Kommissar nach, dann fasste er einen neuen Plan. Da die Halle direkt am Wasser lag und über einen eigenen Bootsanleger verfügte, könnte sich dort eine geeignete Einstiegsmöglichkeit befinden. So machte sich Georg auf den Weg. Sein Bauchgefühl signalisierte ihm, dass er auf der richtigen Fährte war. Es war einfach dieser Spürsinn, der ihm in die Wiege gelegt worden war. Dafür konnten Polizisten wie Matthis nichts, die konnten Tag für Tag lernen und würden trotzdem niemals diesen außergewöhnlichen Spürsinn entwickeln können.
Georg stoppte abrupt. Etwas stimmte nicht. War das eben nicht ein gedämpfter, ganz spitzer Aufschrei gewesen? Er konzentrierte sich voll auf sein Gehör. Die Wellen rauschten, die Möwen kreischten und von der Hauptstraße erklangen Verkehrsgeräusche. Irgendjemand hupte sogar kurz. Vielleicht hatte er sich einfach nur getäuscht. Georg setzte seinen Weg fort und entschied, lieber wieder in die tiefere, gebückte Haltung zu wechseln, auch wenn er spürte, dass dieser Gang auf Dauer schon ganz schön ins Kreuz ging.
Wem gehörte eigentlich diese Halle?, fragte er sich. Das Gelände war wirklich groß und bis jetzt hatte er noch keinen verblassten Schriftzug oder ein verrostetes Logo der einstigen Firma entdecken können.
Als er die Rückseite des umzäunten Geländes weiter abgelaufen war, entdeckte Georg etwas, das seinen Verdacht bestätigte: Da war ein großes Loch in den Zaun geschnitten. Hier war also jemand eingedrungen, sicherlich, um das Lied des Todes über das Alarmsystem abzufeuern, das eigentlich für Brandfälle oder Naturkatastrophen gedacht war.
Der bayerische Starermittler quetschte sich durch das Loch im Zaun und betrat unter größter Mühe das Gelände. Nun erkannte er, dass die alte Halle wirklich komplett leer stand. Wenn das kein weiteres Indiz für seine Philosophie war, dachte der Kommissar und entdeckte eine Tafel mit der Aufschrift:
»ImmoGold – vereinbaren Sie jetzt Ihren Besichtigungstermin«
Praktisch, wenn das Schild im Fenster zur Meerseite auf den menschenleeren Hof ausgerichtet war. Aber das war ja schlussendlich nicht sein Problem. Vielleicht war die Halle auch schon verkauft worden und der neue Besitzer hatte die Tafel schnell nach hinten gepackt und einfach nur vergessen.
Georg schüttelte den Kopf. »Fokus«, sagte er zu sich selbst. Er hatte sich fest vorgenommen, in Zukunft einfach mehr bei der Sache zu bleiben, um sich eben nicht mehr zu intensiv mit den unbedeutenden Kleinigkeiten des Lebens herumschlagen zu müssen. Kaum hatte er sich wieder auf das Wesentliche konzentriert, entdeckte er den aufgebrochenen Steuerungskasten der angeschlossenen Sirenenanlage. Bingo! Hier war also wirklich diese furchteinflößende Melodie abgespielt worden. Dann bliebe da nur noch eine Frage: Von wem?
Matthis blickte auf seine Armbanduhr. Diese Logik seines Kollegen war ihm von Anfang an unbegreiflich. Gut, er hatte sich unentdeckt aus der Wache geschlichen. Das mag er ja toll gemacht haben. Aber das Fenster und den guten Blickwinkel, den Matthis hatte, hatte Georg wiederum nicht einkalkuliert. Und selbst wenn sein Abgang wirklich unbemerkt geblieben wäre – er war nun schon eine gute Stunde nicht an seinem Platz. Welche Ausrede hätte er denn dafür parat gehabt? Gut, der Kollege brauchte bei einem Toilettengang schon hin und wieder etwas mehr Zeit als andere, was sicherlich auch an seinem Reizdarmsyndrom lag, das ihn in gewissen Stresssituationen in unangenehme Situationen befördern konnte. Aber hier reden wir von Minuten und nicht von Stunden, die dem selbst ernannten Kommissar am Tagesende fehlten.
Georg inspizierte währenddessen akribisch den Sirenenkasten. Er war eindeutig aufgebrochen worden. Hastig zog der Ermittler sein Handy hervor und dokumentierte den Schaden mit der Kamera. Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf die technischen Bauteile und die offenen Stellen der Platine. Hier waren zwei Drähte bearbeitet worden. Geschickt zoomte Georg mit der Foto-App auf die freiliegende Stelle, an der die Isolierung professionell entfernt worden war. Er war sich sicher, dass hier jemand ein Abspielgerät angebracht hatte. Mit etwas technischem Geschick mussten schlussendlich nur die Drähte eines Lautsprecherkabels um die freien Drahtenden gewickelt werden, und schon sollte das Signal in der mächtigen Sirenenanlage eingespeist sein. Und dadurch sollte es dann im ganzen Hafenviertel zu hören sein. Durch den Hall, den die engen Gassen, Lagerhäuser und anderen Gebäude zurückwarfen, hörte es sich sicherlich so an, als käme das Lied aus allen Lautsprechern im Viertel gleichzeitig. Georg bekam erneut Gänsehaut, als er an diese elitäre Melodie zurückdachte. Doch dann schlich sich ein verwegenes Lächeln in sein Gesicht. Stolz klatschte er dabei in die Hände. Er hatte es also wirklich geschafft. Das Wie war gelöst, jetzt war nur noch die Frage, wer es abgespielt hatte und ob es womöglich noch einen weiteren Komplizen in Freiheit gab.
Kommissar Pampelhuber drehte sich um und sah zwischen dem alten, verrosteten Verladekran und einem kleinen, löchrigen Silo hinaus auf das weite offene Meer. Seine Gedanken waren frei wie die Wellen, die ihm dank der Sonne lobend entgegenfunkelten. Er war stolz auf sich. Sollte Matthis doch in der Wache diese Pseudo-Berichte verfassen und sich mit den Strafzetteln für Falschparker herumschlagen. Er, der tollkühne Kommissar, hatte es nun wieder einmal bewiesen, dass seine Fähigkeiten viel zu wertvoll waren, um sie mit solchen stupiden Schreibtischarbeiten zu vergeuden. Aber wie ging es jetzt für ihn weiter?
Matthis sah auf die Uhr. Sein Kollege war mittlerweile seit ungefähr zwei Stunden verschwunden. Der Revierleiter entschied sich für eine kurze Kaffeepause. Danach wollte er ihn anrufen beziehungsweise sein Bewegungsprofil checken. Das war ja auch so eine Sache: Da Georg sein Handy immer wieder verlegte und sich dann die Frage stellen musste, ob es nun in der Wache oder in der WG lag, hatte er sich entschieden, sein Handy mittels einer Ortungs-App mit Matthis’ Handy zu verknüpfen. Dann wiederum schlich er sich mit dem Handy in der Hosentasche auf eine seiner Geheimmissionen auf und davon und wunderte sich dann, wenn er sich einen Anpfiff abholen durfte.
Georg beschloss, dass es nichts schadete, wenn er herausfinden würde, wer der aktuelle Besitzer der Lagerstätte war. Vielleicht gab es im Inneren der Halle Anhaltspunkte oder zumindest Hinweise auf die vorherige Nutzung der Betriebsstätte.
Georg ging auf das erste Fenster zu. Er presste seine Handflächen gegen das staubige Glas, konnte jedoch wegen der Dunkelheit, die innen herrschte, nichts erkennen. So wandte er sich der dicken Stahltür daneben zu. Dabei entdeckte er, dass diese nur angelehnt war. War es die Witterung oder ein Indiz für einen Einbruch? Doch egal, was es war, es schien, als würde eine unsichtbare Kraft nach ihm rufen. Vorsichtig trat er über die Schwelle. Vor ihm erstreckte sich ein kurzer Flur. An den Seiten befanden sich alte Holztüren, die sicherlich zu den alten Büros der Vorarbeiter führten. Georgs Bauchgefühl ließ ihn auf die große Flügeltür direkt vor sich zulaufen. Welche Geheimnisse würde sie offenbaren?
Matthis hatte seinen Kaffee getrunken und ging zu seinem Schreibtisch, als sein Telefon klingelte. Sicherlich sein Kollege. Ja, der konnte sich jetzt was anhören. Bestimmt steckte er wieder in einer ausweglosen Situation oder hatte sich wie letztens einfach nur böse verlaufen. Matthis nahm den Hörer ans Ohr. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung war ihm fremd. Schluss mit der Ruhe, es gab also mal wieder etwas zu tun.
Georg hatte mit seiner Linken die Türklinke fest umschlungen. Die Rechte war allzeit bereit, die Pistole zu ziehen. Ein tiefer Atemzug, dann war auch er bereit. Die Tür war nicht verschlossen, aber so verzogen, dass es ordentlich Kraft kostete, die Tür, die über den nackten Betonboden kratzte, aufzuschieben. Sie schleifte über den Boden und machte dabei ordentlich Krach. Als er die ersten Zentimeter geschafft hatte, entdeckte er vor sich weiße Schrammen auf dem Boden. Es war also womöglich erst kürzlich jemand an derselben Stelle gewesen. Er sollte also wirklich vorsichtig sein. Die Tür war mittlerweile so weit geöffnet, dass Matthis sicherlich durchpassen würde und von der anderen Seite mitanpacken könnte. Schade, dass er in vielen Dingen einfach zu kompliziert war und sich viel zu sehr an die Vorschriften hielt, anstatt sich auch einmal den etwas anderen Themen zu widmen. Verflixt, jetzt ließ sich die Tür nicht weiter öffnen. Der Kommissar versuchte es mit mehr Kraft, doch sie blockierte komplett. Vielleicht ging es weiter, wenn er sich in den Spalt zwängte. Also zumindest den Kopf sollte er durch den Spalt bekommen. Eventuell erkannte er dann schon, woran es lag, oder sah bereits das, was er sehen wollte. Er stellte sich seitlich an die Öffnung, setzte seinen ersten Fuß hindurch und presste anschließend seinen Oberkörper hinein. Mit dem Kopf konnte er ein Stückchen um die Ecke sehen. Doch es war so, wie er vermutet hatte: Der Bauch passte nicht im Ansatz hindurch. Selbst eingezogen ging es kein Stück weiter in die große Halle hinein. Er drehte den Kopf nach links, sah ein paar alte Lagerregale, kleine Pfützen auf dem Boden, die auf ein undichtes Dach hindeuteten, und Holztüren, die in die kleinen Büros führten. Womöglich war es einfacher, über eines der Seitenbüros einen Zugang zur Haupthalle zu bekommen. Vorher drehte Georg seinen Kopf nach rechts, doch dieses Bild ging ihm durchs Mark. Da war Blut, jede Menge sogar.
Matthis hörte angestrengt zu. Er kniff beide Augen zusammen und fasste sich an den Nasenrücken. »Ja … Ja … Lassen Sie mich doch auch einmal zu Wort kommen«, sagte er schlussendlich. »Das Einfachste wäre, wenn Sie einfach vorbeikämen und eine Anzeige gegen Unbekannt stellen würden. Dann würde gleich von Anfang an alles seine geregelten Bahnen gehen. Mit der Anzeige können Sie sich dann auch mit Ihrer Bank und der Versicherung in Verbindung setzen … Ja, klar, schau ich mir die Wohnung mit meinen Kollegen heute noch an … Eine Spurensicherung hat hier womöglich wenig Sinn, aber kommen Sie doch einfach heute vorbei und dann leite ich alles in die Wege … Natürlich, wir haben auch in der Nebensaison ganz normal geöffnet. Wir sind schließlich die Polizei … Also gut … Verstehe … Dann machen wir sechzehn Uhr. Das passt doch gut, dann bis später, Herr Reverts.« Matthis legte auf und atmete tief durch. Jetzt war es also wirklich an der Zeit, dass er seinen Kollegen mal wieder einfing.
Georg drückte sich tiefer in den Spalt hinein und sah immer mehr Blutspritzer. Der Boden war etwas uneben und es hatten sich feine Rinnsale auf dem Boden gebildet. Das war nicht gut. Dann erkannte er, dass im hinteren Bereich irgendjemand auf dem Boden lag. Aus seinem Winkel konnte er nur die zierlichen Beine erkennen. Er drückte sich zurück aus dem Spalt heraus und ging mit schnellen Schritten auf eine der Seitentüren zu. Die Holztür war zwar auch verzogen, doch sie ließ sich wesentlich leichter öffnen. Dahinter verbarg sich wie angenommen ein kleines ehemaliges Büro. Zu seiner Rechten sah er eine weitere Tür, die sicherlich hinaus in die große Halle führte. Hurtig ging er auf sie zu. Die Scharniere schrien ihren Schmerz in das Zwielicht der Betriebsstätte und er war drin. Ohne auch nur einen Blick nach links oder rechts zu vergeuden, folgte er der Blutspur. Sie führte ihn in einen Gang, in dem tatsächlich etwas neuere Regale aufgebaut waren. Er packte eines, um kein Tempo zu verlieren, und schwang sich um die Ecke. Dann sah er sie. Direkt vor ihm lag eine Leiche, weiblich, etwa Anfang oder Mitte dreißig, hübsches Gesicht, lange braune Haare, mit schwersten Kopfverletzungen. Sicherlich erschlagen, womöglich hinterhältig mit einem kräftigen Schlag gegen die Schädeldecke. Der Kommissar wusste sofort, was er zu tun hatte.
2.
Georg zückte sein Handy, um Matthis zu alarmieren. Hastig wählte er diesen unter den gespeicherten Nummern aus und presste das Smartphone gegen sein Ohr. Doch er hörte nichts. Nicht einmal das Freizeichen war ihm willig. Er nahm das Gerät runter, sah auf das Display und entdeckte am oberen Bildschirmrand das Symbol, das für kein Empfang stand. Es gab für ihn also nur eine Möglichkeit. Der Kommissar drehte sich um und ging denselben Weg zurück und damit raus aus diesen massiven, gut abgeschirmten Wänden. Draußen im Hinterhof hatte er wieder wie gewohnt ausreichend Empfang. In der Wache war gerade besetzt, so alarmierte Georg zuerst ihren zuständigen Rechtsmediziner Dr. Hinkelstein. Er erreichte ihn an seinem freien Tag bei einem Brunch. Glücklicherweise war er in einem Café, nicht weit weg vom Hafen, und sagte, er mache sich umgehend auf den Weg. Als Nächstes alarmierte Georg die Dienststelle, die die Spurensicherung koordinierte.
Danach klingelte auch schon sein Handy. Es war Matthis. Er ließ Georg keine Chance, sich zu melden. »Endlich erreich ich dich auch einmal«, sagte er mit einem leicht säuerlichen Tonfall. »Ich habe jetzt vier Versuche gebraucht, um bei dir durchzukommen. Was ist bei dir los? Wir haben einen neuen Fall!«
»Du sagst es, Matthis. Woher woißt du schon von der Leiche? I hab eben a schon versucht, di zu erreichen, aber bei dir war ja a dauernd besetzt!«
»Leiche?«, fragte Matthis.
»Freilich, da haben sie wieder eine zsamgehaut!«
»Wo liegt die Leiche?«, fragte der Revierleiter. Seine Stimmfarbe hatte sich wieder normalisiert, und er fügte seiner Frage gleich noch eine Anweisung hinzu. »Ach, und Georg, fass bloß nicht schon wieder etwas an. Ich komme sofort zu dir. Also, wo muss ich hin?«
»Ah ja, des mit einem Standort is a bissl schwierig oder schwer zu sagen, also i bin da hinten in der letzten Lagerhalle, woißt scho, die, die i noch net überprüft hatte wegen dem Lied. Also die große, woißt scho, oder?«
»Wem gehört die denn?«
»Ja, des wollt i a wissen, aber dann hab i die Leiche gefunden. Industrie war des halt mal.«
»Super, das schließt exakt keine Lagerhalle aus.« Georg konnte den ironischen Tonfall selbst ohne die ihm allzu gut bekannte Mimik seines Vorgesetzten erkennen. »Gut, also so weit wirst du nicht gelaufen sein. Wie kamst du da hin? Also, du bist am Café vorbeigestolpert und dann in die Gasse rein. Und wo bist du dann hin?«
»Woher woißt du? Ah, die Ortungsapp.«
»Nein, dafür braucht es keine Technik. Ich habe ein Fenster, durch das man prima durchschauen kann. Also, wie ging es in der Gasse weiter?«
Matthis hörte zuerst ein Raunen, das sich durch die Leitung schmetterte, erst dann folgten zögerlich Worte. »Ja also, eigentlich gar net, die Halle is glei dahinter mit dem Riesengelände zum Meer hin, und genau da bin i drin …« Eine Pause entstand. »… Ja, also net im Meer, sondern auf dem Grundstück.«
»Okay, ich komme sofort rüber.«
»Perfekt, der Hinkelstein kommt a schon und die Spurensicherung ist a auf dem Weg.«
»Okay, dann warte bitte draußen, du weißt ja, dass wir letztens die Anweisung bekommen haben, weniger Trugspuren an den Tatort zu bringen.«
»Freilich, der Einlauf is mia noch im Ohr. Dann bis glei, pfiati.«
Matthis erreichte etwa drei Minuten später den Tatort. Der Kommissar wanderte gedankenverloren in dem Hof auf und ab. Als er Matthis bemerkte, grüßte er ihn mit der erhobenen Hand, so, als wäre er eine verlorene Seele inmitten des alltäglichen Trubels. »Lauf weiter vor Richtung Meer«, sagte der Kommissar und zeigte dabei auf das Loch im Zaun.
»Sag mal, spinnst du? Du kannst dich doch nicht einfach überall, wo es dir beliebt, durch den Zaun schneiden!« Matthis’ Augen spiegelten die aufsteigende Fassungslosigkeit perfekt wider.
»Mei, des war i net. I hab ja net mal Werkzeug dabei. Schau da hinten, da ist der Sirenenkasten, da hat jemand das Lied des Todes abgespielt. I hab das Abspielgerät endlich gefunden. Jetzt brauchen mia nur noch das Medium und den Kasper, der das da abgefeuert hat.«
Matthis zwängte sich durch das Loch. Er wunderte sich, wie sein Kollege durch dieses schmale Loch gekommen war. Diese Beweglichkeit hätte er seinem stämmigen Kollegen nicht zugetraut.
Auf dem Gelände stiefelte Matthis auf ihn zu. »Georg, das Thema mit dem Lied ist mir egal. Wir haben den Fall bearbeitet, gelöst und zu den Akten gelegt, damit ist die Sache abgeschlossen. Basta. Also jetzt zu deinem ominösen Leichenfund: Was hast du gefunden?«
Georg schaffte es, noch einmal Luft zu holen, da klingelte Matthis’ Handy. Der Revierleiter nahm den Anruf entgegen und drehte sich leicht von seinem Kollegen weg. »Hallo, Herr Dr. Hinkelstein«, sagte Matthis. Die Stimme des Rechtsmediziners war sehr laut, er telefonierte sicherlich über seine Freisprechanlage im Auto. Neben dem Rauschen des Fahrtwinds lag ein Hauch von Schlager in der Luft. Selbst Georg hörte aus der Entfernung den deutlich unterdrückten wienerischen Akzent des Exilösterreichers. »Also, Herr Jüllich, was sagte Ihr zotteliger Kollege? Sagen Sie mir bitte auch noch einmal, wo Sie genau sind?«
»Wir sind auf dem großen stillgelegten Firmengelände hinter dem Café bei uns in der Hafenstraße.«
»Vielen Dank. Ich bin in zehn Minuten da. Wartet unbedingt draußen, wir gehen zusammen rein.«
»Selbstverständlich«, sagte Matthis, ehe er sich wieder seinem Kollegen zuwendete. Er erwiderte seinen Blick und zeigte auf die Halle. »Also, wenn die glei alle kommen, müssen mia dahinten rein. Bevor du schimpfst, die Tür war wirklich offen und nur angelehnt. I bin da wirklich net eingebrochen, also bin i rein in den Flur und hab durch die große Flügeltür geschaut und da hab i dann das ganze Blut und die Leiche gesehen. I kam aber net durch die Tür, die war mia zu eng, und dann bin i durch ein Seitenbüro rein in die Halle und da lag sie dann, eine junge Frau mit schwersten Kopfverletzungen.«
»Alles klar.« Matthis wischte sich die scheinbar feuchten Handflächen an der Uniformhose ab. »Hast du irgendwas angefasst?«
»Naa … obwohl … Naa, also ja … nur die Türklinken.«
»Super, da haben wir ja wieder unsere Trugspuren. Hast du in der Erklärung nicht gelesen, dass gerade die Türklinken in der Spurensicherung äußerst wichtig sind? Das war jetzt nicht schlau, Georg.«
»Ja und wie hät i dann sonst durch die Tür kommen sollen? I kann net schweben!«
Matthis antwortete mit einem leichten Kopfschütteln.
Dr. Hinkelstein erreichte den Tatort ebenfalls über die enge Gasse neben dem Café. Sein Blick sprach Bände, als er sich voll aufgepackt vor dem schmalen Loch im Zaun wiederfand. Unter größter Anstrengung und unter Verwendung allmöglicher gängiger österreichischer Schimpfwörter kämpfte er sich mit all seinem Gepäck auf das Gelände.
Vor Matthis und Georg öffnete er einen der großen Stahlkoffer. Er beherbergte weiße Overalls. Der Rechtsmediziner händigte Matthis und Georg die entsprechende Schutzkleidung aus.
»Was schaut er denn schon wieder so komisch?«, sagte der Rechtsmediziner, während er zum Revierleiter sah. »Der Zustand der letzten Tatorte war eine Katastrophe. So etwas lasse ich hier nicht mehr zu.« Dann sah er zu Georg. »Schau nicht so forschend, das ist Einheitsgröße.«
Der bayerische Ermittler füllte seinen Overall gut aus. Das Material spannte sich fest um seinen Oberkörper. Der Kommissar wirkte nahezu verzweifelt. Es sah aus, als steckte er in einem großen weißen Ballon fest, bereit für den alles entscheidenden Kampf um Leben und Tod, und alles wartete auf den großen Knall.
Der Rechtsmediziner ging voraus und öffnete die Eingangstür. Alle drei fanden sich in dem Flur wieder, den Georg bereits kannte. Matthis sah zu seinem Kollegen. »Und durch welche dieser Türen hast du jetzt nicht durchgepasst? Etwa durch diese große Doppeltür hier?«
Georg nickte.
Klack … Klack …
»Die Tür ist abgeschlossen«, sagte der Rechtsmediziner.
»Naa, die ist nur furchtbar verzogen, da san dahinter auch schon richtige Schleifspuren auf dem Boden.«
»Also gut«, sagte Dr. Hinkelstein und wendete sich wieder vorsichtig der Tür zu, um keine Spuren zu zerstören.
Klack … Klack … Wrrrmmm
»Nein, die Tür ist verschlossen. Also, was immer Sie hier spielen, Herr Pampelhuber, die Tür ist nicht auf Ihrer Seite.«
»Aber das kann net sein. Da hab i doch durchgeschaut. Mei, i war doch da sogar dringesteckt.« Georg kam zwei Schritte vor und versuchte selbst sein Glück. Erfolglos. Der Rechtsmediziner hatte recht. Aber wie konnte das nur sein?
»Mei, i hab doch die Tür offen gelassen«, sagte er in die Runde.
»Wenn dem so wäre, wäre sie offen. Wobei es mich nicht wundern würde, wenn sie beim Verlassen der Halle für ordentlich Durchzug gesorgt hätten.« Im Satzende hinterließ der Doktor eine gewisse Schärfe.
»Gut, dann wäre sie aber nicht verschlossen«, sagte Matthis. »Aber egal, Georg, du kamst hier nicht durch. Und dann?«
»Dann bin i durch die Tür hier.« Georg konnte in dem engen Overall kaum seinen rechten Arm heben, um auf die alte Holztür zu zeigen.
Wieder übernahm Dr. Hinkelstein die Führung und widmete sich vorsichtig der Tür.
Klack … Klack …
»Verschlossen«, sagte er und drehte sich zu Georg. »Wollen Sie uns eigentlich verarschen? Ich hätte an meinem freien Tag weitaus Besseres zu tun, als diesem Spielchen hinterherzurennen.«
»Aber das kann net sein«, sagte Georg und machte einen Satz nach vorne. »Die is bestimmt a nur blöd verzogen, lassen Sie mi mal ran!«
Der Kommissar hob sein Knie an, holte aus und trat mit voller Wucht durch die alte, morsche Holztür. Erschrocken blickte er auf seinen Fuß, als er hörte, wie das Holz splitterte, und sein Overall mit einem lauten Knall ebenfalls nachgab, im Schritt einmal längs aufplatzte und somit seinem Bauch die Freiheit schenkte. Halleluja.
Im nächsten Moment registrierte Georg, dass sich sein Fuß verhakt hatte und feststeckte. Erst vorsichtig, dann beherzt versuchte er, den Fuß da irgendwie wieder rauszubekommen. Während er zappelte wie ein Fisch im Netz, bemerkte er die ungläubigen und sprachlosen Blicke seiner Begleiter. Dieser Moment sollte sich für ihn wie eine Ewigkeit anfühlen.
Mit vereinten Kräften zogen Matthis und Dr. Hinkelstein den selbst ernannten Inselkommissar aus der Tür und befreiten ihn aus der misslichen Lage.
Ein wenig später kniete der Rechtsmediziner vor dem Loch in der Tür und blickte in das dahinterliegende Büro. »Also, ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, was Sie hier im Schilde führen, Herr Pampelhuber. Ihre Geschichte entpuppt sich wohl doch immer mehr als ein billiges Märchen.« Der Doktor erhob sich. »Erst kamen Sie nicht durch die breite Doppeltür, die jedoch verschlossen ist. Dann seien Sie angeblich durch diese Bürotür gegangen. Es mag sein, dass Sie für Durchzug gesorgt haben. Dann kann auch so eine alte Tür schon mal zufallen und sich auch einmal so verziehen, dass sie klemmt.« Der Rechtsmediziner hob bedrohlich seinen Zeigefinger und wurde lauter. »Aber hier steckt ein Schlüssel von innen im Loch. Es ist ausgeschlossen und unmöglich, dass sich ein Schlüssel von alleine durch einen Luftzug einmal umdreht und ein Schloss verschließt. Also waren Sie vorher niemals in diesem Raum, außer Ihr Fußgelenk!« Sein Blick lehrte Georg das Fürchten. Der Kommissar verstand gerade selbst die Welt nicht mehr. Solche Blicke kannte er bereits, und sie erinnerten ihn an jene Zeit vor Norderney, als ihm in Bayern gelinde gesagt einiges entgleiste.
Für Matthis war ebenfalls guter Rat teuer. Er kannte seinen Kollegen doch schon ein paar Monate und dachte, ihn allmählich zu verstehen. Die Aufgeregtheit und Nervosität, die Georg ihn beim vorherigen Telefonat spüren ließ, fühlte sich für den Revierleiter echt an. Matthis entschied sich deshalb, ihm trotz aller Indizien, die gegen ihn sprachen, zu glauben. »Gut«, sagte er in einem aufmunternden Tonfall. »Jetzt, wo wir eh schon hier sind und ein schönes Loch in der Tür ist, kämen wir doch sicherlich an den Schlüssel ran und könnten aufsperren, oder?«
Dr. Hinkelstein blies seine Backen auf. »Gut, Herr Jüllich. Ihnen zuliebe. Ich öffne Ihnen diese Tür. Meinetwegen können wir auch in die Halle schauen. Aber ich bezweifle, dass an dieser Geschichte irgendetwas Wahres dran ist. Das würde ich dann auch so melden müssen, denn meine Einsätze sind ja auch der Kostenstelle zu deklarieren.«
In dem leeren Gang hörte man, wie der Kommissar schluckte. »I sag die Wahrheit. Warum sollte das net stimmen?«
»Ersparen Sie mir die Offenlegung meiner Theorie, Herr Pampelhuber«, sagte der Österreicher, bevor er auf die Knie ging und seinen Arm durch die Öffnung steckte.
Es kruschtelte und scharrte, dann schlussendlich erwischte der Rechtsmediziner den Schlüssel und entriegelte die Tür. »Es ist zweimal verschlossen«, sagte er und drehte den Kopf zu Georg. Dann öffnete sich die ramponierte Tür. Die nächste und letzte Tür, die zwischen ihnen und der Halle stand, war zwar zugezogen, jedoch zur Abwechslung einmal nicht verschlossen.
Nacheinander wie eine Entenfamilie betraten die drei die große verlassene Lagerstätte. Der bayerische Polizist spürte, wie sein Knöchel brannte und schmerzte. Neben kleinen Aufschürfungen hatte er sich sicherlich noch eine kleine Prellung zugezogen. Wäre sein Overall nicht bereits gerissen, hätte sein gesteigerter Herzschlag den Stoff zur Zerreißprobe gezwungen. Sein Puls hämmerte wie verrückt, und ein kurzer Stich fuhr ihm in die Brust, als er zu jener Stelle sah, an der er die Leiche aufgefunden hatte. Dort lagen keine gebrechlichen Beine. Auf dem betonierten Boden gab es kein blutiges Rinnsal, das ihn dorthin geführt hatte. Und überhaupt lag an dieser Stelle keine Leiche.
Georg wurde kreidebleich und seine Stimme zitterte. »Mei, d… das kann net sein … Da hinten lag sie doch.«
»Sehen Sie, Herr Jüllich! Ich bin damit raus und verabschiede mich«, sagte Dr. Hinkelstein. In jenem Moment hallte ein einfaches Klopfgeräusch durch die Halle. Officer Bauchfrei reagierte am schnellsten, kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn, er zog seine Dienstwaffe und richtete den Lauf auf die Geräuschquelle.
Vorsichtig zog sich die große vordere Haupteingangstür zur Halle auf. Geblendet vom hellen Tageslicht erkannte er im ersten Augenblick nur die bedrohlichen Konturen von mindestens vier Personen. Schwebten sie in Lebensgefahr oder handelte es sich um ein Missverständnis? Er musste im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung fällen, doch dann schrie Matthis.
3.
»Sag mal, Georg, spinnst du! Nimm sofort die Waffe runter, das ist doch die Spurensicherung.«
»Ganz großes Kino«, sagte Dr. Hinkelstein und klatschte. »Und das an meinem freien Tag. Da lasst ihr mich von hinten durch den Zaun klettern, um dann den Zirkus an den Türen zu haben, und vorne wäre die gesamte Zeit offen gewesen? Seid ihr in der gesamten Zeit, in der ihr früher vor Ort wart, nicht auf die Idee gekommen, einmal um das Objekt zu gehen? Das gilt auch für Sie, Herr Jüllich. Ihrem Kollegen kann man mittlerweile einiges nachsagen, aber von Ihnen hätte ich das hier nicht erwartet. Also, ihr seid schon ganz spezielle Einsatzkräfte, und jetzt, habe die Ehre, verabschiede ich mich wirklich.«
»Was is hier los?«, murmelte Georg, während der Rechtsmediziner aus der Halle stampfte.
Die vier Personen von der Spurensicherung waren mit allmöglichen Gerätschaften und Koffern ausgestattet. Ein großer, schlaksiger Herr lächelte unter seiner weißen Kapuze hervor. »Mein Name ist Brecht und das sind die Kollegen Büskens, Meyer und Strahlemann. Wir sind externe Dienstleister und wurden in eurem Fall hinzugezogen … Der frustrierte Herr eben war?«
»Unser Rechtsmediziner«, sagte Matthis.
»Freundliches Kerlchen«, sagte Herr Brecht. »Und der Leichnam wäre wo?«
»Mei, das wüsste i jetzt auch gern«, sagte Georg.
»Ich verstehe nicht. Uns wurde eine weibliche Leiche gemeldet. Aufgefunden wurde sie von einem Herrn mit einem ganz witzigen Namen …« Herr Brecht zog einen kleinen Zettel hervor. Georg verdrehte währenddessen die Augen. »Ah ja, hier habe ich es, ein gewisser Herr Pampelhuber. Wer ist das? Ist er hier?«
»Mei, das wäre dann i«, sagte Georg und wechselte dabei das Standbein. »Also, vorhin lag die Leiche genau da hinten in dem Gang, aber jetzt is sie spurlos verschwunden.«
»Papperlapapp, Leichen können niemals spurlos verschwinden. Wenn hier eine Leiche lag, dann werden wir Spuren finden.«
Mit frisch gefasstem Mut hinkte der bayerische Starermittler voran. Sein Weg führte die Herren tiefer hinein und an die besagte Stelle. Die Kollegen Strahlemann und Meyer bauten Stative auf und installierten irgendwelche Strahler, während die Herren Brecht und Büskens spezielle Leuchtröhren auspackten. Herr Büskens sah zu den Inselcops. »Jetzt ist es eigentlich so, dass Tote schon dazu neigen, an Ort und Stelle zu verweilen, aber auch wenn nicht, hinterlassen sie Spuren, die wir hiermit sichtbar machen können.«
»Mei, dann hat der Spuk endlich ein Ende«, sagte Georg.
Die beiden Herren von der Spurensicherung gaben sich Mühe und suchten den Boden ab. Nach einer Weile sah Herr Brecht auf. »Können Sie uns ungefähr die Stelle zeigen, an der Sie die Blutlache sahen, Herr Pampelhuber?«
»Freilich«, sagte der Kommissar. Er sah zum Boden, nahm kurz Maß und ging wie ein Dorfkicker bei der Suche nach dem Elfmeterpunkt: Auf drei Schritte folgte ein Seitschritt, dann zeigte er auf einen Punkt am Boden. Es fehlte tatsächlich nur ein Pfiff. »Etwa hier.«
»Mhm«, sagte der Herr und leuchtete die Stelle aus. »Jetzt bitte die Stelle, an der Sie das fließende Rinnsal sahen!«
Georg nickte und ging zurück in Richtung des Seitenbüros. Als er die Rinne im Boden fand, zeigte er auf sie. Herr Brecht untersuchte den Boden an dem Standort. »Mhm«, schallte es Georg und Matthis entgegen.
Herr Büskens widmete sich der großen Doppeltür und begann im Hintergrund mit der Untersuchung der Türklinke. Als Georg bemerkte, dass der Kollege Strahlemann eine Zigarettenschachtel zückte und mit dem Kollegen Meyer nach draußen verschwand, ahnte er Böses. Matthis sah ihn ebenfalls auf einmal so vorwurfsvoll an.
Herr Brecht erhob sich vom Boden und sah zu Matthis. Georg würdigte er plötzlich keines Blickes mehr. »Also normalerweise bleiben Leichen einfach liegen, darauf können wir uns sicher verständigen. Jetzt ist es so, dass in den Fällen, in denen Leichen verschwinden, meistens die Täter den schweren Leichnam bewegen. Sie ziehen sie gerne über den Boden, was wir anhand von Fasern der Kleidung oder Hautschuppen nachvollziehen können. Wenn ein Leichnam an einem Ort lag, findet man auch immer Abdrücke, verursacht durch Blut oder Ablagerungen anderer Säfte oder Rückstände von Verwesungsgasen. Das alles können wir mit diesen Wunderleuchten sichtbar machen.« Es folgte eine kurze Pause, dann sah der Herr auch wieder zu Georg. »Aber hier ist überhaupt nichts.«
Georgs Augenlider begannen zu zucken. »Naa, das is net möglich. I woiß doch, was i gesehen hab.«
»Sind Sie sich da ganz sicher? Denn ich sehe hier, wie gesagt, überhaupt nichts, vor allem aber diese Menge an Blut, die Sie uns beschrieben haben, die müsste in diesem Ambiente leuchten wie eine Discokugel.«
»Mei, aber das kann net sein«, sagte der bayerische Polizist. »Hat das vielleicht zu lange gedauert, bis ihr hier wart?«
»Sicherlich nicht. Solche Spuren können wir in Räumen in einem Zeitraum von fünfzehn Jahren problemlos sichtbar machen. Also, wenn Sie mich fragen, hat sich an diesen Punkten nicht einmal ein ehemaliger Mitarbeiter in den Finger gestochen. Also, wenn das hier ein Spaß sein sollte, wäre es an der Zeit, ihn zu beenden. Wir wurden schließlich mit dem Helikopter eingeflogen. Alles auf Kosten der Steuerzahler übrigens. Wissen Sie, was so ein Einsatz hier kostet? Und wenn Sie mich fragen, weiß ich nicht, was ich in meinen abschließenden Bericht schreiben sollte. Außer die Wahrheit selbstverständlich.«
»Aber das kann net sein«, sagte der bauchfreie Herr, dessen Gesichtsfarbe wieder den gleichen Farbton wie der Overall angenommen hatte. »Und was ist mit der Tür? Hier muss es doch Fingerabdrücke geben?«
»Dann schauen wir mal zu meinem Kollegen, Herr Büskens«, sagte Herr Brecht und ging voran. »Etwas gefunden, Fränky?«
»Nein, hier an der Innenseite ist nichts. Die Klinken sind sauber, also zumindest keine Fingerabdrücke.«
»Und was is mit den Schleifspuren am Boden? Die san doch frisch, also irgendwas hatte die Tür doch blockiert.«
»Wie sagt ihr Bayern das?«, fragte der Herr. »Ach ja: freilich, und die Blockade nennt man Schlüssel. Wenn der steckt und vorab gedreht wurde, ist die Pforte blockiert.« Was für ein höhnischer Blick, gefolgt von Gelächter.
Georg wurde sauer, preschte vor, drehte den Schlüssel um und drückte die Klinke nach unten. Die Tür ließ sich komplett und einwandfrei öffnen, nichts schleifte über den Boden. »Mei … aber … von der anderen Seite«, sagte er, stürmte hindurch, knallte sie zu, um sie von der anderen Seite zu testen. »Was sagt ihr jetzt?«, rief der Bayer erzürnt, riss die Tür von innen wieder auf, blieb mit dem Ärmel des Overalls an der Klinke hängen und stolperte, Nase voran, mit voller Wucht gegen die Stahltür.
Kawumm … Der Moment, in dem er sich den Ärmel abriss, war auch der Moment, in dem Kollege Büskens »Wuhu, Striptease« rief und Herr Brecht erkannte: »Na hoppla, da haben wir ja doch noch eine Menge Blut zu sehen bekommen.«
Im nächsten Augenblick ergriff Georg die Flucht. Wortlos rauschte er an allen vorbei und verschwand durch den Hinterausgang.
4.
Vor 5 Monaten, Prutting, Landkreis Rosenheim
Nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es draußen erst so richtig ungemütlich. Ein kalter Wind pfiff und der herbeigewehte Regen wollte auch nicht so richtig loslegen. Es blieb bei so einem ekligen, feinen Sprühregen. Ein Wetter, bei dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür schicken wollte. Kein Wunder, dass Georg mittlerweile allein in der Pruttinger Wache saß.
Das war schon irgendwie ein starkes Stück, dachte sich der junge Polizist. Heute war schließlich sein erster richtiger Arbeitstag in der Wache und was machte dieser Revierleiter Braun? Er teilte ihn gleich für die Spätschicht ein. Nach einer halbherzigen Einweisung faselte er etwas von Stammtisch, Trachtenverein und dass er losmüsste. »Sie schaffen das schon«, sagte er, noch während er seinen Mantel vom Kleiderhaken nahm. »Schauen Sie nur aus dem Fenster, bei diesem scheußlichen Wetter bleibt es sicherlich ruhig.«
»Mei, und was mach i, wenn wer anruft?«
»Das, was Sie in der Ausbildung gelernt haben. Gehen Sie ran und bearbeiten Sie die Meldung.«
»Allein?«, fragte der Polizist und starrte zu seinem Vorgesetzten, der an der Tür noch einmal kehrtmachte. »Herr Pampelhuber, Ihr Vater ist gerade in Pension gegangen. Wir haben die neue Stelle noch nicht genehmigt bekommen. So lange müssen Sie eben alleine zu Einsätzen rausfahren. Aber machen Sie sich da keine Sorgen, aktuell ist es im Dorf sehr ruhig und wir hatten schon seit Tagen keinen Notruf mehr. Also halten Sie die Stellung und bis morgen.«
Danach fiel die Tür ins Schloss und Georg saß allein in der dunklen Wache.
Für Georg war es furchtbar langweilig. Ein Smartphone lehnte der bayerische Ermittler vehement ab und die alten PCs der Wache hatten nicht einmal Solitär ruckelfrei über den Bildschirm gezaubert. Georg wurde müde und nickte kurz ein.
Nach einiger Zeit schreckte er auf, als das Telefon klingelte. Schlaftrunken meldete er sich und hörte, wie eine hohe, piepsige Stimme in den Hörer jammerte. »Hilfe, Hilfe, hier sind lauter tote Menschen. Ich seh sie überall in jedem Gang, so viele Leichen. Sie müssen sofort kommen.«
»Woas«, sagte der Polizist. »Wo san Sie? Mia kommen sofort vorbei.«
Die Adresse war dem jungen, ortskundigen Polizisten sofort bekannt. Er legte auf. Nervös zog er sein Notizbuch hervor. Er pustete tief durch und suchte nach der Reihenfolge, die bei Leichenfunden einzuhalten war. Es war ihm schon irgendwie im Vorfeld klar gewesen, dass dieser Fund ausgerechnet in seiner ersten Schicht einging. Denn er hatte es schlussendlich in den Genen und sah sich auch irgendwie als Magnet für solche großen Einsätze. Da soll dieser komische Revierleiter Braun doch noch ruhig den Schuhplattler tanzen. Er hatte schließlich Wichtigeres zu tun und Prutting brauchte ihn. So schoss der energische Polizist, nachdem er sein Programm abgespult hatte, nach draußen zu dem einzigen einsatzbereiten Fahrzeug.
Er tauchte die Nacht in ein sattes blaues Licht und bretterte mit eingeschaltetem Martinshorn durch die verwaisten Straßen ortsauswärts direkt zum Waldfriedhof.
Mit ihm rauschten bereits weitere Einsatzfahrzeuge auf das unübersichtliche Gelände zu. Darunter ein Team der Spurensicherung aus der Kreisstadt Rosenheim. Das zwölfköpfige Team in weißen Overalls schwang sich aus den insgesamt drei Vans und richtete sich am vermeintlichen Tatort ein. Der Leiter des Teams rannte auf Georg zu. »Wir müssen bei diesem Wetter die Spuren schnellstmöglich sichern und verwerten. Wo müssen wir hin?«
»I woiß noch net! Mia wurden zahlreiche Tote gemeldet, in jedem Gang. Aber hier vorne war schon mal nichts«, sagte Georg und leuchtete mit seiner Stabtaschenlampe den nächsten Gang aus. Er drehte sich um und ging auf den nächsten Durchgang zu. Zwischen diesen Grabsteinen lag ebenfalls niemand. Immer nervöser eilte der Polizist mit gezogener Dienstwaffe in der rechten Hand und Stabtaschenlampe in der linken umher. Währenddessen traf die Mordkommission ein. Als die eintreffende Feuerwehr und die Krankenwagen das komplette Areal taghell erleuchteten, war Georg mit zwei Dritteln aller Gänge durch. Aber er fand keine Leichen. »Nein, nein, nein, das darf net sein«, murmelte er immer wieder vor sich hin, während die lauten Rotoren der im Anflug befindlichen Helikopter des SEKs die Ruhe des verschlafenen Dorfes endgültig zerschnitten.
Georg erreichte den letzten Gang, aber auch der war sauber. Er sah zur Hauptstraße und erkannte einen anrauschenden Van des BR-Fernsehens und dahinter den Privatwagen von Revierleiter Braun. Tränen rannen über seine Wangen und Georg wusste bereits, was ihm blühte, als er auf den wütenden Auflauf der rund fünfundneunzig Einsatzkräfte im Eingangsbereich des Waldfriedhofs zuging.
5.
Zurück auf Norderney
Matthis brauchte eine Minute, um sich zu sammeln. Nach ein paar tiefen Atemzügen ging er zurück durch den bekannten Flur auf den Hinterausgang der Lagerhalle zu. Die letzten wärmenden Sonnenstrahlen, die der Herbst bot, schienen auf seinen bereits erblassten Teint. Die Luft, die die Nordsee an die Küste lieferte, war schon seit einigen Tagen erheblich kühler geworden. Neben dem stetigen, beruhigenden Rauschen der Wellen war es ein unbändiges Schniefen, das seine Aufmerksamkeit weckte. Der Ursprung des Geräusches führte ihn durch den Hinterhof, vorbei an einem der alten, löchrigen Silos. Dann fand er auch schon das halbe Elend.
Georg saß kreidebleich mit seinem zerrissenen weißen Spurensicherungsoverall zusammengekauert auf dem Boden und starrte auf das offene Meer hinaus. Seine Nase blutete noch immer und zwang ihn, ständig neue Stücke aus dem Overall zu reißen. Mit den Stoffflicken hielt er sich die Nase und versuchte vergebens, die Blutung zu stoppen. Man musste kein Profiler sein, um zu erkennen, dass der große Kommissar erst noch vor wenigen Augenblicken geweint haben musste. Eine salzige Kruste hatte sich durch die Spiegelung der tief stehenden Sonne auf seiner Haut hervorgehoben. Matthis war eigentlich danach, Georg ordentlich den Marsch zu blasen, denn diesmal war er mit seinen Spinnereien wirklich ein gutes Stück über das Ziel hinausgeschossen. Er wusste, dass es bei seinem Kollegen einiges gab, was er ihm mittlerweile durchgehen lassen musste, denn die ständigen Diskussionen waren oft nicht gerade zielführend. Er kannte seinen Kollegen doch schon ganz gut, aber diesmal gefährdete er mit seiner schwachsinnigen Ermittlung auch seinen Rang als Revierleiter, und genau das sprengte den Rahmen von Matthis’ Kulanz deutlich. Er war nun schlussendlich auch an diesem ominösen Tatort und machte sich mitschuldig an der ganzen Sache.
War es nicht genau so eine Aktion, die dazu geführt hatte, dass Georg seine bayerische Heimat verlassen musste?
Matthis hatte seine Worte eigentlich schon auf der Zunge, aber so elendig, wie der Kommissar vor ihm auf dem Beton kauerte, schaffte er es nicht, sie auf die Reise beziehungsweise über die Lippen zu bringen.
»Hey«, sagte er stattdessen in einem einfühlsamen Tonfall und berührte ihn kurz an der Schulter.
Georg schreckte auf. Er war wohl in Gedanken oder einer Erinnerung vertieft gewesen und hatte seinen Vorgesetzten nicht bemerkt. »Es tut mia so leid. Aber i bin mia wirklich sicher, dass i da jemanden gesehen habe. Mei, i hab das doch alles net so gewollt.«
»Was hast du nicht gewollt?«, fragte Matthis. Seine Gesichtszüge spannten sich an.
Ratsch … Georg riss sich einen neuen Stofffetzen aus dem weißen Overall und ersetzte den alten an der Nase. »Das is alles wie ein Albtraum. Ein ganz schlechter Film und es erinnert mi wieder an die Scheiße, die mia dahoam passiert is.«
»Aha«, antwortete Matthis kühl. »Also, die Spurensicherung ist wieder weg. Was ihre Berichte für Konsequenzen mit sich bringen, kann ich noch nicht absehen. Aber wir stecken da wohl jetzt beide ganz tief in der Misere.«
Georg blickte auf. »I kann mia das net erklären. Da lag a weibliche Leiche mit einer schweren Kopfverletzung. I denk mia doch so etwas net aus!«
»Fakt ist, dass es in der Halle keine Spuren oder Indizien gab, die deinen ominösen Fund auch nur ansatzweise bestätigen würden.«
»Heißt das etwa, du glaubst mia a net?«
Matthis lehnte sich an das Silo und glitt neben ihm auf den Boden. Neben Georg sitzend, schaute er auch auf den fernen Horizont. »Ach, ich weiß auch nicht, was ich glauben soll. Also irgendwelche Spuren, auch wenn die Frau nicht tot, sondern einfach nur schwer verletzt war, müsste es halt wirklich geben und dann, na ja …« Matthis legte eine kurze Pause ein, dann sah er ihm tief in die Augen. »Mensch, Georg, du hast halt auch Tage, da triffst du vom Strand aus das Meer nicht, und da wird es halt schwer für mich. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich mich da am besten verhalten soll. Fakt ist, ich stehe gerade genauso dumm da und werde sicherlich in den ganzen Berichten als Einsatzleiter auch mein Fett wegbekommen, und das finde ich nicht gut … Mensch, mit so etwas gefährdest du nicht nur deinen, sondern auch meinen Job und, wenn man es genau nimmt, eigentlich das ganze Pilotprojekt Inselwache.«
Außer einem Seufzer hatte Georg den Worten nichts hinzuzufügen. Die Taktung, mit der er neue Flicken aus dem Overall riss, verlangsamte sich allmählich.
Es gab Momente im Leben, die benötigten keine weiteren Worte. So wie diesen, in dem die beiden einfach nur noch auf das weite offene Meer hinaussahen.
Ein Piepton zerschnitt die Stille. Matthis schaute auf seine Smartwatch. Es war an der Zeit aufzubrechen und zum Alltag zurückzukehren. Georgs Nase hatte sich endlich beruhigt und Matthis sagte zu seinem Kollegen, der aussah wie aus dem Schlachthaus entflohen: »Wir sollten los. Es gab übrigens heute Vormittag eine Anzeige. Der Herr wollte nach getaner Arbeit gegen sechzehn Uhr vorbeikommen und seine Aussage zu Protokoll geben.«
6.
»Mei, wie denkst du, geht es jetzt eigentlich hier weiter?«, fragte Georg, nachdem er sich hinter Matthis durch das Loch im Zaun zurück auf die Gasse gequetscht hatte.
»Von was genau redest du?«
»Norderney, i hab das Rundschreiben, das heute Morgen vom Rathaus kam, noch net gelesen.«
»Ach so«, sagte Matthis und sah zu seinem Begleiter hinüber. »Schau, das ist genau so etwas, was ich meine. Wenn du dich ab und zu auch mal um die alltäglichen Dinge kümmern würdest und dich nicht immer so in Kleinigkeiten verlieren würdest, dann wäre dir das heute sicherlich erspart geblieben.«
Die letzten Fetzen des blutverschmierten Overalls raschelten mit dem aufkommenden Wind. »Mei, das hilft mia jetzt a nimmer weiter, also was stand drin?«
»Nun ja, die Ära Jensen ist im Rathaus offiziell vorüber und Nela Rüdenstein hat ihr Übergangsamt niedergelegt und sich für die kommenden Neuwahlen nicht aufgestellt.«
»Mei, das ist dann wohl schlecht«, sagte der Bayer. Matthis und Georg hatten die Gasse bereits passiert und bogen auf Höhe des Cafés in Richtung Inselwache ab.
»Ja, ich verstehe, was du meinst. Erinnere dich an Fiete Jensen, der hatte prompt Aufträge oder Anweisungen an uns. Nela hatte da einen ganz anderen Führungsstil …«
»Das war wirklich schön. I hoff, dass der oder die Nachfolgerin a unsere Wache relativ wurscht is.«
Der Revierleiter blieb stehen. »So hätte ich es jetzt nicht formuliert, aber ja, da steckt man halt nicht drin. Weißt du schon, wen du wählen wirst?«
Der Kommissar hob seine Hand und zeigte auf die umliegenden Straßenlaternen. »Naa, i find das immer so schlimm, wie besonders die grünen Parteien mit ihren Klimaschutzversprechen so aggressiv und heuchlerisch alle Straßen und Laternen zukleistern. Scheiß aufs Klima, mia bappen alles zu. Das ganze Papier hätte man sich locker sparen können. Genauso das CO2 in der Massenherstellung. Stattdessen hätten sie a klimaneutralere Werbemaßnahmen wie zum Beispiel Onlineanzeigen favorisieren können.«
»Ich versteh das auch nicht. Das ist längst nicht mehr zeitgemäß. Da soll alles digital sein und dann werden völlig unnötig solche Unmengen an Werbeplakaten produziert.«
Georg fasste ein besonderes Plakat ins Auge. »Mei und das Schlimmste ist, diese kurzen Wahlparolen liest doch eh kei Sau! Oder hast du schon erlebt, dass einer vor dem Plakat stand, in die Hände klatschte und zu dem Leitspruch sagte: ›Das ist es, mei den geh i jetzt wählen.‹?«
Ein hauchzartes Lächeln schlich sich in Matthis’ versteinerte Miene. »Schon eher selten, ja. Also wer sich informiert, der tut das anders und nicht über bunte Bildchen auf der Straße, da hast du schon recht.« Matthis zeigte auf eine Laterne mit Plakaten der drei ernst zu nehmenden Kandidaten. »Aber so wie sie da hängen, wer ist dein Favorit?«
»Woiß i net, also richtig schlagende Elemente hat für mi koiner! … Schau dir doch einmal ihn an. Woas steht da? Für ein klimaneutrales Norderney. War der net in der Schule? Woiß der net, dass täglich alle Lebensmittellieferungen etc. mit dem Schiff auf die Insel gelangen? Das holst du a mit Scheinzahlungen und Zertifikaten nimmer rein. Die Abgase san trotzdem in der Luft! Da muast du andere Wege finden.«
Beide setzten ihre Schritte fort. Eine steife Brise wehte durch das Hafenviertel und legte an kühler Intensität zu.
»Reg dich doch nicht schon wieder so auf«, sagte Matthis und zeigte auf das Plakat obendrüber. »Ich denke, sie wird es werden. Sie liegt laut Zeitung in den Umfragen sehr weit vorne. Ihre Versprechen klingen auch wesentlich realistischer.«
Der bayerische Ermittler kniff seine Augen zusammen und konzentrierte sich auf das Plakat. »Wie heißt die?« Das Plakat hing etwas verdreht zur Straße, so geneigt war die Schrift von Georgs Standort sehr schwer zu erkennen. Der Schutzlack ließ das bunte Material regelrecht spiegeln. Der Kommissar ging einen Schritt zur Seite auf das Plakat zu. Es zitterte mit dem Wind und gab zeitlich exakt mit der Erkenntnis nach.
»Ah, meine Nase«, rief der Kommissar, als ihm die hölzerne Plakattafel schwungvoll ins Gesicht schnalzte. Matthis neigte den Kopf leicht zur Seite und zog die Schultern an. »Also, wenn du da nicht dein schlagendes Argument für die Kandidatin Laura Petersen hättest.«
Auch wenn Matthis den Spruch gut getimt im richtigen Moment trocken über die Lippen brachte, war es Georg heute nicht mehr zum Lachen zumute. Vor allem in Anbetracht, dass ihr nächster Fall schon buchstäblich vor der Tür stand.